Eine unmögliche Freundschaft - Michael Borchard - E-Book

Eine unmögliche Freundschaft E-Book

Michael Borchard

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Beschreibung

David Ben Gurion und Konrad Adenauer sind zwei politische Urgesteine des 20. Jahrhunderts. Ihre Leben sind durch die deutsche und israelische Geschichte vielfältig miteinander verflochten und weisen erstaunliche Parallelen auf. Beide kommen erst sehr spät in ihrem Leben an die Spitze der politischen Macht, beide werden Begründer einer neuen Staatlichkeit ihrer Völker, beide müssen im Innern ihrer Länder wie in der Diplomatie Pionierarbeit leisten – und kommen sich dabei sehr nah und werden Freunde, obwohl sie sich nur zweimal persönlich begegnen. Ihre Familien pflegen die Freundschaft der beiden Männer bis heute. Auch charakterlich zeigen sich viele Ähnlichkeiten: als zurückhaltend und mürrisch, praktisch und erfinderisch werden beide beschrieben. Michael Borchard erzählt die Lebensgeschichte von Ben Gurion und Konrad Adenauer als Parallelgeschichte, berichtet von ihrer unmöglichen Freundschaft und fragt danach, was sich von diesen beiden großen Männern für heute lernen lässt.

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Seitenzahl: 569

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Michael Borchard

Eine unmögliche Freundschaft

David Ben-Gurion und Konrad Adenauer

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die verwendeten Fotos wurden freundlicherweise von der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Verfügung gestellt. Das Coverbild zeigt die erste Begegnung von Konrad Adenauer und David Ben-Gurion im 35. Stock des Hotels Waldorf Astoria in New York, 1960 (© Benno Wundshammer / bpk). Die weiteren Fotos: S. 375 oben: Westdeutscher Beobachter, 23.6.1929; S. 375 unten: Quelle: 00123339: ap/dpa/picture alliance/Süddeutsche Zeitung Photo; S. 376 oben: Quelle: PAR124194: Burt Glinn/Magnum Photos / Agentur Focus; S. 376 unten: Quelle: wikimedia, gemeinfrei; S. 377 oben: Quelle: 00855305: UPI/Süddeutsche Zeitung Photo; S. 377 unten: Quelle: 2235363: picture-alliance / dpa; S. 378 oben: Quelle: B 145 Bild-00012684: Bundesregierung/ Engelbert Reineke; S. 378 unten: Nachrichtenmagazin Time, 4.1.1954; S. 379 oben: Quelle: 5663121: KEYSTONE / Keystone; S. 379 unten: PAR103772: Micha Bar-Am/Magnum Photos / Agentur Focus; S. 380 oben: Quelle: 00064414: UPI/Süddeutsche Zeitung Photo; S. 380 unten: Quelle: 02761906: ullstein bild, Sven Simon; S. 381 oben: Quelle: 02762174: ullstein bild, Sven Simon; S. 381 unten: Quelle: Privat; S. 382 oben: Quelle: PAR114687: Micha Bar-Am/Magnum Photos / Agentur Focus; S. 382 unten: PAR127778: Micha Bar-Am/Magnum Photos / Agentur ­Focus; S. 383 oben: Quelle: 26611113: picture alliance / Michael Maor; S. 383 unten: Quelle: 2296885: picture-alliance / dpa; S. 384 oben: Quelle: 650879: Sven Simon Fotoagentur; S. 384 unten: Quelle: 11751120: picture-alliance/ dpa. Bei der Suche nach den Rechteinhabern sind wir sorgfältig vorgegangen. Falls Sie Ihre Rechte berührt sehen, setzen Sie sich bitte mit dem Verlag Herder in Verbindung.

Umschlaggestaltung: Judith Queins

Umschlagmotiv: ©Benno Wundshammer / bpk

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN (E-Book): 978-3-451-81534-8

ISBN (Buch): 978-3-451-38275-8

Inhalt

Yariv Ben-Elieser, Mein Großvater David Ben-Gurion

Konrad Adenauer, Mein Großvater Konrad Adenauer

Einführung

Konrad Adenauer und seine Beziehung zum Judentum

Adenauer und der Zionismus – ein »rheinisch-katholischer Zionist«?

Adenauer, der »Blutjude« – Diffamierungen durch die Nationalsozialisten

»Recht und Verfassung gelten nichts mehr« – die Absetzung Adenauers

Existenzielle Nöte nach der Absetzung und jüdischer Beistand

»Ihr Leben ist sowieso zu Ende« – Verhaftung durch die Gestapo

»Ein Wahnsinn namens Zionsliebe« – ein Zionist namens David Grün

»Meine Füße im Staub, mein Haupt in den Sternen« – die Reise ins gelobte Land

»Ein osmanischer Patriot« – Vertretung der jüdischen Interessen

Der Traum von der jüdischen Legion – Ben-Gurion als Soldat

»Wladimir Hitler« – der Kampf mit den Revisionisten

Nicht meine Angelegenheit? – Ben -Gurion und die Rettungsversuche

»Sicherheitsfragen« – Ben-Gurion und die Armee

Der »göttliche« Ben-Gurion – das zionistische Potenzial in den DP-Lagern

Ben-Gurion und Helena Goldblum – ein prägendes Gespräch

Exkurs: Adolf Eichmann und der Umdenkprozess in Sachen Holocaust

Der Prozess – eine Konfrontation mit der Vergangenheit

Das verheißene Land »Israel« – zum Greifen nah

Ein »Trauernder unter Feiernden« – die Verteidigung des Traumes Israel

Der Unabhängigkeitskrieg – die Erfolge des Feldherrn Ben-Gurion

Exkurs: Kreativität in der Not – Ben-Gurion-Reis und Adenauer-Brot

Die Masseneinwanderung und Hilfe aus Deutschland

Israel und Adenauer – ein »erstes unmittelbares Zeichen«

Ein »bemerkenswerter Präzedenzfall« – das Recht Israels auf Entschädigung

Israel und Deutschland – die erste inoffizielle offizielle Begegnung

Der Umweg über die Amerikaner – ein gescheiterter Versuch

Verbrechen im Namen des deutschen Volkes – eine folgenreiche Erklärung

Eine Schlüsselfigur – Nahum Goldmann und die Entschädigungen

Goldmann und Adenauer – die erste Begegnung in London

Vor den Verhandlungen – ein politischer ›Showdown‹ in der Knesset

Warum auf das verzichten, was uns gehört? – Eine schwere Debatte

Begins Kampf auf Leben und Tod – »Adenauer ist ein Mörder«

»Im Auftrag des Gewissens« – Begin und der Anschlag auf Adenauer

Eine Notwendigkeit – die Mobilisierung von Unterstützung

Ein Drahtseilakt – das Narrativ vom anderen Deutschland

Ein ›running-mate‹ für die Aussöhnung – Adenauer und Franz Böhm

Ein ›Himmelfahrtskommando‹ – die Dilemmata der Verhandlungen

Abs und Schäffer – Gegenspieler der Verhandlungen?

Die beschränkte Leistungsfähigkeit – eine Chimäre?

Eine »private« Mission in Paris – der Ausweg aus der Krise

Nicht die Rechnung ohne den Wirt machen – der Widerstand Fritz Schäffers

Ein »besonderer und bedeutsamer Tag« – die Unterzeichnung in Luxemburg

Adenauer – »Werkzeug des Weltjudentums« und »Marionette des Westens«?

Der letzte Akt von Luxemburg – die Ratifizierung des Abkommens

Nach dem Abkommen – nächster Akt: diplomatische Beziehungen?

Das Deutschland Adenauers – eine »Camouflage für den Neonazismus?«

Geheime Fahrt durch den Schnee – ein epochales Ereignis im Dunkeln

»Er ist der Ältere« – ein besonderes Gipfeltreffen in  New York

Ben-Gurion kommt zur Sache – ein ›moralisches‹ Angebot

Jetzt geht es um die Weltpolitik – zwei Staatsmänner und ihr Blick auf die Welt

Was auf der Liste fehlt – der Antisemitismus in Deutschland

Angst vor den Konsequenzen? – Deutschland und die diplomatischen Beziehungen

Der Eichmann-Prozess und Globke – eine Bedrohung der Beziehungen?

»Unsere Nazis« in Ägypten – eine bedrohliche Krise für die Beziehungen

Er ist krank und erschöpft – Ben-Gurion und der Rücktritt

Ein neues Treffen mit Adenauer? – Ben-Gurion und der gescheiterte Versuch

Die Aufnahme der Beziehungen? – Letzter Versuch zur Krönung der Verständigung

Erhard übernimmt – Aufnahme der diplomatischen Beziehungen

Adenauer, Ben-Gurion und die Macht – Rückzugsgefechte der Patriarchen

Eine besondere Einladung aus Israel – nach schwierigen Zeiten

Die Reise nach Jerusalem – mit gemischten Gefühlen

Ein Ehrendoktor für den »wahren Freund Israels« – Adenauer in Rechovot

»Ich reise morgen ab« – ein Eklat und »Mordskrach« in Jerusalem

Einer der »schönsten Augenblicke meines Lebens« – Adenauer in Israel

»Israel ist der Lebensbaum der Kultur« – Adenauers Freundlichkeiten in Israel

Adenauer in Yad Vashem – »Das hat mich doch sehr gepackt«

»Kölsche Tön in Israel« – eine besondere Begegnung

Die zweite und letzte Begegnung – Adenauer im Kibbuz bei Ben-Gurion

Adenauer und Ben-Gurion – Rückzugsorte von der Politik

»Ganz der Alte« – Reaktionen auf die Reise

»Nix zo kriesche« – die Verabschiedung der Patriarchen in die Ewigkeit

Exkurs: Freundschaft unter Staatsmännern – eine Illusion?

»Macht keinen Unsinn, während ich tot bin« – Auswirkungen der Freundschaft

Das große Deutschland nach der Wiedervereinigung – Bedrohung für Israel?

Militärhilfe als Popularitätstreiber – Israel und die deutschen U-Boote

Jemals normale Beziehungen? – Niemals normale Beziehungen!

Dank

Quellen und Literatur

Bildteil

Über den Autor

Yariv Ben-Elieser, Mein Großvater David Ben-Gurion

Mein Großvater hat sich einen Traum erfüllt, der zugleich der Traum von Millionen Juden war: die Gründung des Staates Israel! Dieses Ereignis, das in die Geschichte eingegangen ist, war angesichts der schwierigen Umstände, unter denen die Staatswerdung stattgefunden hat, nicht weniger als ein Wunder. »Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist«, so hat mein Großvater einmal gesagt. David Ben-Gurion war ein Realist. Er war ein durchsetzungs- und willensstarker Mensch. Das war die unbedingte Voraussetzung dafür, dass er diese Vision, die schon Theodor Herzl so leidenschaftlich verfolgt hatte, in die Tat umsetzen konnte. Mit der ›wundervollen‹ Staatsgründung aber waren die Probleme nicht gelöst. Im Gegenteil, die Herausforderung, diese hart erkämpfte Errungenschaft zu bewahren, die Existenz dieses bedrohten Staates und seiner Bewohner zu sichern, hat damals begonnen und ist im Grunde bis heute nicht vollständig bewältigt.

Mein Großvater wusste, dass man auf Wunder nicht warten darf, sondern dass man ihre Erfüllung nach allen Kräften fördern und fordern muss. Und diese Erkenntnis hat ihn dazu befähigt, das Undenkbare zu denken. Und dazu gehörte, auch mit dem Volk zu sprechen, das unvorstellbares Leid und ewigen Schmerz über das jüdische Volk gebracht hat: mit Deutschland! Dabei war David Ben-Gurion niemals nur von pragmatischen und realpolitischen Erwägungen, sondern immer auch von moralischen Ansprüchen geleitet: Ihm war unerträglich, dass das Volk der Mörder zugleich auch zum Erben der Ermordeten wird. Und ihm war wichtig, dass wenigstens ein Bruchteil des geraubten Eigentums entschädigt wird. Aber ihm war ebenso unerträglich, dass die Söhne und Töchter der Täter gleichsam selbst zu Opfern werden, indem man sie für die Taten ihrer Väter und Mütter direkt verantwortlich macht, für die sie jedoch selbst nicht verantwortlich sind. Dass er diese bemerkenswerte Haltung, mit der er seinen Landsleuten um Jahre voraus war, so kurz nach der Shoah gegen verständliche, aber zugleich auch sehr heftige Widerstände entwickelt hat und dass es ihm gelungen ist, sein Land von der Notwendigkeit zu überzeugen, den tiefen und kaum zu überbrückenden Abgrund der deutschen Taten zu überwinden und die Hand auszustrecken, das wird neben der Staatsgründung für immer sein besonderes Verdienst bleiben.

Mein Großvater hat durch seine Politik den Grundstein für die deutsch-israelischen Beziehungen gelegt, die niemals normal sein werden, die aber heute so innig, herzlich und vertrauensvoll sind, wie man sich das zu Lebzeiten meines Großvaters kaum hätte vorstellen können. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn David Ben-Gurion in Konrad Adenauer nicht ein Gegenüber gefunden hätte, das ihm an Visionskraft, an Kreativität, an Durchsetzungskraft, aber auch in seiner moralischen Integrität gleich war. Alle Bilder, die es von David Ben-Gurion und Konrad Adenauer gibt, angefangen bei dem Treffen meines Großvaters mit dem deutschen Bundeskanzler in New York und dann später in Sde Boker während Adenauers Israel-Besuch, zeigen, wie viel Herzlichkeit, wie viel Offenheit und wie viel Vertrauen zwischen beiden Männern herrschte. Dass Konrad Adenauer meinen Großvater und meine Großmutter Paula an diesem Ort in der Wüste Negev besucht hat, der meinem Großvater so viel bedeutet hat und an dem er den Abend seines ereignisreichen Lebens verbracht hat, ist ein Symbol für die besondere Beziehung der beiden Männer.

Unsere Familie hat immer wieder erstaunt, wie ähnlich die beiden Herren sich bei Lichte betrachtet und trotz des sehr unterschiedlichen Erscheinungsbildes waren. Beide mussten in Situationen, in denen buchstäblich alles neu zu gestalten war, Ideenreichtum und Führungskraft entwickeln, die über das Normalmaß weit hinausgingen. Um die jeweilige Staatsgründung herum waren beide in einem hohen Alter mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert, in dem andere längst den verdienten Ruhestand genießen. Beide waren Realisten und Pragmatiker mit einem sehr klaren Wertekompass.

Ohne die Hilfe, die damals aus Deutschland für Israel geleistet worden ist, wäre der Aufbau des Staates, wäre die Sicherung der Existenz Israels nur sehr schwer oder vielleicht gar nicht möglich gewesen. Es mag außer Zweifel stehen, dass ein Realpolitiker vom Range Konrad Adenauers eigene Interessen mit seiner Israel-Politik verbunden hat, was die Notwendigkeit einschloss, Deutschland auch in den Augen einer breiten europäischen und internationalen Öffentlichkeit wieder in den Kreis der geachteten Nationen einzuführen. Aber bei Konrad Adenauer – und das hat mein Großvater zutiefst bewundert – zeigte sich deutlich die so empfundene moralische Verpflichtung, wenigstens zu einem gewissen Teil Entschädigungen zu leisten, und der Wille, wiedergutzumachen, was eigentlich niemals wiedergutzumachen ist. Wie sehr ihn diese moralische Dimension geleitet hat, lässt sich daran ablesen, dass er immer wieder mehr politisch umgesetzt hat, als in den Verhandlungen erwartet worden ist.

Bewunderungswürdig ist dabei der Mut der beiden Staatsmänner, auch umstrittene Wege zu gehen. Denn das war immer mit der Anstrengung verbunden, Unterstützung für ihre Politik gegen eine Bevölkerungsmehrheit zu mobilisieren. Das Paradebeispiel dafür ist die militärische Zusammenarbeit, die unter den Regierungen David Ben-Gurions und Konrad Adenauers begonnen wurde und die in beiden Ländern auf erhebliche Widerstände in der Bevölkerung stieß. Sie bildet heute einen besonderen Kern der Freundschaft beider Länder. Das gleiche gilt für die Wissenschaftskooperation, für die sich beide Staatsmänner ganz besonders intensiv einsetzten. Dass Israel heute einen gemeinsamen Wissenschafts- und Forschungsraum mit der Europäischen Union hat und beide Seiten immens voneinander profitieren, ist auch den beiden Herren zu verdanken.

Es freut mich sehr, dass dieses Buch den Versuch macht, nicht nur die Freundschaft meines Großvaters mit Konrad Adenauer für sich genommen zu untersuchen und die Parallelität der beiden Leben darzustellen, sondern auch zu fragen, welche Wirkung diese besonderen Beziehungen bis heute entfalten. Ich erinnere mich gerne daran, dass mich der Autor dieses Buches als Leiter des Büros der Adenauer-Stiftung beim Besuch des Adenauer-Enkels Patrick Adenauer gebeten hat, in Jerusalem im Hotel Waldorf Astoria das berühmte Foto in New York aus dem März 1960 nachzustellen. Das war mehr als nur ein ›Publicity Gag‹. Denn dieses nachgestellte Foto mit den Enkeln symbolisiert, dass die nachfolgenden Generationen in Politik und Gesellschaft die unbedingte Pflicht haben, das Erbe von David Ben-Gurion und Konrad Adenauer zu bewahren und die Annäherung der beiden Staaten ebenso zu fördern wie eine Entfremdung der beiden Völker zu vermeiden. Weil das Buch diesen Bogen in die Gegenwart zieht, wünsche ich ihm große Verbreitung.

Yariv Ben-Elieser

Konrad Adenauer, Mein Großvater Konrad Adenauer

Ich war sechsmal in Israel, beim ersten Mal mit einer Gruppe der Ritter vom Heiligen Grab, zweimal mit der Konrad-Adenauer-Stiftung, einmal mit einer Gruppe von Kölner Freunden unter Leitung des mit allen Teilnehmern befreundeten Kölner jüdischen Ehepaares Daniel und Esther Gormanns, einmal mit einer Gruppe von Freunden des Museums Ludwig unter Leitung seines seinerzeitigen Direktors Marc Scheps und einmal zu einer jüdischen Hochzeit im Hause Gormanns. Auf diesen Reisen habe ich viele Städte der Antike, den Juden, den Christen und den Muslimen heilige Stätten, die Küste, die Gebirge, die Seen und Flüsse kennen- und lieben gelernt. Zweimal auf diesen Reisen war ich im Kibbuz Sde Boker, dem letzten Wohnsitz David Ben-Gurions und seiner Frau Paula. Ich habe ihr Haus besichtigt, vor allem ihre Grabmäler am Rande der malerischen Wüste Negev. Dabei kam ich mir weit entrückt vor – in Vergangenheit und Zukunft. Diese Gräber, ihre schlichte Art und einzigartige Lage, atmen den unvergesslichen Hauch der Ewigkeit.

Die Bilder der beiden Begegnungen Ben-Gurions mit meinem Großvater am 14. März 1960 im Hotel Waldorf Astoria in New York und am 9. Mai 1966 in Sde Boker haben sich mir wie Ikonen eingeprägt, obwohl ich nicht dabei war. Beim ersten Treffen war ich 15 Jahre alt, bei dem zweiten schon im 5. Semester Jurastudent an der Universität Freiburg im Breisgau. Ich war mir der außerordentlichen Bedeutung dieser Zusammenkünfte bewusst, auch wenn ich 1960 noch nichts von den dort getroffenen Abmachungen wusste. Wohl war mir das Wiedergutmachungsabkommen von 1952 in Luxemburg schon bekannt. Ich wusste allerdings noch nicht, dass hinter dem Attentat auf meinen Großvater 1952 der Irgun und damit Menachem Begin stand. Das Wiedergutmachungsabkommen hielt ich für unbedingt geboten und konnte nie verstehen, wie man im Bundestag dagegen stimmen konnte. Mein Großvater war einerseits kein Mann des Pathos und der geäußerten Gefühle und somit nicht die Person für einen Kniefall. Andererseits hat er sicherlich dieses Abkommen nicht nur aus außenpolitischen Gründen betrieben, sondern weil er zutiefst davon überzeugt war, dass Deutschland auch in materieller Hinsicht etwas für Israel und die Juden tun musste. Die Toten konnten nicht wieder lebendig gemacht werden, aber deren Verwandten und Nachfahren in Israel und ihrer Vertretung durch den neugegründeten Staat Israel, in den sich viele Verfolgte geflüchtet hatten, konnte man etwas Gutes tun, ihnen gegenüber konnte man Reue und Buße zeigen. Dies geschah nun nicht durch die Täter selbst, sondern durch das Volk, zu dem sie gehörten. David Ben-Gurion und mein Großvater haben durch Vermittlung von Nahum Goldmann das Wiedergutmachungsabkommen gegen jeweils heftigen Widerstand in den eigenen Reihen und im eigenen Lande geschlossen. Es war der zaghafte Beginn einer Aussöhnung. Eine seiner Spät- und Dauerwirkungen ist, dass Deutschland es als seine Staatsräson betrachtet, zu Israel zu halten und für es einzustehen.

So war es ein nicht hoch genug zu schätzendes Zeichen von Versöhnung und persönlicher Freundschaft, dass Ben-Gurion am 25. April 1967 trotz seines hohen Alters zur Gedenkfeier des Deutschen Bundestages für meinen Großvater nach Bonn gekommen ist und dort wegen eines hohen jüdischen Feiertages den Weg zum Bundestag zu Fuß zurückgelegt hat. Dieses Bild ging um die Welt. Hierbei habe ich Ben-Gurion selbst gesehen. Bis dahin kannte ich ihn nur aus Wochenschauen im Kino und aus den Zeitungen.

Israel war in den Sechzigerjahren in Kölner Schülerkreisen sehr beliebt als Ziel für die Sommerferien. Dabei handelte es sich jedoch nicht um Urlaubsreisen, sondern um Arbeitsaufenthalte in den Kibbuzim. In Bad Sobernheim in der Pfalz gab es vorher jeweils eine Einführung in das Wesen des Staates Israel und seiner Bewohner sowie das Leben dort. Ich kannte und kenne viele Mädchen und Jungen, die dies seinerzeit mit Freude und großem Erfolg auf sich genommen haben und begeistert von Israel berichteten. Dazu gehörte auch meine Cousine Bettina Adenauer, die älteste Tochter meines Onkels Max Adenauer aus Köln. Dieser hatte als Oberstadtdirektor von 1953 bis 1965 die Austauschpläne seines Schulbeigeordneten Johannes Giesberts (1953‒1974) sehr gefördert. Noch verleiht die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der auch ich angehöre, jährlich den Giesberts-Lewin-Preis. Im Jahr 1961 begann der uns alle aufwühlende Eichmann-Prozess in Jerusalem. Eichmann wurde von dem Kölner Rechtsanwalt Robert Servatius verteidigt.

Für mich persönlich war wichtig, dass meine engere Familie in dieser frühen Zeit – vermittelt durch das meinen Eltern engstens befreundete Ehepaar Paul Ernst und Thea Bauwens – das jüdische Ehepaar Willy Gormanns an einem Karfreitagabend kennenlernte. Dieses war gerade aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt. Willy Gormanns war ein enger Schulfreund unseres Nennonkels Paul Ernst. Mit dem Sohn dieses Ehepaares und seiner Frau, eingangs schon erwähnt, sind wir dadurch heute benachbart und sehr befreundet.

Einen Nachfahren von David Ben-Gurion habe ich vor etlichen Jahren bei einer Diskussionsveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin kennengelernt. In dem Tagungsraum unserer Rhöndorfer Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus sehen wir immer wieder ein Porträt meines Großvaters von dem israelischen Künstler Pinhas Litvinovsky (1894–1985). Eine Replik ist im Besitz der Stadt Köln. Diese Bilder erhielt mein Großvater 1963 als Geschenk.

Im Frühstückszimmer meines Großvaters in seinem Rhöndorfer Wohnhaus, das unsere Stiftung pflegt und Besuchern zeigt, befindet sich eine silberbeschlagene Thora-Ausgabe mit den Zeichen der zwölf Stämme Israels und den beiden Gesetzestafeln Mose auf den Außenseiten sowie einer Widmung von Nahum Goldmann auf einer Innenseite zur Erinnerung an den Vertragsschluss von Luxemburg am 10. September 1952.

Da ich mich bei der Abwicklung des Nachlasses meines Großvaters und dessen Überführung in die vorgenannte Stiftung als Assistent meines Vaters Konrad Adenauer verdient gemacht habe, erhielt ich zum Dank ein Album mit den frühen israelischen Briefmarken von 1948 bis 1955, das ich hoch in Ehren halte. Es war wohl ursprünglich ein Geschenk der israelischen Regierung an meinen Großvater. Der Besuch meines Großvaters in Israel wurde erst möglich, nachdem die diplomatischen Beziehungen zu Israel unter Ludwig Erhard aufgenommen worden waren. Dies ist zu Zeiten meines Großvaters noch nicht geschehen, da Deutschland seinerzeit stark auf die diplomatischen Beziehungen zu den arabischen Ländern Rücksicht nahm.

Mir ist immer wieder bestätigt worden, dass David Ben-Gurion und mein Großvater sich in New York auch über ihre Familien unterhalten haben. Dabei soll mein Großvater folgende Anekdote erzählt haben: Er habe mich, also seinen Enkel Konrad, gefragt, welchen Beruf ich einmal ergreifen wolle. Auf die Antwort »Bundeskanzler!« habe er erwidert, es könne doch nicht zwei Bundeskanzler geben.

Konrad Adenauer

Einführung

Der Kontrast der großen öffentlichen »Vorstellungen« auf der Bühne der deutsch-israelischen Beziehungen könnte größer nicht sein. Der erste sichtbare Akt dieser zunächst schwierigen »Zweckehe« vollzieht sich 1952 an einem schweren Tisch von großen Ausmaßen, ausgerechnet an dem Möbel, an dem sonst im Cercle Municipal der Stadt Luxemburg Hochzeiten geschlossen und auf Liebe gegründete Bündnisse gefeiert werden. Bei der Begegnung der beiden Delegationen hingegen ist Liebe die geringste Empfindung. Es herrscht eine kühle Atmosphäre, die etwas mehr als sieben Jahre nach den deutschen Menschheitsverbrechen vorprogrammiert ist. Man pendelt zwischen sorgfältiger – gesichtswahrender – Inszenierung und unvermeidbarer emotionaler Aufladung. Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner hat das so passend »rituelle Distanz«1 genannt. Eine Inszenierung, die das »Publikum« in Israel und das »Publikum« in Deutschland im Blick hat, die mit Skepsis und Betroffenheit auf das »Stück« schauen, das da auf der gemeinsamen Bühne gegeben wird.

Die Unterzeichnung des Abkommens – mit dem Namen, der etwas beschreibt, das aus der Sicht der jüdischen und israelischen Öffentlichkeit zu diesem frühen Zeitpunkt unvorstellbar, ja unmöglich erscheint: Wiedergutmachungsabkommen –, findet ohne Reden, ohne den Austausch von Vertraulichkeiten statt: Auf der einen Seite des Zeremonientisches der deutsche Bundeskanzler und Außenminister Konrad Adenauer, auf der anderen Seite sein israelischer Amtskollege Moshe Sharett. Mit »zuckenden Lippen«2 und »blass wie der Tod«3, wie der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete und deutsche Jude Jakob Altmaier, seine eigene Betroffenheit kaum verbergend, den israelischen Politiker beschreibt. Totenstille.

Ganz anders der zweite Akt des »Schauspiels«: Im März 1960, keine acht Jahre später, im 35. Stock des Waldorf Astoria, des einst von deutschen Auswanderern gegründeten Traditionshotels südlich des New Yorker Central Parks, entsteht das Bild, das bis heute die Ikone der Annäherung Deutschlands und Israels bildet. Die Gründungsväter Israels und der Bundesrepublik Deutschland, David Ben-Gurion und Konrad Adenauer, der eine 73, der andere 84 Jahre alt, begegnen sich – belagert von Scharen neugieriger Journalisten – in gelöster, ja offenbar herzlicher Atmosphäre, keine Spur mehr von ostentativer Distanz: lächelnde Gesichter, der israelische Patriarch, der seine Hand auf den Arm des deutschen Bundeskanzlers legt. Die Aussage des Bildes ist auch für den unbedarften Beobachter unübersehbar: Da begegnen sich zwei Herren, bei denen die Chemie ganz augenscheinlich zu stimmen scheint und die mit sich im Reinen sind. »Es gibt wohl kein symbolträchtigeres Bild der Aussöhnung als das der beiden Repräsentanten von Opfer- und Täternation, die sich freundlich die Hände schütteln«4, so beurteilt der Judaist Michael Brenner diese Szene treffend. Ein Bild, das deshalb so spektakulär ist, weil es eine Normalität insinuiert, wo es Normalität noch nicht geben kann.

Noch einmal ganz anders der dritte Akt 1966, der zugleich die zweite (und letzte) persönliche Begegnung der beiden Herren ist: Zwei Männer, die sich in ihren Briefen, aber auch während dieser Begegnung im Land der Vorväter gegenseitig »Freund« nennen. Gemeinsame Stunden im Kibbuz Sde Boker in der Hitze der Wüste. Eine herzliche Umarmung zur Begrüßung. Der kleinere und der hochgewachsene, die sich offensichtlich über ihre erneute Begegnung freuen. Lächelnde Herren am weiß gedeckten Mittagstisch bei einer Flasche Wein. Neugierige Gesichter, die von außen durch das Fenster in die Baracke schauen und versuchen, einen Blick auf die prominenten Ehrengäste zu erhaschen. Horden von Journalisten, die so zudringlich auf das Foto ihres Lebens hoffen, dass sie fast die gute Atmosphäre zum Kippen bringen und von Paula Ben-Gurion, der Ehefrau des Gastgebers, mit Müh und Not im Zaum gehalten werden.

Alle drei Ereignisse sind für sich genommen zu positiven Ikonen des deutsch-israelischen Verhältnisses geworden, besonders aber das erste Treffen der beiden Staatsmänner in der amerikanischen Großstadt: Kein Aufsatz, kein Buch, kein Zeitungsbeitrag zu diesen besonderen Beziehungen ohne das berühmte Foto aus dem New Yorker Edelhotel, und auch dieses Buch ist der Versuchung offenbar nicht entkommen. Ein Foto, das auch deshalb eine solche Wirkungskraft entfaltet hat, weil die Herzlichkeit, mit der sich beide Staatsmänner begegnen, nichts anderes als ein kleines Wunder ist: Und damit ist ausnahmsweise nicht das Wunder gemeint, dass sich ein deutscher und ein israelischer Staatsmann so kurz nach der Shoah so herzlich begegnen können und dass daraus über die Jahrzehnte eine besondere Beziehung – und, ja – Freundschaft auch der Völker geworden ist.

Nein, das Wunder, das gemeint ist, ist das der persönlichen »Kompatibilität« der beiden Patriarchen: Wie kann es sein, dass zwei Menschen, die so unterschiedlich sind, die so unterschiedliche Wege gegangen sind, die unterschiedliche Temperamente haben, unterschiedliche Prioritäten setzen und eine unterschiedliche Sichtweise vertreten, sich in so kurzer Zeit so augenscheinlich nahekommen konnten? Wie kann es sein, dass sich der katholische Konservative aus dem Rheinland und der sozialistische jüdische Skeptiker und Zionist David Ben-Gurion so gut verstanden? Wie kann es ein, dass die beiden mit ihren nur zwei persönlichen Begegnungen einen Standard gesetzt haben, der bis heute in den Beziehungen der beiden Länder eine so außerordentlich prägende Kraft entfaltet?

Als Frage aller Fragen steht aber freilich jene im Raum, wie ihnen diese Begegnung als Repräsentanten ihrer Staaten vor dem Hintergrund des unbegreiflichsten Menschheitsverbrechens, der Shoah, in einer so vertrauensvollen Atmosphäre möglich war, wie es ihnen gelingen konnte, gegen alle Widerstände auch in den eigenen Ländern ein so tiefes und so belastbares Vertrauensverhältnis aufzubauen. Wie kann in einem Land, in dem noch lange der Vermerk im Reisepass stand: »mit Ausnahme Deutschlands«5, gerade zwei Jahrzehnte nach der industriell organisierten Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden, Verständnis für eine Annäherung der beiden Staaten geschaffen werden?

Über Konrad Adenauer und David Ben-Gurion sind unzählige – zum Teil sogar widerstreitende – Biografien geschrieben worden, ebenso Studien über die deutsch-israelischen Beziehungen6. Auch das außergewöhnliche Verhältnis der beiden Staatsmänner ist immer wieder in Beiträgen und Aufsätzen auf die Anlässe ihrer Begegnungen bezogen schlaglichtartig ausgeleuchtet worden. Wo also ist die Lücke, in die diese Studie passt?

Ein Buch, das das Leben der beiden in eine Beziehung zueinander setzt, das zunächst Parallelitäten in ihren jeweiligen Lebensläufen aufzeigt, das auf dieser Basis Erklärungsversuche anstellt, warum beide so schnell einander Vertrauen schenken konnten, das die beiden epochalen Begegnungen 1960 und 1966 und ihren »Vorlauf« nachzeichnet und die Freundschaft der beiden Staatsmänner auch im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen hin bewertet – ein solches Buch fehlt bislang.

Der Ausblick in die Gegenwart ist für Historiker ein Wagnis, für manche gar ein Tabu, für Politikwissenschaftler aber ist er fast eine Notwendigkeit. Das gilt erst recht, wenn es um ein Thema wie die israelisch-deutschen Beziehungen geht, das eine »ewige Aktualität« besitzt. Der hohe Grad der Verflechtung der beiden Staaten, die enge Zusammenarbeit in allen Bereichen, die Tatsache, dass die Partnerschaft neben der historischen Verknüpfung der beiden Staaten nicht nur zunehmend von gemeinsamen Interessen, sondern auch von einer intensiven Verbindung, ja Freundschaft der Zivilgesellschaften geprägt ist, das wäre ohne die Leistung von Konrad Adenauer und David Ben-Gurion nur schwer vorstellbar. Aus ihrer Freundschaft, die 1945 auf dem katastrophalen Trümmerhaufen, den die verheerende Diktatur der Nationalsozialisten auf deutschem und europäischem Boden hinterlassen hat, unmöglich erschien, ist auch eine »unmögliche Freundschaft« der beiden Länder geworden. Die unbequeme Frage, wie gesichert oder wie gefährdet das Erbe ist, das beide Politiker begründet und hinterlassen haben, darf auch in dieser Studie nicht fehlen.

1 So der Titel des Buches »Rituelle Distanz« von Dan Diner.

2 Ebd., S. 25.

3 Ebd.

4 Brenner, Unsere Serie über die Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945.

5 So auch der Titel des Buches von Avi Primor: »… mit Ausnahme Deutschlands«.

6 Siehe Literaturverzeichnis.

Konrad Adenauer und seine Beziehung zum Judentum

Immer wieder ist von Forschern und Journalisten darüber spekuliert worden, wie ehrlich der Einsatz des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer für eine Versöhnung Deutschlands mit den Juden und für eine Annäherung Deutschlands an Israel unter dem Strich wirklich war. Wohl hat man seine unzähligen Äußerungen über die moralische Pflicht, mit finanziellen Leistungen zum Überleben Israels beizutragen, vernommen, und doch fehlte dabei kaum jemals der ostentative Hinweis auf den Pragmatismus Adenauers, seine Cleverness, seinen Willen, mit den Beziehungen zum Judentum und zu Israel das »Eintrittsticket« zu lösen, das Deutschland wieder zu einem geachteten Mitglied der Völkerfamilie macht. Wie groß war diese Notwendigkeit wirklich, wie groß war dementsprechend der Faktor »Berechnung« und wie groß war auf der anderen Seite das moralische Pflichtempfinden, ja wie groß war die Sympathie Adenauers zum Judentum und davon abgeleitet zu Israel?

Es mag die banalste aller Charakterisierungen des großen Rheinländers sein, aber sie ist zutreffend: Konrad Adenauer war ein vielschichtiger Charakter, der nicht einfach zu greifen ist. Ein Politiker, der ebenso Meister der Differenzierung und auch der Zurückhaltung wie auch rücksichtloser Vertreter der Interessen sein konnte, die er politisch für richtig hielt. Adenauer war strenger Moralist und im gleichen Moment von rheinischer Großzügigkeit. Adenauer war ein frommer und gläubiger Katholik, im besseren Sinne des Wortes »gottesfürchtig«, und doch nie ein undifferenziert hierarchiegläubiger Starrkopf. Er konnte sowohl Kritiker und Skeptiker einbeziehen als auch seine unbändige Durchsetzungskraft einsetzen. Er wollte die dunklen Jahre des Nationalsozialismus ebenso hinter Deutschland wissen und ein neues Kapitel aufschlagen wie er skeptisch blieb gegenüber der Demokratiefestigkeit seiner Landsleute. Deshalb kann es auf die Frage nach seinem Verhältnis zum Judentum und nach den Auswirkungen dieser Beziehung auf seine Politik als Bundeskanzler keine einfache Antwort geben. Vor allem kann es keine Antwort geben, die seine Haltung gegenüber dem Judentum in den Jahren seiner »ersten Karriere« als Kölner Kommunalpolitiker7 ausblendet.

Nicht ohne Grund und sicher nicht in erster Linie aus Berechnung kommt Konrad Adenauer bei seinen Begegnungen mit David Ben-­Gurion, aber auch mit unzähligen anderen Vertretern Israels oder jüdischer Organisationen, immer wieder auf seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse – insbesondere in der Zeit der Weimarer Republik – zurück. Auch bei den Juden in aller Welt nährt sich der Respekt vor Konrad Adenauer nicht zuletzt aus seiner Ablehnung des Nationalsozialismus, an der auch von erbitterten Gegnern seiner »Wiedergutmachungspolitik« in den Nachkriegsjahren nicht ernsthaft gezweifelt wird, und aus seiner immer wieder offen gezeigten Sympathie für das Judentum und für jüdisches Leben in Deutschland.

Schon zum Ende der 1920er-Jahre beginnen die Nationalsozialisten mit einer erbitterten Rufmordkampagne gegen den Kölner Zentrumspolitiker. Er wird während der aufgeheizten Polarisierung der Endphase der Weimarer Republik zunehmend zum »›großen Buhmann‹ aller Radikalen in Köln«8, wie es Hans-Peter Schwarz formuliert. Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Agitation gegen ihn steht neben dem eigens »aufgewärmten« Vorwurf, dass Adenauer »Separatist«9 gewesen sei und eine Abspaltung des Rheinlandes vom Deutschen Reich befürwortet habe, den ausnahmslos alle seine Biografen zurückweisen, schnell seine positive Haltung zum Judentum, die er nie verborgen hatte.

Bereits vor seiner Ernennung zum Oberbürgermeister und bis zu seiner Absetzung hatte Adenauer immer engen Kontakt zu den Vertretern der jüdischen Gemeinden, aber auch zu unzähligen Juden in allen Lebensbereichen: in der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Kultur. Einige ragen dabei besonders hervor, werden zu maßgeblichen Wegbegleitern des talentierten Kommunalpolitikers und prägen seinen Werdegang.

Eine besondere Beziehung pflegt er zu einer der schillerndsten jüdischstämmigen Persönlichkeiten Kölns in der Zeit der Weimarer Republik, zu dem konvertierten Bankier Louis Hagen, Erbe und Vorstandschef des Bankhauses A. Levy & Co., einer der mit Abstand wichtigsten Industriefinanziers des Rheinlandes, ja der ganzen Weimarer Republik, ab 1924 Miteigner der Deutschen Bank, außerdem von 1915 bis zu seinem Tod 1932 Präsident der Kölner Handelskammer. Konrad Adenauer sei, so Hans-Peter Schwarz, einer derjenigen gewesen, die Louis Hagen sich verpflichtet habe, indem er den Aufstieg des politischen »Jungstars« gefördert habe, ohne ihn dabei zu demütigen.

Eine entscheidende Rolle spielt Louis Hagen bei der Wahl Konrad Adenauers zum Oberbürgermeister von Köln. Er ist es, der die Rolle des »Königsmachers« übernimmt und in der Liberalen Fraktion des Stadtparlamentes, der er angehört, entschieden für den jungen Lokalpolitiker eintritt. Ihm gelingt es gemeinsam mit einem anderen maßgeblichen jüdischen Politiker bei der Liberalen Fraktion, Bernhard Falk, der Adenauer ebenfalls sehr achtet und mit ihm freundschaftliche Beziehungen unterhält, Vorbehalte auszuräumen, die in der Liberalen Fraktion gegen das Zentrum allgemein und in Ableitung auch gegen Konrad Adenauer bestehen.

»Die folgenden Jahre«, so schreibt Hans-Peter Schwarz über die Freundschaft zu Louis Hagen, »sind durch eine enge Allianz zwischen dem Älteren und dem Jüngeren gekennzeichnet. Gelegentlich gibt es auch Krach, aber beide respektieren sich und wissen, was sie aneinander haben.«10 Konrad Adenauer ist jedenfalls ein gern gesehener und häufiger Gast des Kölner Geschäftsmannes in seinem »Landsitz«, dem Schloss Birlinghoven in der Nähe von Bonn. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt verewigt sich Konrad Adenauer als frisch gebackener Oberbürgermeister im Gästebuch des Schlosses. 1919 wird Louis Hagen, der bereits 1886 zum Katholizismus konvertiert war, gar Parteifreund von Konrad Adenauer; er verlässt die Liberale Fraktion, um dann der Zentrumsfraktion in der Stadtverordnetenversammlung beizutreten.

Wie sehr Konrad Adenauer sich mit dem Kölner Bankier verbunden fühlt, wird auch nach dem Tod des Geschäftsmannes 1932 noch einmal sehr deutlich. Am 30. September kommt dem Handelskammerpräsidenten die Ehre zu, die neue Handelskammer und Kölner Börse einzuweihen. Am Abend dieses ereignisreichen Tages erleidet er einen Schlaganfall, an dessen Folgen er am 1. Oktober verstirbt. Sein Freund Konrad Adenauer ist es, der am 4. Oktober die Trauerrede zu seinen Ehren hält.

Auch der Nachfolger von Louis Hagen als Präsident der Kammer ist ein weiterer enger Wegbegleiter und Freund Konrad Adenauers: Paul Silverberg. Neben Hagen und Falk ist er der »Dritte« im Bunde derjenigen mit jüdischer Herkunft, die Adenauer schätzen, unterstützen und fördern.

Paul Silverberg entstammt einer traditionsreichen jüdischen Familie, konvertierte aber 1895 zum protestantischen Glauben. Konrad Adenauer lernt der Jurist vermutlich schon während der gemeinsamen Referendarzeit, spätestens aber 1903 kennen, als beide beim Kölner Oberlandesgericht Anwaltskollegen sind.

Silverberg, der in den väterlichen Bergbaubetrieb einsteigt, ist entscheidend an der Gründung des bis heute bestehenden Bergbauriesen RAG beteiligt und steht dem Unternehmen lange vor. Er erarbeitet sich den Ruf, der »Beherrscher der Braunkohle«11 zu sein. In der Tat ist er nicht allein die prägende Figur des rheinischen Braunkohlereviers, sondern auch einer der einflussreichsten Unternehmer der Weimarer Republik insgesamt. Er ist an der Sanierung des Stinnes-Konzerns ebenso wie an jener von Hapag und Lloyd beteiligt. Die Reichsbahn und die Deutsche Bank werden von ihm beraten.

Aber auch die Politik vertraut auf seinen Rat. Neben Konrad Adenauer, der in engem Kontakt mit ihm steht, ist das vor allem Reichskanzler Heinrich Brüning, der ihn 1931 gar zum Verkehrsminister machen will, an seinen ambitionierten Bedingungen jedoch scheitert.

In der Zeit, in der sich die Weimarer Republik ihrem Ende zuneigt, nähert sich Paul Silverberg dem politischen Spektrum am rechten Rand an. Über Gregor Strasser lässt er der NSDAP eine Geldspende zukommen, mit dem Ziel, so die Partei wirtschaftsfreundlicher zu stimmen. Zu den zahlreichen Befürwortern einer Regierungsbeteiligung der NSDAP in der Zeit vor der Machtergreifung zählt Paul Silverberg allerdings niemals. Eine Tatsache, die dem bis heute vor allem in links- wie rechtsradikalen Kreisen genährten Klischee vom »jüdischen Förderer« und Anhänger Adolf Hitlers deutlich widerspricht.

Vermutlich Ende 1933, spätestens aber Anfang 1934 emigriert Silverberg nach Lugano in die Schweiz. 1936 wird er Staatsbürger des Fürstentums Liechtenstein, wo er den Krieg überlebt. Die Verbindung mit Paul Silverberg ist so eng, dass Konrad Adenauer nach dem Krieg darauf drängt, dass er an die Spitze der RAG zurückkehrt. Silverberg lehnt das ab, erfährt aber zahlreiche Ehrungen in seiner Heimatstadt Köln. 1951 wird er anlässlich seines 75. Geburtstages zum Ehrenpräsidenten der Industrie- und Handelskammer Köln wie auch des Bundesverbandes der Deutschen Industrie ernannt. Mit Konrad Adenauer unterhält er in der Nachkriegszeit bis zu seinem Tod einen engen Kontakt, der sich in ihren vielen Briefen12 manifestiert.

Von ganz besonderer Bedeutung ist allerdings die freundschaftliche ­Beziehung, die Konrad Adenauer zu Dannie N. Heineman pflegt. Das lässt sich an vielen persönlichen Begegnungen und an dem intensiven Briefwechsel der beiden Herren ablesen, der – insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus – auch sehr persönliche Fragen des Politikers behandelt13. Wenn es später um Adenauers Kontakte zu den Juden geht, fällt kein Name so oft wie der Heinemans. Schon 1907 wird Konrad Adenauer mit dem »besessenen Techniker«14, wie Hans-Peter Schwarz ihn nennt, bekannt gemacht. Daraus entwickelt sich bis zum Tod Heinemans 1962 eine der engsten Freundschaften, die Adenauer im Verlaufe seines langen Lebens gepflegt hat.

Dannie Heineman wird als Kind jüdischer Auswanderer aus Deutschland in den Vereinigten Staaten geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters kehrt seine Mutter mit ihrem Sohn nach Deutschland zurück. Heineman absolviert ein Studium der Elektrotechnik, erhält dann eine Anstellung bei der Union Elektricitäts-Gesellschaft, die später mit der AEG fusionieren wird. Die AEG verlässt er 1905 und tritt in Brüssel in die Société Financière de Transports et d’ Entreprises Industrielles ein, wo er anfangs einer von drei Angestellten ist. Bei seinem Ausscheiden als Präsident hat die Beteiligungsgesellschaft 40.000 Angestellte.

Hans-Peter Schwarz verweist auf Zeitgenossen Heinemans, die den quirligen, eigensinnigen, fantasievollen Finanzier als hochgebildeten Mann »mit vielseitigem Wesen, weit entwickeltem sozialen Interesse und einer Passion für die Kunst«15 betrachten, mit dem aber auch nicht »gut Kirschen essen«16 ist: »Im Verkehr mit Bankiers, die sein technisch geschulter Geist mehr oder weniger als Tunichtgute ansah, war er ein Sadist.«17 Mit großer Zielstrebigkeit wird er zu einem entscheidenden »Macher«18 und Visionär im kommunalen Nahverkehrsbereich und im Schienenfernverkehr, in der Chemieindustrie und dem Kraftwerksbau.

Dass Heineman, der zeitlebens einen kritischen Blick auf Politiker pflegt und dabei dem Motto »Die Wirtschaft baut auf, die Politik sorgt für Unordnung«19 viel Zustimmung schenkt, einen besonders intensiven Kontakt mit Adenauer aufbaut, mag daran liegen, dass Konrad Adenauer sich schnell als eher unkonventioneller und ungewöhnlich zupackender Politiker erweist.

Adenauer kann früh von dem Netzwerk des umtriebigen Unternehmers profitieren, der »Gott und die Welt« kennt – vom belgischen König Leopold III. über Walther Rathenau bis zu dem Komponisten Richard Strauss, dem Dichter Gerhart Hauptmann und dem Maler Henri de Toulouse-­Lautrec, um nur einige wenige zu nennen. Zu diesem erlauchten Bekanntenkreis Heinemans gehört auch der Zionist Chaim Weizmann, mit dem er 1936 zusammentrifft. Mit seinen ausgezeichneten Kontakten zu den Regierungen Europas gelingt es Heineman 1939, die Regierung Luxemburgs davon zu überzeugen, etwa 100 jüdische Familien über die Grenzen ins Land zu lassen; Heineman verbindet sein Anliegen mit der Zusage, selbst für den Unterhalt der Geflüchteten zu sorgen. Dann muss er nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien 1940 selbst fliehen und siedelt in die USA über. Nach dem Krieg unterstützt er als Förderer des Weizmann-Institutes Adenauer maßgeblich dabei, die deutsch-israelische Wissenschaftskooperation zu etablieren.

7 Siehe: Stehkämper, Adenauer; Schulz, Adenauer; Frielingsdorf, Adenauers.

8 Schwarz, Adenauer, Bd. 1, S. 327.

9 Siehe: Schwarz, Adenauer, Bd. 1; Köhler, Adenauer Rheinische; Schlemmer, »Los von Berlin«.

10 Schwarz, Adenauer, Bd. 1, S. 171.

11 Gehlen, Silverberg, S. 107.

12 Schulz: Adenauer, S. 41–42, 96, 199f., 239, 305f., 319f.

13 Schwarz, Dannie N. Heineman und Konrad Adenauer im Dialog (1907–1962); Schulz: Adenauer, S. 41, 99, 110, 292, 297–299, 306f., 320.

14 Schwarz, Adenauer, Bd. 1, S. 183.

15 Zitiert nach: Schwarz, Adenauer, Bd. 1, S. 183.

16 Ebd.

17 Ebd.

18 Ebd.

19 Ebd.

Adenauer und der Zionismus – ein »rheinisch-katholischer Zionist«?

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass diese sattsam bekannten Verknüpfungen Adenauers mit diesen maßgeblichen Persönlichkeiten noch keinen umfassenden Blick auf seine Beziehungen zum Judentum insgesamt zulassen. Das ist insofern zutreffend, als sich alle vier eher der Elite der Stadt Köln zugehörig fühlen, als dass sie sich über ihre jüdischen Wurzeln definieren. So sehr die Weimarer Republik einerseits der Höhepunkt der Assimilierung von Juden ist, was in den Biografien dieser Männer zum Ausdruck kommt, so sehr ist sie aber auch zugleich bereits eine Zeit des heraufziehenden Antisemitismus. Und es gehörte durchaus während des Erstarkens der Nationalsozialisten eine gewisse Portion Mut dazu, sich zur Freundschaft zu diesen Menschen zu bekennen, die in der Wahrnehmung ihrer Gegner noch immer Juden waren. Spannender noch sind freilich die darüber hinaus gehenden Beziehungen Adenauers zum Judentum, vor allem aber die Tatsache, dass ihn die zionistische Bewegung, die in der Weimarer Republik durchaus viele Sympathisanten auch unter den nichtjüdischen Prominenten findet, bald erfasst.

Die Ursprünge dieser Sympathie für den Zionismus verortet Adenauer selbst allerdings schon in seinen Jugendtagen. Nach seiner Rückkehr aus Israel 1966 blickt der Kölner auf diese Zeit zurück: Die zionistische Bewegung habe ihn schon seit der Unterprima lebhaft beschäftigt: »Ich habe deswegen auch das Hebraicum gemacht und autodidaktisch Jiddisch gelernt, um die Quellen lesen zu können.[...] Mit der älteren zionistischen Führergeneration bin ich mein ganzes Leben lang eng verbunden gewesen.«20 Einem Journalisten vertraut er sogar an, er habe im Gymnasium auch ein wenig Iwrit – also Neuhebräisch – gelernt, was aber möglicherweise eine Projektion ist, denn zur Zeit seines Abiturs hatte der Vater dieser aktualisierten Form des alten Hebräisch, Elieser Ben-Jehuda, die Arbeiten an seinem umfassenden Wörterbuch eben erst begonnen. Als ihm 1952, nach dem erfolgreichen Abschluss des Wiedergutmachungsabkommens, eine wertvolle Bibel geschenkt wird, rezitiert er aus dem Stegreif die Anfangssätze eines Psalms in Hebräisch.

Tatsächlich spielt das Gymnasium eine Schlüsselrolle. Der schon genannte Bernhard Falk hat so wie Konrad Adenauer das Apostelgymnasium besucht und beschreibt rückblickend eindrucksvoll, wie sehr ihn das Miteinander von jüdischen und christlichen Schülern an dieser Schule geprägt habe: »Eine so echte und ernste Toleranz gegenüber Andersgläubigen«21 habe er in seinem Leben nur dort kennengelernt. Das hat auch auf das Weltbild Adenauers Auswirkungen, der bereits zu Schulzeiten Gelegenheit hat, offen mit Mitschülern über die jüdische Religion zu sprechen.

In Köln ist die zionistische Bewegung auch dank des hier ansässigen und sehr angesehenen Industrieanwaltes Max Bodenheimer ganz besonders aktiv und eine der führenden Sektionen im gesamten Deutschen Reich. Der Vorsitzende der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, Kurt Blumenfeld, schreibt im November 1926 an Konrad Adenauer und legt ihm nahe, sich der zionistischen Bewegung anzuschließen.22

1927 wird Adenauer tatsächlich Mitglied des deutschen Komitees »Pro Palästina« und bald der Vorsitzende des Festkomitees des Vereines, dem Männer mit so klingenden Namen wie Martin Buber, aber auch als Präsidiumsmitglied der große Rabbiner Leo Baeck angehören. Der katholische Priester und langjährige Vorsitzende der Zentrumspartei, Ludwig Kaas, hatte ihn zusammen mit dem früheren Reichskanzler Joseph Wirth, ebenfalls Zentrumspolitiker, zuvor für das Komitee vorgeschlagen und damit die Aufforderung Blumenfelds an den Oberbürgermeister erst in Gang gebracht. »Im Übrigen bekenne ich mich, wenn auch einigermaßen klopfenden Herzens, schuldig, die Anregung, Sie um Ihren Beitritt zu bitten, selbst gegeben zu haben«23, bekennt der Geistliche kleinlaut auf Nachfrage Adenauers.

Hans Peter Mensing weist darauf hin, dass dieses Engagement für die zionistische Bewegung und der Einsatz für die Arbeit des Komitees alles andere als Selbstverständlichkeiten sind, und gibt als Indiz gewaltsame Übergriffe an, die lange vor der Machtergreifung auch in Köln gegen Juden geschehen.24 Im März 1927 wird das Wahllokal der jüdischen Gemeinde angegriffen. Mehrere Kölner Juden werden verletzt.

Schon am 22. November 1927 schreibt Adenauer, inzwischen Mitglied des Vereins, aus Anlass einer Tagung des Komitees in Köln einen langen und ausführlichen Brief an seinen Präsidenten, Johann Heinrich Graf von Bernstorff, eine führende Figur der zionistischen Bewegung und Mitglied des Reichstages für die liberale Deutsche Demokratische Partei. Ein Brief, der auch im Hinblick auf seine spätere Israel-Politik interessant ist, weil er einiges darüber verrät, wie detailliert Adenauer über jüdisches Leben im »Heiligen Land« nachdenkt. »Ich hoffe, dass die Sympathie der Welt und die Opferbereitschaft der Judenheit die Wiederauferstehung des Landes sichern wird, der die Wiederauferstehung der alten hebräischen Sprache bereits vorangegangen ist.«25

Adenauer wäre allerdings nicht Adenauer, wenn er nicht diese Gelegenheit auch für eine sorgsam verpackte Mahnung an die zionistische Bewegung nutzen würde. Und die folgt letztlich der Lesart der »Balfour-Erklärung«26, mit der die britische Regierung im November 1917 ihr »Einverständnis« mit dem Aufbau einer »Heimstatt der Juden«27 in Palästina gibt, bei dem die Rechte der nicht-jüdischen Bevölkerungsgruppen ausdrücklich nicht eingeschränkt werden sollen: Bei den zionistischen Bestrebungen am historischen Ort, so Adenauer, handele es sich »um ein Werk des Friedens, das ohne chauvinistische Übertreibungen, ohne Beeinträchtigung der Rechte anderer Religionen, denen Palästina gleichfalls heiliges Land ist, und sicherlich ohne Beeinträchtigung der wirtschaftlichen und politischen Stellung der nichtjüdischen Bevölkerung Palästinas durchgeführt wird.«28 Ein kaum versteckter Hinweis, dass er – ähnlich wie sein Fürsprecher im Komitee, Prälat Kaas – nicht an die Errichtung eines Judenstaates denkt, sondern zunächst an eine Heimstatt für das jüdische Volk.

Seinen Brief an den Präsidenten garniert der Kölner Oberbürgermeister im Übrigen mit einem Hinweis, aus dem lokalpatriotischer Stolz »tropft«, dass nämlich die Stadt Köln eine der Städte ist, aus denen der Zionismus überhaupt erst hervorgegangen sei: Auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Deutz sei Moses Heß begraben, einer der geistigen Urheber des Zionismus, der mit seinem Werk »Rom und Jerusalem«29 Impulse für die Suche nach einer Heimstatt der Juden im Heiligen Land gegeben hat.

Die letzten Zeilen dieses denkwürdigen Briefes von Adenauer, in dem gar der jüdische Grundsatz »Tikkun Olam«, was so viel heißt wie »Heilung der Welt«, durchscheint, könnten fast aus der Feder von David Ben-Gurion stammen: »Wir verstehen, dass mit Jerusalem und Palästina jüdische Bestrebungen verbunden sind, die nicht nur für die jüdische Welt Bedeutung haben werden. Die mit der Scholle verbundenen jüdischen Bauern und Arbeiter sollen nach unserem Wunsch ihr Leben so gestalten, dass sie im Orient als ein Element friedlichen Aufbaus wirken und zur kulturellen Hebung jener Länder beitragen.«30

In diesem Zusammenhang stellt der Adenauer-Experte Hans Peter Mensing eine interessante Spekulation an. Auch wenn der letzte Nachweis fehlt, so glaubt Mensing, dass ein solches Plädoyer für den Zionismus wie der Brief Adenauers an den Grafen von Bernstorff auch international Beachtung gefunden habe und dass anzunehmen sei, dass gerade auch ein solches Dokument dem Bild der Juden von Konrad Adenauer bereits vor seiner Zeit als erster Bundeskanzler Umrisse verliehen hat.31 Das könnte sehr wahrscheinlich auch David Ben-Gurion gelten, der sich in diesen Jahren vor der Machtergreifung mehrfach in Deutschland aufhält, ganz konkret 1930 zur Teilnahme an der Internationalen Konferenz der »Liga für das arbeitende Eretz Israel« in Berlin.

Als ein stichhaltiges Indiz für diese These wertet Mensing die Worte, die Ben-Gurion gegenüber dem damaligen Kanzler der großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, im Rahmen der Trauerfeierlichkeiten nach Adenauers Tod findet und in denen er unterstreicht, dass »die Verdienste Adenauers beim materiellen Aufbau und der moralischen Unterstützung seines Volkes«32 nicht hoch genug einzuschätzen seien: »Schon bevor er mit ihm zusammengetroffen sei, habe er in Adenauer eine außergewöhnliche Persönlichkeit gesehen«33. Mensing hält es für vorstellbar, dass diese Einschätzung schon auf ersten Informationen in der Weimarer Zeit beruht und Ben-Gurion nicht erst nach dem Krieg auf den Namen Adenauer gestoßen ist.34

Tatsächlich könnte man angesichts seines hohen Interesses auf die abenteuerliche Idee kommen, dass Adenauer zu dieser Zeit so etwas Ähnliches ist wie ein »rheinisch-katholischer Zionist«, der ganz bewusst die eigene Religiosität in eine Beziehung zum jüdischen Glauben setzt. Damit steht er nicht allein. Gerade bei engagierten Katholiken – es war der katholische Prälat Kaas, der ihn für das Palästina-Engagement gewonnen hat – gibt es neben einigen antisemitischen Einstellungen durchaus namhafte Sympathie für die zionistische Bewegung. Antisemiten war der Zionismus als Perspektive, die Juden »elegant« loszuwerden, durchaus auch willkommen, in Adenauers Umfeld aber entspringt die Zuneigung ehrlichem Interesse.

Bei Licht betrachtet gibt es in dieser Zeit, in grober Zuspitzung formuliert, zwei Tendenzen im Katholizismus, wenn es um die Beziehungen zum Judentum geht: Die eine darf man vielleicht als »Karfreitagskatholizismus« bezeichnen, der den Juden den Vorwurf machte, Jesus ans Kreuz geschlagen und in der Figur von Judas verraten und an seine Häscher ausgeliefert zu haben. Diese antijüdische Haltung wird in der Geschichte der problematischen Karfreitagsfürbitte, die auf das sechste Jahrhundert zurückgeht und die über viele Jahrhunderte als fester Bestandteil der Liturgie für die Umkehr der »treulosen« Juden gebetet hat, geradezu schmerzhaft offensichtlich.

Auf der anderen Seite stehen die »Osternachtskatholiken«. Mit der Osternacht, in der die zentralen jüdischen Erzählungen der Bibel in bis zu sechs alttestamentarischen Lesungen vorgetragen werden und in der die Auferstehung und Identifizierung Jesu mit dem erwarteten Messias lediglich durch zwei neutestamentarische Lesungen dokumentiert werden, unterstreicht die liturgische Tradition, dass das Christentum ohne die jüdische Identität von Jesus Christus unvorstellbar ist, ja, dass eine Kirche, die antijüdisch handelt, einen Widerspruch in sich selbst darstellt. Der Katholik Konrad Adenauer und einige seiner Parteifreunde im Zentrum vertreten unbestreitbar die zweite Tendenz.

Dass diese offensichtliche Sympathie für das Judentum bei Adenauer nicht einmal gegen das Konfessionell-Katholische ausgespielt werden kann, sondern für sich steht, kommt in einer anderen kleinen Episode zum Tragen, die Jürgen Court in einem Beitrag über die Hochschulpolitik Adenauers hervorgehoben hat. Da die Hochschule in Köln zur damaligen Zeit auch in kommunaler Trägerschaft ist, hat der Oberbürgermeister über das Kuratorium der Universität, dem Adenauer vorsteht, auch auf Berufungen von Professoren erheblichen Einfluss. Diesen weiß der machtbewusste Kommunalpolitiker Adenauer freilich zu nutzen. 1930 wirft die Kölnische Volkszeitung, ein Blatt, das dem Zentrum eigentlich nahesteht, Konrad Adenauer vor, er trage maßgeblich dazu bei, dass die Universität Köln jüdische Professoren gegenüber katholischen bevorzuge. Diesem Vorwurf war vorangegangen, dass sich Konrad Adenauer sehr für die Berufung des Romanisten Leo Spitzer nach Köln stark gemacht hatte, der jüdischer Herkunft war.

Der Wissenschaftler Emil Gamillscheg, bei einem anderen Verfahren unterlegener Konkurrent Spitzers und in diesem Berufungsverfahren an die Universität Köln pikanterweise als Gutachter eingesetzt, schreibt Adenauer im November 1927 und appelliert besonders an das »konfessionelle Gewissen« des Kölner Politikers mit der ausdrücklichen Bitte, den katholischen Kandidaten Emil Winkler vorzuziehen: »Die zwei mit Winkler in den Vorschlag aufgenommenen Kandidaten, der Marburger Ordinarius Leo Spitzer und der Münchner Extraordinarius Eugen Lerch sind beide getaufte Juden und ich glaube schon deshalb nicht, dass diese Wahl für die katholische Universität Köln eine besonders günstige ist.«35 Abgesehen davon, dass Lerch nachweislich keine jüdische Herkunft hatte, war der Versuch, die jüdische gegen die katholische Herkunft auszuspielen, gleichermaßen antisemitisch und perfide. Gamillschegs Ansatz war zudem sinnlos, nachdem sich Konrad Adenauer immer wieder demonstrativ an die Seite der jüdischen Bürgerinnen und Bürger gestellt hatte.

Am 28. April 1930 schließlich setzt sich Adenauer durch. »Sein« Kandidat Leo Spitzer erhält den Ruf an die Universität Köln. Freilich bleibt das eine kurze Episode und dieses Berufsverhältnis endet mit der Entlassung Spitzers durch die Nationalsozialisten 1933. Später emigriert Spitzer in die USA und wird dort Hochschullehrer an der Johns-Hopkins-Universität. Adenauer setzt sich allerdings nicht in erster Linie aufgrund der jüdischen Herkunft Spitzers für ihn ein bis an die Grenze dessen, was als »politischer Einfluss« bei einem Berufungsverfahren statthaft ist, sondern weil er von dessen Qualifikation überzeugt war.

Dennoch wird erwartungsgemäß auch dieser Einsatz Adenauers für einen jüdischstämmigen Gelehrten Gegenstand nationalsozialistischer Angriffe. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Konrad Adenauer bereits 1925 einiges daran gesetzt hatte, eine Berufung des zwar bedeutenden, aber nicht unumstrittenen Historikers Karl Alexander von Müller an die Universität Köln zu verhindern, der sich während der Weimarer Republik als erbitterter Gegner des demokratischen Systems erweist und in der Zeit nach der Machtergreifung an der »nationalsozialistischen Judenforschung« stark beteiligt und damit mehr als nur ein Mitläufer ist.

Die gleiche überkonfessionelle Haltung des Katholiken Adenauer, die den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern Kölns keine Benachteiligungen zumuten will, wird auch in den frühen Zwanzigerjahren schon offenbar, und sie zeigt, dass der Oberbürgermeister in diesen Angelegenheiten keine Angst vor den geistlichen Königsthronen hat und dafür auch den Konflikt mit dem mächtigen Kölner Erzbischof, in diesen Jahren Karl Joseph Kardinal Schulte, nicht scheut. In einem Brief an den Kölner Oberhirten wehrt sich Adenauer im Juli 1922 gegen die bischöfliche Kritik an der Bewilligung von Zuschüssen für ein Krematorium: »Ich kann auch nach wie vor nicht einsehen, woher ein Katholik das Recht nehmen soll, einem Protestanten oder Juden die Möglichkeit zu nehmen, für sich eine Bestattungsform anzuwenden, wie er sie für gut hält.«36

Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel findet sich in einem Buch von Zvi Asaria über die Juden in Köln, das zum Wiederaufbau der Synagoge an der Roonstraße 1959, jener Synagoge, die Neonazis unmittelbar nach der Eröffnung schänden, beschrieben wird: Dort ist von einem Schulhaus die Rede, das an der Kölner Lützowstraße vor dem Ersten Weltkrieg als jüdische Schule errichtet, dann aber als Lazarett genutzt wird. Asaria schreibt: »Innerhalb der städtischen Gremien offenbaren sich Neigungen, an der Stelle der jüdischen Schule eine Handelsschule in dem Neubau unterzubringen. Rektor Coblenz und ihm zur Seite der Gemeinderabbiner Dr. Frank kämpfen erfolgreich gegen derlei Absichten. Das entscheidende Wort wurde von Oberbürgermeister Dr. Adenauer gesprochen: Das Schulhaus ward seiner ursprünglichen Bestimmung übergeben.«37

Auch in seiner Stadtregierung fördert Konrad Adenauer Mitarbeiter jüdischer Herkunft. Eine wichtige Rolle spielt neben der Stadtdirektorin Hertha Kraus der Kölner ›Finanzminister‹, der Stadtdirektor und Finanzdirektor Dr. Albert Kramer, der von 1920 bis 1933 an der Seite des Oberbürgermeisters steht, also beinahe während seiner gesamten Amtszeit.

Wegen seiner jüdischen Herkunft wird Albert Kramer am 1. Mai 1933 in den Ruhestand versetzt. Danach ist er in der Kölner Synagogengemeinde und für zionistische Verbände tätig. Vor allem aber macht er sich unter den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern Kölns in dieser schwierigen Zeit als ›Devisenberater‹ für jüdische Auswanderer und damit als unverzichtbarer Emigrationshelfer einen Namen. Tragischerweise gelingt seine eigene Emigration nicht. Am 30. Oktober 1941 werden der Kölner und seine Frau Irma mit dem zweiten Kölner Deportationszug zunächst in das Ghetto Litzmannstadt/Lodz verschleppt, wo er nur ein Jahr später ums Leben kommt. Als Todesursache wird Herzschwäche vermerkt, was auch immer das in diesen Zeiten bedeuten mag. Seine Frau Irma wird 1944 von Litzmannstadt nach Auschwitz verbracht, wo sie im August 1944 ermordet wird. 2016 wird vor dem früheren Wohnhaus des Ehepaares in der Paulistraße in Anwesenheit der Oberbürgermeisterin Henriette Reker ein »Stolperstein« verlegt, der an das Leben Albert Kramers erinnert.

Insgesamt hat Adenauer einen großen Beitrag geleistet für ein gutes Miteinander von Juden und Christen in Köln. Das macht die Ansprache des Vorsitzenden der Vereinigung der ehemaligen Kölner Juden, mit denen Adenauer während seiner Israel-Reise 1966 zusammentrifft, deutlich: »Die Jahre Ihrer Kölner Tätigkeit sind uns in sehr guter Erinnerung geblieben, während der Sie als Oberbürgermeister dieser Stadt für die Belange der jüdischen Mitbürger stets großes Verständnis gezeigt haben. In dieser Epoche lebten und strebten wir miteinander und füreinander mit unseren nichtjüdischen Kölner Mitbürgern [...] und nahmen am öffentlichen Leben der Stadt teil, bis die Schreckensherrschaft all diese Gemeinschaften jäh auseinanderriß und auch dieser ehrwürdigen jüdischen Gemeinde in Köln ein jähes Ende bereitete.«38

20 Mensing, Lebensjahre, 1963‒1967, Bd. 2, S. 530.

21 Schwarz, Adenauer, Bd. 1, S. 80.

22 Schulz, Adenauer, S. 260f.

23 Ebd., S. 265f.

24 Mensing, Adenauers Beziehungen, S. 212f.

25 Schulz, Adenauer, S. 267–269, hier: S. 268.

26 Der Begriff Balfour-Erklärung geht auf den Namen des britischen Außenministers Arthur James Balfour zurück, der im November 1917 sein Einverständnis für die britische Regierung gegenüber der zionistischen Bewegung erklärte; Segev, Palästina, S. 11, 43, 51–62.

27 Siehe im englischen Original, »a national home for the Jewish people«, in: Brenner, Vom Zionismus zu Zion, S. 74.

28 Schulz, Adenauer, S. 268.

29 Heß, Rom und Jerusalem; Schulz: Adenauer, S. 267–269, hier: S. 269.

30 Schulz, Adenauer, S. 269.

31 Mensing, Adenauers Beziehungen, S. 126–129.

32 Zitiert nach: Mensing, Adenauers Beziehungen, S. 126.

33 Ebd.

34 Ebd.

35 Zitiert nach: Court, Adenauer, S. 40. Vgl. auch: Edelmann, Adenauers, S. 232–263.

36 Schulz, Adenauer Kölner Jahre, S. 241.

37 Zitiert nach: Mensing, Adenauers Beziehungen, S. 126; Asaria, Die Juden in Köln von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart.

38 Mensing, Lebensjahre, 1963‒1967, Bd. 2, S. 524.

Adenauer, der »Blutjude« – Diffamierungen durch die Nationalsozialisten

Bei Adenauers insgesamt offen zur Schau getragenen Sympathie für die zionistische Bewegung und für das Judentum an sich bleibt die nationalsozialistische Hasspropaganda nicht lange aus. Viele der besonders erbitterten Antisemiten in der NSDAP sind der festen Überzeugung, dass Adenauer selbst »jüdischen Blutes« ist, und lenken ihren Hass gezielt in diese propagandistische Richtung.

In der auch für damalige Verhältnisse bemerkenswert perfiden Hetzschrift »Juden sehen dich an« wird Konrad Adenauer unter der Rubrik »Blutjuden« in einer »Bildergalerie« mit verhetzenden Bildunterschriften präsentiert – gemeinsam mit Karl Marx, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Kurt Rosenfeld, Matthias Erzberger und vielen anderen. Konrad Adenauer steht als Letzter in der Reihe mit der Unterschrift: »Der Großprotz von Köln, ruinierte durch Verschwendung usw. Köln«.39 Die Schrift unterscheidet zwischen »Blutjuden«, »Lügenjuden«, »Betrugsjuden«, »Zersetzungsjuden«, »Kunstjuden«, »Geldjuden«. Adenauer firmiert als »Blut- und Zersetzungsjude«.40

Herausgegeben wird die Hetzschrift von einem besonders überzeugten Antisemiten: Johann von Leers, »offizieller Biograf« Hitlers, der zu einem der engsten Mitarbeiter von Joseph Goebbels innerhalb der Parteiführung der NSDAP und dann, nach der Machtergreifung, zum Historiker und ohne die erforderlichen Qualifikationen zum Lehrstuhlinhaber an der Universität Jena aufsteigt. Ein unbelehrbarer und fanatischer Antisemit, der auch nach dem Krieg in Sachen Israel und Adenauer weiter eine Rolle spielen sollte: Zunächst nach Argentinien geflüchtet, zieht er weiter nach Ägypten, wo er zum Islam konvertiert, eng mit dem Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, der schon von Hitler empfangen worden war, zusammenarbeitet sowie gegen die Westbindung und für eine »arabische Revolution« gegen die Zionisten eintritt. Hier schreibt er 1958 an den amerikanischen Faschisten Keith Thompson, mit Bezug auf die inzwischen in arabische Länder ausgewanderten Nationalsozialisten: »Lass Adenauer toben, dass anständige deutsche Patrioten nicht von jenen freiheitsliebenden arabischen Ländern an ihn oder an seine britischen und amerikanischen Bosse ausgeliefert werden.«41

Auch die Titelseite des nationalsozialistischen Hetzblattes Westdeutscher Beobachter wendet kaum weniger plakativ und drastisch als von Leers’ antijüdische Klischees auf Konrad Adenauer an. Unter der Artikelüberschrift »National unzuverlässig und antisozial!« findet sich bereits am 23. Juni 1928 eine Karikatur Adenauers, die die Gesichtszüge Adenauers ganz eindeutig mit antisemitischen Stereotypen versieht. Unter der Karikatur findet sich die bezeichnende Unterschrift: »Dr. h.c. Konrad Adenauer, Oberbürgermeister in Köln, Vorsitzender des Festkomitees des Vereins Pro Palästina«.42

Auf der Basis dieser antisemitisch aufgeladenen Hetzpropaganda schlägt dem Oberbürgermeister mit der Machtergreifung Ende Januar 1933 und nach Wochen bewunderungswürdiger Standfestigkeit gegen die Übergriffe und Rechtsbrüche der Nationalsozialisten schon bald die »letzte Stunde« im Amt.

Für Adenauer selbst, der zwischenzeitlich – wie viele andere Deutsche und wie viele bedeutende Politiker des Zentrums – der politischen Fehleinschätzung erlegen ist, mit den Nationalsozialisten könne man reden, Hitler könne eingehegt werden, und an dem, so Hans-Peter Schwarz, »die allgemeine Verwirrung der Geister im Frühjahr und Sommer 1933«43 trotz aller eindeutigen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus nicht spurlos vorübergegangen ist, bedeutet seine drohende Amtsenthebung die Zerstörung auch der letzten Illusionen über die Natur des Nationalsozialismus und die Möglichkeit, seinen Einfluss noch in irgendeiner Form abzumildern.

39 Leers, Juden sehen dich an, S. 10.

40 Ebd., Inhaltsverzeichnis, S. 9, 28, 44, 55, 61, 79, 95.

41 Zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_von_Leers.

42 Siehe: Stehkämper, Adenauer, Bildteil nach S. 464.

43 Schwarz, Adenauer, Bd. 1, S. 366.

»Recht und Verfassung gelten nichts mehr« – die Absetzung Adenauers

Bereits am 4. Februar 1933, fünf Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, wagt Adenauer eine bittere Prognose: »Wir sind mitten in einem regelrechten Umsturz, Recht und Verfassung gelten nichts mehr […].«44 Er selbst sieht sich in der Rolle des Bewahrers der Rechtsstaatlichkeit. Dreizehn Tage später, am 17. Februar 1933, kommt Adolf Hitler im Rahmen seiner Wahlkampfreise auch zu einer Kundgebung nach Köln. Anders als die anderen Oberbürgermeister der großen Städte ist Adenauer nicht bereit, den Reichskanzler am Flughafen Butzweilerhof zu begrüßen. Der komme ja schließlich nicht in seiner Regierungsfunktion, sondern als Wahlkämpfer für die Reichstagswahlen und die Kommunalwahlen nach Köln. Auch der sonst übliche Flaggenschmuck der städtischen Gebäude mit den Hakenkreuzfahnen unterbleibt. Die Rheinbeleuchtung, die bei Kanzlerbesuchen sonst gängig ist, bleibt ebenso abgeschaltet.

Bereits angebrachte Fahnen, die nachts auf den Pylonen der Rheinbrücke gehisst werden, lässt Adenauer von städtischen Mitarbeitern wieder entfernen mit dem Hinweis darauf, dass sie städtisches Eigentum seien. Eine »umwerfende Begründung«, wie sein Biograf Henning Köhler konstatiert: »In dieser Situation bewies er einen Mut, den nicht viele an seiner Stelle aufgebracht hätten.« Mit seinen klaren Entscheidungen habe er »ein deutliches Zeichen gesetzt«.45

Dem Westdeutschen Beobachter treibt Adenauer damit erneut den propagandistischen Schaum vor den Mund: Seine abgrundtiefe Abneigung gegen den Nationalsozialismus sei in diesen Handlungen zum Ausdruck gekommen. Sein Verhalten sei »unklug, kleingeistig und in höchstem Maße herausfordernd – das neue Deutschland ist gegen Herrn Adenauer entstanden und wird deshalb auch mit Herrn Adenauer restlos fertig werden!« Der Beobachter schließt mit einer offenen Drohung: »Herr Adenauer muss wissen, dass sich solche Herausforderungen in Zukunft rächen werden.«46

Der Blick auf einen anonymen Brief aus Frankfurt am Main zeigt, dass unverhohlene Todesdrohungen ausgesprochen werden. Da textet der Autor des Hetzbriefes an Adenauer holprig, aber bedrohlich: »Dieb, Verräter, Separatist. Und was Du sonst noch alles bist. An Rom verkaufst Du deutsches Recht. Gewissenslump und Pfaffenknecht. Jetzt wird’s dem deutschen Volk zu bunt; An den Laternenpfahl mit Dir, Du Schweinehund.«47

Unter dem Wahlslogan »Nieder mit Adenauer!«48 findet am 10. März 1933 auf dem Neumarkt eine Großkundgebung der NSDAP statt. Hauptredner ist der SA-Führer Prinz August Wilhelm von Preußen, der vierte Sohn des früheren Kaisers, spöttisch »Auwi« genannt, der sich von den Nationalsozialisten, wie auch zuvor bei den preußischen Landtagswahlen 1932, als »Wahlkampfmaschine« in jenen eher bürgerlichen Kreisen einspannen ließ, die den Nationalsozialisten bislang noch skeptisch gegenüberstanden.

Besonders perfide ist, dass eine gleichzeitig geplante Wahlveranstaltung des Zentrums in der Messe, die Konrad Adenauer zu einer Bilanz seiner erfolgreichen Arbeit als Oberbürgermeister nutzen will, vom Polizeipräsidenten verboten wird – mit der aberwitzigen Begründung, diese Veranstaltung gefährde die »öffentliche Ordnung«49. Die bereits vorbereitete Rede Adenauers, die eine sehr defensive Verteidigungsansprache ist, die Erfolge seiner Amtszeit herausstellt und zugleich zeigt, wie sehr Adenauer die fortlaufenden Rechtsbrüche gegen den Strich gehen, muss wieder in der Schublade verschwinden.

Am Abend des 12. März 1933 erklärt der Gauleiter Köln/Aachen, Josef Grohé, vormals Chefredakteur des Westdeutschen Beobachters, der in Stürmer-Manier immer wieder Konrad Adenauer auf das Übelste und mit antisemitisch aufgeladenen Verleumdungen wie »Judenknecht«50 persönlich verunglimpft hatte, vom Balkon des Rathauses aus den Oberbürgermeister für abgesetzt. Und er tut das letztlich als reines »Parteimitglied« und ohne jede rechtliche Grundlage. Vor dem Rathaus marschieren SA-Gruppen auf und skandieren »Adenauer an die Mauer«. Eben jener Westdeutsche Beobachter titelt zwei Tage später: »Ungeheurer Jubel Kölns über die Verjagung Adenauers«51. Darin mag, das gesteht auch Adenauer selbst ein, insofern ein Körnchen Wahrheit stecken, als auch die deutliche Agitation gegen den Kölner Politiker in den Monaten vor der Kommunalwahl nicht ohne Wirkung in der Bevölkerung geblieben sein wird.

Brenzlig wird die Lage für ihn persönlich durch die mit der Absetzung beginnende Verfolgung. Der kommissarisch eingesetzte neue Oberbürgermeister Günter Riesen von der NSDAP hat nach dem Krieg 1948 die ›Chuzpe‹, Konrad Adenauer um einen »Persilschein«52, also um eine Befürwortung seines Entnazifizierungsantrages, zu bitten. In einem Brief, auf dessen Umschlag Adenauer später lakonisch: »Verbrecherbrief«53