Ein wechselvolles Leben - Richard Ellerkmann - E-Book

Ein wechselvolles Leben E-Book

Richard Ellerkmann

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Beschreibung

Die Autobiographie schildert ein wirklich wechselvolles Leben: Richard Ellerkmann hat als Diplomat in den Krisengebieten der Welt die Interessen Deutschlands vertreten, in den 60er Jahren als Kulturreferent in Teheran noch den Schah kennengelernt, dann in Warschau im Auftrag Willy Brandts die deutsch-polnische Aussöhnung vorangetrieben. In Uganda erlebte er als Botschafter 1976 die gewaltsame Befreiung von 147 Geiseln durch ein israelisches Kommando mit und wurde mit den Vorwürfen Idi Amins konfrontiert, die Bundesrepublik hätte den Israelis geholfen. 1987 wurde er als Botschafter nach Bagdad versetzt und war während der zwei Golfkriege Deutschlands Repräsentant im Irak. Als Saddam Hussein 1990 Hunderte von Europäern, davon über 400 Deutsche, als Geiseln nahm, hatte Ellerkmann einen wichtigen Anteil daran, dass die Geiseln letztlich ausfliegen konnten. Auch nach seinem Eintritt in den Ruhestand blieb Ellerkmann politisch aktiv: In Bosnien-Herzegowina half er als erster stellvertretender Leiter der OSZE-Mission und Stellvertreter des Hohen Repräsentanten in Mostar, von 2002 bis 2004 war er in Palästina als Berater des Außenministers tätig. Ellerkmann belegt seine abwechslungsreiche Arbeit mit vielen Dokumenten und Bildern, die das Buch zu einer wichtigen Quelle für alle an der Zeitgeschichte Interessierten machen.

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Dr. Richard Ellerkmann

Einleitung

I Nachkriegszeit

II Studium in Aachen und Bonn

III Kanada 1955–1957

IV Referendarausbildung und Anwalt in den USA

V Auswärtiges Amt, Teheran 1963 –1968

VI In der Zentrale 1968–1971

VII Unsere Familie

VIII Warschau 1971–1974

IX Kampala 1974–1977

X Zentrale 1977–1980, Referat Öffentlichkeitsarbeit

XI Harare 1980 –1983

XII In der Zentrale 1983–1987

XIII Bagdad 1987–1991

XIV Ottawa 1991–1993

XV Ruhestand

XVI Schwerin 1993 –1995

XVII Wahlbeobachter in Gaza 1995 –1996

XVIII Drei Jahre in Bosnien-Herzegowina (1995 –1999)

XIX Parlamentswahlen 2000 in Simbabwe

XX Palästina von 2002 –2004, als Berater in Ramallah

XXI Ehrenamtliche Tätigkeiten

XXII Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Anhang

 

Ein wechselvolles Leben

Bergmann, Botschafter und Berater

 

Band 1: 1945 - 1991

 

 

Impressum

 

Autor und Herausgeber:

Dr. Richard Ellerkmann

Herrengarten 4

53343 Wachtberg-Ließem

Satz: Studio b. media friends GmbH, Velbert

eBook-Gestaltung: Philipp Schmidt

© 2022

Alle Rechte der Verbreitung in jeglicher Form, auch auszugsweise,

nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers.

ISBN: 9783754673355

Dr. Richard Ellerkmann

 

 

Richard Ellerkmann, 1928 in Duisburg geboren, war nach seinem Abitur zunächst als Bergmann unter Tage tätig. Er studierte sodann Jura in Bonn und Geschichte und Literatur in Toronto/ Kanada. Nach der Tätigkeit in einer New Yorker Anwaltskanzlei trat er 1963 als Volljurist in den Auswärtigen Dienst ein, der ihn als Kulturreferent nach Teheran und als Rechts- und Konsularreferent nach Warschau führte. Es folgten Dienstposten, die von Unruhen und Krisen gezeichnet waren und ihn mit höchst umstrittenen Staats- und Regierungschefs bekannt machten: mit Idi Amin, Robert Mugabe und Saddam Hussein.

In Uganda wurde er Zeuge der israelischen Befreiungsaktion in Entebbe und von Idi Amin beschuldigt, den Israelis behilflich gewesen zu sein.

 

In Bagdad hatte er während des zweiten Golfkrieges 450 deutsche Geiseln zu betreuen und für ihre sichere Heimkehr zu sorgen. Die Bonner Rundschau berichtete am 13.11.1990: „Den deutschen Botschafter nennt er (Willy Brandt) einen außergewöhnlichen Vertreter auf einem schweren Posten. Nur das Allerbeste kann er über diesen Mann sagen, der sich rund um die Uhr um die gefangenen Deutschen kümmert.“

 

Nach dem Ruhestand konnte Ellerkmann seine Erfahrungen als Krisenmanager in Bosnien –Herzegowina unter Beweis stellen. Als stellvertretender Leiter der OSZE-Delegation begleitete er in kritischer Situation die frisch gewählten bosnischen Ratsmitglieder nach Srebrenica. Bei seiner Verabschiedung durch den Permanent Council der OSZE in Wien hiess es: „Your personal handling of the implementation of the municipal election results despite personal danger is an example of your dedication and courageous approach. The OSCE owes you a great debt.”

Bei der weiteren Tätigkeit als Stellvertretender Hoher Repräsentant in Mostar gelang es Ellerkmann, als einer der Nachfolger von Hans Koschnik, einen erheblichen Beitrag zur Aussöhnung zwischen Bosniaken und Kroaten zu leisten.

Schließlich diente Ellerkman über mehrere Jahre als Berater des palästinensichen Aussenministers Dr. Nabil Shaath und betrachtete mit kritischen Augen den israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt.

 

 

 

Einleitung

 

Freunde und Kollegen haben angeregt, ich möge meine Erfahrungen, die ich als Diplomat und Botschafter sammeln durfte, festhalten und veröffentlichen. Dazu gehören meine Begegnungen mit den Diktatoren Idi Amin, Robert Mugabe und Saddam Hussein. Die Befreiungsaktion der Israelis 1976 in Entebbe und die Geiselnahme von 450 Deutschen 1990 in Bagdad sind mir bis heute präsent. Nach meiner Pensionierung sind es meine Erfahrungen in Gaza, in Srebrenica und in Mostar, sowie als Berater in Ramallah, die mich tief beeindruckt haben.

 

Aber auch die nicht minder ereignisreichen Jahre nach Kriegsende als Schüler, Bergmann, Student, Referendar und Anwalt in Duisburg, Aachen, Bonn, Toronto und New York sollten – wie meine Söhne meinten – in meinem Bericht nicht fehlen.

 

Bei meiner Arbeit konnte ich auf zahlreiche Unterlagen, Dokumente und Briefwechsel, die sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hatten, zurückgreifen. Auch die Einsicht in die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts, für die ich dem Archiv sehr dankbar bin, hat der Auffrischung meines Gedächtnisses geholfen.

 

Bei allem habe ich mich bemüht, die Dinge und Ereignisse so darzustellen, wie ich sie damals wahrgenommen und in Erinnerung behalten habe. Ich habe mich beschränkt auf eine reine Faktendarstellung, ohne mich gleichzeitig mit allgemeinen politischen und historischen Betrachtungen zu befassen. Ich wollte es darüber hinaus vermeiden, aus heutiger Sicht klüger und einsichtiger zu erscheinen, als ich es vor dreißig, fünfzig oder siebzig Jahren war. Aus den dargestellten Fakten mag jeder seine eigenen Schlüsse ziehen.

 

Ein Wort des Dankes geht an meine Frau Marianne, ohne deren jahrelange Mitarbeit, ihre große Geduld und ihren vielfachen Rat dieser Bericht nicht hätte verwirklicht werden können. Ihre eigenen Beiträge geben Auskunft über ihre Erfahrungen und Tätigkeiten im Ausland und Inland, die durchaus eigenständiger Natur waren, aber auch meine Aufgaben ganz wesentlich erleichtert haben. Ich glaube nicht, dass ich ohne ihre Unterstützung meine Aufgaben in Krisengebieten hätte meistern können. Dafür möchte ich ihr an dieser Stelle danken.

 

Ein besonderer Dank gilt Anke Adam aus Ratingen, Nichte von Marianne, die in mühevoller Arbeit sich der Redaktion, der Gestaltung und schließlich dem Druck dieser Erinnerungen gewidmet hat. Darüber hinaus hat sie mir auch zum Inhalt wichtige Ratschläge gegeben, wie auch unsere Söhne Jörg, Dirk, Ulrich und Richard den Entwurf kritisch durchgesehen und mit ihren Kommentaren versehen haben.

I Nachkriegszeit

 

Am 8.05.1945 hatte Deutschland kapituliert. Ein furchtbarer Krieg war zu Ende gegangen. Auf beiden Seiten, bei Siegern und Besiegten, mussten Millionen Menschen ihr Leben lassen. Unser Onkel Wilhelm, Bruder meiner Mutter, war bei einem Luftangriff in Köln ums Leben gekommen. In unserer Nachbarschaft war der einzige Sohn der Familie Kiesewetter als Jagdflieger von einem Einsatz über England nicht zurückgekehrt. Zwei weitere Nachbarjungen, darunter Rolf Osthoff, fielen beide, achtzehnjährig in der Normandie. Unser Nachbar gegenüber, Karl-Heinz Mohr kam erst nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft aus der Sowjetunion nach Hause, wie Friedemann Plaschnick, ein guter Freund der Familie, der bei der Flak in Duisburg gedient und das Pech hatte, in den letzten Monaten des Krieges in den Osten verlegt zu werden.

 

Deutschland wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt, eine amerikanische, eine französische, eine britische und eine sowjetische. Drei preußische Provinzen im Osten, Ostpreußen, Schlesien und Pommern kamen unter sowjetische und polnische Verwaltung, ihre Menschen wurden vertrieben oder verschleppt. Die Städte waren von Bomben verwüstet, die Brücken gesprengt, die Menschen verzweifelt. Es begann das große Suchen nach den Angehörigen und das Warten auf die Heimkehr der Soldaten. Bei einer Fahrt mit dem Rad nach Koblenz sah ich, wie Tausende von Kriegsgefangenen im Hofgarten der Bonner Universität und in den Rheinwiesen bei Sinzig im Freien untergebracht waren.

 

Den Rhein konnte man bei Bonn nur auf einer amerikanischen Pontonbrücke überqueren, die von der Bastei in Bad Godesberg nach Niederdollendorf führte und unter dem Namen Hodges-Brücke bekannt wurde. Dabei wurde man von oben bis unten unter der Kleidung mit DDT-Pulver abgesprüht.

 

Die materielle Überlegenheit der Alliierten war schnell jedermann sichtbar. Kilometerlange LKW-Kolonnen mit Nachschubgütern aller Art rollten durch das Land. Nach wenigen Wochen war das Land besetzt. Die Erleichterung und Erlösung von den Schrecken des Krieges war spürbar. Als die ersten Bürgermeister eingesetzt wurden, fasste man Zuversicht.

 

Alles wurde überschattet von den Nachrichten über die Gräueltaten der Nazis in den Konzentrationslagern. Man wollte zunächst nicht glauben, dass Millionen von Menschen wegen ihrer jüdischen Herkunft vergast worden waren. Wir waren zwar Zeuge gewesen, als 1938 die Synagogen brannten, wir hatten Juden mit ihrem Stern auf der Brust gesehen und gehört, dass die Letzten unter ihnen, denen eine Auswanderung oder Flucht nicht gelungen war, 1942 abgeholt worden waren. Aber von der systematischen Ermordung in Gaskammern wussten nur wenige. Die große Mehrheit hat sich geschämt, als man feststellen musste, dass niemand aus den Vernichtungslagern zurückkehrte.

 

Wie kamen wir, die wir in der NS-Zeit groß geworden waren, mit den neuen Gegebenheiten zurecht? Zunächst war eine große Leere. Die überall sichtbare Zerstörung der Städte und die Not der Menschen, der Flüchtlinge und Evakuierten, verfehlten nicht ihren Eindruck auf uns. Letzte Zweifel, dass die Niederlage verdient war, setzten spätestens ein, als die Verbrechen an unschuldigen Menschen, Kindern, Frauen und Greisen ob ihrer Rasse oder politischen Überzeugung, die man zunächst nicht fassen konnte und auch nicht glauben wollte, zur Gewissheit wurden. Die Bilder von befreiten KZ-Lagern und Bergen von Leichen stehen mir bis heute vor Augen. Man empfand Scham über das, was in fast allen Ländern Europas von deutscher Hand geschehen war. Daneben beherrschten uns die Bemühungen um das eigene Überleben, die Suche nach den Eltern und der Blick in die Zukunft, wobei die neue politische Ordnung bald zu einer eigenen Überzeugung wurde.

 

Unsere Mutter war in den letzten Monaten des Krieges in eine Fabrik zur Herstellung von Tarnnetzen verpflichtet worden, wurde aber wegen verstärkter Luftangriffe und beim Näherrücken der britischen Truppen aus Duisburg nach Korbach bei Kassel evakuiert. In das Haus der Eltern wurden ausgebombte Familien einquartiert. Nach einigen Wochen fanden mein Bruder und ich unsere Mutter in einer Dachwohnung in Korbach in einem stattlichen alten Bürgerhaus, Stechbahn 9, das der Familie Hartwig gehörte und heute unter Denkmalschutz steht. Sie hatte inzwischen über Dritte gehört, dass unser Vater, nachdem er 6 Jahre in Norwegen und Russland bei der Wehrmacht gedient hatte, in Österreich in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten war, dann aber wegen seiner Mitgliedschaft und Tätigkeit in der NSDAP in das Internierungslager in Moosburg, Oberbayern, eingeliefert worden sei. Wir unternahmen mit dem Fahrrad wiederholt Versorgungsfahrten zu ihm und lieferten frühmorgens um 6.00 Uhr am Lagereingang Pakete mit gehamsterten Lebensmitteln für ihn ab.

 

Den Sommer und Herbst verbrachten mein Bruder Werner und ich als landwirtschaftliche Hilfskräfte auf dem Rittergut Hartwig in Thalitter südlich von Korbach. Dort hatten sich Flüchtlinge aus dem Osten, darunter ein Oberst a.D., Evakuierte aus Köln und ein Eleve aus der Nachbarschaft, Burkhard von B., eingefunden, die wir dem Range nach bei Tisch platziert waren, der Herr des Hauses mit seiner Frau am Kopf, der Eleve, mein Bruder und ich am Ende. Wenn der Chef , ein schneller Esser, fertig war und aufstand, war die Mahlzeit beendet, gleichgültig, ob wir auch so weit waren. Eines Tages blieb Burkhard sitzen und aß in aller Ruhe weiter. Als ihm gesagt wurde: „Am Essen erkennt man den Arbeiter“, meinte B.: „Ja, das stimmt. Wer viel arbeitet, muss auch viel essen.“ Der Freundschaft der beiden benachbarten Familien hat dies wohl keinen Abbruch getan, aber geändert hat sich auch nichts.

Morgens um 6.00 Uhr schrillte die Glocke, um 7.00 Uhr waren wir auf dem Feld, für das Mittagessen mit Pause war eine Stunde angesetzt und abends um 6.00 Uhr waren wir halb tot. Der Ton war freundlich, aber bestimmt. Widerspruch war nicht angebracht. Als wir im November nach Duisburg zurückkehrten und uns verabschiedeten, zeigte der Gutsherr sich von seiner anderen Seite: Mit seltener Großzügigkeit wurden wir mit zehn Zentnern Kartoffeln, einem Doppelzentner Weizen, je zwei Doppelzentnern Kohl und Zuckerrüben ausgestattet, die unser einziges Umzugsgut nach Duisburg darstellten, das mit Tanten und Nachbarn in Duisburg zu teilen war.

 

Duisburg war nach 292 Bombenangriffen und mehr als fünf Wochen Artilleriebeschuss weithin ein Trümmerfeld. Die Stadt hatte ein Drittel des deutschen Stahls produziert, besaß in Wedau den zweitgrößten Verschiebebahnhof des Landes, den größten Binnenhafen Europas und beheimatete daneben Werften, Kokereien und Zechen. Kein Wunder also, dass es die am meisten bombardierte Stadt des Reiches war. So sah die Stadt auch aus. 33 % der Häuser waren total, weitere 50 % teilzerstört. Unser Elternhaus in Neudorf war heil geblieben, aber mit Bombengeschädigten, die in der Stadt geblieben waren, weil sie ihren Arbeitsplatz nicht verlassen durften, belegt. Alle mussten sich behelfen, auch wir.

 

Im Dezember 1945 fanden wir uns bei unserer alten Schule, dem Steinbart-Gymnasium in Duisburg ein, das vorübergehend mit dem Mercator-Gymnasium zusammengelegt worden war. Beide Schulen hatten ihre Gebäude durch Bomben verloren und waren in der Volksschule an der Musfeldstrasse in Hochfeld untergebracht. Dort wurde in zwei Schichten, vormittags und nachmittags, unterrichtet. In der Mittagszeit gab es Quäkerspeisung und in den Pausen wurde kräftig geraucht. Als ich zum Klassensprecher gewählt wurde, meinte mein Vater, es wäre wohl besser, ich würde mich mit meiner 5 in Englisch mehr um meine englischen Vokabeln kümmern. Das habe ich dann 7 Jahre später auch getan.

 

Das Abitur konnte ich 1948 mit dem letzten Kriegsteilnehmer-Lehrgang L2 ablegen. In den sogenannten Kriegsteilnehmerlehrgängen saßen entlassene Kriegsgefangene, Flakhelfer, Volkssturmangehörige im Alter von 17 bis 22 Jahren zusammen und konnten sich nur schwer mit lateinischen Vokabeln, mathematischen Formeln oder antiker Geschichte anfreunden. Aber das Kollegium war verständnisvoll und hilfsbereit. Niemand blieb sitzen und keiner fiel durch‘s Abitur.

 

Es war ein Jahrgang, von dem einige später im Beruf sehr erfolgreich sein würden. Franz Josef „Toto“ Weisweiler vom Landfermann-Gymnasium, wurde Sprecher des Vorstandes bei Mannesmann, Hans-Günter Vogelsang von der Gneisenaustraße, mit dem ich den täglichen Schulweg teilte, Vorstandsmitglied bei Siemens, und Karlheinz Seegers machte seinen Weg vom kaufmännischen Lehrling bei Klöckner ebenfalls bis in den Vorstand.

Aber die Schule allein befriedigte nicht. Wir bildeten mit den Mädchen der „Frau Rat Goethe-Schule“ und der „Johanna Sebus-Schule“ eine Spielgemeinschaft und brachten Schillers „Kabale und Liebe“ und „Die Verschwörung des Fiesco“ im Foyer des ansonsten zerstörten Stadttheaters zur Aufführung. Ich durfte in „Kabale und Liebe“ den Ferdinand spielen, Adolf Himmel, später Leiter eines Goethe-Instituts und Kinderbuchautor, den alten Miller, Erika Itschert vom Weinhaus Itschert Lady Milford und Ilse Carmon die Luise. Bei der Generalprobe blieb ich stecken und traf anschliessend auf das Stirnrunzeln des Schulleiters, der das ganze Unternehmen mit Zweifeln begleitet hatte, später aber mit Lob nicht geizte. Die Vorstellung war ausverkauft, der Beifall groß und die Presse wohlmeinend. In der Neuen Ruhrzeitung vom 19.07.1947 hieß es:

 

„Kabale und Liebe von Schülern gespielt.

Mit Schillers „Kabale und Liebe“ gab die Spielgemeinschaft der „Frau Rat Goethe

-Schule“ und des „Mercator-Gymnasiums“ in einer Morgenveranstaltung, deren Reinerlös hilfsbedürftigen Schülern dient, erstmals ihre Visitenkarte ab. Die jungen Darsteller gaben ihr Bestes. Darstellerische Unzulänglichkeiten waren durch Echtheit des Spiels und lebensnahe stoffliche Auffassung beglichen. Erstaunlich im Effekt der einfache technische Rahmen, der dem Ganzen Halt und Stil gab. Die Jugend füllte das Stadttheater und reicher Beifall dankte für die schöne Leistung.“

 

„Kabale und Liebe“ musste wiederholt werden.

 

Als Literaturbeflissene veranstalteten wir regelmäßig in Privatwohnungen literarische Abende, die von musikalischen Darbietungen untermalt wurden. Helmuth de Haas, später bei „Die Welt“ in Essen, Rolf Wisselmann vom WDR, die Pianistenbrüder Manfred und Dieter Müller sowie Adolf Himmel waren regelmäßige Veranstalter und Teilnehmer. Helmuth de Haas, mit dem ich befreundet war, verlor 1947 seine jüngere Schwester Marianne, die beim Schwimmen im Rhein bei Kaiserswerth ertrank. Er selbst verstarb ebenfalls sehr früh, ein begabter und allseits interessierter Mensch, der es verstand, andere für Literatur und die Künste zu begeistern.

 

In besonderer Erinnerung geblieben ist mir ein Abend im Haus unseres Lateinlehrers Dr. Neyses, der uns mehr als Philosoph erschien und von uns allen wegen seiner menschlichen Nähe verehrt wurde. Mit Begeisterung stürzten wir uns auf die angelsächsische, französische und russische Literatur, die uns bis 1945 verborgen geblieben war. Werke von John Steinbeck, Ernest Hemingway, Graham Greene und Feodor Dostojewski gingen von Hand zu Hand, oft nicht als Bücher sondern als ro-ro-ro Zeitungsdrucke des Rowohlt-Verlages.

 

In Düsseldorf besuchten wir das Stadttheater und sahen u.a. den „Faust“ mit Gustav Gründgens, Marianne Hoppe und Elisabeth Flickenschildt und „Die Fliegen“ von Paul Sartre. In Duisburg dirigierte Georg Jochum, Bruder des bekannteren Eugen Jochum, das Duisburger Symphonieorchester. Der Konzertmeister und 1. Violinist Röhrig wurde von unseren Freundinnen angehimmelt. Ich glaube nicht, dass wir ein Jugendkonzert versäumt hätten.

 

Großer Beliebtheit erfreute sich die Tanzschule Frau Tiedemann am Dellplatz. Das Repertoire war einfach: Foxtrott, Tango, langsamer und schneller Walzer. Aber auch die wichtigsten Benimmregeln insbesondere Damen gegenüber waren zu lernen und einzuüben. Bei Mittelund Schlussball war es üblich, bei den Eltern der Dame, die als Partnerin vorgesehen war, einen Besuch mit Blumenstrauß zu machen, wie es auch bei anderen Einladungen üblich war. Die Damenrede, die ich zu halten hatte, war von Vorbildern zusammengeschrieben. Den Text der Rede habe ich heute noch, die Freundin, meine erste große Liebe, ist mir leider wenig später von meinem besten Freund entführt worden.

 

Im übrigen war die Not groß. Zu Hause lebten wir mit Einquartierten eng beieinander. Der Vater war zwar im Juli 1946 aus amerikanischer Internierungshaft entlassen worden, konnte aber erst 1950 seinen Dienst bei der Post als Amtmann wieder aufnehmen.

 

Die Ernährungslage war nicht einfach. Wir haben in den ersten Jahren nach dem Krieg wie viele andere gehungert und oft nur Steckrüben zu essen gehabt. Für die tägliche Schulspeise der Amerikaner und Schweizer waren wir daher äußerst dankbar. Wir hatten in unserer Schultasche neben unseren Heften (Schulbücher gab es noch nicht wieder) den Napf oder das Kochgeschirr und aßen täglich unsere Suppe in der Schulbank. „Hamstern“ und „Kohlenklau“ waren an der Tagesordnung. Mitschüler Adolf Himmel und ich brachen regelmäßig zu „Versorgungsfahrten“ in ländliche Gegenden auf und versuchten u.a. Textilien gegen Lebensmittel einzutauschen. Als wir von einer Hamsterfahrt aus Niedersachsen mit zwei Zentnersäcken Kartoffeln zurück kamen und in Oberhausen aussteigen mussten, wurden wir von zwei britischen Soldaten „gefilzt“ und waren unsere Kartoffeln los. Himmel, dem der Sack genau so wichtig war wie der Inhalt, bekam eins hinter die Ohren, als er die Kartoffeln auf den Bahnsteig kippen wollte. Auf dem Schwarzmarkt wurde mit Rauchwaren, Alkohol und Butter gehandelt. Brennmaterial für unsere Heizung haben wir aus dem Wald oder von Kohlezügen „besorgt“. Ein Strafbefehl wegen Forstdiebstahls hat einige Jahre mein polizeiliches Führungszeugnis geziert.

 

Mit den Schulzeugnissen waren unsere Eltern zufrieden. In Deutsch und Mathematik gab es ein „sehr gut“, in Englisch dagegen eine „Fünf“. Die übrigen Noten lagen dazwischen. Auf dem Abiturzeugnis ist als Berufswunsch „Philologe“ angegeben. Aber es kam anders.

 

 

II Studium in Aachen und Bonn

 

Zu Hause fehlte 1948 das Geld zum Studium. Ich musste also Geld verdienen. So verdingte ich mich mit meinem Klassenkameraden Klaus Spies, der seinen Vater im Krieg verloren hatte, als Gedingeschlepper auf der Schachtanlage „Franz Ott“ der Gewerkschaft „Diergardt-Mevissen“ in Duisburg-Neuenkamp. Klaus Spies sollte später Universitätsprofessor für Bergbaumaschinenkunde an der TH Aachen werden.

 

Es hieß, morgens um 4.30 Uhr aufstehen, vor 6.00 Uhr an der Zeche sein, seine Kennmarke (ich hatte Nr. 731) am Zechentor abgeben, sich in der Waschkaue umziehen, seine aufgeladene Grubenlampe und den geschärften Bohrhammer-Meissel in Empfang nehmen und dann auf Sohle 8 zu fahren. Zu Fuß ging es unter Tage zum Kohlerevier Flöz „Girondelle“, wo uns Reviersteiger Wanja empfing und einwies. Das Streb (Flöz) war 1,20 m mächtig (hoch) und nass. Man konnte sich nur auf Knien (mit Knieschonern) bewegen, erhielt sein Gezähe (Werkzeug) bestehend aus Presslufthammer, Säge, Motek (Hammer) und Schaufel. Und los ging‘s. Mit dem Abbauhammer (angeschlossen an eine Pressluftleitung) wurde die Kohle losgeschlagen, die Kohle mit der Schaufel auf eine Schüttelrutsche geschaufelt und je nach Fortschritt in den Freiraum ein Holzbau gesetzt. Das Holz (Stempel und Schalhölzer) wurde über die Rutsche angeliefert. Die Bauten mussten sicher stehen, sonst konnte es geschehen, dass einem Platten oder Steinbrocken vom „Hangenden“ auf den nackten Oberkörper fielen, was nicht selten geschah. Entsprechende Kohlenarben trage ich bis heute an meinem Körper. Bezahlt wurde nach abgebauten Metern. Später kam ich, wohl wegen meiner Größe, in den Schrägbau zum Flöz „Finefrau“, 80 cm mächtig, Steigung etwa 30 bis 45 Grad, wo die Kohle sich schneller löste und mit Krachen und Donnern in die Tiefe rauschte und auf der Förderstrecke in die Förderloren fiel. Die Arbeit war hier angenehmer, die Luft trocken aber staubiger. Es war besonders wichtig, sichere Bauten zu setzen, denn man arbeitete sich nach oben und stand auf den eigenen Bauten. Da man häufig auf seinem Allerwertesten saß, trug man ein

„Arschleder“, das ich heute noch – wie meinen Helm und meine Kennmarke – besitze.

Es blieb nicht aus, dass ich eines Tages abstürzte, den Presslufthammer mitnahm und in den eigenen Fuß rammte. Da ich am Schacht keinen Ausfahrtschein vom Reviersteiger vorweisen konnte, ließ mich der Schachthauer erst ausfahren, als ich ihm das Blut aus meinem Gummistiefel vor die Füße kippte. Ich wurde sofort ins Krankenhaus gefahren, dort genäht und nach drei Tagen wieder gesund geschrieben.

Als Bergmann bekam man nach jeder Schicht ein Bergmannsbrötchen (mehr ein Brot) mit Wurst belegt, Bergmannspunkte zum Kauf von bewirtschafteten Mangelwaren und jeden Monat ein Paket mit Lebensmitteln. Es geschah nicht selten, dass wir auf dem Weg nach Hause beim Umsteigen auf die Linie 3 am Schwanentor auf dem Schwarzmarkt unsere Brötchen gegen Zigaretten eintauschten, sehr zur Enttäuschung der Eltern und des Bruders.

 

Am 20.06.1948 war die Währungsreform. Die Reichsmark wurde in den westlichen Besatzungszonen (amerikanische, britische, französische) abgeschafft und durch die neue Deutsche Mark (DM) ersetzt. Jeder konnte 60,00 Reichsmark eintauschen, Sparguthaben wurden 10:1 abgewertet, die Hälfte davon später noch mal um 70 % gekürzt. Bis dahin hatte man Geld, aber es gab keine Waren. Alles war rationiert. Wie im Krieg gab es Lebensmittelkarten und Abschnitte für Brot, Butter, Zucker und Kartoffeln. Gebrauchsgegenstände (Fahrrad, Küchengeräte, Öfen) gab es gegen Bezugsscheine oder auf dem schwarzen Markt. Wir hatten beispielsweise alle Spielsachen, darunter unsere schöne Eisenbahn, gegen Fensterscheiben und einen Heizofen eingetauscht. Wie durch ein Wunder waren am Tag nach der Währungsreform fast alle Waren auf dem Thekentisch zu finden. Sie waren auch vorher vorhanden gewesen, wurden aber schwarz gehandelt, weil die Reichsmark nichts wert war. Da gleichzeitig alle 24.000 Vorschriften der staatlichen Bewirtschaftung, die z.T. noch aus der NS-Zeit und der Kriegswirtschaft stammten, abgeschafft und die freie Marktwirtschaft eingeführt wurde, hatten viele Menschen Zweifel, dass dieses Experiment gelingen könnte.

 

Als Vertreter der alliierten Militärregierung – eine deutsche Regierung gab es noch nicht – den deutschen Direktor der Drei-Zonen-Verwaltung, Professor Dr. Ludwig Erhard, später Wirtschaftsminister und Bundeskanzler, der den Wust von Vorschriften einer Planwirtschaft aufgehoben hatte, zur Rede stellten und darauf hinwiesen, ihre Berater hätten von dem Verfahren abgeraten, soll Erhard geantwortet haben, seine Berater hätten dasselbe getan. Tatsächlich wurde durch die Währungsreform und die Beendigung der Planwirtschaft die Basis für das deutsche Wirtschaftswunder gelegt.

 

Nach wenigen Wochen meiner Tätigkeit unter Tage meinte mein Vater, ob es nicht besser sei, Bergbau zu studieren, das sei sicherer und zukunftsträchtiger als Philologe (Lehrer) zu werden. So hatte er sich von Lagerkameraden, die mit ihm in Gefangenschaft waren und aus dem Bergbau stammten, sagen lassen. Ich bin seinem Rat gefolgt und meldete mich beim Oberbergamt in Bochum als Bergbaubeflissener (Praktikant). Voraussetzung für ein Bergbaustudium in Aachen (TH), Clausthal-Zellerfeld (Bergakademie) oder Berlin (TH), war eine einjährige praktische Tätigkeit unter Tage unter Aufsicht des Bergamtes. Es waren samstags besondere Betriebspunkte mit einem Steiger zu befahren und über die Tätigkeit schriftliche Arbeiten zu fertigen. Da Steiger, Obersteiger und Betriebsleiter als einzige besondere Scheinwerferlampen (Blitzer) trugen und man sich in ihrer Begleitung befand, gehörte man sehr schnell zu „denen da oben“. Beliebter wurde man unter den Kumpel dadurch nicht.

 

Nach der Arbeit im Kohleflöz musste ich mehrere Wochen im (Stein) Querschlag arbeiten, der dazu bestimmt war, neue (Kohle-)Abbauflöze anzufahren. Das hieß: Zwei Meter tiefe Bohrlöcher bohren, die mit Dynamit besetzt und gesprengt wurden, das gesprengte Material mit Hand (größere Brocken) oder Schaufel in Loren schaufeln und wieder bohren. Obwohl der Staub, der beim Bohren anfiel, durch Wasser aus den Bohrlöchern herausgespült wurde und man nicht mehr so viel Staub einatmete und sich eine Staublunge holte, wie dies Generationen von Bergleuten erfahren mussten, war dies eine sehr viel härtere Arbeit als beim Kohleabbau. Das Gleiche trifft zu für die Arbeit beim Schachtabteufen. Für diese Arbeit musste ich sechs Wochen nach Hamborn auf die Schachtanlage Thyssen 2/5. Bei Nachtschicht wurde oft der Schlaf am Strand des Amateur-Schwimm-Clubs an der Wedau nachgeholt. Klaus Spies, der andere „Bergmann“, übte sich am Sprungturm.

Neben dem Kohleabbau waren zwei Monate in einem anderen Bergbaubereich zu absolvieren. Ich wählte den Schwefelkies des Unternehmens „Sachtleben“ in Meggen/ Lenne, Sauerland, eine eher gemütliche Zeit. Man wurde freundlich aufgenommen und gut versorgt. Ich wohnte bei der Kriegerwitwe Schulte in der Grubenstraße, die zur Zeche führte. Wir waren zu viert, Herbert Kaiser, F. Schimanski, Günter Eberding und ich. Wir saßen häufig bei „Kreutzmann“ in der Gaststätte und ließen kein Dorffest in Meggen und Umgebung aus. Wenn wir die Töchter des Landes zum Tanz aufforderten, wurde das von der lokalen Jugend oft mit großem Argwohn betrachtet. Manchmal war es besser, das Fest vorzeitig zu verlassen. Sonntägliche Wanderungen führten uns bis zur „Schnellenburg“ bei Attendorn.

Unter Tage trugen wir offene Karbidlampen, da mit Grubengas nicht zu rechnen war. Schwefelkies auf der Schaufel wog schwerer als Kohle oder Gestein, aber man arbeitete weniger Stunden.

 

Nach Meggen ging es zurück in die Kohle nach Neuenkamp mit Helm und Arschleder und zwar zurück in das Flöz „Finefrau“. Zum Abschluss der Beflissenenzeit hatte ich eine Probegrubenfahrt mit einem Bergrat zu bestehen, an der als Prüfling auch der spätere Vorstandssprecher von Mannesmann, Franz Josef Weisweiler, genannt „Toto“, teilnahm. Sehr erfolgreich waren wir nicht. Ein von uns in einer Wetterstrecke zu errichtender Bau fiel leider wieder zusammen, aber da wir uns beim Kohleabbau und im Querschlag bei der Gesteinsarbeit bewährten, haben wir bestanden. Toto, der mit seinen 1,90 m etwas zu groß für den Kohlebergbau war und schon bald auf Hüttenbau umsattelte, ist leider früh verstorben.

Im Wintersemester 1949 war es so weit. Ich begann mein Bergbaustudium in Aachen mit einiger Erwartung und auch Begeisterung. Wegen des numerus clausus im Bergbau wurden nur 50 Studenten pro Semester aufgenommen. Vorlesungen in Physik bei Prof. Wilhelm Fucks, in Höherer Mathematik bei Professor Hubert Cremer und in Mineralogie bei Frau Prof. Doris Schachner waren ein Genuss. Unter Bergleuten bestand ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Nicht wenige waren Kriegsteilnehmer, andere Flüchtlinge aus dem Osten, Geld hatten die Wenigsten und Hunger Viele. Sie wohnten z.T. in Alsdorf und Baesweiler, um an Wochenenden und Feiertagen Schichten auf den dortigen Zechen zu fahren und Geld zu verdienen. Zu schneidigen Kneipen an St. Barbara in der „Postkutsche“ hatte man dennoch Zeit und Geld. Von den Wirtsleuten Jerusalem in der Aretzstraße wurde ich liebevoll bemuttert und ermuntert, den Karneval nicht zu versäumen. Nach einigem Zögern hatte ich keine Hemmungen mehr, mich anzumalen und in die zahlreichen Karnevalsbälle zu stürzen.

 

Im 2. Semester ließ meine Begeisterung für den Bergbau spürbar nach. Der Dekan,

„Kohlepapst“ Prof. Hans Fritzsche, führte ein strenges, fast militärisches Regiment und mit den Fächern Maschinenelemente, Mechanik und Elektrotechnik wusste ich wenig anzufangen. Außerdem erzählte mein Bruder Werner, der inzwischen ein Jura-Studium in Bonn begonnen hatte, von den gelockerten Lehrveranstaltungen und dem vergnügten Studentendasein an einer Universität. Sehr zum Missvergnügen meines Vaters brach ich meine Zelte in Aachen ab und übersiedelte zum Wintersemester 1950/51 nach Bonn, um ebenfalls Jura zu studieren.

 

Da das Universitätshauptgebäude im Krieg teilweise ausgebrannt und noch nicht wieder aufgebaut war, fanden die Vorlesungen in Bad Godesberg in der „Otto-Kühne-Schule“, genannt „Päda“, und umliegenden Gebäuden statt, so in der Neuapostolischen Kirche. Bonn war damals ein Mekka für Jura-Professoren und Studenten. Professoren wie Friedrich Wilhelm Bosch (Familienrecht), Ulrich Scheuner (Verfassungsrecht), Hans Welzel und Helmut von Weber (Strafrecht) sowie Ernst Friesenhahn (Verwaltungsrecht) galten als Koryphäen und hatten bis auf den letzten Platz gefüllte Hörsäle. Für gute Noten in Klausuren und Hausarbeiten musste man sich anstrengen. Oft war man froh, ein „ausreichend“ zu bekommen.

 

Schwieriger war es, eine Wohnung zu finden. Die beiden ersten Semester wohnte ich in Pech, später in Rüngsdorf in der Luisenstraße unter einem Dach mit Professor von Weber, bei dem mein Bruder Werner später promovierte, in der Jahnallee in Plittersdorf und schließlich in der Rheinallee, selbst dann noch, als die juristische Fakultät wieder in das Hauptgebäude der alten Kurfürstlichen Residenz in Bonn umgezogen war.

Nach dem Krieg hatte sich in allen Universitätsstädten das Verbindungsleben, das in der NS-Zeit verboten war, wieder belebt. Neben den konfessionsgebundenen katholischen CV, KV und UV-Verbindungen hatten sich auch die schlagenden Verbindungen, die Corps, Burschenschaften, Landsmannschaften und Turnerschaften wieder etabliert. Schlagende Verbindungen trugen Band und Mütze, schlugen Mensuren, die verboten waren, und unterlagen einem strengen Komment. Man war zunächst „Fuchs“, schlug zwei Partien mit scharfen Schlägern, aber mit Schutz für Augen, Hals und übrigen Körper, und wurde nach zwei Semestern Bursche. Wer geeignet erschien, erfüllte die Aufgabe des Senior (Vorsitzender), Consenior (Fechtwart), Drittchargierter (Schriftführer) oder Fuchsmajor (Lehrmeister). Die wenigsten Verbindungen hatten eigene Häuser, da sie im Krieg zerstört worden waren.

 

Das Corps Brunsviga im Kösener Verband, für das mein Bruder und ich uns entschieden hatten, hatte sein Haus in München verloren und war in Bonn rekonstituiert worden, da die meisten Alten Herren im Westen und Norden beheimatet waren. Man tagte im „Ännchen“ in Bad Godesberg, wie die Bonner Westfalen, die in Bonn ebenfalls ausgebombt waren. Zum Fechtunterricht bei dem Fechtmeister Metzger mussten wir nach Bonn. Mensuren wurden an verborgenen Orten geschlagen: auf der Cäcilienhöhe, damals ein ländliches Café-Restaurant, auf der Godesburg oder im Kottenforst. Bei uns waren zwei Fuchsenpartien und drei Burschenpartien üblich. Meine erste Partie schlug ich mit Dinnies von der Osten von den Bonner Preussen und meine letzte, eine PP-Partie, mit dem Rhenanen Günter Hegemann, der mich auf Schmiss abführte.

 

 

 

Als Senior bei Brunsviga

 

 

Erst durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) wurde 1954 die Mensur für straffrei erklärt. Bis dahin musste man in Bonn mit einer Relegation rechnen, wenn man nach einer Mensur seinen Verband zur Schau stellte. Meine Bestrafung bestand darin, dass mir als Bewohner des Carl-Schurz-Studentenwohnheims fristlos gekündigt wurde. Höhepunkte bei Brunsviga waren die jährlichen Weihnachtsfeste in den „Rheinterrassen“ in Düsseldorf oder dem „Achtermann“ in Goslar. Einen Teil der Sommerferien haben wir bei Alten Herren auf landwirtschaftlichen Gütern und Domänen in Niedersachsen verbracht.

 

Befreundet waren wir damals mit dem Corps Hansea in Köln, bei dem Alfred Herrhausen aktiv war und wie ich bei Brunsviga als Senior diente. Er wurde später Sprecher der Deutschen Bank und am 30. November 1989 von RAF-Terroristen ermordet.

 

Das Studium mussten mein Bruder und ich selbst finanzieren. Wir verdienten in den Semesterferien, aber auch zu Ostern und Weihnachten, unser Geld als Hilfsarbeiter bei den Röhrenwerken von Mannesmann in Duisburg-Huckingen und an den Siemens-Martin-Öfen und Thomasbirnen in den Stahlwerken von Hüttenheim. Später arbeiteten wir als Aushilfsangestellte im Bundesinnenministerium und der Bundestagsverwaltung in Bonn. Werner verdiente zusätzliches Geld mit seinem Deutschunterricht, den er – vermittelt durch Freunde – u.a. dem englischen Hochkommissar Sir Frederic Hoyer-Miller erteilte.

 

Durch Fleißprüfungen konnte man seine Studiengebühren, die sich auf ca. 150 DM im Semester beliefen, teilweise oder ganz erlassen bekommen und einen Freitisch in der Mensa erhalten. Das billigste Essen war eine Suppe in einem Blechnapf für 0,25 DM. Ein Tellergericht kostete 1,20 DM und ein Essen im Restaurant an weiß gedeckten Tischen mit Bedienung 2,50 DM.

 

Wer in Rüngsdorf wohnte wie wir, hatte es nicht weit zum Rüngsdorfer Schwimmbad (heute „Panoramabad“ genannt), wo man oft mit Consemestern oder Bundesbrüdern im Sommer das Wochenende vertrödelte.

 

Ein großes Erlebnis war die Teilnahme mit sechs Kommilitonen der Uni Bonn an einem Völkerrechtlichen Seminar in Genf bei den Vereinten Nationen, wo der Seminarleiter Prof. Hersch Lauterpacht aus den USA, eine internationale Koryphäe, uns sehr beeindruckte. Bei Gesprächen mit Teilnehmern aus anderen europäischen Ländern und den USA ging es häufig um die Verbrechen der NS-Herrschaft insbesondere den Völ-

kermord an den Juden. Dabei wurden Zweifel geäußert, die Deutschen hätten in ihrer großen Mehrheit von den Gräueltaten keine Kenntnis gehabt.

 

Im Sommer 1950 schafften es mein Bruder und ich bei Berchtesgaden, wo wir Mitglieder des Alpenvereins wurden, schwarz über die Grenze nach Österreich zu gelangen, um in Tirol Bergtouren zu unternehmen. Eine offizielle Einreise wäre nur mit Visum möglich gewesen, das zu erhalten damals nicht einfach war. Mit der kargen Ausrüstung unseres Vaters (ein Paar Steigeisen, ein Eispickel) und Nagelschuhen ging es bei St. Bartholomae am Königsee über die Saugasse zum Steinernen Meer am Funtensee vorbei hinab nach Saalfelden.

 

Wir hatten jeder 150 DM gespart und uns den Großglockner und den Groß-Venediger in den Tauern und die Wildspitze im Ötztal vorgenommen. Zunächst ging es von der Hütte der Akademischen Sektion Wien über die Pasterze mit geliehenem Seil und kurzer Lederhose zur „Erzherzog-Johann-Hütte“ und von dort über den Kleinglockner und den Grat der Palavicini-Rinne zum Gipfel des Groß-Glockner, mit 3798 m der höchste Berg Österreichs. Gegen die Kälte hatten wir schließlich doch unsere Trainingshosen angezogen. Einige Tage später standen wir am Gipfelkreuz des Groß-Venedigers und pflückten beim Abstieg oberhalb der „Kürsinger Hütte“ verbotenerweise Edelweiß, wobei sich mein Bruder beinahe im Fels verstiegen hätte. Als Anhalter ging es über den Gerlos-Pass ins Zillertal, von dort über Ötz in das Ötztal und schließlich in einem Jeep von Zwieselstein nach Vent. In Vent kauften wir Proviant und stiegen zur „Breslauer Hütte“ auf. Am nächsten Tag konnten wir – wieder mit geliehenem Seil – einen der schönsten Gipfel der Tiroler Alpen, die Wildspitze, besteigen. Als wir beglückt auf dem Gipfel standen, waren wir ein wenig stolz.

 

Auf der Hütte lernten wir ein Studentenehepaar Ove und Esther Nielsen aus Kopenhagen kennen, die wohl noch weniger Geld als wir hatten. Es bedurfte einiger Überredungskünste, bis ich bereit war, Ove in einer weiteren Tour auf den Gipfel zu führen. Es war sicherlich leichtsinnig: immer noch in kurzer Lederhose und nach drei Touren schon Bergführer sein zu wollen. Aber es ging gut.

 

 

Mit Ove Nielsen 1950 auf der Wildspitze, 3774 m

 

 

Bei Bregenz ging es wieder schwarz über die Grenze, dieses Mal bei Nacht durch die Leiblach. Ohne Geld in Lindau angekommen, wartete Gott sei Dank auf der Post ein Geldbetrag des Vaters auf uns. Nach diesen Erfahrungen waren die Grundlagen geschaffen für spätere Bergtouren auf Viertausender darunter das Matterhorn und der Piz Palü und schließlich auch mit den eigenen Söhnen, die später den Mount Blanc und den Kilimandscharo besteigen sollten.

 

Vom Asta wurde im Winter 1951 ein Skiaufenthalt auf der Hütte Schneibstein am Jenner bei Berchtesgaden vermittelt, an dem ich mit großem Vergnügen teilnahm. Ein weiterer Teilnehmer war Dieter Gescher, dessen Kollege ich später im Auswärtigen Amt wurde.

 

Im dritten Semester lernte ich einen kanadischen Austauschstudenten aus Toronto kennen, Richard Tait, mit dem ich mich bald anfreundete. Er studierte deutsche Literatur und wurde später kanadischer Diplomat. Wir waren recht unternehmungslustig. Wir besuchten meinen Bruder in Paris, befuhren in Gelsenkirchen die Kohlenzeche „Pluto“, die von Bergassessor Wilhelm Berkenkamp, einem Corpsbruder, geleitet wurde und verbrachten erlebnisreiche Wochen auf dem Domänengut eines weiteren Corpsbruders, Anton Meyer-Hochheim, der „Brandenburg“ bei Stadthagen. Dort herrschte stets ein fröhliches Leben. Dazu trugen die beiden Töchter Loni und Irmhild („Schnipp“) in erheblichem Maße bei. Es wurde geritten und getanzt, in der Erntezeit aber auch kräftig mit angefasst.

Richard Tait war verlobt mit Janice Johnson, die er bald heiratete und mit der er eine komfortable Wohnung in der Plittersdorfer Straße in Bad Godesberg bezog. Als seine Eltern zu Besuch kamen, entstand die Idee, dass ich nach dem Examen für ein Jahr nach Toronto kommen könnte, um dort zu studieren. Vater Marcus Tait war Professor am University College der University of Toronto, und lud mich ein, zunächst bei ihm zu wohnen und mir bei der Immatrikulation behilflich zu sein. Dies kam mir sehr gelegen, da ich zwei Mal bei Bewerbungen für ein Fulbrightstipendium in den USA durchgefallen war. Richard Tait stellte mich einer amerikanischen Austauschstudentin, Hildegard Scheffey aus Merion bei Philadelphia vor, die bei ihren Gasteltern, der Familie Hans Mayer, in der Deutschherrenstraße wohnte. Es war damals nicht zu ahnen, dass wir einige Jahre später heiraten würden.

 

 

 

Im Studium wurde es ernst. Wenn man sich beim OLG in Düsseldorf zum Referendarexamen melden wollte, mussten sog. „Scheine“ vorgelegt werden, die belegten, dass man auf den wichtigsten Rechtsgebieten eine bestimmte Zahl von Klausuren und Hausarbeiten geschrieben hatte. Auch der Repetitor, Dr. Kurt Vosskuhl, hatte sein Placet zu geben. Da ich bereits zweieinhalb Jahre durch meinen Ausflug in den Bergbau verloren hatte (in Wahrheit hat mir die Zeit unter Tage später sehr geholfen, mit schwierigen Situationen fertig zu werden und die Nerven zu behalten) meinte ich, mich nach der Mindestzahl von sechs Semestern zum Examen melden zu können. Repetitor und Freunde rieten ab, jedoch ohne Erfolg. Ich bestand das Examen, zwar nur mit „ausreichend“, aber mir reichte die Note, obschon ich meinen Freund, Dieter Grünewald, der neben mir saß und später Ministerialrat im Düsseldorfer Kultusministerium wurde, ein wenig um sein „gut“ beneidete.

 

Nun sollte es nach Kanada gehen, aber mir fehlte das Geld für die Überfahrt. Ich arbeitete so lange als Angestellter in der Verwaltung des Bundestages bis ich die 800 DM für die Überfahrt zusammen hatte. Im Archiv war ich mit der Vorarbeit für eine Neuauflage des Kommentars zur Geschäftsordnung des Bundestages befasst. Daneben betrieb ich meine Einwanderung nach Kanada, da ich ohne „green card“ nicht hätte arbeiten dürfen, um das Studienjahr in Kanada zu finanzieren.

 

 

III Kanada 1955–1957

 

Anfang Juli 1955 war es soweit. Nachdem Professor Tait für mich gebürgt und zugesagt hatte, für die erste Zeit für meinen Unterhalt zu sorgen und mich bei ihm wohnen zu lassen 1, erhielt ich mit Schreiben der Kanadischen Einwanderer-Mission vom 7.07.1955 die Nachricht, dass meine Einwanderung genehmigt sei und mir ein Visum erteilt werden könne. Die Freude war groß. Es war eine Zeit, als wir, jedenfalls die meisten meiner Generation, den Drang verspürten, das Ausland kennen zu lernen. Amerika war der große Traum. Wenn es nicht die USA sein konnte, dann eben Kanada.

 

Gebucht wurde auf dem Schiff „Prins Frederik Willem“ der Oranje-Linie, die am 7.08.1955 von Rotterdam ablegte. Es handelte sich um ein Frachter/Passagierschiff, das den St. Lawrence-Strom aufwärts über die großen Seen bis nach Chicago fahren sollte. Wer im Frühjahr nach der Eisschmelze als erster Frachter Chicago erreichte, wurde gefeiert. Unser Kapitän war stolz, es im Vorjahr geschafft zu haben. Die „Prins Frederik Willem“ erschien mit ihren 78 m Länge und nur 3500 BRT wie eine Nussschale gegenüber den anderen Überseeschiffen im Hafen. Sie war aber erst vier Jahre alt und mit den damals modernsten seetechnischen Geräten ausgestattet: eine automatische Steuerung (beim Verlassen des Kanals wurde die Steuerung auf die Nordspitze von Neufundland ausgerichtet), einer Radaranlage mit 15 Meilen Reichweite (bis zum Horizont waren es 25 Meilen). Die Besatzung bestand neben dem Kapitän aus neun Offizieren, acht Matrosen und zwölf Mann weiteres Personal. Der Kapitän war mit 62 Jahren, davon 40 Jahre auf See, der Senior. Wie viele Niederländer diente er während des Krieges bei der britischen Royal Navy. Zweimal wurde sein Schiff von Torpedos deutscher U-Boote getroffen, geredet wurde darüber nicht. Wir waren zwölf Passagiere, ganz überwiegend junge Auswanderer aus den Niederlanden und ein amerikanisches Ehepaar als heimkehrende Touristen. Wenn niederländisch gesprochen wurde, konnte ich den Gesprächen halbwegs folgen, da im Elternhaus meiner Mutter oft der niederdeutsche Dialekt gesprochen wurde. Nach wenigen Tagen auf See (die Überfahrt sollte elf Tage dauern) hatten wir untereinander Freundschaften geschlossen, auch zur Gitarre gesungen, wobei die Niederländer „In der Lüneburger Heide“ und „Kein schöner Land“ in Deutsch anstimmten und ich inzwischen das „Geusenlied“ auf Holländisch gelernt hatte. Es blieb nicht aus, dass über den Krieg gesprochen wurde. Es gab keinen, der nicht betroffen gewesen wäre, oder unter ihm gelitten hätte, aber niemand meinte, mir einen Vorwurf machen zu sollen, zumal der Wiederaufbau Deutschlands allgemeine Anerkennung fand.

 

Die Erlebnisse auf dem Meer, die Weite und die Farben bei Sonnenauf- und untergang waren jeden Tag aufs Neue überwältigend.

 

Am 4. Tag war es aus mit der Ruhe an Bord. In meinem Reisebericht an die Eltern heißt es:

„11.08.: Das Wetter ist vollkommen umgeschlagen. Es ist, als sei der ganze Atlantik in Aufruhr geraten. Das Schiff wird hin und her geschaukelt. Nicht nur, dass sich Bug und Heck heben und senken, sondern gleichzeitig fliegt man von Steuerbord nach Backbord. Riesige Wellen brechen über die Laderäume des Vorderschiffs herein und die Gischt sprüht an die Fenster der Messe, die unterhalb der Brücke sich befindet. Fast alle Passagiere haben, soweit sie überhaupt erschienen waren, das Frühstück wieder ins Meer gespuckt. Die Offiziere grinsen natürlich, dass zum Mittagessen nur zwei Passagiere erscheinen, der Amerikaner und ich. Manchesmal bin ich nahe dabei, aber ich habe Glück.

 

Am Nachmittag ist es nicht besser und ich bekomme langsam Kopfschmerzen. Im Schutze des Mittschiffaufbaues gehe ich an Deck und harre der Dinge, die kommen. Wasser, Wasser und nochmals Wasser. Unwillkürlich kommen dann Gedanken, wie hoffnungslos verloren man ist, wenn, wie im Kriege, bei solchem Sturm Schiffe untergehen. Wie viele mögen hier ihr Grab gefunden haben.

 

Abends erzählt der Kapitän, dass auf der letzten Fahrt bei solchem Sturm ein Matrose in der Nacht über Bord gegangen ist und jeder Rettungsversuch ergebnislos blieb. Um

23.00 Uhr beruhigt sich die See und Sterne und Mond lassen sich wieder blicken. Wir gehen noch einmal zum Bug nach vorn und können beobachten, wie in der aufschäumenden Gischt kleine und viele Phosphorteilchen sichtbar werden und sich wie ein kleines Feuerwerk ausnehmen. Ich gehe um 12.00 Uhr in die Koje. Wir sind mehr Lazarett als Passagierschiff geworden“.

 

Am 12.08. habe ich festgehalten:

„Eine große Überraschung war, als mit einem Male ein großer Schwarm Delphine auftauchte und eine Stunde das Schiff umspielte. Mit großer Geschwindigkeit umkreisten sie das Schiff und wetteiferten mit ihren großen Sprüngen, die sie ca vier bis fünf Meter über das Wasser trugen. Sie sind etwa ein bis zwei Meter lang und haben ein sehr spitzes Maul. Das Umkreisen der Schiffe ist eine Spielerei für sie.“

 

Allmählich näherten wir uns der Region treibender Eisberge. Wir alle wollten mehr

wissen. Vor allem darüber, welche Lehren man aus dem Untergang der Titanic gezogen hatte. Am 14.08.war es soweit. Den Eltern schrieb ich:

„Es waren riesige Eisbrocken, die von Labrador und Grönland in dieser Jahreszeit sich lösen und langsam nach Süden abtreiben und dabei abschmelzen. Wir wurden unterrichtet, dass 180 Eisberge auf dem Wege gen Süden seien. Vom Seetechnischen her ist dazu zu sagen, dass fortwährend kanadische Flugzeuge unterwegs sind, mit Radar die Eisberge anpeilen und den augenblicklichen Standort mit Drift einer Zentralradiostation an der Küste mitteilen. So kann sich jedes Schiff auf einer bestimmten Wellenlänge auf dem Radioweg über die Standorte der Eisberge informieren.

 

Auf unserer Seekarte sind sämtliche Eisberge, die unsere Route berühren, bereits verzeichnet, so dass sogar bei Nacht und Nebel die Maschinen mit voller Kraft fahren können. Dazu tritt dann das eigene Radargerät noch in Funktion. Der erste Eisberg tauchte um 14 Uhr auf. In 4 bis 5 km Entfernung zeigte sich ein mächtiges bizarres Gebilde, das eine Höhe von 40 m gehabt haben mag. Alle halben Stunden überraschte uns dann ein neuer Eisberg in immer schöneren Formen. Aus großer Entfernung muten sie wie der Gipfel eines Schneeberges an, aus naher Sicht glaubt man dann, überdimensionale Eisschlösser vor sich zu haben. Einfach unbeschreiblich!“

 

Bald kam Neufundland in Sicht. Zwar würden wir noch vier Tage bis Montreal benötigen, aber wir hatten das Ziel, den amerikanischen Kontinent, erreicht. Es wurde die Strait of Belle Isle durchfahren, die Insel Anticosti passiert und dann ging es den St. Lawrence Strom aufwärts mit zwei Lotsen an Bord und an Quebec vorbei. Das Schiff war zur zweiten Heimat geworden. Dennoch waren alle froh, bald die Füße wieder auf festes Land setzen zu können, obgleich die Reise für mich lange Zeit das schönste Erlebnis bleiben sollte. Zum Abschied tauchten noch Wale auf, wie sie sich langsam zur Oberfläche wälzten und in großen Fontänen ihre Luft ausatmeten.

 

Am 18.08.1955 ging ich in Montreal an Land. Es war heiß und schwül, man hörte nur noch Englisch und Französisch, verstand die Hälfte nicht, aber man hatte als sogenannter „Landed Immigrant“ die „Canadian Immigration ID-Card“ in der Hand.2

 

Es ging mit der Eisenbahn zunächst nach Ottawa, wo ich zum Einleben einige Tage bei meinem Freund Richard Tait und seiner Familie bleiben konnte. Er war inzwischen Kanadischer Diplomat geworden und im Protokoll tätig. In Toronto wurde ich von seinen Eltern in Empfang genommen, bei denen ich zunächst wohnen durfte. Professor Tait war Altphilologe und lehrte Griechische Geschichte, Sprache und Literatur am University College der Universität Toronto. Taits wohnten in einem komfortablen und geräumigen Einfamilienhaus nicht weit vom Campus in der Farnham Ave, einer ruhigen Seitenstraße der Avenue Rd.

 

Während Professor Tait sich um meine Zulassung zum Studium an der Faculty of Arts bemühte – ich war an einem kanadischen BA und nicht an einem juristischen Studium interessiert – musste ich zusehen, sobald als möglich Geld zu verdienen, um mein Studium finanzieren zu können. Meine Barschaft bei Ankunft bestand aus 80,00 kanadischen Dollar. Es waren Studiengebühren und die Kosten für den Aufenthalt in einem Studentenheim (Residence) aufzubringen, die diesen Betrag bei weitem überstiegen.

 

Der erste Arbeitgeber war eine Baufirma, die vor wenigen Jahren von polnischen Einwanderern, früheren Zwangsarbeitern in Deutschland, gegründet worden war. Es wurde im Akkord bei sommerlichen Temperaturen von über 30° Celsius eine Siedlung mit Einfamilienhäusern errichtet. Als Hilfsarbeiter hatte ich Ziegelsteine und Speis heranzuschleppen. Ich bekam alle Wörter zu hören, die sich die Maurer als Zwangsarbeiter jahrelang auf deutschen Baustellen anhören mussten, wobei man keineswegs bösartig war. Nach zwei Wochen habe ich kapituliert und wurde Mitarbeiter in einer Einmannspedition. Ein schottischer Einwanderer lieferte in seinem Kleinwagen elektrische Geräte, darunter Fernseher, Herde und riesige Kühlschränke vom Großhandel zu den Kunden. Wenn die Geräte angeschlossen waren, gab es Trinkgeld, auch schon mal nichts, wenn der Kühlschrank zu groß war und nicht durch die Tür ging.

 

Inzwischen hatte Professor Tait erreicht, dass ich auf Grund meines Studiums in Aachen und Bonn zum Third Year des dreijährigen General Course an der Faculty of Arts zugelassen wurde, so dass ich nach einem Jahr das Examen zum BA ablegen konnte. Ich belegte die Fächer Art und Archaeology, Geschichte Kanadas und der USA, Wirtschaftsgeschichte Kanadas und Deutsche Literatur. Ebenso wichtig für mich war die Aufnahme in die Sir Daniel Wilson Residence, wo ich im Wallace-Haus mit Post-Graduates aus verschiedenen Ländern untergebracht war, so aus Australien, Trinidad, Barbados, Holland, Hongkong, Korea und Israel. Dean der Residence war Professor Claude Bissell, Don unseres Hauses der kanadische Schriftsteller Robert Finch.

 

Ohne die tatkräftige Hilfe von Professor Tait wäre mir das Studium in Kanada nicht möglich gewesen. Sein Sohn Richard machte später in External Affairs (Außenministerium) eine bemerkenswerte Karriere und blieb über Jahrzehnte ein enger Freund. Sein Bruder Michael wurde Schriftsteller, schrieb Dramen und war dem Theater verbunden.

 

Die Weihnachtstage 1955 habe ich bei der Familie Scheffey in Merion, Pensylvania verbracht. Ich hatte Tochter Hildegard während ihres Studiums in Bonn kennen gelernt und war für die Feiertage von ihren Eltern nach Merion eingeladen worden. Mit Greyhound und Eisenbahn ging es über New York, wo ich meine erste Nacht auf US-amerikanischem Boden im YMCA verbrachte, nach Philadelphia.

 

University College Toronto, gegründet 1853

 

 

 

Die Bewohner des Wallace-Hauses 1955, mit unserem Don Professor Finch

 

 

Wir waren zu mehreren Gästen und genossen die Tage in großzügiger Umgebung. Die Eltern Dr. Lewis und Anna Scheffey waren in ihrer Gastfreundschaft nicht zu übertreffen. Die Bescherung an Heiligabend war eine fröhliche Angelegenheit, beim Weihnachtsessen saßen zwanzig Personen am Tisch: Familie, Freunde, Gäste. In lebhafter Erinnerung ist mir ein Konzert des Philadelphia Orchestra mit Eugene Ormandy als Dirigent und dem Violinisten Isaac Stern, der Beethovens Violinkonzert op. 61 spielte. Ausflüge in die Innenstadt machten uns mit den Zeugnissen der amerikanischen Unabhängigkeit bekannt wie die Independence Hall und die Liberty Bell.

 

Nach Weihnachten habe ich die Cousine meines Vaters in Detroit besucht. Sie war als Hilda Gutacker in den zwanziger Jahren in die USA ausgewandert und hatte einen polnischen Autoingenieur, Karl Gosziniak, geheiratet, der bei Ford oder GM tätig war. Ihre Tochter Gitta besuchte die University of Michigan in Ann Arbor. Wir hatten uns viel zu erzählen, vor allem über die Kriegsund Nachkriegsjahre und die gemeinsame Verwandtschaft zu Hause.

 

Die Umstellung auf ein Studium in Kanada fiel mir leicht. Unterstützung kam von allen Seiten. Professoren sprachen mich auf dem Campus an, ob sie behilflich sein könnten. In guter Erinnerung ist mir der FROS (Friendly Relations with Overseas Students) geblieben, der von Kay Riddell, der jungen Witwe eines kanadischen Diplomaten geleitet wurde. Dort konnte man sich jederzeit Rat holen und Kontakte knüpfen.

 

Von der Universität erhielt ich großzügige bursaries (Stipendien) in Höhe von 150,00 und 200,00 kanadischen Dollar. Anfängliche Sprachschwierigkeiten wurden übersehen und die Tatsache, dass man nur zehn Jahre nach dem Krieg als erster Deutscher in die Residenz aufgenommen wurde, wurde eher positiv gesehen. Andererseits waren Gespräche über den Krieg, die Verbrechen der NS-Herrschaft und der millionenfache Mord an den Juden unvermeidbar. Die Diskussionen gingen manchmal über Stunden. So saßen wir im common room unseres Wallace-House oft bis Mitternacht zusammen und diskutierten. Es nutzte nichts, dass man bei Kriegsende 16 Jahre alt und selbst ohne Schuld war. Der Freundschaft untereinander hat dies nicht geschadet. Mit zwei der damaligen Kommilitonen stand ich lange Zeit in Verbindung. Darunter Jack McLeod aus Saskatoon, der später Professor der Ökonomie wurde und nach seiner Pensionierung sich der Schriftstellerei widmete. Gespräche mit ihm waren immer ein hoher Genuss, gewürzt mit viel Humor.

Meine Professoren zeigten zunächst Milde. Mein Englisch war wirklich nicht überragend. Die Zwischenexamen vor Weihnachten fielen nicht in allen Fächern berückend aus. Als aber im Englischen der Groschen gefallen war und sich meine Ausdrucksweise und mein Verständnis verbessert hatten, konnte ich mit besseren Noten bis hin zum B (gut) aufwarten.

 

Die interessantesten Vorlesungen waren in Art and Archaeologie (Europäische Kunst von 1500 bis in die Gegenwart), die von Professor Dr. P. H. Brieger und dem Amerikaner Kettlewell gehalten wurden. Professor Dr. Brieger hatte an der Universität Breslau gelehrt und war als Jude mit seiner Frau den Vernichtungslagern der Nazis entkommen. Ihm war übrigens als Flüchtling von Professor Tait bei der Übernahme in die Hochschullaufbahn geholfen worden. Zu Professor Brieger entwickelte sich ein gutes persönliches Verhältnis. Er beschäftigte mich in seinem Institut mit Nebentätigkeiten, die nicht hoch dotiert, aber interessant waren. In einer anglikanischen Kirche, St. Andrews, war ich außerdem bei abendlichen Gemeindeveranstaltungen als Rezeptionist tätig.

 

Meine Haupteinkünfte bezog ich jedoch aus einer Tätigkeit in der Howard-FergusonDining Hall, morgens und mittags als Aufsicht, abends als Kellner. Beim Abendessen trug man einen schwarzen Umhang (gown), der Dean saß erhöht mit anderen Professoren am headtable. Das Tischgebet war so gefasst, dass es von Katholiken, Protestanten und Kommilitonen mosaischen Glaubens mitgesprochen werden konnte. Unser Headwaiter, Maurice Husken aus Holland, setzte mich nach Weihnachten als seinen Vertreter ein, sodass ich bald in der Lage war, meine Studiengebühren und meine Residence-Fees in voller Höhe zu bezahlen.

 

Bei aller Arbeit habe ich nicht als Asket gelebt. Ich habe kaum ein Footballgame (im Herbst) und kaum ein Eishockeyspiel (im Winter) der Universität verpasst. Auch nicht die Bierparties anschließend auf den Verbindungshäusern. Es wurden Tanzbälle, Musicalaufführungen („Kiss me Kate“) und Theaterabende besucht. Gutmeinende Kommilitonen meinten mir eine Freude zu machen, mich auf den Golfplatz oder zum Wasserskifahren auf Lake Simcoe mitzunehmen. Nachdem ich zahllose Golfbälle verschossen hatte und ich bei zehn Anläufen beim Wasserski nach wenigen Metern immer wieder im Wasser landete, blieben die Einladungen aus. Angenehme Erinnerungen habe ich an die Wochenenden in der Cottage der Familie Tait in Foxpoint am Lake of Bays. Die wunderschönen Farbtönungen des „Indian Summer“ sind mir in bleibender Erinnerung geblieben. Auch eine schwere Erkältung, als ich meinte, im September noch im See schwimmen gehen zu können. Etwas ängstlich war ich geworden, als ich, allein im Kanu unterwegs, glaubte, in dem Labyrinth der Seen die Orientierung verloren zu haben.

 

Mit Mrs. Ruth Tait und Michael Tait 1955 in Foxpoint,

Lake of Bays, Ontario

 

 

Um Aussichten auf einen zufriedenstellenden Abschluss zu haben, habe ich wohl doch die meiste Zeit auf meinem Zimmer gepaukt. Es wurde viel verlangt, wie die Prüfungsaufgaben in den einzelnen Fächern belegen:

In Art and Archaeology war zu behandeln

- Describe the landscape paintigs of Peter Breughel the Elder and indicate the concept of the visible world they embody.

- How does the Counter-Reformation movement manifest itself in the art of Rubens?

- Compare the “realism” of Caravaggio with the “realism” of Courbet.

- What are the ideals of “classicism” as they are presented in the art of Poussin and David?

In Geschichte lauteten die Themen u.a.

- Was the social and economic structure of New France a source ot strength or of weakness in the struggle with Great Britain for the control of North America?

- Explain British policy respecting the Province of Quebec as shown in the Royal Proclamation of 1763 and the Quebec Act of 1774.

- Assess the soundness of Lord Durham`s diagnosis of the situation in Upper and Lower Canada.

- “Political deadlock was the real Father of Canadian Confederation.” Do you agree?

 

In Deutsch musste zu folgenden Fragen Stellung genommen werden

- There are cogent reasons why “König Ottokars Glück und Ende” fails as a tragedy. Discuss.

- What is the real motivation of the tragedy in Rose Bernd?

- The ending of “Die Weber”, dramatic in itself, is not consistent with the whole action. Discuss.

- Do you consider Buddenbrooks as a piece of nineteenth century history, to represent true history?

 

Ich war höchst überrascht, mit einem B+ abzuschneiden. Ich konnte es kaum glauben, meinen Namen u.a. im „Toronto Daily Star“ vom 19.05.1956 zu sehen. Auch die Familie Tait war glücklich über mein bestandenes Examen, zumal man wohl auch in der

Familie Zweifel hatte, ob der BA in einem Jahr zu schaffen sei. Mein Diplom zeigte die Unterschrift des Universitätspräsidenten Sidney E. Smith, der später kanadischer Außenminister werden sollte, während unser Dean Dr. Bissell später zum Universitätspräsidenten gewählt wurde.

 

Nun hieß es schnell Arbeit zu finden. Ich wollte genügend sparen, um nicht bei meiner Rückkehr nach Deutschland wieder ohne Geld dazustehen. Zunächst aber fuhr ich zur Deutschen Botschaft nach Ottawa und erkundigte mich nach den Bedingungen für eine Bewerbung für den Auswärtigen Dienst. Ich wurde an Legationsrat Karl-Günther von Hase verwiesen, der mir nach eingehendem Gespräch den Rat gab, für ein Jahr nach Montreal oder Quebec zu gehen, um wenigstens Anfangskenntnisse in Französisch zu erlangen.

 

Meine Arbeitssuche konzentrierte sich nun auf Montreal. Montreal war damals die Hauptstadt von Wirtschaft, Handel und Finanzen. Alle großen Unternehmen hatten hier ihr Hauptquartier, Banken, Versicherungen, Transport, Chemie, Kommunikation. Toronto galt eher als eine spießige, etwas rückständige Provinzhauptstadt, in der der Sonntag heilig und der Alkohol in der Öffentlichkeit verboten war. In der Bar saßen Männlein und Weiblein getrennt. Man war gottesfürchtig und strebsam. In Montreal saßen aber nicht nur die Bosse der Wirtschaft. Auch das kulturelle Leben war hier zu Hause. Alles war etwas lockerer, mit Mc Gill hatte man eine ebenbürtige Universität, und an Wochenenden war alles auf den Beinen.

 

Ich fand bald bei „Dupont of Canada“ an der „Beaver Hall Hill“ eine Sachbearbeiterstelle in der Chemical Sales Division. „His duties related to the purchase, sales and expediting of chemical products“ hieß es in meiner Abschlussbeurteilung. Wir saßen zu zwölft in einem Büro in Reih und Glied aufgereiht. Man fing hinten an und arbeitete sich nach vorn. Der Supervisor Roger Barrie saß erhöht und überwachte mit scharfen Augen seine Herde. Er war andererseits stets hilfsbereit und sah zu, dass nichts anbrannte. Der monatliche Bruttolohn belief sich auf 300,00 Dollar. Es kam also darauf an, preisgünstig zu wohnen. Während der Semesterferien boten sich die Verbindungshäuser auf dem Universitätscampus an. Da ich eine Empfehlung hatte, bezog ich das „Alpha Delta Phi“ oder „A.D. House“, das in den Ferien von Berufsanfängern wie mir und Besuchern überwiegend aus England bevölkert war.

 

Bei Semesterbeginn übersiedelte ich in eine frühere Bischofsresidenz („AmherstHouse“) an der Cote de Neiges. Wir waren zwölf Immigranten, Post Graduate Studenten oder durchreisende Zugvögel aus Commonwealth-Ländern. Chef war der Hauptmieter, ein Brite, der ein strenges Regiment führte: Gemeinsames Abendessen mit Jackett, Krawatte und Gebet. An Wochenenden war dagegen jede Etikette vergessen. Es wurden ausgelassene Parties gefeiert, getrunken und getanzt, aber alles im Rahmen guten Benehmens. Die oberen Räume waren grundsätzlich „off limits“ und abgesperrt.

 

 

Unter unseren Gästen waren zwei muntere junge Engländerinnen, die ebenfalls für ein Jahr die Welt kennen lernen durften: Clare Bennett und Georgina Clive-Ponsonby-Fane. Georgina hatte sich bald verlobt und Clare war so freundlich, mir auf der Rückreise in London den Besuch einer Gerichtsverhandlung in Old Baily zu ermöglichen, wo ihr Onkel, Lord Evershed, als Richter tätig war. Die Einladung zum Tee in Beaconsfield konnte nicht englischer sein und hat mich sehr beeindruckt.

 

Mit dem Französischen machte ich allerdings weniger Fortschritte. In Montreal selbst wurde ganz überwiegend Englisch gesprochen. Die Franko-Kanadier lebten in Outremont, dem franco-kanadischen Teil der Stadt. Dorthin zum Französischunterricht zu fahren war man eine Stunde unterwegs. Von Mal zu Mal wurde mir dies lästiger, so dass ich schließlich aufgab. Außerdem hatte ich mich inzwischen entschlossen, vor einer Bewerbung im Auswärtigen Amt den Referendardienst in Deutschland anzutreten und den Assessor abzulegen.

 

IV Referendarausbildung und Anwalt in den USA

 

1. Referendarzeit 1957 - 1961

 

Mit der „Empress of Britain“ der Canadian Pacific Line ging es am 16.04.1957 zurück nach Deutschland, zunächst von Montreal über Liverpool nach London, sodann nach Duisburg zu den Eltern und weiter nach Bonn. Die Rückkehr war nicht einfach. Das Leben in Kanada war freier und ungezwungener. Man fühlte sich nicht ständig unter Beobachtung und war direkter im Umgang miteinander und weniger rechthaberisch. Man ließ gelten, was der Andere sagte und nörgelte weniger. Aber hier war man doch zu Hause. Es dauerte jedoch einige Wochen, bis ich mich wieder eingewöhnt hatte.

 

Am 1.10.1957 begann ich, nachdem ich ein weiteres Semester Volkswirtschaft in München studiert hatte, beim Amtsgericht Opladen meine Referendarausbildung. Ich wurde Amtsgerichtsrat Dr. Schwar zugeteilt, der für Strafsachen zuständig war. Referendare saßen mit am Richtertisch und mussten auch schon mal Protokoll führen. Nach einigen Wochen war der erste Urteilsentwurf fällig. Man hatte seinen Arbeitsplatz im Zimmer des ausbildenden Richters und war vor allem mit dem Schreiben von Strafverfügungen beschäftigt. Dr. Schwar gab sich jede Mühe, mir die Einarbeitung zu erleichtern. Bei ihm waren besondere Sorgfalt und Genauigkeit angebracht.

 

Nach dem Amtsgericht Opladen folgte das Landgericht Düsseldorf, wo ich für sechs Monate einer Zivilkammer zugeteilt wurde. Der Vorsitzende Richter, damals noch Landgerichtsdirektor genannt, Ingenstau, war ein gestrenger Herr und verteilte Prozessakten an Referendare zur Aufbereitung und zum Vortrag. Auch hier waren Fleiß und Gründlichkeit angezeigt. Mit der Abschlussnote konnte ich gut leben.

 

Es folgten Staatsanwaltschaft und sodann sechs Monate bei der Stadtverwaltung Düsseldorf. Ich wurde dem Bauamt zugewiesen und erlebte dort den Stadtplaner Professor Friedrich Tamms, der mit seiner Verkehrsplanung die Innenstadt umkrempelte, die Berliner Allee schuf und für den „Tausendfüßler“ hinter dem Opernhaus verantwortlich war, der jetzt abgerissen worden ist. Es waren der Entwurf kleinerer Gutachten rechtlicher Natur fällig und die Aufarbeitung liegen gebliebener Akten.