Eine Katze sitzt im Glashaus - Lydia Adamson - E-Book

Eine Katze sitzt im Glashaus E-Book

Lydia Adamson

0,0

Beschreibung

Endlich erhält Alice Nestleton, verkannte Schauspielerin und Nebenjob Catsitterin, das Angebot, in einem Film mitzuspielen. Als sie sich mit dem Produzenten in einem sehr vornehmen chinesischen Restaurant in New York trifft, kommt es zu einer Schießerei, noch bevor sie bestellen kann. Danach liegt die Kellnerin, die sie bedienen wollte, tot am Boden. Doch was ist aus der schönen roten Tigerkatze geworden, die in dem Nobelrestaurant majestätisch auf einem Stahlregal saß? Und schon steckt Alice wieder mitten in der Aufklärung eines Mordes.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 232

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Lydia Adamson

Lydia Adamson ist das Pseudonym einer bekannten Krimiautorin. Bisher im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen: »Eine Katze kommt selten allein«, »Eine Katze macht Theater«, »Eine Katze im Wolfspelz«, »Eine Katze bittet zum Tee«, »Eine Katze hinter den Kulissen«, »Eine Katze sitzt im Glashaus«, »Eine Katze schlägt den Takt«, »Eine Katze tanzt aus der Reihe«, »Eine Katze ist kein Engel«, »Eine Katze lädt zur Weihnachtsgans«, »Eine Katze auf dem Laufsteg«, »Eine Katze kommt selten allein«.

Informationen zum Buch

Endlich erhält Alice Nestleton, verkannte Schauspielerin und Nebenjob Catsitterin, das Angebot, in einem Film mitzuspielen. Als sie sich mit dem Produzenten in einem sehr vornehmen chinesischen Restaurant in New York trifft, kommt es zu einer Schießerei, noch bevor sie bestellen kann. Danach liegt die Kellnerin, die sie bedienen wollte, tot am Boden. Doch was ist aus der schönen roten Tigerkatze geworden, die in dem Nobelrestaurant majestätisch auf einem Stahlregal saß? Und schon steckt Alice wieder mitten in der Aufklärung eines Mordes.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Lydia Adamson

Eine Katze sitzt im Glashaus

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Christine Pavesicz

Inhaltsübersicht

Über Lydia Adamson

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Impressum

1

Mit ausgestreckten Armen hielt ich den großen, schönen Bushy über das Sofa; sein prächtiger Maine-Coon-Katzenschwanz krümmte sich beunruhigt unter seinem Körper, und seine großen Augen starrten mich mißtrauisch an.

»Bushy, ich glaube, ich werde ein Filmstar. Was sagst du zu dieser tollen Neuigkeit?«

Er entwand sich meinem Griff und sprang leichtfüßig auf den Teppich. Konsterniert marschierte er mit hocherhobenem Schwanz davon. Nun, Bushy ist eine skeptische Katze. Ich war ja selbst skeptisch gewesen, doch es tat sich wirklich was.

Am frühen Morgen hatte mich meine Agentin angerufen. Sie sagte mir, ein Mann namens Brian Watts wolle wissen, ob ich Interesse hätte, in einem Film mitzuwirken. Es handele sich um eine englisch-französische Produktion, die auf Malta gedreht werden sollte. Jawohl, auf Malta, das ich geographisch nur »irgendwo im Mittelmeer« einordnen konnte. Der Regisseur war Franzose – Claude Braque, von dem ich schon gehört hatte. Und der Film war ein Politthriller über die IRA und den britischen Geheimdienst. Ich sollte eine böse CIA-Agentin à la Garbo darstellen.

»Seien Sie freundlich zu ihm«, sagte meine Agentin zum Abschluß. »Sie zahlen sehr gut.« Nach ihrem Tonfall zu urteilen, hielt sie mich für eine Art schwachsinnige Catsitterin, der man im Hinblick auf den Umgang mit Leuten vom Film nicht trauen konnte.

Zu Mittag rief Brian Watts an. Er war in Toronto und würde gegen sieben Uhr abends auf dem Kennedy-Flughafen landen. Ob wir uns in einem Restaurant in der Innenstadt treffen könnten, so gegen acht? Vielleicht bei Dan Wu, dem neuen vegetarischen Chinalokal in Tribeca? Natürlich, sagte ich. Ich wäre entzückt, sagte ich. Und das stimmte auch. Dan Wus Restaurant war ein gastronomisches Kleinod. Das hatte ich zumindest gelesen. Und ich hatte auch gelesen, daß der Preis einer einzigen Mahlzeit dort so hoch war wie meine halbe Monatsmiete. Aber Brian Watts würde ja die Rechnung übernehmen. Ja, ich war wirklich entzückt.

Schließlich war Dan Wu der Autor von Fünf Geschmacksrichtungen, einem der besten chinesischen Kochbücher, die je geschrieben wurden. Ich hatte es vor drei Jahren gekauft, bis jetzt aber erst ein Rezept ausprobiert – Ingwerente. Ein Fiasko …

Bushys skeptische Reaktion traf mich daher nicht wirklich. Ich dachte bereits an das bevorstehende Abendessen.

Ich verbrachte ein paar Stunden mit Tagträumen – ich malte mir aus, was ich mit den Unmengen Geld anfangen würde, die mir mein ziemlich verspätetes Filmdebüt einbringen würde … und ob ich – wenn ich für den Preis für die beste Nebenrolle nominiert war – zur Oscar-Verleihung erscheinen würde oder nicht.

Um sechs Uhr mußte ich mich entscheiden, was ich anziehen sollte. Was trägt eine einundvierzigjährige Theaterschauspielerin / Catsitterin, wenn sie in einem noblen Restaurant in Tribeca – für einen Film – umworben wird? Nun, da das Restaurant in Tribeca war, mußte ich etwas underdressed sein, um »in« zu sein. Und da es sich offenbar um eine große Rolle und eine Menge Geld handelte, mußte ich auch ein wenig elegant sein. Also entschied ich mich für ein knöchellanges rosa Vamp-Kleid, über das ich eine ramponierte kurze schwarze Jeansjacke zog, die mir mein Freund Basillio einmal als Gag geschenkt hatte. Keine Ohrringe. Das lange, blonde Haar mit den grauen Strähnen trug ich offen.

Pünktlich um acht traf ich bei Dan Wu ein. Und Brian Watts erwartete mich bereits vor dem Restaurant. Als ich ihn im Licht der Fassade sah, sank mein Mut. Er war zu alt für die Designer-Jeans, die er trug. Er war zu schlecht in Form für die Hi-tech-Joggingschuhe an seinen Füßen. Und er war zu nervös für das sehr teure und sehr schöne Seidenjackett in verschiedenen Grautönen, das aussah, als wäre es sorgfältig zerknittert worden, damit es diesen lässigen Look erhielt.

Trotz seines britischen Akzents fühlte er sich anscheinend in Hollywood ganz zu Hause, und in dem Augenblick, als wir gemeinsam das Lokal betraten, begann er einen Monolog, in den er ständig irgendwelche Namen wie Bobby und Swifty und Larry einfließen ließ. Keiner dieser Namen sagte mir etwas, aber für Mr. Watts waren sie alle offenbar sehr wichtig.

Das Restaurant war atemberaubend. Der große Saal war kreisförmig. Die Wände waren weiß und schmucklos. Die runden Tische ganz aus Glas. Die Stühle waren ebenfalls aus Glas und hatten schwarze Sitz- und Rückenpolster. Auch das Geschirr und das Besteck waren aus Glas, mit Ausnahme der Stäbchen und ein paar anderer Utensilien, die aus schwarzem Holz und sehr elegant waren.

Die Serviererinnen waren schöne junge Chinesinnen, alle ganz individuell gekleidet.

In der Mitte des großen Saales befand sich die Küche – sie schien dem Boden entsprungen zu sein, mit allem Drum und Dran und nach allen Seiten offen, ganz aus blitzendem Edelstahl. Man konnte von jedem Platz in diesem Saal jedes Stadium der Speisenzubereitung verfolgen.

Aus diesem kreisförmigen Raum führten vier Türen hinaus – zu den Toiletten, zur Garderobe und zu dem Raum, in dem das schmutzige Geschirr gewaschen wurde.

Die umfangreiche, ausschließlich vegetarische Speisekarte versetzte mich regelrecht in Verzückung. Ich kannte nicht ein einziges Gericht darauf. Natürlich erkannte ich viele der Zutaten, aber nicht die Speisen selbst. Zum Beispiel wußte ich sowohl was Sojasoße als auch was Ingwer ist, doch ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie »in Soja marinierter geraspelter Ingwer« aussehen oder schmecken würde. Mir schwirrte schon vom Lesen der Kopf. Schließlich liebe ich die chinesische Küche. Die wunderbarste Entdeckung, die ich machte, als ich nach New York zog, war, daß man immer und überall alle möglichen Variationen der chinesischen Küche bekam. Eine Offenbarung für ein Mädchen vom Lande. Und jetzt, über zwanzig Jahre später, fühlte ich mich wieder wie ein Mädchen vom Lande, denn das hier war für mich eine völlig neue Spielart der chinesischen Küche.

Brian Watts begann von einem Abendessen mit Sue und Denny in einem Chinarestaurant irgendwo südlich von Los Angeles zu erzählen. Er dachte ganz offensichtlich, ich wüßte, wer die beiden waren. Ich wußte es nicht. Ich schenkte ihm ein Lächeln und wandte mich wieder der Speisekarte zu. In meiner Branche kommt man nie vor dem Dessert zur Sache.

Ich las die Speisekarte wie einen Roman. Brian Watts fuhr mit seinem Monolog fort. Ich blickte von Zeit zu Zeit von der Speisekarte auf und starrte ihn an. Er hatte ein attraktives Gesicht, nur ein wenig aufgedunsen. Sein Blick schweifte beim Sprechen durch den Saal, als suche er irgendwelche Freunde. Ich empfand ihm gegenüber weder Zu- noch Abneigung. Wir fühlten uns miteinander sehr wohl. Es war alles ganz und gar unwirklich, aber das machte keinem von uns etwas aus.

Schließlich traf ich meine Wahl. Als ersten Gang wollte ich die »süße Erdnußsuppe mit Erdbeeren« essen. Danach »geraspelten Tofu mit goldenen Nadeln, Pilzen, Holzohren und Eiern«.

Allein der Kellnerin meine Bestellung aufzugeben war aufregend. Natürlich hatte ich absolut keine Ahnung, was »goldene Nadeln« waren.

Jetzt sah mich Brian Watts zum ersten Mal lange und aufmerksam und etwas kritisch an … und mir wurde erstmals klar, daß er mich auf jene seltsame Art ansah, wie »kultivierte« Männer oft Frauen ansehen, die sie mißbilligen.

»Was Sie da gerade bestellt haben«, bemerkte er, »ist bloß eine Art vegetarisches Mu Sychu Ru.« Da ich nicht wußte, was »Mu Sychu Ru« war, konnte ich dazu nichts sagen.

Ich lächelte. Er begann wieder zu reden. Er war mir jetzt noch sympathischer. Mein Blick wanderte zu der Kücheninsel aus Edelstahl, in der weißgekleidete Genies unglaubliche Geschmackserlebnisse kreierten. Man konnte zwar sehen, wie sie mit Töpfen, Feuer, Woks und Messern hantierten, aber es war kaum etwas zu hören.

Dann sah ich die Katze. Eine riesige rote Tigerkatze, die wie eine Stoffpuppe hoch oben auf einem der Edelstahlborde ein Schläfchen hielt.

Das einzige an dem getigerten Körper, das sich bewegte, waren der Schwanz und eine zuckende Pfote. Was für ein herrlicher Platz für ein Nickerchen, dachte ich. Und was für eine wunderschöne Küchenkatze!

Ja, Dan Wus Restaurant war ein sensationelles Lokal. Daran bestand kein Zweifel.

Unsere Serviererin kam und stellte eine Glaskaraffe mit heißem Tee und zwei kleine gläserne Tassen auf den Tisch.

Fachmännisch faßte Brian Watts die Karaffe an ihrem langen Hals und begann Tee in meine Tasse einzuschenken. Einen kurzen Augenblick geriet ich in Panik. Hatte Brian Watts denn keine Großmutter gehabt, die ihn ermahnt hatte, unter keinen Umständen jemals heißen Tee in ein Glas zu gießen, ohne vorher einen Löffel hineinzugeben, damit es nicht zerspringt? Offensichtlich nicht. Aber es spielte keine Rolle. Das Glas zersprang nicht.

Erleichtert lehnte ich mich zurück. Brian und ich lächelten einander zu.

Dann sah ich wieder auf die Küchenregale hinauf. Der rote Tiger war aufgewacht, blickte blasiert auf die Leute hinunter und zählte die Gäste. Was für eine schöne Katze!

Plötzlich traten mir die Tränen in die Augen. Ich blinzelte. Die rote Tigerkatze hatte in mir die Erinnerung an ein wunderschönes Bild aus meiner Kindheit geweckt: wie sich meine Großmutter mit Henrietta auf dem Schoß auf ihrem Stuhl in den Schlaf schaukelte. Großmutter hatte Katzen für drinnen und für draußen gehabt, Hauskatzen und Hofkatzen – aber sie hatte nur eine Schoßkatze: die große alte rote Tigerkatze Henrietta.

Ich verspürte ein überwältigendes Bedürfnis, zu dem Regal zu laufen und die rote Tigerkatze herunterzuholen. Dann würde ich sie mit an den Tisch nehmen und sie auf meinem Schoß schaukeln … genau wie Großmutter Henrietta geschaukelt hatte. Aber ich rührte mich nicht vom Fleck.

Doch die rote Tigerkatze wußte, was ich dachte. Das konnte ich sehen. Ich konnte es spüren.

Erneut lächelte ich Brian Watts zu, womit ich ihm zu verstehen gab, daß ich ihm wieder zuhörte.

»Sie haben doch mal in Montreal Repertoiretheater gespielt, nicht wahr?« fragte er.

Zweifellos – er hatte ein sehr attraktives Gesicht. Ein wenig wie Terrence Stamp.

»Ja, stimmt. Shakespeare.«

»Dann haben wir wahrscheinlich gemeinsame Bekannte da oben«, bemerkte er.

Ich gab keine Antwort. In diesem Augenblick passierte etwas sehr Seltsames.

Es wurde absolut still im Restaurant. Es war ohnehin nicht sehr laut gewesen, nur das übliche leise Gemurmel und die gedämpften Geräusche aus der Edelstahl-Kücheninsel. Doch selbst diese minimalen Geräusche verstummten. Ich will damit sagen, es wurde wirklich totenstill in dem Lokal.

Ich sah Brian Watts an. Er starrte an mir vorbei, und sein Gesicht war blaß geworden. Ich drehte mich auf meinem Stuhl um, um zu schauen, was er sah.

Etwa drei Meter vom Eingang entfernt standen nebeneinander in lässiger Haltung drei junge Männer. Es waren Chinesen. Sie sahen gut aus und waren gut gekleidet. Sie wirkten sehr jung, fast noch wie Teenager. Sie trugen viel zu große, viel zu lange Jacken und dazu Hemden und Krawatten.

Jeder von ihnen hielt einen häßlichen kleinen, schwärzlichen Gegenstand in den Händen, ganz sanft, als wäre es ein Vogel.

Dann löste sich einer von ihnen aus der Gruppe und trat an eine Wand. Er zog eine Spraydose aus der Jackentasche und begann mit roter Farbe ein einziges großes chinesisches Schriftzeichen an die strahlend weiße Wand zu sprühen.

Die Empfangsdame kam aus der Edelstahlküche heraus und ging auf den Graffiti-Künstler zu, ganz langsam, offenbar verängstigt und verwirrt. Sie sprach mit leiser Stimme chinesisch auf ihn ein.

Der Künstler schleuderte die Spraydose auf sie und traf sie am Hals. Die Empfangsdame torkelte zurück. Irgend jemand im Restaurant schrie auf.

Dann begannen sie zu schießen. Brian Watts warf sich zu Boden. Ich auch.

Es war nicht wie im Film. Die Schüsse klangen irgendwie weit entfernt. Ein dumpfes, tiefes Stakkato-Knallen. Doch was sie anrichteten war furchtbar. Die Kugeln durchschlugen die Wände und das Glas und schienen alles zu zerfetzen. Ich hatte solche Angst, daß ich meine Fingernägel in die Handflächen grub, bis sie bluteten.

Dann herrschte wieder Stille. Langsam standen die Leute auf und blickten sich um, aber es gab nicht viel zu sehen, weil es finster war. Die drei jungen Männer waren verschwunden. Brian Watts half mir auf die Beine.

Die Lampen waren zerschossen worden. Jemand öffnete die Türen, die aus dem großen Speisesaal hinausführten, so daß Licht hereinfallen konnte.

Drei Meter von unserem Tisch entfernt lag unsere Serviererin, das rechte Bein und den rechten Arm ausgestreckt, auf dem Boden. Ihr langes schwarzes Haar, das aufgesteckt gewesen war, verhüllte jetzt ihr Gesicht. Ihre Haare waren von Blut gesprenkelt. Ihr Gesicht wirkte absolut ruhig und entspannt, doch ihre Augen waren weit offen. Sie war ganz offensichtlich tot. Ich begann zu weinen. Ich wollte zu ihr hingehen, doch meine Beine versagten mir den Dienst. Brian Watts versuchte sich eine Zigarette anzuzünden. Ich begann zu zittern. Und dann kam mir ein wirklich merkwürdiger Gedanke: So lange ich lebe, werde ich niemals erfahren, wie süße Erdnußsuppe mit Erdbeeren schmeckt.

2

An unserem Tisch stand eine dunkelhaarige, kindlich aussehende Polizistin. Sie hatte ihr Notizheft aufgeschlagen. An anderen Tischen standen andere Polizeibeamte mit gezückten Notizheften. Ununterbrochen liefen Polizisten und Sanitäter kreuz und quer durch den zertrümmerten Speisesaal. Die Leiche der toten Serviererin hatte man weggebracht. Auf dem Fußboden war eine riesige Blutlache.

»Darf ich Sie um Ihren Namen und Ihre Adresse bitten?« sagte die Polizistin freundlich, aber bestimmt. Brian Watts gab ihr drei verschiedene Adressen: eine in Los Angeles, eine in London und eine in Toronto.

Ich sah das Namensschild auf ihrer linken Jackentasche: BRODT. Officer Brodt. Sie fragte uns, wann wir uns zu dem Abendmahl, in dessen Genuß wir nicht gekommen waren, an den Tisch gesetzt hatten, und wann wir die drei bewaffneten Männer gesehen hatten. Dann bat sie uns nachzudenken, woran wir uns in bezug auf die drei jungen Männer erinnerten.

Brian Watts lebte auf. Seine Nervosität und seine Blässe schienen zu verfliegen. Es war ganz offensichtlich, daß er diese Tragödie zum Thema zukünftiger Tischgespräche machen, sie immer wieder erzählen würde wie ein Regisseur, der die Leute mit seinen Erinnerungen an eine besonders schwierige Filmszene unterhielt.

»Es waren Chinesen«, sagte er, »zwischen neunzehn und fünfundzwanzig Jahre alt. Sie hatten lange, aber nicht zu lange Haare. Zwei von ihnen hielten die Waffe in der rechten Hand, einer in der linken. Sie trugen Hemd und Krawatte. Eine der Krawatten war geblümt. Sie hatten Sakkos an, die aber nicht zu ihren Hosen paßten. Solche Jacken waren vor ungefähr zwei Jahren modern, als gerade mal kurz die Mode der vierziger Jahre »in« war. Nachdem die Empfangsdame von der Spraydose getroffen worden war, begannen sie zu schießen.«

Watts zeigte auf die Wand, wo das geheimnisvolle chinesische Schriftzeichen über dem Schlachtfeld prangte.

»Ich habe sie kein Wort sagen gehört«, meinte er noch.

Dann wandte sich Officer Brodt mir zu und wartete darauf, daß ich auch sagen würde, woran ich mich erinnerte.

»Mir kamen sie jünger vor«, sagte ich. »Vielleicht fünfzehn oder sechzehn.« Ich wollte schon hinzufügen, daß sie so jung ausgesehen hatten wie Officer Brodt, hielt mich aber im letzten Augenblick zurück. Es wäre unhöflich gewesen.

»Sind Ihnen irgendwelche besonderen Kennzeichen aufgefallen? Narben? Tätowierungen? Etwas in der Art?« fragte Officer Brodt.

Wir schüttelten den Kopf.

»Haben Sie bemerkt, von wo sie hereingekommen sind?«

»Nein«, erwiderte Brian Watts. »Ich habe aufgeblickt, und da waren sie, standen plötzlich da.« Theatralisch wies er in die Mitte des kreisförmigen Speisesaals. Ich konnte sehen, wie in seinem Kopf Kinobilder Gestalt annahmen. Ob es ein Schwarzweißfilm werden würde? Ich bezweifelte es.

Dann tat er etwas Merkwürdiges. Er schenkte sich noch etwas Tee ein, trank einen Schluck und zog eine Grimasse. »Eiskalt«, sagte er.

Officer Brodt starrte ihn einen Augenblick lang an. Dann klappte sie ihr Notizheft zu, dankte uns für die Zeit, die wir ihr geopfert hatten, sagte uns, man würde sich demnächst mit uns in Verbindung setzen, und trat zu den benommenen Gästen am nächsten Tisch.

»Ich nehme an, wir können jetzt gehen«, sagte Brian Watts, wobei er den Tatort mit fast triumphierender Miene begutachtete, als hätten wir dank unserer Geistesgegenwart überlebt.

Ich gab keine Antwort. Ich fühlte mich auf einmal sehr schwach.

»Dies ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um über den Grund unseres Hierseins zu sprechen«, sagte er, »also gestatten Sie mir, Sie in einem Taxi nach Hause zu bringen. Ich komme in ein paar Wochen wieder nach New York, und dann können wir uns noch einmal zusammensetzen. Es besteht kein Grund zur Eile.« Er starrte auf die riesige Blutlache auf dem Fußboden. Im Speisesaal war noch immer nicht genug Licht, und die Blutlache wirkte seltsam farblos.

Mit einem Mal wich alles Blut aus seinem Gesicht. »War das unsere Serviererin, die getötet wurde?« fragte er plötzlich im Flüsterton.

»Ja«, antwortete ich.

Lange Zeit saßen wir schweigend da. Dann stand er auf, half mir auf die Beine und führte mich aus dem Restaurant. Er hielt meinen Arm ganz fest, als wären wir zwei Kameraden, die eine schwere Schlacht hinter sich hatten. Das war mir unangenehm.

Sein Benehmen im Taxi mißfiel mir noch mehr. Er fragte mich ständig in übertrieben besorgtem Tonfall, ob es mir auch gut ginge; ob er irgend etwas für mich tun könne; ob ich ein Aspirin oder einen Drink wolle. Ich antwortete immer wieder nur: »Nein, vielen Dank«. Zweifellos teilte er mir gerade eine Rolle in seiner nächsten Dinner-Story zu. Zuerst war sie unpersönlich – seine Bekannte, die während der Schießerei schlappmachte. Und dann konnte ich förmlich hören, wie er mich seinen Hollywood-Freunden beschrieb:

Ach, Sie haben noch nie von Alice Nestleton gehört? Wie merkwürdig! Sie ist eine ganz hervorragende Schauspielerin … in Manhattan eine Art Kultfigur. Ist natürlich nie ein Star geworden, aber die Kritiker sind begeistert von ihr. Zumindest einige. Und sie gilt als Exzentrikerin. In ihrer Freizeit arbeitet sie als Catsitterin. Also, Sie haben wirklich noch nie von Alice Nestleton gehört? Eine große Frau mit hellen Haaren – langen Haaren? Etwas über vierzig, würde ich sagen, aber gut erhalten.

Ja, das alles konnte ich förmlich hören, im britisch gefärbten Hollywood-Jargon.

Als ich aus dem Taxi ausstieg, küßte er mir tatsächlich die Hand. Der Weg hinauf in meine Wohnung war lang und ermüdend. Der Schock steckte mir noch in den Knochen. Zwar war Mord für mich nichts Neues – ich hatte schon Ermittlungen über Morde angestellt, hatte schon Leichen gesehen. Aber nie zuvor war ich mitten drin, noch nie Augenzeuge eines solch gewalttätigen und schrecklichen Mordes gewesen. Ich war noch nie dabei gewesen … direkt dabei … wenn die Kugeln die Wände rundum zerfetzten. Mein bisheriges Leben war zu kultiviert gewesen, als daß ich dieses Erlebnis so rasch hätte abschütteln können.

Schließlich gelangte ich auf meinen Treppenabsatz, sperrte meine Tür auf und ließ mich sofort auf das Sofa fallen.

Im Flur, gerade noch sichtbar im schwachen Lichtschein aus der Küche (ich lasse das Licht in der Küche stets an, wenn ich abends weggehe), saßen meine beiden Katzen – Bushy und Pancho. Es war merkwürdig, sie so still und so eng beeinander sitzen zu sehen. Gewöhnlich haben sie absolut nichts miteinander zu schaffen. Und Pancho, der liebe arme Streuner, ruht sich kaum jemals von seiner endlosen Flucht vor eingebildeten Feinden aus. Doch jetzt saßen sie da wie für ein Porträt.

»Ich bin wieder da«, rief ich ihnen zu. »Aber ob ich ein Filmstar werde oder nicht, das ist noch nicht entschieden.«

Schweigen.

»Und außerdem«, teilte ich ihnen weiter mit, »ist das Abendessen nicht verlaufen wie geplant. Die Bewirtung wurde auf tragische Art jäh beendet.«

Pancho verschwand. Bushy ging in die Küche. Ich war allein.

Im Sitzen schlief ich – noch in meiner schwarzen Jeansjacke – auf dem Sofa ein. Als ich drei Stunden später erwachte, war es bereits nach Mitternacht. Mein Mund war trocken. Langsam ging ich in meine kleine Küche, um mir Apfelsaft zu holen.

Als ich den Kühlschrank öffnete, blickte ich hinauf auf den Oberschrank, um zu sehen, ob Pancho dort war. Er versteckt sich gern hoch oben.

Nein, Pancho war nicht da. Aber genau in diesem Augenblick – als ich, die Flasche Apfelsaft in der Hand, hinaufschaute –, fiel mir die Katze in dem Restaurant ein.

Was war mit jener wunderschönen roten Tigerkatze passiert, die auf dem Edelstahlregal gedöst hatte?

Rasch ging ich zurück ins Wohnzimmer, die ungeöffnete Flasche Apfelsaft noch immer in der Hand.

Erregt begann ich auf- und abzumarschieren. Warum hatte ich nach der Schießerei nicht nach der Katze gesucht? Warum hatte ich die Katze total vergessen? Schließlich war das nicht irgendeine Katze. Nicht wahr?

Es war die Ur-Ur-Ur-Urgroßnichte von Großmutters geliebter Henrietta. Die Katze da oben auf dem Edelstahlregal war eine richtige rotgetigerte Schoßkatze gewesen. Eine Katze, die sehr schöne Erinnerungen geweckt hatte. Irgendwie war das Großmutters Katze gewesen. Da oben auf jenem Regal.

Ich versuchte mir die genaue Reihenfolge der Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Die Schießerei mußte nur wenige Sekunden, nachdem ich die Katze gesehen hatte, begonnen haben. Nun ja, nicht Sekunden. Vielleicht zwei Minuten. Und nach der Schießerei – was hatte ich da gesehen? Nichts. Zumindest nichts von der Katze. Aber ich hatte auch nicht nach ihr Ausschau gehalten. Ich hatte die arme Küchenkatze vollkommen vergessen.

Das war zuviel; ich konnte es nicht ertragen. Noch einmal brach ich auf dem Sofa zusammen und wiegte die Apfelsaftflasche in den Armen. Das einzig Richtige wäre jetzt ein Bad gewesen, aber ich schaffte es nicht, eines einzulassen, ich konnte nur daran denken.

3

Als ich am späten Vormittag des nächsten Tages, so um elf herum, bedrückt meine Wohnzimmermöbel abstaubte, ertönte der Summer. Zuerst ignorierte ich ihn, weil ich dachte, es habe sich jemand geirrt. Doch er summte beharrlich weiter. Wer konnte das sein?

Mein Freund Basillio war in Bucks County, Pennsylvania, wo er sich bei einem sehr erfolgreichen Sommertheater um einen Job als Inspizient bewarb. Er hatte vorübergehend seine Arbeit als Bühnenbildner aufgegeben und wollte nur irgendeinen Job am Theater.

Der Summer läutete weiter, also tat ich, was alle Menschen in Manhattan tun, wenn der Summer ertönt. Ich drückte auf den Knopf, der die untere Eingangstür öffnete. Dann machte ich meine Wohnungstür auf, ließ sie einen Spalt offen, um mich rasch zurückziehen zu können, und stellte mich auf den Treppenabsatz, um spätestens eine Treppe vor der meinen zu sehen, wer heraufkam.

Ich vernahm schwere Schritte und Männerstimmen. Ich bekam Angst. Wer war das? Verbrecher? Oder hatte ich irgend etwas bestellt, das jetzt geliefert wurde, und es infolge des Schocks über die Schießerei vergessen?

Da hörte ich eine bekannte Stimme rufen: »Alice Nestleton! Wäre es nicht an der Zeit, daß Sie in ein leichter erreichbares Stockwerk ziehen?«

Und dann tauchte das gerötete Gesicht von Detective Rothwax auf, meinem alten Freund von Retro, der Spezialeinheit der New Yorker Polizei, bei der ich einmal – sehr kurz und sehr wenig erfolgreich – als Beraterin gearbeitet hatte. Seit meinem Ausscheiden von Retro hatte ich Rothwax oft um Hilfe gebeten, aber immer war ich es gewesen, die den Kontakt gesucht hatte. Ich war erstaunt, daß er mir, noch dazu unangemeldet, einen freundschaftlichen Besuch abstattete. Hinter ihm kam ein weiterer Mann, dem die Stufen nicht soviel auszumachen schienen.

Als Rothwax meinen Treppenabsatz erreichte, grinste er. »Ich hoffe, der Kaffee ist fertig.«

Sobald wir in meiner Wohnung waren, drehte er sich zu seinem Begleiter um und witzelte: »Sei vorsichtig, Sonny, sie hat zwei Killerkatzen, und die kennen kein Erbarmen.«

Rothwax ließ sich schwer auf mein Sofa fallen. »Alice, das ist Detective Emerson Hoving. Wir nennen ihn Sonny. Er ist ein Kollege von Retro.«

Ich schüttelte dem jüngeren Mann die Hand. Er war dünn, dunkel, ernst und sah gut aus. Im Gegensatz zu Rothwax, der Anzug und Krawatte trug, hatte Sonny einen verwaschenen Rollkragenpullover und eine ärmellose Daunenjacke an. Seine Haare waren kohlrabenschwarz und streng zurückgekämmt. Nachdem wir einander die Hände geschüttelt hatten, trat er rasch und elegant einen Schritt zurück – wie ein Sportler oder ein Tänzer.

»Also, Sie fragen sich vielleicht, was zum Teufel ich hier zu suchen habe«, sagte Rothwax und streckte die Arme auf der Rücklehne des Sofas aus, »und ich sage Ihnen, daß dies einer der verrücktesten Zufälle in der Geschichte von Retro ist.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und mein Gesicht verriet offenbar meine Verwirrung.

»Es ist ganz einfach, Alice, aber es ist wirklich seltsam. Sonny und ich lasen uns die Liste der Zeugen durch, die die Polizeibeamten nach der Schießerei in dem Chinalokal erstellt haben … und da stand es vor mir, klar und deutlich wie die Nase in meinem Gesicht: Alice Nestleton. Also dachte ich mir, ich komme mal vorbei und erkundige mich, was Sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in einem so stinkvornehmen Lokal taten.«

»Ich wollte dort essen«, antwortete ich. »Aber sagen Sie mir, was Retro mit einer Schießerei in einem Restaurant zu tun hat.«

Detective Rothwax grinste. »Wie ich sehe, sind Sie nicht ganz auf dem laufenden über uns, Alice. Judy Mizener wurde vor ein paar Monaten gefeuert. Retro arbeitete nicht mehr kostendeckend. Also haben wir unsere Zielsetzung geändert. Wir bearbeiten nicht mehr wichtige ungelöste Fälle. Retro kümmert sich jetzt um das organisierte Verbrechen; wir sind Teil der regionalen und landesweiten Initiative zur Verbrechensbekämpfung. Aber keine altmodischen LCN-Fälle.«

Schon wieder dieser Polizeijargon. »Was heißt LCN?«

»La Cosa Nostra. Sie wissen schon, die Mafia. Nein, Retro befaßt sich jetzt mit den neuen Verbrecherorganisationen in der Stadt. Mit den Russen und den Chinesen, den Jamaikanern und den Dominikanern.«

Der jüngere Kriminalbeamte ging in meinem Wohnzimmer auf und ab. Er schien meine Sachen zu inspizieren.

»Ich verstehe noch immer nicht. Was hatte die Schießerei gestern abend mit dem organisierten Verbrechen zu tun?«

»Dan Wu hat Dreck am Stecken«, antwortete Rothwax.

Dann rief er seinem Partner, der jetzt aus meinem Fenster sah, zu: »Erklär du’s ihr, Sonny. Es ist dein Fall.«

Detective Hoving schien Rothwax zu ignorieren. Er sagte kein Wort. Rothwax meinte grinsend: »Sonny ist manchmal ein wenig schüchtern. Also, Alice, ich will es mal so sagen: Wir glauben, daß Dan Wu in ein paar – wie soll ich es nennen – kriminelle Unternehmungen verwickelt ist. Und wir glauben, daß für die Schießerei gestern abend nicht schießwütige chinesische oder vietnamesische Jugendbanden verantwortlich sind, die in schicken Restaurants herumballern, um Schutzgelder zu erpressen.«

Jetzt ergriff Detective Hoving zum ersten Mal das Wort. »Haben Sie eine Serviette?«

»Eine was?« fragte ich.

»Eine Serviette.«

Er hatte nicht den leisesten New Yorker Akzent. Er hörte sich sogar ein wenig an wie jemand, der Sprechunterricht gehabt hatte. Er sprach jede Silbe sorgfältig aus.

»In der Küche«, erwiderte ich.

Rasch ging er in die Küche, holte eine Papierserviette, kam zurück ins Wohnzimmer und hockte sich direkt neben mir hin. Er legte die Serviette auf ein Knie und zeichnete mit einem Bleistift etwas darauf.