Eine andere Art von Wahnsinn - Stephen P. Hinshaw - E-Book

Eine andere Art von Wahnsinn E-Book

Stephen P. Hinshaw

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Beschreibung

»Zutiefst bewegend. Ein Meisterwerk« Glenn Close Als der junge Stephen Hinshaw, heute Professor für Psychologie und Psychiatrie, von der schweren psychischen Erkrankung seines Vaters erfuhr, hob sich ein Schleier aus Schweigen und Scham, der jahrelang über der Familie gelegen hatte. Hinshaw nennt diese Offenbarung seine »psychische Geburt«. Nach all den Jahren, in denen er die Erkrankung seines Vaters miterlebt hatte, ohne zu wissen, dass die Störung existierte, begann er nun damit, die Mosaiksteinchen der Lebensgeschichte seines Vaters zusammenzusetzen. Hinshaw schildert in seiner Autobiografie, was die Geheimhaltung und das Stigma der psychischen Erkrankung für die Betroffenen, aber auch die Angehörigen bedeutet. Behutsam gibt er allen Familienmitgliedern eine Stimme. Sein fachlicher Hintergrund ordnet die persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen in einen größeren Zusammenhang ein. Und so ist das Buch vor allen Dingen auch ein Plädoyer gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen.

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Seitenzahl: 468

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Foto: P. Navales

Stephen P. Hinshaw ist Professor für Psychologie und Psychiatrie in Kalifornien und Autor mehrerer Bücher zu psychischen Störungen wie ADHS und zur Stigmatisierung. Seine wissenschaftlichen Leistungen in den Bereichen Entwicklungs- und klinischer Psychologie wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

Stephen P. Hinshaw

Eine andere Artvon Wahnsinn

Vom langen Schweigenund Hoffen einer Familie

Psychiatrie Verlag

Mit Unterstützung von:

Stephen P. Hinshaw

Eine andere Art von Wahnsinn

Vom langen Schweigen und Hoffen einer Familie

2., vollständig überarbeitete Auflage 2019

ISBN Print: 978-3-96605-033-3

ISBN E-Book (PDF): 978-3-96605-034-0

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-96605-035-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originaltitel: Another Kind of Madness – A Journey Through the Stigma and Hope of Mental Illness

© 2017 by Stephen P. Hinshaw

Published by arrangement with St. Martin’s Press. All rights reserved.

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

© für die deutschsprachige Ausgabe: Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Mit Unterstützung von:

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie,

Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP)

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,

Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN)

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI)

Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie

Dazugehören e. V.

Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Umschlagkonzeption und -gestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln unter Verwendung eines Bildes von Stephen Hinshaw

Übersetzung: Dr. Matthias Reiss (www.dr-reiss.com)

Lektorat: Anne Katrin Bläser, Bonn

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

1. Sonntagsdinner im »Willard«

2. Im fernen Kalifornien

3. Fahrt um Mitternacht

4. Der Blick vom rechten Spielfeld aus

5. Wunder der modernen Medizin

6. Die Abendnachrichten bei CBS

7. Neuengland

8. Der eiserne Anzug

9. Morgendämmerung

10. Das Gedankenexperiment

11. Eine tiefere Schicht

12. Fortschreitender Verfall

13. Das Ende und der Anfang

14. Der Rest meines Lebens

Epilog

Endnoten

Danksagung

Verzeichnis medizinischer Fachbegriffe

Nachwort für die deutsche Ausgabe

Über das Buch

Weitere Bücher

Im Andenken an meinen Vater und meine Mutter

Für meine Schwester, Sally,die jeden Tag darauf hinarbeitet,dass sich das Leben von Menschenmit körperlichen und psychischen Störungenverbessert, indem sie die Empathie unddie Kompetenzen bei den Fachleuten fördert.

Vorwort

Die Entstehung dieses Buches hat buchstäblich ein ganzes Leben in Anspruch genommen. Gewöhnlich bin ich ein Mensch, der schnell handelt, aber einige Unterfangen tragen nicht so schnell Früchte – wie die eigene Familie zu verstehen, einen offenen Ton anzuschlagen, wenn man von schwierigen Aspekten seines Lebens berichten will, und gegen die Scham und das Stigma in Bezug auf psychische Krankheiten anzukämpfen.

Am College verschrieb ich mich immer mehr der Psychologie, beflügelt durch ein Gespräch mit meinem Vater während meiner Semesterferien, in dem er erstmals von seiner psychischen Erkrankung berichtete. Im Laufe der Zeit kam ich zu der Auffassung, dass seine und meine eigenen Erfahrungen nicht nur für meine Familie oder meinen Freundeskreis, sondern auch für ein breiteres Publikum wertvoll sein könnten. Dieses Buch ist mein Versuch, unsere Geschichte, so gut es mein Gedächtnis zulässt, zu schildern. Ich habe mich bemüht, sie so zu verfassen, dass sie so nah wie möglich dran ist an dem, was geschah, als ich ein Junge, ein Teenager, ein junger Mann war und darüber hinaus.

Die Inspiration für den Titel des Buches geht auf ein Zitat von James Baldwin zurück, dem bedeutenden afroamerikanischen Schriftsteller, der sich intensiv mit Rassismus auseinandersetzte. Es stammt aus einem seiner Meisterwerke, Giovannis Zimmer: »Menschen, die sich erinnern, beschwören den Wahnsinn durch Schmerz herauf, durch den Schmerz über den ständig wiederkehrenden Tod ihrer Unschuld; Menschen, die vergessen, beschwören eine andere Art von Wahnsinn herauf, den Wahnsinn, der durch Schmerzverleugnung und Hass auf die Unschuld entsteht, und die Welt ist vorwiegend bevölkert mit Wahnsinnigen, die sich erinnern, und mit Wahnsinnigen, die vergessen« (Hervorhebung S. P. H.).1

Ich kann natürlich nicht für mich behaupten, Baldwins Erfahrungen zu verstehen, aber seine Worte sind inspirierend. Was die vorliegende Erzählung betrifft, so ist das Stigma selbst, wie ich es auf den folgenden Seiten zu verdeutlichen versuche, »eine andere Art von Wahnsinn«, eine Art mit weitaus schlimmeren Folgen als die, die mit psychischen Krankheiten selbst verbunden sind. Generell verhindert ein Stigma, dass sich menschliche Potenziale entfalten können. Das Schweigen und die Scham müssen in einen offenen Dialog verwandelt werden. Wenn wir diesem Ziel nicht näherkommen, werden wir nie die Menschheit werden, die wir sein könnten.

Ich habe die Namen einiger Personen außerhalb unserer Familie geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen, eine bedauerliche, aber immer noch notwendige Maßnahme. Fortschritt im Kampf gegen das Stigma ist ein Marathon, kein Sprint.

Letztendlich hoffe ich, dass das hier Dargestellte allen Menschen, die von psychischen Krankheiten betroffen sind, und denjenigen, die ihnen nahestehen, Trost spendet, Inspiration und Mut vermittelt – mit anderen Worten: Das Buch richtet sich an uns alle.

Einleitung

Im Spätsommer 1936 fegten brütend heiße Winde über Südkalifornien hinweg. Als der September kam, konnte der 16-Jährige, der Junior genannt wurde, die Stimmen nicht mehr abstellen, die jetzt laut in seinem Kopf schrien. Unaufhörlich war er mit der wachsenden Bedrohung durch die Nazis in Europa beschäftigt und lief Tag und Nacht durch die Straßen von Pasadena, auf deren Gehwegen er ein Jahrzehnt zuvor auf Rollschuhen zur Grundschule gelaufen war. Die Stimmen flehten ihn von Tag zu Tag eindringlicher an, die freie Welt zu retten. In seiner Verzweiflung, eine Möglichkeit zur Rettung der freien Welt zu finden, setzte er seinen schonungslosen Dauerlauf fort.

Es war kurz nach Mitternacht am Sonntag, dem 6. September, als er innehielt. Stille Häuser umgaben ihn in der Dunkelheit. In seinem schweißtriefenden Hemd stockte ihm plötzlich der Atem, als eine neue Gewissheit von seinem Körper und Geist Besitz ergriff. Mit elektrisierender Klarheit begriff er: Er war dazu bestimmt, die freie Welt zu retten. Seine tage- und nächtelange Suche war nicht umsonst gewesen! Die Offenbarung erfüllte ihn mit Staunen.

Seine Gedanken wirbelten immer schneller in seinem Kopf umher, da kam ihm eine weitere Erkenntnis. Er, als einziger Mensch, hatte die Fähigkeit erlangt, zu fliegen. Seine Arme waren tatsächlich zu Flügeln geworden. Wenn er sie zum Himmel hob, würde er emporsteigen wie Ikarus. Sobald er in die Wolken aufgestiegen wäre, würden die Politiker der freien Welt Zeuge dieses großartigen Signals werden und geloben, die Faschisten zu besiegen.

Allerdings, dachte er in seiner verzerrten Logik, würde die ganze Welt seinen Flug erst nach Sonnenaufgang sehen können. Vorerst musste er die Morgendämmerung abwarten und jeden Funken seiner Energie dazu nutzen, sein Geheimnis zu wahren. Er blieb in Bewegung, beseelt von seiner neuen Mission, zündete alle herumliegenden Zigaretten an, die er finden konnte, inhalierte, bevor er sie wieder ausdrückte.

In den letzten Jahren hatten sich immer wieder führende Vertreter der Prohibition zu regelmäßigen Abendessen in seinem Elternhaus versammelt. Unter ihnen war sein Vater, Virgil Hinshaw Sr., der international eine leitende Position in dieser Bewegung innehatte. Unweigerlich wandten sich die Gespräche der Weltlage zu. »Die Faschisten kommen an die Macht, Mussolini in Italien, Hitler in Deutschland«, sagte ein ernst dreinblickender Mann. »Sie werden die Welt beherrschen!« »Ihr Amerikaner seid Isolationisten«, rief ein anderer. »Wer wird die internationale Freiheit erhalten?«

Auch Junior saß, gemeinsam mit seinen fünf Brüdern, am Tisch und spürte jedes Mal, wie seine Angst wuchs. Aber er hatte so viel zu tun – Hausaufgaben, Kirche, Sport und Teilzeitjobs –, da verblassten die alarmierenden Nachrichten allmählich. Denn was könnte eine Familie von Quäkern, treu ergebenen Pazifisten, schon tun, um die Welt zu retten? Doch jetzt, da sein letztes Jahr auf der Highschool näher rückte und seine Eltern bei einem Prohibitionstreffen außerhalb der Stadt waren, durchströmte ihn eine neue Welle der Energie und sein Bewusstsein erweiterte sich wie nie zuvor.

Im Geiste hörte er die Warnungen der Gäste, die durch Radioberichte über den Aufstieg der Faschisten noch verstärkt wurden: Die Bedrohung durch die Nazis ist real! Wochenschauen in Schwarzweiß liefen in Endlosschleifen vor seinen Augen ab: Braunhemden marschierten, Hitler sprach vor riesigen Menschenmengen. Die Unterdrückung nahm zu, aber Amerika tat nichts, um auf die Zeichen der Zeit zu reagieren. Besessen von seiner neuen Mission verstand er nun, dass, wenn er es nicht wagte, den Schritt zu machen, es niemand wagen würde.

Aber wie? Wenn er jetzt nicht handelte, würden die Faschisten die Oberhand gewinnen.

Als der Morgen des 6. Septembers dämmerte, legte sich der Wind. Endlich tauchte im Osten leuchtend gelborange die Sonne auf. Die Dächer und Palmen warfen lange Schatten. Völlig im Bann seiner Energie und seiner aufregenden Erkenntnisse erreichte Junior die North Oakland Avenue und bewegte sich verstohlen weiter, bis er vor seinem Elternhaus stand, einem dunkelbraunen einstöckigen Gebäude. Er atmete tief ein und überquerte den Rasen mit leisen Schritten. Als er vor der Haustür angekommen war, starrte er sie an und sah dann nach oben. Im frühmorgendlichen Licht war alles still.

Es gab kein Zurück. Die Zeit war gekommen.

Aber wie konnte man da hochsteigen? Er dachte schnell nach und kletterte geschickt das Spalier zum Dach hinauf. Seine Füße fanden Halt im Rankgitter, und er konnte das Gleichgewicht halten. Ein letzter entschlossener Schritt und er war auf dem Dach über der kleinen vorderen Veranda, vier Meter über dem Gehweg. Der Himmel erhob sich majestätisch vor ihm, die Luft glühte bereits. Die Stimmen in seinem Kopf wurden immer lauter und baten ihn inständig, seine Tat zu vollbringen. Rette die freie Welt!

Der Ruhm würde ihm sicher sein.

Er näherte sich dem Rand des Daches, legte seine Kleidung ab und warf sie hinunter. Schuhe, Hose und Hemd flogen zu Boden. Er schauderte und hielt den Atem an. Mit ausgestreckten Armen stieß er sich nach vorne ab. Für eine Sekunde spürte er nur die Luft auf seiner Haut.

Dann kam der Boden immer näher und alles wurde schwarz.

Ich erfuhr von diesem Ereignis, ohne dass ich in irgendeiner Weise darauf vorbereitet war. Es war Mitte April 1971, ich ließ mich auf der Couch meiner Eltern nieder und nahm eine Zeitschrift zur Hand. Für Semesterarbeiten meines ersten Studienjahrs in Harvard musste ich eigentlich einiges an wissenschaftlicher Literatur lesen, konnte aber einer kurzen Pause nicht widerstehen. Hier in Columbus, Ohio, wo ich die ersten 17 Jahre meines Lebens verbracht hatte, fühlte ich mich, als lastete ein schwerer Rucksack auf meinem Rücken, jedes einzelne Fach darin voller Zweifel. Gehörte ich wirklich noch hierher?

Von der Couch aus waren durch das mehrfach verglaste Fenster die weißen Säulen der überdachten Veranda unseres Hauses zu sehen, die den tiefgrünen Rasen und die leuchtend rosa Blüten des Apfelbaums direkt dahinter einrahmten. Das Licht drang immer wieder durch die schnell vorbeiziehenden Nachmittagswolken und ließ den Raum mal düster, mal unbeschwert wirken.

Lag da etwas in der Luft? Ein kleines Signal der Veränderung? Wenn ja, schenkte ich dem keine Aufmerksamkeit. An der Stille, die mein Elternhaus erfüllte, würde sich nie etwas ändern, da war ich mir sicher. In ein paar Tagen wäre ich wieder in Cambridge im Studentenwohnheim und in meinem neuen Leben im Osten der USA.

Während dieser ersten Frühjahrsferien von der Uni war ich die ganze Woche über wie benebelt durch das Haus gewandert. Die Figuren der Kolonialsoldaten auf meiner Zimmertapete, die halb platten Fußbälle und Basketbälle in unserer Besenkammer, der schallschluckende Teppichboden im Erdgeschoss: Alles schien mir so zu sein, als befände ich mich in einem Museum.

Nach einem Blick in ein oder zwei Zeitschriften hörte ich ein leises Schlurfen. Als ich aufblickte, sah ich, wie sich mein Vater unbeholfen von seinem Arbeitszimmer aus näherte. Er musste von seinen morgendlichen Seminaren auf dem Universitätscampus zurückgekehrt sein, wo er an drei Vormittagen pro Woche für Massen von Bachelorstudierenden der Ohio State University (OSU) Lehrveranstaltungen zur Geschichte der westlichen Philosophie abhielt. Meine Schwester Sally war in der elften Klasse an der großen Highschool ganz in unserer Nähe. Mom war an der OSU und gab Kurse im Fach Englisch.

Dad und ich waren allein zu Hause.

»Mein Sohn«, begann er mit leiser Stimme, und seine Augen wichen den meinen aus. Er benutzte diese formale Wendung, wenn es um etwas Ernstes ging, ein Überbleibsel aus seiner Quäkererziehung. »Können wir kurz miteinander sprechen?«

Ich legte die Zeitschrift auf den Tisch und drehte mich zu ihm um. Sein Körper war leicht gebeugt, sein Gesicht angespannt. Er stellte nicht mehr die sportliche, selbstbewusste Persönlichkeit dar, die er am Anfang seiner Karriere und in meinen ersten Lebensjahren gewesen war. Inzwischen hatte er einen kleinen Bauch und schwere Gewichte schienen seine Mundwinkel nach unten zu ziehen.

»Klar«, antwortete ich und überlegte, ob ich wohl etwas falsch gemacht hätte. Adrenalin strömte durch meine Adern. Er bat mich, ihm in seine Bibliothek zu folgen, in den Raum, den er entworfen hatte, als unser Haus ein Jahrzehnt zuvor in Planung war. Die marineblauen, braunen und rotbraunen Farbtöne der Buchdeckel schienen mich von ihren Holzregalen aus herbeizurufen. Jedes Mal, wenn ich in dieses Zimmer kam, fühlte ich mich von dem ganzen Wissen über Naturwissenschaften, Geschichte und Mathematik in all den Büchern überwältigt.

Dad ließ mich zuerst eintreten und zog dann die Schiebetür zu. Das weiche metallische Surren der Rollen erfüllte die Luft, bis mit einem kurzen dumpfen Knall Holz auf Holz traf. Ich setzte mich auf einen Stuhl mit gerader Lehne, den er in die Nähe seines Schreibtisches gestellt hatte, auf dem Aktenordner, Lehrpläne und Vorlesungsnotizen wild durcheinander lagen. Unter dem Fenster mit Blick auf die Eiche in unserem Vorgarten stand ein kleiner Tisch mit seiner alten mechanischen Schreibmaschine, die er in Stanford und Princeton benutzt hatte; ein Geschenk seines Vaters. Er tippte neunzig Wörter pro Minute fehlerfrei, die Tasten liefen bei all dem Klackern heiß. Er schien schneller zu tippen, als die meisten Leute denken.

Dads Blick nach unten und das Zittern in seiner Stimme sagten mir, dass es in unserem Gespräch nicht um mein erstes Semester oder um kleinere Probleme zu Hause gehen würde. Als er sich räusperte, biss ich die Zähne zusammen.

»Steve«, begann er, »es gibt manchmal Erfahrungen, Situationen im Leben, nun, die schwer zu verstehen sind.« Zu meiner Überraschung rang er nach Worten – ganz anders, als wenn er seine üblichen Reden über Philosophie und Wissenschaft hielt.

»Was ich meine, ist Folgendes: Vielleicht ist es an der Zeit, dass du von einigen Ereignissen aus meinem Leben erfährst.« Er hielt inne. »Es gab Zeiten, da war ich nicht ganz rational.«

Als er weiterredete, begann die Zeit stillzustehen. Ganze Welten zogen rasend schnell vor meinem inneren Auge vorüber. Aus seinen Gesprächen mit mir als kleiner Junge wusste ich von den Strapazen und Errungenschaften der Familie Hinshaw. Doch etwas hatte immer gefehlt, vor allem, wenn es um sein seltsames Verschwinden ging; manchmal war er wochen- oder monatelang nicht da. Nie war irgendetwas dazu gesagt worden.

Aus diesem ersten enthüllenden Gespräch in Dads Bibliothek, aus vielen weiteren in den folgenden 24 Jahren, aus Gesprächen mit seinen Brüdern in meinen Zwanzigern und aus alten Briefen der Familie habe ich die Ereignisse so zusammengesetzt, als wäre ich dabei gewesen. Als wäre ich ins damalige Pasadena katapultiert worden.

Augenblicke später war Junior noch benommen vom Aufprall, blutete am Kopf und sein linkes Handgelenk stand in einem seltsamen Winkel ab. Er rang damit, sein Bewusstsein wiederzuerlangen. Durch den Tumult am frühen Morgen aufgeschreckt, stürzten seine Brüder aus dem Haus und sahen ihn flach auf dem Asphalt liegen. Sie waren über sein seltsames Verhalten in den letzten Tagen besorgt gewesen, hatten ihn aber nicht dazu bringen können, im Haus zu bleiben.

»Mein Gott«, rief der 18-jährige Bob. Er war der Erste, der aus dem Haus kam. »Was ist passiert?«

»Sei vorsichtig!«, rief Randall, der drei Jahre älter als Bob war und direkt hinter ihm nach draußen gerannt war. »Jemand muss Juniors Kleidung holen.«

Aber konnten sie denn nicht erkennen, was er vollbracht hatte? »Es ist heiß – ich kühle mich ab«, flüsterte Junior, als seine Brüder ihn ins Haus trugen und den Arzt riefen. Der Rettungswagen kam und transportierte ihn zum Los Angeles County Hospital, dessen riesiges weißes Gebäude östlich der Innenstadt von Los Angeles über den Hügeln lag. Sein gebrochener Arm bekam einen Gipsverband, aber seine Knochen wollten sich nicht wieder ganz zusammenfügen. Eine Krankenschwester gab ihm eine Spritze in den Arm, und die Welt entschwebte.

Zwei Wochen später wurde er auf eine abseits gelegene Station einer staatlichen psychiatrischen Anstalt, des Norwalk County Hospitals, verlegt, wo Patienten mit schweren psychischen Krankheiten untergebracht waren. Zu seinen Zimmergenossen gehörten Menschen mit deformierten Köpfen, die unter Mikrozephalie und schwerer geistiger Behinderung litten.

Ich saß regungslos im Arbeitszimmer meines Vaters und saugte jedes Wort in mich auf. Er sagte, dass er dort als ein mit schweren Makeln behafteter Mensch vielleicht zumindest seinesgleichen gefunden hatte. Keine seiner akademischen Leistungen, keine religiöse Erziehung, keine seiner großartigen Ideen konnten an diesem Schicksal etwas ändern.

Jede Nacht hallten in der Klinik von Norwalk Schreie durch die Gänge und traten gegen die Engelschöre in seinem Kopf an, die von Ruhm und Erlösung sangen. Seine einzige Behandlung bestand darin, dass er an sein Bett gefesselt wurde, um zu verhindern, dass er umherwanderte. Manchmal arbeitete er morgens bei der Abfallentsorgung mit. Aber in dieser Einrichtung für Erwachsene gab es keine Schule, nur jeden Tag nicht enden wollende inhaltsleere Stunden. Allein, abgesehen von seinen Stimmen, und für die Welt unsichtbar, war er in ein anderes Dasein übergewechselt.

In den nächsten Wochen wuchs in ihm eine neue Überzeugung heran, die von den unerbittlichen Stimmen geschürt wurde. Das Essen in Norwalk sei vergiftet, ein Teil der Machenschaften der Nazis. Wenn er essen würde, wäre das ein Signal für seine Kapitulation vor den faschistischen Plänen. Weil er nichts außer Wasser zu sich nahm, wurde er dünner und dünner.

Im November erhielt sein Vater einen dringenden Anruf vom Leiter des Krankenhauses, der ihm sagte, dass der Patient Virgil Jr. 27 kg abgenommen habe und nur noch 55 kg wöge. »Die Lage ist kritisch«, sagte er düster. »Sie müssen so schnell wie möglich kommen.« Es sei schon ein Geistlicher gerufen worden, um ihm die Sterbesakramente zu geben.

Als Virgil Sr. nach hektischer Fahrt ins Krankenhaus stürmte, stockte ihm beim Anblick seines ausgemergelten Sohns vor Entsetzen der Atem. Nachdem er sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden hatte, schrieb er seinem Bruder in derselben Nacht, überzeugt davon, dass er seinem Viertgeborenem erst im Jenseits wieder begegnen würde. Doch in den folgenden Wochen begannen die Stimmen und Wahnvorstellungen ihre Kraft zu verlieren, und Junior fing wieder an, zu essen. Als er wieder zu Kräften kam, besann er sich seiner Umgebung, die unbehaglich und trist war. Verzweifelt wünschte er sich, an Weihnachten nach Hause zurückzukehren, doch die Ärzte sagten ihm, er sei zu krank.

Wochen vergingen, bis der regnerische südkalifornische Winter endlich den ersten Anzeichen des Frühlings wich. Ende Februar bemerkte das Krankenhauspersonal eine plötzliche, unerklärliche Besserung. Junior verhielt sich wieder ganz rational und wurde innerhalb einer Woche entlassen. Nachdem er nach Pasadena zurückgekehrt war, wagte es niemand – weder sein Vater noch seine Stiefmutter noch seine fünf Brüder, die alle von seinem plötzlichen Wiederauftauchen überrascht waren –, über die Erfahrungen des vergangenen Halbjahrs zu sprechen. Die Scham war zu groß. Jedes Gespräch hätte seine Genesung vereiteln können.

Er begann sechs Monate zu spät mit der zwölften Klasse. Bereits im Juni hatte er den Stoff des verpassten Herbsthalbjahres mit Bestnoten aufgeholt und auch das Frühjahrshalbjahr hervorragend abgeschlossen. Sein Leben mit unerklärlichen Auf- und Abstiegen hatte begonnen.

Für seine Familie war seine Genesung ein Signal dafür, dass ein Wunder geschehen war. Wie alle Wunder war sie geheimnisumwoben.

»Es war während dieses Aufenthalts, dass mir meine Diagnose eröffnet wurde: Schizophrenie«, sagte Dad an diesem stürmischen Aprilnachmittag. »Es gab andere Zeiten in meinem Leben mit ähnlichen Episoden. Vielleicht sollten wir später in einem weiteren Gespräch darüber reden.«

Offensichtlich war unser Treffen beendet. Wir standen auf und gaben uns unbeholfen die Hand. Ich schob meinen Stuhl zurück, drehte mich um und zog die Schiebetür auf. Langsam ging ich durchs Wohnzimmer und hielt plötzlich inne. Waren das immer noch dieselben Blüten und derselbe Himmel, die durch das vordere Fenster des Hauses zu sehen waren? Waren dreißig Minuten oder ein halbes Leben vergangen?

Während des Gesprächs mit meinem Vater hatte ich gegen Panik angekämpft, aber auch eine tiefe Ruhe erlebt. Endlich wusste ich etwas. Ein Lufthauch war in das riesige Vakuum eingedrungen, das sich unmittelbar hinter mir befand und das ich mein ganzes Leben lang auszusperren versucht hatte. Endlich waren ein paar Geräusche aus der Leere aufgetaucht. Nur eines war sicher: Von nun an würde mein Leben nicht mehr dasselbe sein wie vorher.

1.Sonntagsdinner im »Willard«

Zwanzig Jahre nach dem missglückten Flug meines Vaters zur Rettung der freien Welt – und mehr als einen halben Kontinent vom Ort des Unglücks entfernt – war ich fünf Jahre alt und stürmte vom Kindergarten nach Hause. Ich riss die Tür zum Keller auf und rannte die Treppe hinunter.

Ich musste Dad einfach finden. Wenn er zu Hause wäre, würde er in seinem Arbeitszimmer sein und sich auf seine nächste Vorlesung vorbereiten. Aber manchmal löste er sich in Luft auf. Es wurde nie ein Wort darüber verloren, er war einfach verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, dass er dann wegen seines unerklärlichen Verhaltens gegen seinen Willen eingewiesen worden war. Ich wusste nur, dass Dad an einem Tag da und bereits am nächsten Tag verschwunden war. War er mitten in der Nacht mit Waffengewalt leise entführt worden?

Am Fuß der Treppe spürte ich die kühle Kellerluft. Wenn es im Frühling stark geregnet hatte, sammelte sich Wasser in der Mitte des schiefergrauen Bodens zwischen der Waschmaschine und dem Trockner. »Stevie, das nennt man eine Überschwemmung«, hatte Mom erklärt. »Der Boden ist voller Wasser, und es sammelt sich unter der Erde.« Vor Anstrengung etwas stöhnend, hievte Dad dann immer eine mechanische Pumpe aus der Garage und stellte sie mitten in die größer werdende Pfütze. Ich hörte es rauschen und zischen, wenn das Wasser stoßartig durch den Gummischlauch die Wand hoch und aus einem Kellerfenster gepumpt wurde. Das Wasser ergoss sich über die Auffahrt, kleine Bäche rannen langsam zur Straße hinunter und flossen ineinander, als ob sich lange, faltige Finger langsam verhakten.

Nachdenklich ging ich weiter und schaute in Richtung von Dads Arbeitszimmer. Er hatte es selbst in einer Ecke des Kellers aus Betonsteinen und Holzbohlen gebaut. Innen leuchtete seine Schreibtischlampe sanft auf die Umschläge seiner Bücher, die Dad auf drei Seiten des Raums umgaben.

Dies war unser erstes Haus, erbaut im Kolonialstil aus Backstein und Holz, es lag an der Wyandotte Road. Die Straße war nach einem Indianerstamm benannt worden. Wir lebten in einem Vorort von Columbus, in Upper Arlington, nicht ganz drei Kilometer entfernt vom Olentangy River und, jenseits des Flusses, von der Ohio State University. Innerhalb der Mauern des Hauses waren wir eine vorbildliche Akademikerfamilie im Mittleren Westen der fünfziger Jahre.

Oder nicht?

Ich sah, wie mein Vater, aufrecht sitzend in einem kurzärmeligen Hemd, aufmerksam auf ein aufgeschlagenes Buch auf seinem Schoß blickte. Das holzige Aroma von Pfeifenrauch vermischte sich mit dem muffigen Duft der feuchten Kellerwände. Seine elegante Handschrift füllte Zeile um Zeile seiner Schreibblöcke aus gelbem Papier.

Ich zögerte. Vielleicht wollte er gerade nicht unterbrochen werden, weil er sich auf etwas konzentrierte. Aber die Welt der geografischen Fakten hatte mich gepackt und ich wurde immer ungeduldiger. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und betrat das Arbeitszimmer. »Daddy, kann ich mit dir reden?«

Als er aufblickte und sich mir zuwandte, lächelte er leicht. Er hielt seine Pfeife in der linken Hand, der Lichtkegel der Schreibtischlampe beschien die Bücherregale. All diese Bücher!

»Aber klar«, antwortete er und legte seinen Stift nieder. »Worum geht es denn?« Die Freude in seiner Stimme erwärmte meine Haut. An solchen Tagen wurde jede Nervenzelle in meinem Körper durch das Gefühl von Möglichkeiten elektrisiert. Eines Tages würde ich vielleicht selbst solche Bücher lesen und Entdeckungen machen.

»Na ja«, antwortete ich und versuchte, meine Frage richtig zu formulieren. »Ich habe gehört, dass Russland das größte Land der Welt ist. Stimmt das?« Nachdenklich schaute Dad in die Ferne. Er schien die Ernsthaftigkeit meiner Frage zu verstehen.

»Ja, das stimmt. Das Land heißt jetzt Sowjetunion, und die ist noch größer als Russland.«

»Aber«, setzte ich nach und konnte selbst nicht ganz glauben, was ich da gerade wissen wollte. »Ich habe gehört, dass in China mehr Menschen leben als in Russland. Stimmt das?«

»Das stimmt tatsächlich«, antwortete Dad mit wachsendem Interesse. »In China leben mehr Menschen als in jedem anderen Land auf der Welt.« Ich war erschüttert.

In seiner Antwort betonte Dad seine Aussagen so, wie er es in einem Vortrag an der Uni machen würde, und sagte, dass ein kleineres Gebiet mehr Menschen umfassen kann, während in einer größeren Region die Bevölkerungsdichte geringer sein könne. So ganz verstand ich nicht, was er sagte, doch mir kam eine weitere Frage in den Sinn.

»Wie viel mehr Menschen leben in China?« Eine Zahl könnte hier wirklich helfen. Zahlen haben mich immer getröstet. Ich berechne bis heute ständig Sportergebnisse, Prozentsätze oder Statistiken irgendeiner Art im Kopf. Zahlen sind immer gleich, ihre Reihenfolge ergibt stets einen Sinn. Sie verschwinden nicht ohne Vorwarnung.

»Sehr viel mehr«, sagte Dad mit einem Hauch von Leichtigkeit in der Stimme.

Da kam mir die kühnste aller Fragen in den Kopf: »Dad, könnten in China … hundert Menschen mehr leben als in Russland?« Selbst als die Frage aus meinem Mund kam, schien die Zahl unfassbar groß zu sein. Doch mit der ruhigsten Stimme, die man sich vorstellen kann, antwortete er: »Ich weiß, das wird schwer zu glauben sein, Steve, aber es leben tatsächlich mehr als hundert Menschen mehr in China als in Russland.«

Ich bekam große Augen, aber sein sanfter Blick sagte mir, dass das, was er gesagt hatte, die absolute Wahrheit war. Mehr als einhundert! Ich lernte, dass viele Dinge jenseits dessen existierten, womit man es im Alltag so zu tun hatte. Ich blieb noch einen Moment, bevor ich wieder nach oben ging, und hoffte, eines Tages solche Geheimnisse zu verstehen.

Wenn Dad zu Hause war, bekam ich Antworten. Aber was, wenn er beim nächsten Verschwinden nicht mehr zurückkäme? Die Angst packte mich, als würde jemand ein Seil um meinen Körper wickeln und es langsam und unaufhaltsam festziehen, sodass die Luft aus meiner Lunge gepresst wurde. Das Schlimmste war, dass niemand je mit mir darüber sprach.

Ein paar Wochen zuvor hatte Dad an einem Samstagmorgen das erste Mal in diesem Frühling den gewaltigen Rasenmäher aus der Garage geholt. Obenrum trug er nichts als ein geripptes Unterhemd, das seine immer noch eindrucksvollen Muskeln zeigte. Er schüttete Benzin aus einer hellroten Dose in das Loch neben dem Motor. Er setzte seinen Fuß auf den Rasenmäher und riss die Schnur mit einer schnellen Bewegung seines Handgelenks nach oben. Weißer Rauch kam aus dem Gerät, als der Motor mit Getöse anging. Er gab weniger Gas, der Lärm ließ nach, und er begann, die Maschine über den Vorgarten hin- und herzuschieben. Saftiges Gras flog in feuchten Klumpen seitlich aus dem Gerät. Die Rasenstreifen die Straße hoch waren von einem anderen Grün als die Streifen in der anderen Richtung, was ein symmetrisches Muster ergab.

So schnell ich konnte, rannte ich hinein, um meinen Spielzeugrasenmäher zu holen. Ich beeilte mich, Dad im Gleichschritt zu folgen, wir liefen den Rasen gemeinsam ab, ich im Gänsemarsch hinter ihm her, und achteten darauf, die knorrigen Wurzeln unserer großen Ulme zu umfahren. Als er seine Hand hob, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, tat ich dasselbe, obwohl meine Stirn trocken war.

Mom und Sally saßen auf der Treppe vor dem Haus und beobachteten uns. Ich wollte ihnen unbedingt zeigen, wie hart ich arbeitete. Das war ein schönes Gefühl: wir alle zusammen im Garten. Ich wollte, dass es ewig so bliebe. Schon damals wusste ich, dass solche Momente kostbar sind. An diesem hellen Frühlingstag konnten uns keine Schatten den Blick aufeinander nehmen.

Am schönsten war es, wenn Dad Sally und mich zum Campus der Ohio State University mitnahm. Während des Semesters hatte er immer Jacket und Krawatte an und strahlte subtile Eleganz aus. Für ihn war es eine ernst zu nehmende Angelegenheit, Professor zu sein. An manchen Morgen beobachtete ich von meinem Posten im Badezimmer, wie er sich mit schnellen, gezielten Bewegungen mit einem Rasiermesser rasierte; der weiße Schaum, der sein Gesicht bedeckte, zischte zur Seite. Später wechselte er zu einem elektrischen Rasierapparat, und wenn er die runden Scherköpfe über sein Kinn führte, hörte ich das Brummen lauter und wieder leiser werden. Wenn er fertig war, blies er kräftig in die Zwischenräume der Klingen und holte die dicken Stoppeln heraus, bevor er ein wohlriechendes Rasierwasser in die Hand goss und sich kräftig auf die Wangen schlug.

Seine Handlungen waren präzise und konzentriert. Er musste Aufgaben erledigen, Lektüre zusammenstellen, historische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse miteinander verbinden. Schon seinen Vorbereitungen sah man an, wie intensiv er geistig arbeitete.

Bei einem neuen Hemd kämpfte er damit, den oberen Knopf an seinem immer noch etwas klobigen Hals zuzuknöpfen, ein Vermächtnis aus seiner aktiven Zeit als Kugelstoßer auf der Highschool. Er durchstöberte seinen Badezimmerschrank nach einem Rasiermesser, das er vorsichtig aus seinem Karton holte. Mit viel Zartgefühl schnitt er den Stoff leicht ein, um das Knopfloch wenige Millimeter größer zu machen. Schließlich knöpfte er das Hemd bis nach oben zu und band seine Krawatte zu einem perfekten klassischen Knoten zusammen.

Dads Büro in der Philosophischen Fakultät befand sich in University Hall, dem ältesten Gebäude der Ohio State University, einem roten Backsteinbau mit Giebeln, einem Schieferdach und einem Uhrenturm. Es liegt vor dem Oval, dem großen Rasen in der Mitte des Campus, der von Gehwegen durchzogen ist, auf denen die vielen Studentinnen und Studenten zu den Lehrveranstaltungen strömen. Ein Schild vor dem Gebäude weist das Jahr 1870 als Baujahr aus. Auf einem kleinen Felsen in der Nähe markiert ein weiteres Schild den 40. Breitengrad nördlich des Äquators genau an dieser Stelle. Als Kind suchte ich nach einer Linie im Gras, aber Dad sagte mir, dass Breitengrade unsichtbar seien. Sie seien von Wissenschaftlern geschaffen worden, um die Erde zu vermessen und den Menschen bei der Navigation zu helfen, wobei ein Breitengrad etwa 100 km vom nächsten entfernt sei. Auf dem Globus konnte ich sehen, dass sich Madrid auf der anderen Seite des Ozeans in Spanien befand und Denver weit weg im Westen ebenfalls auf dem 40. Breitengrad lag. Beim Betrachten von Karten und Globen fühlte ich mich sicher, weil ich wusste, wo auf der Welt ich mich befand.

Von University Hall war es nur ein kurzer Weg zum riesigen Ohio Stadium, Horseshoe – Hufeisen – genannt, wo die Heimspiele der Footballmannschaft Buckeyes stattfanden. Damals fasste es 88.888 Menschen, was ich immer für eine großartige Zahl hielt. Wenn Mom und Dad uns zu den Heimspielen mitnahmen, gingen wir in der frischen Herbstluft über den Campus, inmitten zahlreicher Gruppen begeisterter, drängelnder Fans. Jedes Spiel ein scharlachrotes und graues Meer von Menschen, aus der Menge immer wieder Ausbrüche purer Emotion.

Wenn Dad Sally und mich in sein Büro mitnahm, kam häufig ein Grüppchen von Professoren, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Sekretärinnen vorbei, um die kleinen Forscher im Schlepptau zu begrüßen. Es wurde viel gefragt und viel gelacht, der Wissendurst lag geradezu in der Luft. Einmal ging Dad mit mir zum kleinen Radiosender auf dem Campus, wo seine wöchentliche Sendung über Philosophie und Alltag aufgenommen wurde. Zu Hause oder im Auto hörte ich immer wieder Dads Stimme über den Sender WOSU. Er erklärte genau, wie die Suche nach Wissen ein neues Licht auf das Leben der Menschen werfen könne. Es war klar, dass ich da einen exklusiven Zirkel besuchte. Würde ich, wenn ich mich richtig anstrengte, eines Tages Teil davon sein? Ein Ziel zu haben, versetzte mich schon immer in bessere Stimmung. Meine größte Befürchtung war und ist, dass da nichts mehr ist, wonach ich streben kann. Ohne Vorwarnung könnte alles zum Stillstand kommen, mein Leben wäre absolut sinnlos, am Nullpunkt. Ich war stolz darauf, der privilegierte Sohn eines Professors an der Ohio State University zu sein. Doch da lag eine Falle versteckt, die jederzeit zuschnappen konnte.

Ein halbes Jahr später fuhr Dad mit uns zum Haus meiner Großmutter zur anderen Seite der Stadt, wo Mom aufgewachsen war. Allerdings war der Tag schon jetzt, am frühen Nachmittag, zum Albtraum geworden. Ich wäre am liebsten aus dem Auto gesprungen, aber wir fuhren zu schnell.

Ehe es Autobahnen gab, führte uns die Fahrt über den Olentangy River in Richtung Innenstadt, bevor wir die East Broad Street verließen, bis die Bäume und gepflegten Rasenflächen von Bexley zu sehen waren. Gewöhnlich war dies eine halbe Stunde der Vorfreude, während der Sally und ich auf dem Rücksitz spielen konnten, doch heute war die Fahrt ein Desaster. Dad schien bedrohlich groß, als ob er auf einer unsichtbaren Erhöhung säße, seine Augen glühten, und seine Bewegungen waren ruckartig. War sein Lächeln freundlich oder höhnisch? Es sah aus wie beides zugleich. Seine übliche Geduld und Eleganz waren verflogen. Mom kauerte neben ihm auf dem Vordersitz.

»Es ist absurd«, sagte er wie zu sich selbst, »zu denken, dass irgendein Philosoph mit Selbstachtung auch nur im Traum eine solche Aussage machen würde.« Er schnaubte verächtlich. »Völlig absurd!« Obwohl ich nicht genau wusste, was er meinte, war absolut klar, dass er recht hatte und alle anderen im Unrecht waren. »Ich werde diese akademische Debatte ein für alle Mal beenden!«, brüllte er, aber wem wollte er das eigentlich sagen?

Warum schrie er so laut herum?

Unser Plan war, Großmutter abzuholen und zum Willard unten an der Main Street zu fahren, einem Restaurant, in dem es köstliche Brathähnchen gab. Das Willard war eine Institution, seit Mom ein kleines Mädchen gewesen war. Alle paar Wochen nach der Kirche fuhren wir dorthin. Aber Dad war den ganzen Morgen überheblich und wütend gewesen. Warum war das Haus nicht makellos sauber? Das Footballteam der Ohio State University: Er wäre ein besserer Trainer. Warum erhielt er nicht die Anerkennung, die er so sehr verdient hatte? Normalerweise waren Sally und ich in seinen Augen fast perfekt, heute jedoch waren wir nicht schnell genug fertig und beantworteten seine Fragen nicht rasch genug. Mom riss sich zusammen, versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen, aber er schien es nicht zu bemerken. Schon damals spürte ich, dass er geradezu hoffte, etwas würde schiefgehen, damit er seine Weisheit und Kraft unter Beweis stellen konnte.

Ich geriet immer mehr in Alarmbereitschaft und betete, dass er aus seinem Zustand herauskommen möge. Aber was konnte ich tun, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten? Instinktiv wusste ich, dass ich ein guter, vielleicht sogar perfekter Sohn sein musste, um die Familie zusammenzuhalten. Aber wie sollte ich diese Rolle ganz ohne Regieanweisungen spielen?

Schließlich erreichten wir Großmutters lange, schmale Einfahrt, die zum Hintereingang führte. Mom stieg so schnell sie konnte aus und holte Großmutter. Nachdem sich meine Großmutter mit Sally und mir auf den Rücksitz gequetscht hatte, tadelte Dad sie genervt dafür, dass sie noch nicht fertig gewesen war, als wir bei ihr ankamen. Mom versuchte, sie zu verteidigen, aber Dad übertönte sie einfach, was fast nie passierte. Wie allwissend er doch war!

Wer war dieser Mann?

Als wir langsam auf den Parkplatz neben dem Willard einbogen, rutschte mir mein Herz in die Hose. Eine lange Schlange reichte bis hinter das Gebäude und bewegte sich nur im Zeitlupentempo vorwärts. Mein Pullover kratzte, ich fühlte mich wie damals im Winter während eines Besuchs im Schuhgeschäft. Entnervt vom Anprobieren so vieler Anzugschuhe in meinem dicken Wintermantel, hatte ich den Verkäufer aus purer Frustration vors Schienbein getreten und damit Mom in große Verlegenheit gebracht. Eigentlich habe ich fast immer alles in mich hineingefressen. Aber wenn ich ungeduldig wurde, mir etwas zu weit ging oder ich wütend wurde, brach es manchmal im Bruchteil einer Sekunde heftig aus mir heraus. Manchmal ist das heute noch so.

Als wir aus dem Auto kletterten und am Ende der wuseligen Schlange standen, spürte ich, dass ein Ausbruch kurz bevorstand. »Komm schon«, rief ich ungeduldig, während mir die Schweißperlen den Rücken herunterliefen. Sally trat einen Schritt zurück, als ob sie sich fragte, wer wohl als Nächster explodieren würde.

»Stephen«, befahl Mom – sie rief mich immer mit ganzem Namen, wenn es Ärger gab –, »du musst geduldig sein. Denk daran, wie lecker das Essen sein wird.« Vielleicht würde sie die über uns hereinbrechende Flut durch schiere Willenskraft eindämmen können.

»Warum kann Steve nicht einfach stillstehen?« Großmutter erreichte ebenfalls ihren Siedepunkt. Nach ein paar Minuten in der Schlange, die sich einfach nicht vorwärts bewegen wollte, marschierte ich zurück in Richtung Parkplatz. Verärgert ballte Mom die Faust in der Tasche. Schließlich kam Dad mit triumphierender Pose herüber, packte mich am Arm und eskortierte mich sanft, aber bestimmt zum Auto. Mit einer schwungvollen Geste seines rechten Arms bedeutete er allen anderen, zu uns zu kommen. Wir stiegen schweigend ein, und die Menschenmenge erlebte den seltsamen Rückzug unserer heftig erregten Familie.

Das einzige Geräusch, das ich hörte, war mein eigenes schnelles Atmen. »Können wir das Fenster öffnen?«, fragte ich, während Dad den Schlüssel ins Zündschloss steckte. Aber niemand rührte sich. Mit einer fast perversen Freude über das Ende des Nachmittags fuhr Dad, immer etwas zu schnell, die wenigen Blöcke zurück zu Großmutters Haus. In ihrer Küche konnte sich Großmutter nicht mehr zurückhalten. »Also sowas!«, rief sie. »Solch einen Eindruck bei all diesen Leuten zu hinterlassen!«

Dad konterte in einem Tonfall, den ich noch nie bei ihm gehört hatte. »Ruth«, brüllte er mit rotem Gesicht, »wenn du ihn nicht immer so verwöhnen würdest, wenn Sally und er bei dir übernachten, wäre das nie passiert!« Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass er sie immer schon so hatte zurechtweisen wollen, aber vorher nicht den Mut dazu hatte. Erst viel später begriff ich, dass er jahrelang von seiner konservativen, kontrollierenden Schwiegermutter gegängelt worden war, dies aber einfach hingenommen hatte. Außerdem war er dabei, in eine manische Episode zu gleiten, einer der beiden Pole der bipolaren Störung.

Menschen, die sich in Richtung Manie bewegen, sind zuerst lebhaft, fröhlich, sehr gesellig und fühlen sich grandios. Man nennt diesen Zustand Hypomanie – sie fühlen sich als jemand Besonderes und Privilegiertes. Nur ihre Ideen sind erstrebenswert. Die Musik ist himmlisch, Farben sind brillant, ihre Empfindungen magisch. Eine mysteriöse, leuchtende Energie durchdringt jeden einzelnen Augenblick. Warum sollte man schlafen? Man hat genug »Saft und Kraft«, um den ganzen Tag und die meiste Zeit der Nacht Höchstleistungen zu vollbringen.

Doch schon bald, wenn sich die Hypomanie zu einer vollen Manie entwickelt, gerät alles außer Kontrolle. Der Motor dreht sich mit voller Geschwindigkeit und die Ziele werden intensiv weiterverfolgt. Aber es mangelt an Verständnis dafür, dass andere Menschen den eigenen Heißhunger nach neuen Unternehmungen nicht teilen, egal wie haarsträubend oder unverschämt diese auch sein mögen. Das Leben ist ein stetiges Jetzt, für Stillstand und Verzögerungen bleiben keine Geduld. Mehr noch: Wenn Menschen manisch sind, neigen sie dazu, ihren Mitmenschen direkt an die Gurgel zu gehen, und sie spüren jede kleine Schwäche beim Gegenüber, als hätten sie ein Radar dafür. Eine vollständig ausgeprägte Manie ist ein Zustand, in dem Energie, Überlegenheit und Reizbarkeit – plus wachsende Wut über das trödelige Tempo der anderen – in einer explosiven Mischung lodern.

Bei den meisten Menschen mit bipolarer Störung wechseln sich Manien mit Zeiten elender Depression ab, und zwar nach Zeitmustern, die für jedes Individuum einzigartig sind. Das ist eines der größten Rätsel zur seelischen Gesundheit: Wie können Menschen nach der Hochstimmung einer manischen Episode, eine Woche, einen Monat oder ein Jahr später am verzweifelten Tiefpunkt einer schweren Depression sein? Es gibt zahlreiche Theorien darüber, und viele davon beziehen sich auf einen veränderten Stoffwechsel der wichtigsten chemischen Stoffe im Gehirn. Tatsächlich könnte eine bipolare Störung ebenso eine Störung des »Taktgebers« sein, wie sie eine Störung der Gefühlslage ist.

Die bipolare Störung ist ein Zustand mit fragmentierten, völlig fehlregulierten Emotionen, und deshalb muss man sie in tödlicher Weise ernst nehmen. Das Suizidrisiko ist enorm hoch, vor allem, wenn manische Ekstase und depressive Verzweiflung gleichzeitig in einem sogenannten Mischzustand oder einer gemischten Episode auftreten. Diese Intervalle sind von so viel roher Energie geprägt, dass die Person nun in der Lage sein kann, auf die lähmende Hoffnungslosigkeit der darunterliegenden Depression zu reagieren. Die mangelnde Impulskontrolle im Zusammenhang mit einer Manie macht es unmöglich, negative Gefühle auch nur für den Bruchteil einer Sekunde zu ertragen.

Unbehandelt unternimmt fast die Hälfte der Menschen mit bipolarer Störung den Versuch, das eigene Leben zu beenden, und ein Drittel dieser Versuche ist erfolgreich. Lassen Sie sich nicht einreden, dass eine bipolare Störung nur ein Lebensstil ist oder dass Manien immer angenehm sind. Allzu oft kommt es zur Selbstzerstörung.

Warum aber wurde bei Dad nach seiner ersten Episode, die ihn fast das Leben gekostet hätte, seit seinem 16. Lebensjahr eine Schizophrenie diagnostiziert? Seine gewaltige Energie, sein grandioser Plan, die Welt vor den Faschisten zu retten, und sein impulsives, gereiztes Wesen waren deutliche Anzeichen einer voll entwickelten manischen Episode. Wenn Manien und Depressionen an Intensität zunehmen, kommt es jedoch häufig zu psychotischen Symptomen, einschließlich Halluzinationen (Stimmen hören oder imaginäre Objekte sehen), zu Wahnvorstellungen (feste irrationale Überzeugungen) und zu höchst unlogischem Denken. Diese Anzeichen sind in der Regel an den zugrunde liegenden Stimmungszustand gebunden. Dads Stimmen und Überzeugungen in Bezug auf die Rettung der Welt standen beispielsweise sehr gut im Einklang mit seiner manischen Grandiosität.

Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts hielten US-Psychiater an dem Glauben fest, dass das Vorhandensein psychotischer Symptome auf Schizophrenie hindeute, eine Denkstörung mit anhaltenden Störungen der Logik und Rationalität. Manisch-depressive Erkrankungen, wie sie damals genannt wurden, wurden so gut wie nie diagnostiziert. Es dauerte bis in die 1970er-Jahre, dass sich die genauere europäische Sichtweise durchsetzte, die eine Diagnose der bipolaren Störung auch bei Vorhandensein psychotischer Symptome ermöglicht. Bipolare Störungen – von der bis zu vier Prozent der Bevölkerung betroffen sind, wenn das gesamte Spektrum berücksichtigt wird – sind tatsächlich bei sorgfältiger Diagnose etwa dreimal häufiger als Schizophrenie.

In klassischen Fällen der bipolaren Störung, wie bei Dad, sind die Zeiträume zwischen den Episoden von einer nahezu vollständigen Rückkehr zur normalen Funktionsfähigkeit gekennzeichnet. Kein Wunder, dass ich so schockiert war, als plötzlich ein selbstherrliches, wütendes Selbst von meinem ruhigen, philosophischen Vater Besitz ergriff, bevor er ohne Vorwarnung wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehrte. Moms verzweifelter Gesichtsausdruck während der Szene beim Willard blieb mir noch lange im Gedächtnis. Wie oft hatte sie es kommen sehen und war nicht in der Lage gewesen, den Dammbruch aufzuhalten?

Zurück in Großmutters Küche genoss Dad seinen Ausbruch. Schließlich stand Mom auf und eilte, das Gesicht hinter ihren geballten Fäusten verdeckt, hinaus. Dad scheuchte Sally und mich wütend aus dem Haus und öffnete das Auto. Damit Dad nicht erneut losbrüllte, schwieg ich. Zähnefletschend starrte uns das Trauma an, das unter der Oberfläche unserer Familie versteckt lag. Wir fuhren schweigend nach Hause, in meinen Ohren zischte weißes Rauschen. Zuhause angekommen, gingen Sally und ich auf unsere Zimmer. Ich versuchte, den Nachmittag aus meinem Gedächtnis zu bekommen. Wir fuhren danach nie wieder zum Willard.

Innerhalb einer Woche verschwand Dad. Es war nicht das erste Mal. Und es sollte auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Während sich die Wochen hinzogen, wartete ich, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Es wurden keine Fragen gestellt, keine Antworten gegeben. Ich konzentrierte mich auf die Schularbeiten und auf Sport, um meinen Körper und meinen Geist zu beschäftigen – um mich davon abzuhalten, zu fragen und zu fühlen. Ich hatte keine Ahnung, dass die Ärzte unsere Eltern angewiesen hatten, Dads psychische Krankheit Sally und mir gegenüber nicht einmal zu erwähnen. Jeden Tag durch das Haus zu gehen war so anstrengend, als wäre ich ein Bergsteiger, der im Himalaja einen Gipfel ohne Sauerstoffflaschen besteigt. Alle paar Schritte blieb ich stehen, ich hatte das Gefühl, langsam zu ersticken, und japste nach Luft. Wie lange würde das noch so weitergehen?

Ich habe normalerweise ein ganz gutes Gedächtnis, aber um Dads Abwesenheit und Rückkehr herum schaltete sich der Computer in meinem Kopf einfach ab. Eine Art Vakuum saugte meine Erinnerungen aus dem Kopf heraus, genau wie die Wasserpumpe in unserem Keller, die das überschüssige Hochwasser in die Einfahrt pumpte. Doch diese Pumpe war in meinem Kopf und nahm mir die Erinnerung.

Im folgenden Frühjahr liefen die Vorbereitungen für ein Fest auf Hochtouren. Es war Samstagabend. Wenn meine Eltern solche Partys gaben, war es, als öffnete sich ein Tor zu einer anderen Welt. Für einige kostbare Momente verflüchtigte sich die gereizte Stimmung im Haus. »Cocktails um 6 Uhr«, so lautete die Einladung.

Mom machte sich große Sorgen. Würde Dad gesund bleiben, würde er seine Rolle als Gastgeber einnehmen können? Wenn er das nächste Mal verschwand, würde er dann je wieder zurückkehren? Aber wenn sie irgendwie weitermachten, so, als sei nie etwas gewesen, konnten sie vielleicht alle Fragen der Verwandten, der Nachbarn und der Kollegen an der Uni über Dads Geheimnisse im Keim ersticken. Für meine Mutter, die in einer Zeit aufgewachsen war, in der der schöne Schein alles war, war es das Größte, eine solche Party zu geben. Sie war ihr ganzes Leben lang eine sehr gute Schülerin und Studentin gewesen und hatte meinen Vater Ende der vierziger Jahre kennengelernt, während sie an der Ohio State University ihren Master in Geschichte machte. Jetzt war sie eine stolze Ehefrau und Mutter und trug die Hoffnung für ihre Familie wie eine Medaille vor sich her. In Erwartung von lauter fröhlichen Freunden und Kollegen bereitete sie das Haus vor.

Auch Dad war in seinem Element. Er war ein verheißungsvoller Wissenschaftler, ein logischer Positivist, außerdem ein Meister in klassischer Philosophie. Wie mir Mom Jahre später sagte, war er damals der Vorzeigewissenschaftler der Philosophischen Fakultät der Ohio State University. Bei allen Zusammenkünften hielt er Hof und erzählte von den großen Ideen der Welt. In wenigen Stunden würde der Charme und die Gelehrsamkeit des Paares voll zur Geltung kommen, ein Bild der Anmut und des Erfolgs.

Hoch über dem Esstisch beleuchteten die kleinen Kronleuchter die Teller mit den Häppchen – Russische Eier, Spargelstangen, Sandwichs mit Brunnenkresse –, während der Hauptgang im Ofen garte. Im Wohnzimmer sorgten die hellbraunen und orangenen Lichtkegel der Schirmleuchten für einen sanften Schimmer. Eine Rede des Präsidenten Eisenhower lief im Radio, während Mom rasch die letzten Vorbereitungen traf, Kissen aufrichtete und Aschenbecher auf den Tischen verteilte.

Dad hatte seine Lieblingsplatten aufgelegt. Der Triumphmarsch aus der Aida ließ die Luft erzittern und beförderte uns nach Ägypten, danach hörten wir Bach, gespielt von E. Power Biggs, seine klangvollen Orgelakkorde verwandelten unser Haus in eine Kathedrale.

Grüne, braune und bernsteinfarbene Karaffen mit hochprozentigem Inhalt schimmerten auf dem Klapptisch, den Dad in der Nähe der hinteren Veranda aufgestellt hatte; das war seine Bar für den Abend. Die Shaker glitzerten, die Schalen mit den Eiswürfeln waren so kalt, dass die Finger an der Metalloberfläche haften blieben, wenn man sie zu berühren wagte. Die Spirituosen rochen leicht nach Medizin und verhießen ein heimliches Vergnügen.

Als die Party beginnen sollte, zogen Sally und ich unsere Schlafanzüge an und warteten auf der Treppe sitzend auf die Babysitterin. Endlich klingelte es an der Tür und die Gäste strömten herein: Professoren, Ärzte, Künstler, Nachbarn. Durchs Haus tönten die lauten Stimmen der Männer; sie trugen Tweedjacken, während die Frauen in ihren Kleidern funkelten. Ein elegantes Paar nach dem anderen legte die Mäntel ab und strahlte.

»Alene«, sagte einer bewundernd zu Mom. »Du siehst großartig aus heute Abend! Was für ein Anblick!«

»Wo ist Virgil?«, fragte ein anderer mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. »Aha, wie ich vermutet habe, er schenkt drüben am Tisch seine Cocktails aus! Komm rüber, du König der Philosophen, und sag Hallo!«

Ein dritter brüllte so laut, dass alle es hören konnten: »Ich war jahrelang auf der Suche nach der perfekten Party, aber hier spielt sie sich direkt vor meinen Augen ab, chez Hinshaw! Gib mir einen Drink, und zwar sofort!«

Auch Sally und ich wurden mit Zuneigung überschüttet, wie es in den fünfziger Jahren eben so üblich war. »Wie groß du geworden bist, Steve! Und Sally, du bist fast genauso groß. Wie schön du bist, genau wie deine Mutter! Komm her und umarme uns.« Noch ein Gast trat ein. »Steve, willst du es deinem kernigen Vater gleich tun und Wissenschaftler und Sportler werden?« Aus der enthusiastischen Ehefrau eines Kollegen sprudelte es heraus: »Sally, nimmst du schon Ballettstunden?«

Im Wohnzimmer an seiner behelfsmäßigen Bar maß Dad mit einem schiefen Grinsen jeden Schuss Alkohol sorgfältig ab, bevor er das gewünschte Getränk im Cocktailshaker schüttelte, und goss dann, bevor er den Drink servierte, noch etwas mehr dazu. Sein Esprit war unübersehbar, sein Lachen ansteckend.

Als die Babysitterin eintraf, stöhnten Sally und ich. Mom begleitete uns nach oben, aber wir konnten immer noch ein paar Gespräche hören. »Virgil, was macht Bertrand Russell heutzutage? Worüber hast du mit ihm in Princeton gesprochen?« Dad hatte, während er promovierte, bei dem bekannten Philosophen Vorlesungen gehört.

»Alene, wie kann man denn so gut aussehen wie du – mit zwei Kindern im Schlepptau? Aber wir müssen dich an der Uni unterbringen, für jemanden mit deinen Talenten gibt es sicher eine Stelle in Geschichte oder Englisch.«

Unter den Männern hieß es: »Kann Woody mit den Buckeyes im Herbst wieder Landesmeister werden? Wir holen uns den Rose Bowl!«

Heiteres Gelächter schallte in regelmäßigen Abständen die Treppe hinauf. Eine begeisterte Stimme rief: »Draußen mag ja Kalter Krieg sein, aber hier im Haus ist es warm! Auf unsere zauberhaften Gastgeber!« Man hörte Gläser klirren. Von oben malte ich mir den Glanz der Edelstahlplatten und -behälter aus, in denen das Essen warmgehalten wurde. Die blaugelben Flammen unter ihnen verströmten ihren schwachen Duft von brennendem Spiritus bis in unsere Schlafzimmer.

Zwanzig Jahre später und einige Jahre, nachdem Dad und ich unser erstes schicksalsschweres Gespräch während meiner ersten Frühjahrssemesterferien geführt hatten, erfuhr ich von Mom, wie sie während der Party in einer kurzen Verschnaufpause am Wohnzimmerfenster vorbeiging und plötzlich zitterte. Ihr kam ein klarer, kalter Nachmittag ein paar Monate vor der Party ins Gedächtnis. Dad und sie hatten genau an dieser Stelle am Fenster gestanden und auf die Häuser der Nachbarn geschaut, nachdem er aus dem Columbus State Hospital zurückgekehrt war, nach einer Zeit unkontrollierten Verhaltens, mit Stimmen im Kopf und mit Verfolgungswahn. Der Vorfall beim Willard war ein deutliches Zeichen – im Nachhinein kann man sagen, dass bei ihm in einem erschreckend schnellen Tempo eine manische Episode eskaliert war.

Die Therapie im Columbus State Hospital bestand auch aus einer Elektrokrampftherapie, abgekürzt EKT. Dabei wurden Elektroden an seinen Schläfen angebracht, um in seinem Gehirn einen tonisch-klonischen Krampfanfall hervorzurufen, ein sogenannter Grand Mal-Anfall. Zusätzlich hatten ihm die Ärzte hoch dosiertes Chlorpromazin, das erste Medikament gegen Psychosen, verschrieben. Doch als Dad wieder zu Hause war, war etwas nicht in Ordnung. Normalerweise kehrte er nach einem Anfall von Wahnsinn zu seinem normalen Selbst zurück, aber nun schien er wie im Nebel, seine Persönlichkeit schien verschüttet. Mom machte sich Gedanken, ob dies die Auswirkungen seiner Erkrankung oder die der Behandlung waren. Um Sally und mich vor Dads Verwirrtheit zu schützen, schickte sie uns über mehrere Wochenenden zu unserer Großmutter.

Zaghaft und mit matter Stimmte fragte ihr Mann eines Samstags: »Liebling, könntest du mir ein wenig helfen?« Seit seiner Rückkehr schien er ein dringendes Bedürfnis nach dem anderen zu haben. Sie versuchte, geduldig zu bleiben. »Mir scheint, ich habe die Namen unserer Nachbarn vergessen«, klagte er. »Was soll ich sagen, wenn sie mich ansprechen? Kannst du mir helfen?«

Die Namen der Nachbarn, die sie seit Jahren kannten? Was war mit dem brillanten Wissenschaftler geschehen, den sie geheiratet hatte? Mit jeder Episode wurde ihr klarer, dass sie auch die Rolle der Mentorin, Helferin und Betreuerin übernehmen musste. Sie zeigte sofort auf die andere Straßenseite und schlug einen geschäftigen Tonfall an: »Erinnerst du dich an die Caldwells, also an Pete und Angie? Da, im weißen Haus auf der anderen Seite?« Dad folgte ihrem Blick, doch sein Gesichtsausdruck war leer. »Wir spielen Badminton mit ihnen, weißt du noch? Pete ist der Mittelpunkt auf jeder Party, er hat immer einen Witz oder eine Geschichte parat. Erinnerst du dich?«

Er starrte hinüber, ein Funken des Erkennens in seinem Blick. »Sicher«, sagte er leise, »ich habe sie vor Augen. Wie heißen sie noch mal?« Als spräche sie mit einem Kind, erklärte sie es noch einmal. »Und was ist mit denen von nebenan?«, fragte er. »Der Mann scheint mich so gut zu kennen.«

»Schatz, du musst dich doch an die Barkers erinnern?« Beide blickten auf das beigefarbene Haus gegenüber der Einfahrt. »Bill, er begrüßt dich immer, wenn du vom Campus zurückkommst? Er ist etwas kleiner als du, Bürstenhaarschnitt und trägt Fliege? Und drei Türen weiter«, fuhr Mom fort, »die Drakes?« Beide reckten die Köpfe. »Tim ist in Steves Alter. Seine ältere Schwester Mary ist schon auf der Junior-Highschool.«

»Wie heißen die Kinder noch mal?« Sie atmete tief durch und begann von Neuem.

Doch zurück zur Party. Moms kurze Tagträumerei ging zu Ende. Sie sah, wie ihr Mann ein Glas füllte und sich mit einem freien Stuhl einen Weg durch die Gäste bahnte. Wie ausgewechselt, dachte sie, wieder ganz der gesellige, angesehene Philosoph, den sie geheiratet hatte. Nichts verriet seine inneren Geheimnisse, seine unerfreulichen Abwesenheiten. Es hatte einige Wochen gedauert, bis sich seine Verwirrtheit gebessert hatte, schließlich aber war sein Gedächtnis zurückgekehrt, insbesondere als die Chlorpromazindosis gesenkt wurde. Ihre Blicke trafen sich und sie nickten einander zu – das Fest war ein Erfolg. Doch wann würden die verräterischen Zeichen zurückkehren, die Anzeichen des einsetzenden Wahnsinns? Um zu überleben, würde sie sich auf die guten Zeiten konzentrieren müssen, zum Beispiel auf heute Abend. Dies war eine der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens. Wenn sie in der Vergangenheit verharrte – oder zu sehr an die nächste Episode dachte und an die Distanz zwischen ihnen beiden während seiner Wahnsinnsattacken –, wäre sie nicht in der Lage, auch nur einen weiteren Tag zu ertragen.

Sie war wieder ganz bei der Feier und sorgte dafür, dass jeder Gast einen Nachschlag bekam. Als der Kaffee serviert wurde, murmelten manche Paare, ihre Babysitter würden warten. Sally und ich schliefen inzwischen schon seit Stunden im schwachen Sternenlicht, das durch unsere Fenster schien.

Die Gespräche plätscherten dahin, noch mehr Feiernde suchten ihre Habseligkeiten zusammen. Pflichtbewusst brachte Mom sie mit einem tapferen Lächeln zur Tür. Weitere Gäste machten sich daran, sich zu verabschieden.

Wartet, dachte sie verzweifelt. Geht nicht weg! Wenn die Party nur noch etwas weiterginge. Wenn sie die Magie doch nur festhalten könnte.

2.Im fernen Kalifornien

Lebte ich in zwei verschiedenen Welten, je nachdem, ob Dad anwesend war oder nicht? Bestand Dad aus zwei unterschiedlichen Personen? War das bei mir auch so?

Seine spezielle Form der bipolaren Störung war eindrucksvoll – mit Episoden, die in den späten Teenagerjahren begonnen hatten und rasch zu Manien voller Größenideen eskalierten, mit wundersamen Genesungen nach Monaten unverständlichen Verhaltens und einer bemerkenswert normalen Funktionsfähigkeit zwischen den Episoden. Einige nennen dieses Muster »Cade’s disease«, benannt nach John Cade, dem australischen Psychiater und Pionier der Lithiumbehandlung bei bipolaren Störungen, der in den späten 1940er-Jahren dieses klassische zyklische Muster beschrieben hatte. Nicht jeder mit einer bipolaren Störung weist so ausgeprägte Manien und Depressionen auf. Tatsächlich haben die meisten auch zwischen den Episoden anhaltende Symptome. Doch Dad zeigte dieses extreme, klassische Muster bis in ein relativ hohes Alter. Es ist nicht überraschend, dass meine Welt auf den Kopf gestellt wurde, wenn er plötzlich in eine ganz andere Persönlichkeit schlüpfte, die sich so sehr von seinem sonstigen Wesen unterschied. Wenn er verschwand, blieb meine Zeit stehen, und ich wagte noch nicht einmal, mich zu fragen, wo er denn sein könnte. Wenn er nach Wochen oder Monaten zurückkehrte, war er rational, ruhig und ansprechbar. An ihn konnte ich mich wenden, wenn ich verwirrt oder bestürzt war.

So stark Mom auch war – hielt sie doch die Familie mit schierer Willenskraft zusammen –, sie konnte mich nicht traurig oder wütend sehen. Vielleicht hätte sie das an einen anderen Mann im Haus erinnert, dessen Emotionen manchmal zerstörerisch waren. Ich lernte, Dinge für mich zu behalten.

Niemand durfte sich je anmerken lassen, dass etwas anders war. Ohne, dass wir proben durften, waren wir alle mit ernsthafter Schauspielerei beschäftigt, wir fanden uns in steifen Kostümen und verwirrenden Szenen wieder. Mit der Zeit taten wir so, als würden wir gar nicht nur so tun – als würden wir das ultimative Theaterstück aufführen. Jede Aufführung war live, und wir spielten unsere Rollen so, als hinge unser Leben vom Erfolg des Stücks ab. Warum waren die wichtigsten Dinge im Leben unserer Familie ein solch überdauerndes Geheimnis? Was auch immer hinter dem Schweigen steckte, es musste so verheerend sein, dass es uns zerstört hätte, wenn es ans Licht gekommen wäre.