Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau - Phenix Kühnert - E-Book + Hörbuch

Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau E-Book und Hörbuch

Phenix Kühnert

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Beschreibung

Der Kampf für Gerechtigkeit und trans* Rechte? – ein Kampf für uns alle! Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose … Sprache, Identität und vor allem: Empathie Der Name einer Sache verkörpert deren Bild, unsere Vorstellung davon und die damit verbundenen Gefühle. Oder: Eine Sache wird zur Sache durch ihre Benennung. Doch wie können wir diesen einfachen Gedanken auf unsere Umgebung übertragen? Phenix Kühnert ist sich sicher: mit Empathie. Wir leben in einer Gesellschaft, die alle ausschließt, die von der Norm abweichen. Phenix nimmt uns an die Hand, macht deutlich, wie sehr Sprache unser Denken prägt, was es heißt, die eigene Identität abgesprochen zu bekommen, wie uns Zuschreibungen und Vorgaben zu Männlichkeit und Weiblichkeit beeinflussen. Sie setzt sich für trans* Rechte und nicht binäre Menschen, die queere Community und Verständnis ein. Phenix ermutigt und sensibilisiert. Denn: Menschen sind verschieden, nichts zu 100 Prozent, wir entwickeln und verändern uns, wachsen. Und dabei wird klar: Diversität ist die wahre Normalität. Radikale Offenheit: Phenix hält ein Megafon in der Hand und spricht über … alles, und zwar so richtig! Phenix Kühnert will mehr. Mehr Rechte, mehr Stimmen, mehr Inklusivität. Gesellschaftliche Konstrukte? Einteilungen in "normal" und "anders"? Werfen wir am besten über den Haufen. Dafür kämpft Phenix. Und das jeden Tag. Sie blickt zurück in ihre Kindheit, deutet Erinnerungen neu, schreibt über Schmerz und Akzeptanz. Mit ihr dürfen wir in Wartezimmern von Ärzt*innen Platz nehmen, öffnen einen Pass, der uns nicht entspricht, spüren einen Anflug dessen, was das auslösen kann. Wir sind dabei, wenn Phenix zum ersten Mal Hormone nimmt, wenn sich ihr Körper zu verändern beginnt, verstehen, was das Rasieren ihrer Beine mit Emanzipation zu tun hat. Wir begleiten sie bei Höhen und Tiefen, in Sportumkleidekabinen oder auf Dates in Berlin. Phenix lässt uns ganz nahe an sich heran, macht sich verletzlich, ist sanft und entschieden. Und: Sie zeigt, warum es so wichtig ist, dass wir Gleichberechtigung gemeinsam groß machen. "Ich identifiziere mich nicht als trans, ich bin trans. Ich nutze nicht die Pronomen 'sie/ihr', sondern meine Pronomen sind 'sie/ihr'. Dazu habe ich mich nie entschieden, das war schon immer so. Es gibt kein Datum, an dem ich trans geworden bin. Es gab den Moment, in dem ich es mir eingestanden habe, und es gab den Moment, ab dem ich mich entschieden habe, es anderen zu erzählen. Ich war nie ein Mann, bei meiner Geburt wurde mir das männliche Geschlecht zugewiesen und ich habe mich dem angepasst gesellschaftlich typisch männlich präsentiert." Phenix Kühnert, aus "Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau"

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Seitenzahl: 266

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Zeit:5 Std. 31 min

Sprecher:Phenix Kühnert

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Phenix Kühnert

Eine Frau ist eineFrau ist eine Frau

über trans Sein und mein Leben

INHALT

Hallo Menschen da draußen!

Prolog: Wenn Routine zur Ausnahmesituation wird

Ein Anfang: Szenen meines Lebens

Die Rechte der LGBTQIA+ Community: Diskriminierung und Demonstrationen

Eine Entwicklung: Selbstfindung, Dating und die Reflexion unserer Rollenbilder

Transfeindliche Argumente, Übergriffe, Veränderung und Feminismus

Wissen, Sprache, Unterstützung und vor allem: Empathie

Glossar

Danke!

Zur Autorin

 

 

 

Lass uns lieber

Naiv sein als zynisch

Blauäugig statt hart und kalt

Lieber in letzter Sekunde noch glauben

Dass man fliegen kann

Kurz vorm Asphalt

Hoffnung hält Träume am Leben

Steh lachend mit dir im Gewitter

Du küsst mich

Und schreist in den Regen

Ich will lieber

Naiv sein als bitter

Max Richard Leßmann

HALLO MENSCHEN DA DRAUSSEN!

Bevor ich richtig einsteige, möchte ich noch etwas loswerden: Dieses Buch beruht zu einem großen Teil auf meinen persönlichen Erfahrungen. Meine Individualerfahrung kann nicht stellvertretend für alle trans Frauen, trans Menschen oder sogar alle queeren Menschen stehen. Und das soll sie auch gar nicht, ich bin nicht das fleischgewordene Sprachrohr all dieser Personen. Auch wenn ich Tipps formuliere, wie nicht Betroffene in bestimmten Situationen bestmöglich handeln können oder sollten, beruhen diese auf meiner eigenen Meinung und Einschätzung – und sind demnach nicht allgemeingültig. In manchen Passagen halte ich mich an Definitionen, aber es ist sehr gut möglich, dass es da draußen Menschen gibt, die Dinge für sich individuell anders definieren. Dieses Buch ist eine Hilfestellung. Am wichtigsten sind ohnehin ein respektvolles Miteinander und Aufklärung, die in der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft ankommt, um Berührungsängste abzubauen.

Schon immer ist es mein Credo, durch Empathie für mehr Akzeptanz und Toleranz in unserer Gesellschaft zu sorgen. Und genau das verfolge ich auch mit diesem Buch, in dem ich meine Geschichte erzähle. Anekdotisch reflektiere ich Erfahrungen und arbeite Erlebtes auf. Diese Anekdoten setze ich in Verbindung mit bestimmten Themen, die nicht nur mich oder einzelne Personen betreffen, sondern unsere Gesellschaft – das System, in dem wir leben. Das sind sachbuchartige Einschübe, die meine Erlebnisse auf einer größeren Skala verorten. Dieses Buch ist für mich eine Reise und für Menschen, die es lesen, ein Denkanstoß, weder vollständig noch auf alle Situationen und Personen übertragbar. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Privilegien, die ich habe: Ich bin weiß, habe keine Behinderung und bin momentan gesund, ich bin in eine sogenannte „intakte“ Familie in guter finanzieller Lage geboren – mit Eltern, die mich mein ganzes Leben lang emotional, aber auch materiell unterstützt haben und es auch immer wieder tun würden, sollte ich es brauchen. Meine Worte werden hier abgedruckt, aber da draußen gibt es sehr viele Menschen, denen Gehör geschenkt werden muss, bitte vergesst das nicht.

Am Ende dieses Buches gibt es ab Seite 213 ein Glossar. Darin finden sich Begriffe rund um LGBTQIA+ Themen. Begriffe, die vielleicht nicht alle von uns jeden Tag nutzen, die aber wichtig sind und zum Verständnis einiger spezifischer Abschnitte beitragen.

Und: Wenn ich in einem allgemeinen Kontext (nicht auf meine persönliche Geschichte bezogen) das Wort „trans“ verwende, also von trans Personen schreibe, meine ich im Besonderen trans Menschen, möchte aber festhalten, dass auch Menschen mit anderer (queerer) Geschlechtsidentität gegebenenfalls ähnliche oder gleiche Erfahrungen machen können. Dies kann in anderen Texten durch ein Sternchen nach dem Wort trans – also „trans*“ – deutlich gemacht werden. So funktioniert das ebenfalls bei den Wörtern „Mann“ und „Frau“: Menschen anderen Geschlechts können natürlich vergleichbare Erfahrungen machen.

 

 

 

Ich identifiziere mich nicht als trans, ich bin trans.Ich nutze nicht die Pronomen „sie/ihr“,sondern meine Pronomen sind „sie/ihr“.Dazu habe ich mich nie entschieden,das war schon immer so.Es gibt kein Datum, an dem ich trans geworden bin.Es gab den Moment, in dem ich es mir eingestanden habe,und es gab den Moment, ab dem ich mich entschiedenhabe, andere daran teilhaben zu lassen.Ich war nie ein Mann, bei meiner Geburt wurde mirdas männliche Geschlecht zugewiesenund ich habe mich, dem angepasst, gesellschaftlichtypisch männlich präsentiert.

PROLOG: WENN ROUTINE ZUR AUSNAHMESITUATION WIRD

„Herr Kühnert, bitte!“

Ich greife nach meiner Tasche. Während ich mich aus dem Stuhl im Wartezimmer meiner Hautärztin erhebe, spüre ich die Blicke der Anwesenden. Ich fühle mich wie ein Alien, wie eine andere Spezies. Dabei möchte ich doch einfach nur zu meiner Routineuntersuchung. Routine: Nichts Außergewöhnliches. Nichts, was im Leben eines Menschen Schweißausbrüche hervorrufen und Überwindung kosten sollte. Aber alltägliche Situationen verlangen mir manchmal viel ab. Das kann ein einfaches Hallo in der Sportumkleide sein. Denn sobald meine tiefe Stimme zu hören ist, könnte anderen Menschen die Illusion genommen werden, dass ich eine cis Frau bin. Also eine Frau, der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde. Denn das bin ich nicht. Ich bin eine trans Frau. Das versuche ich nicht rund um die Uhr zu verstecken, aber manchmal schon. Warum? Um ganz „normal“ behandelt zu werden. „Normal“, ein sehr schwieriges Wort, das ich in diesem Buch wohl ausschließlich in Anführungszeichen verwenden werde. Denn was ist schon „normal“ in den gesellschaftlichen Konstrukten, innerhalb derer wir leben?

Es gibt viele Alltagssituationen, die mich als trans Person aus der Bahn werfen können: ein Telefonat, ein Toilettenbesuch oder ein Termin mit einem Handwerker. Ich weiß nie, wer potentiell ein Problem mit mir haben könnte. Ich fühle mich wie in einem Karussell mit regelmäßigem Halt in Outing-Szenarien.

Ich bewege mich also durch das volle Wartezimmer. Die Wartenden schauen, als sei ich in einem fleckigen Sonntags-Couch-Outfit auf den Laufsteg einer Pariser Fashion Show gefallen. Alle wollen sich vergewissern, welches Geschlecht dieser Mensch denn nun hat. Oder ob ein Irrtum vorliegt, den sie dringend aufklären müssen. Es wurde ja schließlich ein „Herr“ aufgerufen – sie lesen mich aber als Frau. So kommt es im Gehirn der meisten zum Error. Diese Problemstellung muss nun irgendwie gelöst werden. Ist das also ein Mann?! Während die Gehirne dieses Problem bearbeiten, wird gestarrt. Auf eine Art freuen mich die Blicke sogar, für mich bedeutet das nämlich, dass ich im Wartezimmer bisher als Frau wahrgenommen wurde. Ansonsten würde es nicht zu dieser Verwirrung kommen. Dennoch kann ich auf diese Bestätigung gern verzichten, denn das unangenehme Gefühl überwiegt.

Die Arzthelferin steht in der Tür des Behandlungszimmers. Sie schaut zu mir. Sie schaut auf meine Akte und wieder zu mir. Derselbe Error wie bei den anderen Anwesenden tritt auf. Das kann ich in ihren Augen lesen. Ich versuche zu lächeln und nicke ihr zu. Sie versteht meine Geste und tritt beiseite, sodass ich den Raum betreten kann.

Ich bin es gewohnt, dass Menschen irritiert reagieren, wenn sie in einem solchen Kontext auf mich treffen. Auf offiziellen Dokumenten trage ich zu diesem Zeitpunkt einen gesellschaftlich „männlichen“ Namen. Menschen lesen mich wiederum als Frau, und das führt zu Irritation. Diese Verwirrung ist für alle Beteiligten unangenehm. Es war ein langer Weg, bis ich verstand: Ich bin nicht das Problem in diesen Situationen. Ich muss meinen Mitmenschen das Leben nicht einfach und leicht durchschaubar machen. Ich muss glücklich sein. Und wie ich den Weg zu dieser und ganz vielen anderen Erkenntnissen gegangen bin, möchte ich teilen.

Dieses Buch ist für meine Hautärztin, für ihr Personal, für alle, die je mit mir im Wartezimmer saßen, und für alle, die mich irgendwann angestarrt haben. Dieses Buch ist für Menschen, die ebenfalls angestarrt werden, für die, die sich weiterentwickeln wollen, und für alle, die mit offenen Augen durchs Leben gehen.

EIN ANFANG: SZENEN MEINES LEBENS

Dieser Text ist für mich eine Reise. Eine Reise, die nicht chronologisch abläuft. Und deswegen ist auch dieses Buch: nicht chronologisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Aber … wie es sich wohl anfühlt, diesen Text zu lesen? Ein bisschen so, als hätte ich euch, die Lesenden, einen Abend lang zu mir eingeladen. Als hätten wir uns hingesetzt, und ich hätte angefangen zu erzählen. Bis in die Nacht hinein, vielleicht sogar eher bis in die frühen Morgenstunden, wenn es anfängt zu dämmern und das Licht golden wird. Es ist, als wären in dieser Nacht viele Fragen aufgekommen, als hätte es Zwischenrufe gegeben, Nicken und Lachen und Tränen. So fühlt sich dieser Text jedenfalls für mich an. Ich habe Anekdoten aufgeschrieben, ich spreche von einzelnen Situationen, von Erlebnissen. Manchmal springe ich in der Zeit, vor und zurück. Denn diese Erzählung kann nicht chronologisch sein. Auch meine Transition lief und läuft schließlich nicht nach einem strengen Punkteplan, mit vorgegebenen Schritten, die ich abhaken kann. Verschiedene Geschehnisse haben sich oft erst retrospektiv miteinander verbunden, sie haben sich gegenseitig beeinflusst. Das war schön, schwierig, manchmal sehr aufreibend für mich. Genug der Vorrede, es ist so weit: Wir sitzen gemeinsam am Tisch.

 

 

Wäre ich mit einer Vulva geboren worden, würde ich jetzt den Namen meiner jüngeren Schwester tragen. Aber wie würde sie dann heißen? Ein kurioser Gedanke. Unsere Eltern ließen sich im Laufe der Schwangerschaften nämlich nicht sagen, welche Genitalien ihre Kinder jeweils haben würden, und bereiteten sich auf alle Eventualitäten vor. Auf alle? Nein, das stimmt nicht ganz.

Meine Mutter hat sich 1995 nicht für das Geschlecht des Babys interessiert, das in ihrem Bauch wuchs. Das führte im Bekanntenkreis zu schiefen Blicken. Damals war es üblich, das „Geschlecht“ vor der Geburt zu ermitteln. Wobei das eine falsche Ausdrucksweise ist, die sich etabliert hat. Es wird nämlich festgestellt, welche Genitalien das Kind haben wird. Und genau so sollte es auch bezeichnet werden. Denn: Geschlecht und Genitalien, das ist nicht dasselbe, das sind keine Synonyme. Und wenn Eltern sich dabei komisch fühlen, ihrem Umfeld zu berichten: „Jaaa, also wir haben den Genitalien-Check gemacht und es wird einen Penis haben!“, dann sollten sie wohl damit aufhören.

Wie absurd es ist, auf diese Art von Ungeborenen zu erzählen, zeigt sich mit dieser anderen Wortwahl. Warum gehen wir davon aus, dass alle Kinder cisgeschlechtlich und heterosexuell sind? Schauen Menschen in einen Kinderwagen, kommen bei einem kleinen Jungen schnell Aussagen wie: „Der wird später vielen Mädchen den Kopf verdrehen!“ – Aber was, wenn er schwul ist? Was, wenn sie trans ist? Genau solche Aussagen stecken Kinder direkt in vorgefertigte Rollen. Auf die Spitze wird das bei „Gender-Reveal-Partys“ getrieben, also bei Veranstaltungen, bei denen das „Geschlecht“ des Babys offiziell mitgeteilt und gefeiert wird. Dann fliegt hellblaues Konfetti durch die Luft oder ein rosaroter Glitzerregen vom Himmel. Wie ist ein Junge?! Wie ist ein Mädchen?! Oder anders gesagt: Wie haben sie zu sein? Kindern wird von Anfang an – ab ihrer Geburt – eingebläut, welche Eigenschaften zu ihren Genitalien passen.

Bei meiner Geburt wurde das Geschlecht „männlich“ festgestellt, was für mich in einer vorgegebenen Rolle resultierte. Wenn ich Dinge aufzeige, die in meiner Kindheit nicht ideal gelaufen sind, kritisiere ich nicht per se meine Familie, sondern die Strukturen der Gesellschaft, die auch meine Verwandten erst entlernen mussten und müssen. Ich bin nicht in einer wundervollen Welt der geschlechtslosen Erziehung aufgewachsen. Dennoch hatte ich Freiheiten. Die ersten Jahre – soweit ich mich überhaupt erinnere – hat es mich nicht besonders interessiert, welches Geschlecht ich habe und was das nun für mich bedeutet. Das, was ich retrospektiv sagen kann, ist, dass sich vieles falsch angefühlt hat. Damals dachte ich aber, dass das eben so sei, sich so gehörte. Und andere Jungs bestimmt auch gern mal ein Kleid oder hohe Schuhe anhätten oder ihre Haare lang tragen wollten. Ich war immer fasziniert von den Zöpfen der Mädchen mit langen Haaren. Wenn sie im Sportunterricht vor mir liefen, war ich hypnotisiert von den glänzenden Haaren, die von rechts nach links schwangen. Oder von meiner liebevollen Oma, die stets topgestylt war. Der rote Lippenstift, die hohen Schuhe. Sie hatte so viel Glamour und Grazie. Genau so wollte ich auch eines Tages sein. Aber geht das? Es schien wie ein sehr, sehr ferner Traum. Eher wie einer, der immer unerreichbar bleiben würde. Etwas, was ich in meiner Fantasie mit einem Handtuch auf dem Kopf als Haarattrappe leben konnte. Aber in der Realität? – Niemals. Ein Satz, der damals mehrfach über meine Lippen ging, war: „Mein Leben wäre einfacher, wäre ich als Mädchen geboren.“ Dass ich als Mädchen geboren wurde, nur in einem Körper, der anders aussieht als der vieler Mädchen, habe ich damals nicht verstanden.

Ich habe ein X- und ein Y-Chromosom. Ich habe mit meinem Bruder im Garten Tore geschossen und mit meiner Schwester Modenschauen veranstaltet. In meiner Kindheit habe ich mir nämlich wirklich keine Gedanken darüber gemacht, was nun zu meinem Geschlecht „passt“ und was nicht. Ich habe einfach getan, was mir Spaß machte. Mit den Jahren kamen aber immer mehr Unverständlichkeiten auf, Dinge, die mich und wahrscheinlich auch andere irritierten: Warum wird mir im Geheimen eine neue Puppe geschenkt? Warum kann ich nicht mit meinen Freundinnen in die Sportumkleide? Warum schauen Menschen mich anders an als die anderen Kinder? Stimmt etwas mit mir nicht?

Und das ist der Punkt, bei dem sich etwas verändern muss: der Umgang mit Kindern. Kindern müssen gleiche Chancen geboten werden und der Freiraum, einfach das zu tun, was sie wollen. Egal, welches Geschlecht sie haben. Und da können wir uns wohl fast alle an die eigene Nase fassen. Sobald eine Schwangerschaft verkündet wird, ist oft die erste Frage: „Und, was wird es? Wünschst du dir ein Mädchen oder einen Jungen?“ – Was für ein Quatsch. Und wie irrelevant. Auch ohne medizinische Expertise würde ich behaupten, dass das Geschlecht ziemlich egal ist, bevor ein Kind in die Pubertät kommt. Es gab 2018 ein Experiment, für das Babys gegensätzlich zu dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, stereotypisch „männlich“ und „weiblich“ gekleidet wurden. Babys sind ja sonst optisch sehr geschlechtsneutral. Je nach Farbe der Kleidung wurden den Kindern von Teilnehmenden unterschiedliche Charakterzüge und Lieblingsspielzeuge zugeordnet. War das Baby blau gekleidet, war angeblich ein Auto das liebste Spielzeug, war der Strampler rosa, angeblich eine Puppe. Absurd, was Erwachsene Kindern aufzwingen. Nur wenn Kinder die nötige Offenheit um sich spüren, können sie zu einer Generation heranwachsen, die weniger von Sexismus geprägt ist. Und das sollte doch eigentlich ein Wunsch sein, der uns alle eint.

In meiner Teenagerzeit dachte ich, meine Rolle als schwuler Mann gefunden zu haben. Kein dramatisches Outing, trotzdem in der Schule viel polarisiert. Die einen liebten mich, die anderen wollten mich im Spind einschließen oder verprügeln. Aber alles in allem war die Zeit okay. Ich dachte: Das bin ich, so läuft das. Bis ich mit ungefähr 20 Jahren stiller wurde. Gute Freundinnen fragten mich, wo der Rebell in mir geblieben sei. Es war die Zeit, in der ich frisch nach Berlin gezogen war. Um mich herum wurde alles aufgeklärter, feministischer. Aber es ging eben immer nur um Frauen. „Frauen müssen nachts die Straßenseite wechseln, wenn sie eine Gruppe von Männern sehen.“ – Das will niemand bestreiten, aber ein in den Augen der Gesellschaft „offensichtlich“ schwuler Mann muss das genauso. Ich will Leid nicht gegeneinander aufwiegen. Aber Feminismus lässt sich nicht so einfach denken, und das wurde mir damals bewusst.

Heute ist die Rebellin aus meiner Jugend wieder da. Nur erwachsen, souverän und nicht mehr ganz so bunt gekleidet.

Meine Anfangszeit in Berlin war nicht leicht. Auch wenn ich sie damals gar nicht so schwierig empfand oder mir zumindest nicht eingestehen wollte, wie es mir wirklich ging. Nicht gut. Ich erbte Geld und arbeitete dadurch nur wenige Tage die Woche. Es funktionierte alles irgendwie, der Automat spuckte immer ein paar Scheine aus. Ich schloss Freundschaften mit Menschen, die herzensgut waren und sind, aber auch sehr gern feiern gingen. Das hat mich mit 18 Jahren – aus der Idylle Lübecks kommend – sehr fasziniert. Solche Partys kannte ich nur aus dem Fernsehen. Partys, auf denen Drogen konsumiert wurden, Partys, die weltberühmt für ihren Exzess waren. Und ich wollte das auch. Denn neben meiner Faszination für das, was dort passierte, war ich naiv. Heute wünsche ich mir manchmal, ich könnte noch so sorglos wie damals Entscheidungen treffen. Erst war ich nur hin und wieder dabei. Und dann immer öfter. Bis ich schließlich jedes Wochenende in Clubs verbrachte. Zurück in meine Wohnung fuhr ich am Montagmorgen mit irgendeiner U-Bahn, und ich übergab mich beim Aussteigen. Heute kenne ich den Grund für mein damaliges Verhalten: Ich hatte wieder für einige Stunden die Gedanken vergessen, die ich so weit von mir wegdrückte, dass ich manchmal gar nicht mehr wusste, dass es sie gab. Denn ich war eine Künstlerin des Verdrängens. In einem Ausmaß, das ich heute stets zu unterbinden versuche. Probleme anzugehen, führt oft zu einer Lösung. Sie aufzuschieben, lässt sie manchmal größer zurückkommen. An dieser Stelle der Weisheit muss ich gestehen, dass ich manche Schwierigkeiten so tief in mir vergraben habe, dass ich bis heute auf ihre Rückkehr warte. Also haben manche Probleme in seltenen Fällen vielleicht doch ein Ablaufdatum. Aber darauf will ich mich nicht mehr verlassen.

„Was ist deine allererste Erinnerung?“ Diese Frage hat mir einmal eine Freundin gestellt. Es ist eine gute Frage für den Anfang dieses Buches. Denn meine Erinnerungen machen einen großen Teil davon aus. Nach einigem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass meine allererste wirklich eigene Erinnerung – also nicht durch Fotos hervorgerufen – jene an den Tag ist, an dem meine Schwester nach Hause kam. 1999 im Mai. Sie wurde geboren mit sehr dunklem, vollem Haar und kleinem, rotem Knautschgesicht. Daran erinnere ich mich wiederum nicht selbst, sondern weiß es von Bildern. Meine erste Erinnerung ist, wie ich zu Hause auf sie wartete. Ich bin tatsächlich trotzdem unsicher, ob das alles so stattgefunden haben kann, aber in meiner Erinnerung, in meiner Realität, habe ich mit meinem älteren Bruder und meinem Vater zu Hause gewartet. Ich habe mich unglaublich gefreut. Ich wusste, die, die da kommt, die ist cool. Und recht hatte ich. Meine Mutter trug sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich über die Türschwelle. Da war sie. Meine beste Freundin, Kritikerin, Vorbild und engste Weggefährtin. Bis sie all diese Rollen eingenommen hatte, dauerte es noch ein paar Jahre, aber der Grundstein war gelegt. Und leicht hatte sie es an meiner Seite definitiv nicht immer. Über die Jahre habe ich realisiert, dass ich als Kind zwar als das kreative der Familie gehandelt wurde, aber dass meine beiden Geschwister mindestens genauso kreativ sind. Die beiden waren dabei nur nicht so laut wie ich. Neben meiner Lautstärke und die meiner ganzen Familie war es für meine kleine Schwester sicher nicht einfach zu bestehen.

Lübeck an der Ostsee, meine Heimat, ist ein wunderbares Städtchen. Leider droht ihm wohl seit einiger Zeit dasselbe Schicksal wie vielen Städten dieser Größe. Vielen jungen Menschen fehlt die Perspektive, also zieht es sie in Metropolen. Die Alten bleiben.

Für mich bedeutet meine Heimat leider auch ein Gefühl der Lähmung. Hier komme ich nicht weiter. Ich liebe meine Eltern, ich liebe es, sie zu besuchen. Aber hier, an diesem Ort, war und ist klar: Ich bin anders. Wenn ich Menschen in den Medien gesehen habe, denen bei der Geburt das Geschlecht „männlich“ zugewiesen wurde und die gefärbte Haare hatten und Lippenstift trugen, waren sie die „Paradiesvögel“. Die Freaks. Die Lachnummern. Alle zeigten mit dem Finger auf diese Menschen und lachten herzhaft. So habe ich es wahrgenommen. Und eine Lachnummer? Ne, die bin ich nicht. Also sollte ich mich lieber verstecken?

Diese Gedanken tauchten auf, immer wieder. Es war ein innerlicher Kampf, den ich geführt habe. Einer, den mit Sicherheit sehr viele Menschen der queeren Community kennen. Aber bis ich überhaupt an diesen Punkt gelangte, mir solche Fragen zu stellen, ist einiges passiert.

2004: GESCHLECHTSLOSE NAMEN UND DIE ANGST, AUSGELACHT ZU WERDEN

„Luca oder Kim!“ – „Oder Maria? Der Schauspieler heißt doch auch Christoph Maria!“ So oder so ähnlich beratschlagten sich mein bester Freund und ich, beide etwa zehn Jahre alt, während wir im Garten meiner Eltern standen. Wir hatten einen Frosch an einem Bach gefunden und bauten ein Terrarium aus allem, was die Natur so hergab. Wichtig war für unser neues Haustier nun natürlich ein Name. Und so wie wir das Konzept verstanden hatten, musste der Name zum Geschlecht passen. Aber wie finden zwei Kinder das Geschlecht eines Frosches heraus? Google, geschweige denn ein Smartphone, hatten wir nicht. Die Lösung? Der Name musste geschlechtslos sein. Wir zählten alle solcher Namen auf, die wir kannten. Die Wahl fiel schnell auf Luca. Den Namen konnten wir schreiben, weil ein Junge in unserer Grundschule so hieß. Als er in unsere Klasse kam, wurde viel gekichert, und ich war froh einen Namen „für Jungs“ zu haben. Durch meine Kinderaugen musste das so sein. Das war, was mir vorgelebt wurde. Ich bin schließlich ein Junge. Oder?! – Nein.

Mein bester Freund aus Kindheitstagen, meine beste Freundin damals und ich – wir waren ein wunderbares Dreiergespann. Jeden Tag nach der Schule riefen wir uns gegenseitig an. Und die Frage war eigentlich nicht, ob wir uns verabreden, sondern wann und wo. Auf die gleiche Grundschule sind wir ohnehin gegangen, also hatten wir schon den Vormittag zusammen verbracht, aber noch nicht genug Zeit miteinander. Ich hätte mir für meine Jugend keine zwei besseren Menschen an meine Seite wünschen können. Die meiste Zeit waren wir draußen und bauten uns Unterschlüpfe, erkundeten die Welt. Eine Plastiktüte mitten im Wald mit unklarem Inhalt konnte uns schonmal einen ganzen Tag beschäftigen. Wenn ich jetzt zurückdenke, erinnere ich mich kaum daran, dass mein Geschlecht eine tragende Rolle gespielt hätte. Wir haben einfach gelebt. Und wir passten uns irgendwie alle aneinander an. Auch wenn ich tendenziell wahrscheinlich eher ihnen nachgeeifert habe. Den ersten Schluck Bier, die ersten Dating-Erfahrungen und ganz viel absurden Quatsch haben wir miteinander geteilt. Die beiden gaben mir Halt und gleichzeitig ein Gefühl von Freiheit. Es war eine idyllische Kindheit.

Mich Menschen anzupassen ist ein Verhaltensmuster, das sich durch mein Leben zieht. Auch wenn ich als rebellisch und laut wahrgenommen wurde, gab es diese bestimmten Menschen, die ich ungewollt auf ein imaginäres Podest stellte. Die Meinung dieser Personen stand plötzlich über der der anderen. Und vor allem auch über meiner eigenen. Die Angst, nicht gemocht, akzeptiert oder im schlimmsten Fall sogar ausgelacht zu werden, trat seit meinen Teenagerjahren immer wieder auf. Denn zu dieser Zeit wurde ich sehr viel belächelt. Mein Schutzmechanismus war Provokation. Hauptsache, keine Schwäche zeigen. Mit dieser Angst habe ich mich mittlerweile auseinandergesetzt. Und ich werde in diesem Buch noch darauf zurückkommen.

2010: ERSTE VORBILDER, UNSER ROLLENVERSTÄNDNIS UND DER BEGINN EINES VERSTECKSPIELS

Mit den Jahren verstand ich, dass es nicht jedem Jungen so geht wie mir. Nicht jeder Junge hatte die Wünsche, die ich hatte. Und wie alle Millennials, die als Jugendliche nicht ins Raster passten, flüchtete ich mich ins Internet. Dort fand ich schnell Menschen aus aller Welt, die ähnliche Wege zu gehen schienen, wie ich es mir erträumte. Gigi Gorgeous war mein größtes Vorbild. Trotz Zuweisung des männlichen Geschlechts bei der Geburt so provokant, so selbstbewusst – das wollte ich auch. Und genau das lebte ich dann. Nicht ganz so viel Make-up, nicht ganz so glamourös. Eben die Kleinstadtvariante. In der Schule stieß das auf sehr unterschiedliche Reaktionen. Polarisieren und provozieren – das wollte ich. Genau wie mein Vorbild online. Faux-Lederleggings, Nietenschuhe und platinblonde Haare – das war meine Art von Schuluniform. Ich wollte, dass die Leute gucken. Ich wollte, dass die Leute eine Reaktion zeigen. Alles andere wäre für mich zu langweilig gewesen. Wie meine Mutter damit umgegangen ist? Sie hat mir die Haare gebleicht und online Nieten bestellt. Sie hat mich mit schrecklichen Augenbrauen aus dem Haus gehen lassen. Ich weiß bis heute nicht, wie sie mir das antun konnte. Außerdem habe ich, um meine Wangenknochen zu akzentuieren, dieselbe Farbe wie für meine tief dunklen Augenbrauen verwendet – optisch eher Matsch als Mode. Von Make-up hatte ich damals wenig Ahnung. Ich war die Kleinstadtversion aus einer Kleinstadt mit scheinbar sehr wenigen Spiegeln. Oder ich hatte einfach eine falsche Vorstellung davon, wie ich wirklich aussah. Ich bin unsicher, ob meine Familie ernsthaft etwas gegen mein Styling unternommen hat. Aber eines weiß ich sicher: Wenn sie es versucht haben sollten, dann hätte es mich nur noch mehr darin bestärkt. Denn ich wollte Reaktionen. Und ich nahm auch die meiner Familie. Nur zu Feiertagen, da wusste ich stets, wie ich auszusehen hatte. Je älter ich wurde, umso öfter wurden solche Tage zu tränenreichen Sinnkrisen. Meine Haare, die ich immer mal wieder wachsen ließ, band ich streng zurück. Alles, was ich an Bart hatte, betonte ich. Um dann von entfernten Verwandten gefragt zu werden, wann ich nun endlich eine Freundin mitbringen würde. Denn ich wurde als Teenager nach wie vor in die Rolle eines „Mannes“ gesteckt. Ein Mann bringt eine Frau mit, ein Mann trägt eine teure Uhr, ein Mann ist stark, ein Mann liebt Sport. Damals habe ich mit meinem Bruder im Garten Fußball gespielt. Und das gar nicht mal so schlecht. Ich hatte auch Spaß dabei. Trotzdem erinnere ich mich, als ich eine Partie schiedsrichtern sollte, dass ich mich eher damit beschäftigte, besonders schöne rote und gelbe Blätter zu sammeln, um diese zu verteilen. Dass die Spielenden diese gar nicht einstecken und behalten müssen, hatte ich damals nicht verstanden. Expertise hatte ich nicht, sagen wir es so. Ich möchte an dieser Stelle Giovane Élber grüßen und sagen, dass ich sein Bayern-Trikot immer gern getragen habe. Mein Vater hatte leider ein Problem mit dem Verein: Er ist HSV-Fan. Vielleicht mochte ich den „Erzfeind“ Bayern München auch nur, weil ich damit meinen Vater provozieren wollte. Eine steile These, und ich würde es meinem Kinder-Ich definitiv zutrauen. Giovane Élber möchte ich damit kein fußballerisches Talent absprechen, er war sicher ein super Spieler. Wahrscheinlich habe ich mich mit Fußball überhaupt nur der Spieler wegen beschäftigt. An einem Grillabend habe ich meiner Mutter stolz verkündet, dass ich einmal einen Fußballer daten wolle. Ich als Spielerfrau, da sah ich mich. Funktioniert hat das bis heute nicht.

Die Grundschule hatte ich zu dieser Zeit bereits abgeschlossen, und ich bin auf ein Gymnasium umgeschult worden. Das Gymnasium, auf das schon meine Mutter gegangen war. Und wie es auf einer Gratulationskarte stand: „Jetzt beginnt der wirkliche Ernst des Lebens.“ – vielleicht ist das sogar wahr. Aber nicht wegen des komplizierter werdenden Lernstoffs, nicht wegen der näher rückenden Entscheidung, welche berufliche Laufbahn eingeschlagen wird, sondern wegen der Pubertät, wegen des Älterwerdens. Kinder werden zu Teenagern. Der Körper verändert sich. Und ich meinte an diesem Punkt verstanden zu haben, was von mir erwartet wurde. Was von Jungs erwartet wurde.

Immer wieder gab es Momente, in denen meine Schwester Dinge tat, die auch ich gern getan hätte. Mit meiner Mutter gemeinsam Bademode ausgesucht, die mir wirklich gefällt, habe ich zum ersten Mal, als ich 26 Jahre alt war. Meine Schwester trug natürlich schon deutlich früher Badeanzüge und Bikinis – wie es eben der gesellschaftlichen Erwartung entspricht. Oh, wie gern ich das damals getan hätte. Immer wieder gab es Momente, in denen ich Dinge ausprobiert habe. Heimlich, versteht sich. Ein Handtuch auf dem Kopf wie eine Perücke, ein weiteres um den Körper gewickelt wie ein Kleid. Oder ich habe mir Kleidung von meiner Schwester geliehen und mich im Spiegel betrachtet. Oder ich habe ausprobiert, wie es sich anfühlt, sich zu schminken. Eines Tages habe ich mir online Extensions bestellt. Das ging erst, als ich in einem Alter war, in dem ich Dinge im Internet bestellen konnte, ohne alle Einzelheiten vorab mit meinen Eltern klären zu müssen. Die Extensions (zur Haarverlängerung) hielten grade so in meinen kurzen Haaren. Online hatte ich eine Person gesehen, die mit kurzen Haaren, Extensions und einer Mütze so aussah, als hätte sie lange Haare. Das wollte ich auch. Und ja, das funktioniert. Dafür werden die künstlichen Haarsträhnen mit Clips an den Kopf geklickt. Mütze drauf, um diese zu kaschieren, und: Da waren sie. Lange Haare. Ich hielt das Ganze mittels zahlreicher Fotos fest. Die Ernüchterung kam, als ich mir mein Werk auf dem Laptop ansah. Denn so, wie ich mich mit den langen Haaren fühlte, sah ich gar nicht aus. Ich fand mich bzw. mein Aussehen peinlich. Dumm. Wie eine Person, die andere auslachen würden.

Wenn ich so etwas ausprobierte, hatte ich einerseits großen Spaß. Denn so wollte ich sein, das war, was ich machen wollte. Aber mir war klar, das muss geheim passieren. Niemand durfte etwas davon wissen. Und wenn ich mich dann so im Spiegel ansah, hatte ich sehr gemischte Gefühle: Auf der einen Seite war ich total aufgeregt, auf der anderen Seite erinnerte es mich daran, scheinbar falsch zu sein. Ich war mir sicher, dass dies niemals das abgeschlossene Zimmer verlassen könnte oder würde. Das, was ich tat, schien verboten, verpönt, peinlich, lächerlich. So wie sich ein Kind, Teenager oder auch eine erwachsene Person niemals fühlen sollte, solange sie etwas tut, was niemandem schadet und der Ausdruck des eigenen Selbst ist. Und dafür tragen wir alle die Verantwortung. Besonders im Umgang mit Kindern. Wer Kindern heute noch binäre, strikte Geschlechterrollen aufzwingt, trägt Scheuklappen, zeigt weder Empathie noch Verständnis. Ich weiß aus erster Hand, wie schlimm es ist, sich als Kind falsch zu fühlen. Um dies in unserer Gesellschaft nachhaltig zum Guten zu wandeln, reicht die queere Community nicht aus. Wir brauchen Menschen, die sich vielleicht nicht direkt betroffen fühlen (wobei es letztlich so ist, dass im Grunde alle Menschen unter diesen starren Kategorisierungen und den damit einhergehenden Erwartungen leiden) und trotzdem aufklären, sich für Veränderung einsetzen. Menschen, die zuhören, reflektieren, die sich für wahre Gleichberechtigung starkmachen. Und dafür brauchen wir Betroffenen vor allem Sichtbarkeit. Und keine negativ ausgelegte Sichtbarkeit, die Vorurteile befeuert. Wir sind keine Paradiesvögel, sondern Menschen.

Es reicht nicht aus, als nicht betroffene Person den Mund zu halten. Schweigen ist in diesem Falle fast genauso schlimm, wie sich queerfeindlich zu äußern oder zu verhalten. Denn Schweigen heißt: Zustimmung zu Missständen und Diskriminierung von marginalisierten Gruppen. Wir brauchen die Mächtigsten und Privilegiertesten unserer Gesellschaft: weiße, heterosexuelle, gesunde cis Männer. Wir leben noch immer in einer Welt, in der ihr Wort oft mehr Gehör findet als das von anderen. Nur, wenn nicht betroffene Personen sich äußern und für andere einstehen, nur wenn sie an der Seite von marginalisierten Gruppen stehen, wird sich etwas verändern. Und es muss sich etwas verändern. Es gibt sehr viele weiße cis Menschen, die behaupten, dass die 90er und 00er eine tolle Zeit waren, weil damals alles entspannter war. Eine Aussage, die ich nicht nachvollziehen kann. Sie basiert auf einer egozentrischen Perspektive. Diese Weltsicht zeigt vor allem keinerlei Verständnis dafür, dass – nur weil es einem selbst gut ging und eine Person nicht von rassistischen, sexistischen oder queerfeindlichen Strukturen und Machenschaften betroffen war (oder die Ernsthaftigkeit dieser einfach nicht wahrnahm oder nicht wahrnehmen wollte) – Betroffene sehr wohl darunter litten und es noch immer tun. Noch 2021 besuchte ich eine Veranstaltung, bei der die Chefredakteurin eines der einflussreichsten deutschen Magazine eine Rede hielt. In dieser setzte sie das Infragestellen alter Schriftstücke und Kunst in Bezug auf Sexismus und Rassismus mit der Bücherverbrennung der Nazis gleich. Zudem tat sie zu jedem gesellschaftspolitisch relevanten Thema ihre diskriminierende, ihre eigene Macht und ihren Status verteidigende Meinung kund. Eine dritte Toilette brauche es ihrer Meinung nach sowieso nicht. Sie wünsche sich zuallererst eine saubere. Mich würde brennend interessieren, wann diese reiche, weiße cis Frau zuletzt eine dreckige Toilette hat benutzen müssen. Wahrscheinlich in den 90ern, die Jahre, in denen sie so viel Spaß hatte, aber vor allem die Jahre, in denen marginalisierte Personen keine Stimme hatten und sich viele nicht mit Diskriminierung beschäftigt haben. Was diese Aussage aber vor allem zeigt: Dass sich Menschen, die eine solche Meinung vertreten, als einzigen Bezugspunkt und ausschlaggebende Individuen sehen. Ich staune einerseits und bin andererseits schockiert und wütend über die fehlende Empathie, das Aberkennen von Lebensrealitäten, das Unvermögen, sich in andere Personen hineinzuversetzen oder eine Perspektive einzunehmen, die nicht die eigene ist. Was mich besonders zornig macht, ist, dass marginalisierte Menschen, die sowieso schon Diskriminierung erfahren, von den Auswirkungen dieser Ansichten betroffen sind. Es ist ein Treten nach unten. Denn: Wieso sollten wir eine dritte Toilette einführen? Ich brauche schließlich keine. Ich brauche eine saubere. Und außerdem sagt diese Frau damit: Eure kleinen Problemchen sind irrelevant, seid doch froh, dass ihr hier sein könnt. Seid dankbar. Das ist es, was Marginalisierten immer wieder vermittelt wird. Als würde diesen Personen durch eine dritte Toilette etwas weggenommen, etwas gestohlen.