Eine Million Minuten - Wolf Küper - E-Book
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Eine Million Minuten E-Book

Wolf Küper

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Beschreibung

Jetzt im Kino: die Verfilmung des Bestsellers mit Tom Schilling und Karoline Herfurth

Als Nina eines Abends beim Zubettgehen sagt: »Ach Papa, ich wünschte, wir hätten Eine Million Minuten. Nur für die ganzen schönen Sachen, weißt du?«, bekommt Wolf Küper eine Ahnung davon, dass mit Kindern verbrachte Zeit womöglich sehr viel wertvoller sein könnte als eine glänzende Karriere. »Eine Million Minuten« ist ein Märchen aus dem Deutschland der Gegenwart. Die wahre Geschichte einer Familie, in der sich ein Vater von den Träumen seiner Tochter anstecken lässt und vier Menschen die Reise ihres Lebens machen.

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Seitenzahl: 337

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Das Buch

Eine Reise in die beste Zeit meines Lebens

Als Nina eines Abends beim Zubettgehen sagt: »Ach Papa, ich wünschte, wir hätten eine Million Minuten. Nur für die ganzen schönen Sachen, weißt du?«, bekommt Wolf Küper eine Ahnung davon, dass eine Million gemeinsam verbrachter Minuten womöglich sehr viel wertvoller sein könnte als eine glänzende Karriere. So beginnt eine Weltreise nach Thailand, rund um die Südinsel Neuseelands und quer durch Australien. Mit an Bord sind Ninas nur wenige Monate alter, also vollkommen ahnungsloser Bruder Mr. Simon, Vera, die Mutter der beiden, und Nina, die offiziell schwerbehindert ist – oder von einem anderen Planeten stammt, wie sie von sich selbst sagt. Zu viert verlassen sie Deutschland, um sich endlich Zeit für die großen Träume und kleinen Augenblicke zu nehmen.

Der Autor

Wolf Küper, geboren 1973 in Bremerhaven, promovierte im Bereich der Internationalen Umweltpolitik. Er arbeitete mehrere Jahre als Tropenforscher in den Regenwäldern Südamerikas sowie als Gutachter für die Vereinten Nationen. Bis ihn seine vierjährige Tochter eines Abends überzeugte, dass es eigentlich Wichtigeres gibt als eine glänzende Karriere. Seine Entscheidung für die Familie hat er nie bereut. Zurzeit lebt er in Bonn.

Weitere Informationen zu unserem Programm

unter www.knaus-verlag.de

WOLF KÜPER

EINE MILLION MINUTEN

Wie ich meiner Tochter einen Wunsch erfüllte und wir das Glück fanden

Knaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2016 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Illustrationen: Martina Frank

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-19581-6V004

www.penguin.de

Für Vera

Ay, no hay que llorar, que la vida es un carnaval,es mas bello vivir cantando

Celia Cruz

Eigentlich kann man nicht sagen, dass Dr. Dr. K. F. Finkelbach schuld daran war, dass ich gerade – wie in den letzten 72 331 Minuten eigentlich jeden Tag – am Strand einer ziemlich einsamen Insel südlich der Grenze von Myanmar und Thailand in meiner Hängematte hänge. Neben mir die für einen Augenblick friedlich vor sich hin spielenden Kinder und daneben wiederum die vier großen Tüten mit Muscheln und Fragmenten erstaunlicher Meeresbewohner. Von »Schuld« kann schon allein deshalb keine Rede sein, weil ich die Situation ja durchaus erfreulich finde, jedenfalls verglichen mit dem, was ich eigentlich sonst gerade machen würde, wenn alles einigermaßen normal verlaufen wäre und ich mal wieder irgendwo zwischen Flughafen-Lounges, Hotels und Konferenzzentren unterwegs wäre. Aber es war alles anders gekommen, und irgendwie hatte das schon auch etwas mit Dr. Dr. Finkelbach zu tun.

18 000. MINUTE

PHRA THONG

MU KO RA NATIONALPARK (9° 5’ N, 98° 17’ O)

ANDAMANENMEER, THAILAND

AUF DER SUCHE NACH DEN GANZSCHÖNEN SACHEN

Die kleine Insel Phra Thong befindet sich nur wenige Seemeilen vor der Küste Thailands, nahe der Grenze zu Myanmar. Anscheinend haben eine Handvoll Privatiers und sehr exklusive Resorts fast die komplette Insel gekauft und unter sich aufgeteilt. Wenn man A-Promi ist, erfährt man von der Existenz dieser Resorts durch einen anderen A-Promi. Wenn man eher B- oder C-Promi oder sogar ganz normal ist, geht man auf der Insel einfach irgendwo entlang und steht dann relativ bald vor einem gut bewachten Zaun. Durch den Zaun sieht man prachtvolle Gartenanlagen, in denen viel Personal zwischen Frangipanis, Bougainvillea- und Hibiskussträuchern herumhuscht. Die Preise erfährt man »auf Anfrage«, und das auch nur, wenn man ernst genommen wird. Für nur eine einzige Nacht in einer Villa der exklusiveren Etablissements beginnt der Basistarif nämlich im allergünstigsten Fall bei mehreren Hundert Dollar, all exclusive, versteht sich, und hört dann gar nicht mehr auf. Das hängt von den Bedürfnissen ab, die man als Kunde eben so hat. Normaler Tourismus fiel hier weitgehend aus; die handverlesenen Gäste verloren sich an den Stränden, als wären sie Schiffbrüchige, allerdings liefen dazwischen uniformierte Kellner hin und her, um Cocktailwünsche einzusammeln und Fischsortenbestellungen für die fünfgängigen Abendessen, die zu Recht Grand Dinner heißen. Natürlich strapazierte das unser Budget über alle Maßen. Aber weil wir nach den anstrengenden letzten Monaten der Reisevorbereitungen in Bonn erst einmal »überhaupt nichts« machen wollten und Vera noch besser verhandeln kann als die hiesigen Resort-Manager, konnten wir irgendwie sehr last Minute ein paar Tage im bescheidensten Haus des Golden Buddha Beach Resorts buchen. Unser neues Anwesen nannte sich »Baan Mak«, hatte drei Etagen, die komplett aus Tropenholz gebaut waren, und es gab sogar einen Baum, der à la Hundertwasser in die Architektur einbezogen war. Laut Erläuterungen des Managements wäre das Ecoresort extra so gebaut, dass man sich ganz »als Teil des Waldes« fühlen sollte. Zur Begeisterung von Nina war also die Anwesenheit überlebensgroßer Insekten ein fester Bestandteil des »natürlichen Wohnerlebnisses«. Immerhin gab es Moskitonetze, die wie Baldachine um die Betten herum gespannt waren, was sehr schön aussieht. Wenn man immer genau in der Mitte des Bettes bleibt und die Füße anzieht, wird man fast nicht gestochen. Für viele Gäste der Insel war das Golden Buddha Beach Resort wohl – vollkommen zu Unrecht, wie wir fanden – eher die Holzklasse, gerade gut genug für mitreisendes Personal wie Friseure, Fußmasseure und Bodyguards. Für uns aber war es so viel vom Nichts-machen-Müssen, wie wir gerade noch bezahlen konnten.

Und dann sollte es noch viel besser kommen. Wenn man nämlich sehr viel Glück hat, verzockt sich irgendwo in den USA ein ständig zugekokster Fondsmanager auf wirklich spektakuläre Art. Deswegen verliert dann einer dieser Investmentfonds mit Namen, in denen viele Wörter wie Equity, Wealth und Fidelity vorkommen, innerhalb von wenigen Tagen fast drei Viertel seines Wertes. Natürlich kann niemand verstehen, wohin das ganze Geld, das aus dem Nichts aufgetaucht war, wieder verschwunden sein könnte. Eine Krisensitzung und Pressekonferenz jagt die nächste, und ein ganzes Heer von teuren Anwälten fängt an, weltweit nach Leuten zu suchen, die jetzt eventuell sauer sein könnten. Und tatsächlich, viele dieser Leute kämpfen so verzweifelt um die verbliebenen Fitzel ihres einst so stolzen Risikokapitals wie die grauen Herren bei Momo um die Zeitzigarren. Und es begab sich, dass drei Buchten von unserem Baan Mak entfernt zwei sehr nette Amerikanerinnen wohnten, die unentspannt genug waren, selbst auf dieser unglaublichen Insel noch einmal pro Stunde die Börsennachrichten zu checken.

Sie waren sehr kinderlieb, auf eine etwas unbeholfene Art. Vielleicht so, wie man auch tierlieb ist, obwohl man sich nicht sicher ist, wie man mit den jeweiligen Viechern am besten umgeht. Einmal hob eine von ihnen Mr. Simon hoch, indem sie ihn einfach am Arm zog. Als er – in der Luft pendelnd – anfing, sich über die wenig artgerechte Handhabung zu beschweren, ließ sie ihn einfach wieder in den Sand sacken (der Arm war aber noch dran). Catherine hatte einen Narren an Mr. Simon gefressen. Der sähe in-cre-dibly süß aus, vor allem dieses Lächeln und so weiter. Und gerade als Nina und ich sie fast so weit hatten, sogar mit uns Ball zu spielen, da merkten Catherine und ihre Freundin das mit ihrem Lieblings-Investmentfonds und mussten völlig überstürzt abreisen. So hastig jedenfalls, dass sie noch von der Insel aus per Agent irgendwelche Leute aus der Business-Klasse eines längst ausgebuchten Fluges rauskauften. So eine Blitzaktion muss man in Thailand erst einmal hinkriegen, bei all den Buddhisten, die da am Flughafen arbeiten.

Selbstverständlich kann man eine exklusive Premium-Villa nicht stornieren. Oder wahrscheinlich gehört sich so etwas in diesem Preissegment einfach nicht. Jedenfalls schenkten sie uns kurzerhand zehn Tage in dieser schönstdenkbaren Villa, all inclusive, versteht sich. Dann bestiegen sie ein Speedboot mit drei 75-PS-Motoren – da waren also über zweihundert Pferde vorgespannt – und verschwanden winkend am Horizont.

Fiat lux. Noch vor wenigen Tagen hatten wir unsere rumpelnden Koffer durch die Bonner Straßen gezogen, die so verregnet und kalt waren, dass sich der Wintermond in den Pfützen auf dem dunkelgrauen Kopfsteinpflaster spiegelte. Jetzt fanden wir uns im gleißenden Licht der tropischen Sonne auf dem Private Beachfront Deck der luxuriösesten Behausung wieder, die ich je betreten habe. Wir nannten das Ding einfach trotzdem »Terrasse«, obwohl diese so groß war, dass wir uns zu viert darauf verloren fühlten. Zudem war sie so nah ans Wasser gebaut, dass bei leichtem Wind die glasklaren Wellen irgendwo darunter verschwanden. Nicht wirklich kindertauglich, das Luxury Arrangement. Erstens ragten die Stämme mehrerer Kokospalmen mitten durch die Plattform, wie soll man da vernünftig Ball spielen, und wenn an der Meerseite irgendwas runterfiel, bekam man es niemals mehr wieder. Wenn man unter anderem ein Baby dabeihat, ist das ungünstig. Das Haus selbst war vollgestopft mit asiatischen Antiquitäten, darunter eine Kollektion fetter Buddhas mit Ohrläppchen in XXL, die Nina von Anfang an sehr sympathisch fand, und vielen geschmackvollen, moderneren Kunstinstallationen. Der nächste Nachbar residierte unsichtbar irgendwo 200 Meter weiter den Strand runter. Damit man auch Exclusive Privacy hatte, wie uns der Manager höflich erläuterte, und ich fragte mich, ob er damit auf Mr. Simons nächtliches Gebrüll anspielen wollte. Aber er war viel zu professionell, um mich in seinem Gesicht lesen zu lassen. Zu der Zeit hatte ich heimlich angefangen, darüber nachzudenken, ob man Simon wohl als »Schreikind« bezeichnen konnte. Aber man muss ja nicht übertreiben.

Das mit dem Haus neben oder auf dem Wasser hatte ich immer für den Inbegriff von Romantik gehalten. Allerdings musste ich feststellen, dass man für so etwas ziemlich fortgeschritten entspannt sein muss. Im Dunkeln dachte ich bei jeder größeren Welle, diesmal wäre das Wasser definitiv ins Haus gelaufen, und verbrachte die ersten drei Nächte überwiegend damit, in kurzen Abständen neben dem Bett auf dem Holzboden herumzutasten. Aber da war es immer nur trocken. Einmal attackierte mich ein Gecko, der meinen Zeigefinger in der Morgendämmerung für wer weiß was Tolles hielt; das machte meine Träume nicht besser. Schon erstaunlich, auf welchem Niveau man jammern kann. Vera trug es mit Fassung, für die ich immer sehr dankbar war. Wir seien ja schließlich »gerade erst los«, sagte sie netterweise, und »sicher alle noch etwas durcheinander«. Außerdem konnte man den Schlaf mittags nachholen. Man brauchte dazu nur eine der hauseigenen Riesenhängematten und einen von seinen gefühlten Weltumrundungen am Strand völlig erschöpften Mr. Simon.

Wenn man den schmalen sandigen Pfad nimmt, der sich durch den Privatwald des Resorts hindurchschlängelt, und sich vorsichtig zwischen den Hunderten von Einsiedlerkrebsen vortastet, die tagein, tagaus, ohne zu klagen wie Sisyphos ihr Schneckenhaus durch den Sand schleifen, dann kommt man irgendwann an die schmalste Stelle der Insel, und dort muss man sich entscheiden. Biegt man nach links ab, geht es zum Indischen Ozean. Wenn man hier einfach die Segel setzt und aufs offene Meer hinausfährt, taucht mit viel Glück Wochen später die Küste Ostindiens am Horizont auf. Biegt man stattdessen nach rechts ab, gelangt man an eine riesige Flachwasserlagune, die von einigen palmenbewachsenen Felseninseln umringt ist. Ein filmreifer Ort. Überhaupt war hier eigentlich alles so, wie in den Filmen, in denen man das Gefühl hat, bei den Kulissen muss eine solide betrunkene Digital-Effects-Crew noch mal ordentlich optimiert haben. Dann noch einmal um eine kleine Landzunge herum, und man gelangte zu einer Bucht, in der sich selbst Robinson Crusoe einsam gefühlt hätte. Was für ein unglaublicher Anfang unserer Reise. Das konnte ja gar nicht mehr besser werden, dachte ich.

Das war so etwa in Minute 17 332, also nach knapp zwei Wochen. Wir hatten also jetzt schon mal eine Insel. Und wir hatten Zeit. Was wir bis jetzt noch nicht hatten, war eine Ahnung, was man mit einer Million Minuten eigentlich macht. Was waren die »ganz schönen Sachen«, für die wir so ziemlich alles hinter uns gelassen hatten? Was haben zum Beispiel Adam und Eva eigentlich den lieben langen Tag gemacht, als sie noch im Paradies waren (abgesehen von den offensichtlichen Sachen zu zweit)? Wo fängt man an mit der Million?

Am Anfang überforderte mich das. Sicher ein Syndrom, das man nur als Erwachsener entwickeln kann. Ich hätte gerne einmal meine Freundin Anna Amsel dazu befragt. Anna Amsel arbeitete »aus reiner Neugier«, wie sie behauptete,als Psychotherapeutin. Wir machten uns einen Spaß daraus, dass ich sie grundsätzlich mit Frau Amsel oder sogar mit Vor- und Nachnamen ansprach. Anna Amsel also würde ich gerne fragen, ob die Psychologen eine offizielle Bezeichnung für Menschen haben, die sich nicht mehr vorstellen konnten, was sie mit ihrer Zeit machen können. Eigentlich ist so ein adultes Fantasiedefizit ja auch kein Wunder: Wenn man im Alltag sowieso nie richtig Zeit hat, braucht man auch nicht viel Fantasie. Weiß man zum Beispiel, dass man immer donnerstags nach der Arbeit circa 120 Minuten Freizeit hat, sagen wir, zwischen 19 Uhr und 21 Uhr 15, dann ergibt sich eigentlich von selbst, was man damit macht. Vielleicht hat man die Wahl zwischen Fitnessstudio, Tatort streamen, Lesen oder was zu zweit. Man kann natürlich auch die Küche machen oder aber doch einen Blick auf die To-do-Liste werfen, und dann braucht man schon gar keine Ideen mehr. Genauso ist es, wenn man für ganze vierzehn Tage in den Urlaub fährt. Auch dann ist doch von vorneherein klar, was man machen kann und was nicht. Selbst durchoptimierte japanische Reisegruppen schaffen in vierzehn Tagen nicht mehr als sechs europäische Hauptstädte.

Aber diese Reise hier, die war etwas völlig anderes: Ich konnte mir von Anfang an das Ende nicht vorstellen. Da kann man schlecht planen. Natürlich hatte ich zu Hause in Bonn ab und zu darüber nachgedacht, wie ich die Ewigkeit am besten »nutzen« könnte. Reflexartig fielen mir erst einmal Dinge ein, die unter der Rubrik »sinnvoll und nützlich« liefen. Sachen, die »einen weiterbringen« und so weiter. Eine neue Sprache lernen zum Beispiel, ein Fernstudium, so was ginge sicherlich. Ich wollte mir auch einmal grundsätzliche Gedanken über berufliche Perspektiven machen. »Du hast immer gerne irgendein Projekt, oder?«, kommentierte Vera, als ich ihr von meinen Ideen erzählte. Aber merkwürdigerweise konnte ich mich von dem Moment an, in dem wir aus dem Bootsshuttle an den Strand dieser Insel gesprungen waren, an alle die nützlichen Projekte nicht mehr erinnern.

Im Gegensatz zu mir hatte Nina nicht das geringste Problem damit, eine Million Minuten mit Leben zu füllen. Wahrscheinlich muss kein Kind auf der Welt lange darüber nachdenken, was die »ganz schönen Sachen« sind. Darin sind sie absolut professionell. Picasso soll einmal gesagt haben, er hätte ein ganzes Leben dafür gebraucht, wieder so naiv zu werden, wie er es als Kind war. Hier auf der Insel wurde mir allmählich klar, was er damit gemeint hatte.

Zu meiner großen Überraschung hatte sich herausgestellt, dass wir alle so ziemlich das Gleiche wollten. Nicht dass wir darüber groß gesprochen hätten; irgendwie ergab es sich einfach. Und es war ziemlich merkwürdig, was wir machten. Mittendrin fiel es nicht weiter auf, es gab ja auch keinen, der etwas hätte sagen können. Aber als ich nach der ersten Woche auf Phra Thong mein mitgebrachtes Tagebuch durchblätterte, wurde es mir zum ersten Mal richtig bewusst. Die häufigsten Einträge bestanden aus einer Ansammlung unzusammenhängender Begriffe wie: Muschelfeld am Nordstrand, (Perlmuttschalen von länglichen Vierkantmuscheln!), wieder Lagerfeuer, oder: Kokosnusskatastrophe (Machete leihen?), Exkursion (Felsenbucht im Westen: Seeigel!). Selbst das Wort »Sandburg« tauchte dreimal auf. Absoluter Kinderkram! Es verunsicherte mich. Ich stellte mir vor, bei der dienstäglichen Arbeitsgruppenbesprechung im Bonner Forschungsinstitut, 14 Uhr c. t., würde mich der Chef mit dem üblichen Unterton fragen: »Und? Was machen Sie im Moment?« Das war immer der Augenblick, wo man beweisen musste, dass man weitergekommen war mit den ganzen Projekten. Und ich müsste dann vor allen Kollegen und meinen Ex-Diplomanden aus dem Tagebuch vorlesen: Vierkantmuscheln, Kokosnusskatastrophe …

Aber genau das machen Menschen doch: Kaum schmeißt man sie an einer Stelle aus dem Reisebus, an der man weit gucken kann, fangen sie an, Steinmännchen zu bauen. Gruppiert man sie um ein Feuer herum, starren sie in die Glut, als wären sie hypnotisiert. Macht man Musik an, fangen sie an, sich optisch unvorteilhaft zu bewegen. Legt man vor Männern wortlos einen kugelförmigen, elastischen Gegenstand auf den Boden, ist auch klar, was passiert. Weltweit. Menschen warten stundenlang auf die größte Welle, und sie versuchen wider besseres Wissen, mit einer Sandburg einen ganzen Ozean aufzuhalten. Es dauert lange, bis sie aufgeben. Sie vergraben Gliedmaßen von sich und anderen im Sand. Sie setzen sich unter Wasser auf den Boden, sie tun so, als wären die Sterne in Figuren angeordnet, sie warten auf Sternschnuppen und abends auf rosarote Wolken. Sie formen Kugeln aus Schnee und bewerfen damit Menschen, die sie mögen. All das fällt einem viel leichter, wenn rein zufällig auch ein paar Kinder mitmachen. Dann kann man einfach mitmachen, es geht eigentlich sofort. Ansonsten kann man neurotoxische Substanzen trinken oder es einfach »Sport« nennen. Oder man sagt, man hätte ein regelrechtes »Flow«-Erlebnis nach den Kriterien von Csikszentmihalyi. Dann weiß auch direkt jeder, was gemeint ist. Der ganze »Kinderkram« muss so elementar sein, so tief in uns verankert. Warum war es mir etwas wert, wenn ich – nach einstündigem Herumgekrieche am Strand – endlich auch eine von den roten doppelt gezwirbelten Muscheln gefunden hatte? Es fühlte sich an, als würden irgendwelche Dinge in mir von sich Lebenszeichen geben, die lange verschüttet gewesen waren.

Einziger Programmpunkt heute: die einsame Bucht. Nina war schon um die Ecke gebogen. Vera und ich mussten aber erst noch die Bälle und Mr. Simon einsammeln. Challenge of the day bestand für ihn darin, möglichst viel Sand zu essen. Bei den ersten Happen machten wir uns keine allzu großen Sorgen. Über Geschmack kann man zwar nicht streiten, aber wir setzten voll auf die abschreckende Wirkung des hohen Salzgehaltes im Sand. Mr. Simon hingegen fand ihn offenbar köstlich. Wenn man sich sowieso meist auf dem Bauch rutschend fortbewegt, braucht man dabei nur noch den Mund aufmachen, den Kopf beherzt senken und sich mit den Knien raupenartig nach vorne schieben. Etwa so, wie ein Wal durch Krill gleitet, das ist ziemlich effizient. Wir standen eine Weile da, starrten auf das Kind und waren entschlossen, unseren pädagogischen Prinzipien treu zu bleiben: Erfahrungen selbst machen. Aus Fehlern lernen. Und so weiter. Nach geschätzt 750 Gramm Sand begegneten sich unsere zweifelnden Blicke, und wir verschoben das mit den Prinzipien – vielleicht an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.

Als ich mit den Tüten voller Strandutensilien um die Ecke bog, hatte Nina es sich schon im Sand bequem gemacht, winkte mich zu sich und deutete voller Anerkennung auf den Strand. »Die sind sehr lustig hier!«, flüsterte sie.

Die Eingeborenen des Andamanenmeeres zwischen dem Golf von Bengalen und der südostasiatischen Küste sind hochgewachsen, fast alle über 1 Meter 80 groß. Sie sind nicht sehr scheu, färben sich die Haut lachs- bis hummerfarben und tragen pastellfarbene Shorts von Calvin Klein. Einmal im Jahr, bevor Der Große Regen, der nicht aufhören will beginnt, versammeln sich die Männchen alle in einer geheimen Bucht der Insel Phra Thong und feiern dort die alten Zeremonien und Stammesrituale.

Etwa zwanzig Männer befanden sich kollektiv in einem tatsächlich bemerkenswerten Zustand. Vielleicht könnte man sagen, dass sie »sehr enthusiasmiert« waren. Einige röhrten wie die Hirsche des Bonner Kottenforstes in besonderen Zeiten, obwohl weit und breit eigentlich keine Frau zu sehen war. Andere stießen spitze Schreie aus, während sie scheinbar ziellos am Strand entlanghüpften. Wieder andere wollten es wohl eher kameradschaftlich und bedienten sich der auch auf Kölner Karnevalspartys und bei Burschenschaften auf Brautschau sehr bewährten Technik des »kehligen Grölens«. Auch aus meiner Perspektive sah es lustig aus, dass sich hier Leute begeistert in maximaler Lautstärke anbrüllten, obwohl sie ganz nah beieinanderstanden. Vor allem weil gerade ja nicht mit hundert Dezibel Griechischer Wein von Udo Jürgens lief.

Aus Ninas Perspektive waren wir hier wohl – fernab der verkorksten westlichen Zivilisation – auf eine Art Initiationsritual der Ureinwohner des Indischen Ozeans gestoßen. Angesichts dessen, was die Männer dort so machten, war das durchaus plausibel. Sie war äußerst zufrieden. Endlich war sie in einem Land, in dem sich die Leute vernünftig verhielten und wirklich etwas aus ihrem Leben machten.

»Lei-se«, flüsterte sie eindringlich und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Klar, immerhin weiß man ja nie, wie solche Ureinwohner reagieren, wenn man zu nahe rangeht, und wir wollten auch auf keinen Fall stören.

Challenge of the day beim exklusiven Leadership-Seminar einer weltweit operierenden Coaching-Agentur für extrem erfolgreiche Top-Manager, die aber gerne noch erfolgreicher wären, ist relativ selbsterklärend: Die Teilnehmer müssen aus bestimmten Zutaten wie Styroporblöcken, bunten Plastikbojen, armdicken Tauen, Holzstangen verschiedener Länge plus all dem, was man gegebenenfalls zusätzlich am Strand auftreiben kann, eine Art Floß bauen. Mit diesem muss dann ein Emissär um eine etwa 30 Meter entfernte Boje herumpaddeln und wieder zum Strand zurückkehren, während die anderen ihn durch lautstarkes Anfeuern motivieren. Diese Challenge deckt – insofern ist auch das Gegröle Pflicht – den Bereich Teambuilding ab. Wer als Erster wieder Land betritt, dort mit möglichst theatralischer Geste einen roten Pfahl aus dem Boden reißt und ihn durch die Luft schwenkt, dessen Gruppe hatte gewonnen und somit jede Menge Skills erworben.

Das Ganze lief fieberhaft ab, geradezu hysterisch. Hastig verschwand immer ein Teil der Männer zwischen den Kokospalmen am Ufer, um dann mit Palmwedeln und Treibholz beladen wieder herauszukommen. Anerkennendes Johlen. Andere balancierten so viele Kokosnüsse auf den Armen, wie es nur ging, boten diese dann stolz ihren Teamkollegen dar und ernteten ebenfalls anerkennendes Johlen. Man muss etwas aufpassen: Nur die uralten, hellbraunen Kokosnüsse sind für Flöße geeignet. Mit den grünen säuft man ab, das hatten Nina und ich schon ausprobiert. Die Männer einer dritten Gruppe wiederum zerrten wie besessen an den Seilen, um die Bojen mit den Stöcken dazwischen unter Spannung zu kriegen. Sie mussten für sich selbst johlen, weil die anderen ja beschäftigt waren. Mitten in diesem Chaos stand eine beeindruckende Gestalt, Phänotyp Fremdenlegionär, gar nicht mal groß, aber mit einer extrem dominanten Ausstrahlung. Augen aus Gletschereis. Er konnte am allerlautesten brüllen und tat das auch ohne viele unnötige Unterbrechungen. Seine Beiträge zum Geschehen bestanden in einer Mischung aus Kommandos, Flüchen und Beleidigungen, die auch an Galeerensklaven hätten gerichtet sein können. Ganz offensichtlich hatte er jede Menge Leadership. Ich meinte, die englischen Äquivalente von »Schlappschwänzen«, »Weicheiern« und anderen ausgesprochen motivierenden Bezeichnungen herauszuhören. Wahrscheinlich musste er als Coach den Leuten richtig was bieten für das ganze Geld. Kein Wunder, dass die Stimmung kochte, als die ersten beiden Gruppen mühsam ihre Flöße Richtung Ufer zerrten.

Sie spielen«, sagte Nina zu mir, tat dabei aber so, als würde sie gebannt auf die Teilnehmer gucken. Irgendwie sagte sie das in so einem … lobenden Tonfall. Ich hatte mich bei derartigen Gelegenheiten ja schon häufiger gefragt, ob da im Hintergrund meiner Vater-Tochter-Beziehung nicht eigentlich ein handfestes Erziehungsexperiment ablief. Dieser pädagogische Subtext zwischen den Zeilen tauchte einfach zu oft auf, um nur Einbildung zu sein. Darauf hatte mich als Vater niemand vorbereitet. Vermutlich sollte ich mir von den edlen Wilden da vorne eine ziemlich dicke Scheibe abschneiden. Und vermutlich sollte ich darauf auch noch ganz alleine kommen. Manchmal fand ich es etwas anstrengend, von einer Fünfjährigen erzogen zu werden.

»Sieht aus, als würden wir hier irgendwelche Spielchen spielen, nicht wahr?«, keucht plötzlich jemand in feinstem Oxford-Englisch neben mir, und ich zucke zusammen. Ich hatte den Mann nicht kommen sehen. Er kam über die Uferböschung, hatte noch mehr Palmwedel besorgt und sich dabei furchtbar zerkratzt. Davon abgesehen hatte er größere Brandblasen auf den Schultern, und der Schweiß tropfte ihm von der Nase. Ich setze eine unschuldige Miene auf und beeile mich zu sagen, das sei keineswegs der Fall. Dann schiele ich zu Nina hinüber. Sie blickt bewundernd auf den Eingeborenen und überlegt anscheinend, wie sie ihm am besten gratulieren könnte. Zum Glück kann sie noch nicht genug Englisch, um irgendetwas Kompromittierendes zu äußern. Der Mann erklärte mir dann noch ungefragt, dass all this – wobei er über den Strand deutete – Teil eines sehr renommierten Seminarprogramms nach der Soundso-Methode wäre, von weltweit führenden Psychologen und CEOs mitentwickelt. Ich nicke beindruckt und freue mich, dass ich mit meinen Spielideen für die Kinder doch so nah dran bin am neuesten Stand der Forschung. Und gerade will ich noch anerkennend sagen, dass all this bestimmt eine echte Herausforderung sei und richtig anstrengend, aber da sagt er schon, dass er nun leider weitermachen müsse. Sie hätten hier so gut wie keine Zeit für Pausen. Aber man würde sich sicher abends in der Bar mal treffen, und dann hätte er auch etwas mehr Zeit, übrigens sein Name sei Damian, und ehe ich sagen konnte, dass ich mich freute, verbesserte er sich noch: »Well, George, actually, George Damian. I am terribly sorry, but I need to go.« Und weg war er mit seinen Palmwedeln.

George und ich haben uns dann doch verpasst, und das nächste Mal, als ich ihn sah, war das am Bootsanleger, da saß er schon im Speedboot Richtung Festland. Ein merkwürdiges Bild, wie er und die anderen Manager sich da in neongelben Schwimmwesten zusammenkauerten. Alle waren ziemlich still und starrten aufs Wasser. »Game over«, schoss es mir durch den Kopf. Wie es wohl sein musste, zwei Tage später wieder im Office anzufangen? Und ich dachte ganz kurz, dass ja auch wir irgendwann … aber dann verwarf ich diesen Gedanken. So viel Ignoranz darf sein, schließlich hatten wir noch weit über 900 000 Minuten vor uns.

»Was machen die heute?«, fragte Nina. Ich lehnte am Holzzaun des Bootsanlegers. Nina lehnte an mir, wie immer. So stand sie sicherer auf dem wackeligen Steg.