Einen Herzschlag entfernt - Tracie Frank Mayer - E-Book

Einen Herzschlag entfernt E-Book

Tracie Frank Mayer

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Beschreibung

Als Marc auf die Welt kam, wurde seinen Eltern gesagt, dass er seine ersten Tage nicht überleben würde. Er hatte einen schweren Herzfehler, und nur eine vorgeburtliche, direkte Verbindung zwischen Aorta und Lungenarterie hielt ihn am Leben. Diese würde sich bald schließen. Die Ärzte gaben ihn auf und sagten seiner Mutter: "Lassen Sie ihr Baby sterben". Doch die Amerikanerin Tracie Frank Mayer weigerte sich. Sie betete und kämpfte um ihren Sohn, obwohl sie kaum deutsch sprach. Und trotz aller Widerstände von Seiten der Ärzte geschah das Unglaubliche: Marc überlebte. Nun erzählt Tracie Frank Mayer ihre bewegende Geschichte.

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7381-0 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5805-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:CPI books, Leck

© der deutschen Ausgabe 2017

SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Incompatible with Nature

Copyright © 2016 by Tracie Frank Mayer

Übersetzung: Pascale Mayer

Umschlaggestaltung: SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

Titelbild und Bildteil: Privatbilder der Autorin, © Tracie Frank Mayer

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Für Marc

»Niemand, nicht einmal ein Dichter, hat jemals erfasst,wie viel das Herz ertragen kann.«Zelda Fitzgerald

Inhalt

Vorwort

1 Etwas stimmt nicht

2 Nur eine Untersuchung

3 Todesgefahr

4 Wider die Natur

5 Der Kampf beginnt

6 Erbstücke

7 Hart im Nehmen

8 Ein paar liebe Worte

9 Gib niemals auf!

10 Aussichtslos

11 Die Operation

12 Das Leben ist wundervoll

13 Stabil bleiben

14 Sorgen und Kummer

15 Überwunden?

16 Über den Schatten springen

17 Probieren geht über Studieren

18 Sch wie …

19 Wir müssen es ihm sagen

20 Für immer und ewig

21 Vertraue deinem Körper

22 Schulkind

23 Alltag im Krankenhaus

24 Hänschenklein

25 Einen Herzschlag entfernt

26 Hoffnung und Verzweiflung

27 In Boston

28 Aladdin

29 Paradies

30 Chaos korrigiert

31 Komplikationen

32 Rennen

Epilog

Danke

Die Nachwirkung

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Von Dr. med. Michael D. Freed

Während einige wichtige Organe im menschlichen Körper paarweise existieren, wie zum Beispiel Lungen und Nieren, gibt es von anderen nur ein einzelnes Exemplar, wie zum Beispiel den Magen, die Leber oder das Gehirn. Das Herz ist ein weiteres Einzelstück, und auch seine Anatomie ist einzigartig. Es besteht aus zwei durch die Herzscheidewand voneinander getrennten, im gleichen Takt schlagenden Pumpen. Zusammen bilden die beiden Hälften, jede mit ihrer eigenen Aufgabe, eine Einheit mit einer perfekt aufeinander abgestimmten Arbeitsweise. Es gibt zwei Vorhöfe (Atrien), zwei Herzkammern (Ventrikel) und zwei große Blutgefäße: Von der linken Herzkammer geht die Aorta ab und von der rechten die Lungenarterie. In der Lunge nimmt das Blut Sauerstoff auf und transportiert ihn in den linken Vorhof des Herzens. Von dort gelangt das Blut in die linke Herzkammer und wird weiter durch die Aorta in die Arterien gepumpt. Die Arterien befördern das sauerstoffreiche Blut in die Organe und von dort weiter durch feinste Kapillaren in die Zellen. Sauerstoff, Nährstoffe und Hormone werden vom Blut an die Zellen abgegeben. Kohlendioxid und andere Abbauprodukte unseres Stoffwechsels werden vom Blut aufgenommen. Über die Venen gelangt das sauerstoffarme Blut zurück ins Herz. Über den rechten Vorhof wird es in die rechte Herzkammer transportiert und in die Lunge weitergeleitet, wo es Kohlendioxid abgibt, Sauerstoff aufnimmt, und der ganze Kreislauf von vorne beginnt.

Während sich das Herz in der Gebärmutter bei 99 Prozent der Fälle völlig normal entwickelt, kommt es bei einem Prozent zu Problemen. Diese Komplikationen betreffen üblicherweise eine der vier Herzklappen, ein Loch in der Herzscheidewand zwischen den beiden Vorhöfen, ein Loch in der Trennwand zwischen den beiden Herzkammern, eine fehlerhafte Anbindung der Aorta und Lungenarterie an die Herzkammern oder eine Kombination von Schäden. Während wir einige Probleme auf bekannte Abnormitäten in den Chromosomen oder Genen zurückführen können, sind uns die Ursachen der meisten Defekte noch immer unbekannt.

Eher selten, vielleicht in einem von einhunderttausend Fällen, besteht das Problem darin, dass es nur ein Atrium, ein Ventrikel oder ein vom Herzen abgehendes Blutgefäß gibt. Durch eine gestörte Drehung der Ausflussbahn des Herzens in der Embryonalentwicklung kann es auch zu einer Verlagerung der Organe im Brust- und Bauchraum kommen. Diesen Defekt nennt man »Heterotaxie«.

In Marcs Fall bestand die Heterotaxie darin, dass alle zum Herzen zurückführenden systemischen Venen durch ein einziges gemeinsames Atrium gelangten, es nur ein einziges großes Ventrikel gab und ein einziges vom Herzen abführendes Blutgefäß, die Aorta. Die Lungenarterie, also die Schlagader, die normalerweise Blut vom Herzen zur Lunge transportiert, war bei Marc nicht mit dem Herzen verbunden. Bis in die 1970er-Jahre hinein bedeuteten solche Defekte den sicheren Tod für das Baby. Er trat normalerweise in den ersten Wochen oder Monaten ein.

1944 entwickelten der Chirurg Alfred Blalock und die Kinderärztin Helen Taussig in den USA ein Operationsverfahren, bei dem ein Ast der Unterschlüsselbeinarterie oder der gemeinsamen Halsschlagader abgetrennt und mit der Lungenarterie verbunden wurde. Durch diese künstlich angelegte Umleitung floss mehr Blut durch das Lungengewebe. Diese Prozedur war jedoch kompliziert und wurde im Falle einer Heterotaxie ohne eine weitere Korrekturoperation für nutzlos befunden.

1971 entwickelte der französische Herzchirurg Francis Fontan in Bordeaux eine neue Operationsmethode, um bei Herzfehlern mit nur einer Hauptkammer das sauerstoffarme vom sauerstoffreichen Blut zu trennen. Dabei wurden die rechte Vorkammer oder die beiden großen Körpervenen direkt mit der Lungenarterie verbunden. Mit einigen Änderungen über die letzten fünfundvierzig Jahre hinweg ist die Fontan-Operation die Methode, die heute bei entsprechenden Herzfehlern angewandt wird. Sie wurde auch bei Marc durchgeführt. Der Eingriff bedeutet zwar keine Heilung, ist aber eine wirkungsvolle Palliativoperation, die dem Patienten eine Verbesserung seiner Situation verschafft. Dadurch wird Zehntausenden von Kindern auf der ganzen Welt ein nahezu normales Leben ermöglicht.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1

Etwas stimmt nicht

Marc war relativ ruhig. Er lag auf der harten, glatten Oberfläche des Untersuchungstisches. Die beiden Druckknöpfe seines Unterhemdchens waren gelöst worden, um sein weiches Bäuchlein und seine winzige Brust zu entblößen. Ich war dankbar, dass es warm in dem kleinen Behandlungszimmer war. Ich hatte einen Stuhl so nah wie möglich an den Tisch geschoben und saß auf der Stuhlkante, um mich über Marc beugen zu können. Zärtlich streichelte ich seinen Kopf, sein Gesicht, seinen linken Arm und sein linkes Bein, da die linke Seite seines Körpers mir zugewandt war. Ich hätte seinen ganzen Körper mit Küssen übersät, wenn ich es gekonnt hätte, ohne dabei die Untersuchung zu stören. Ich flüsterte ihm zu, wie sehr ich ihn liebte, wollte ihn trösten und beruhigen.

»Alles ist gut, mein Süßer. Ja, du bist Mamas allerliebstes Schätzchen. Du bist so ein tapferer kleiner Junge. Mama und Papa haben dich so lieb. Alles ist gut.«

Seine drolligen Babylaute flatterten wie bunte Schmetterlinge durch den Raum. Dann und wann wackelte er mit seinen Beinchen und stieß sie kräftig in die Luft. Ich streichelte, küsste und knuddelte ihn, vollends verzaubert von diesem kleinen Wesen. Wie ich ihn so vor mir liegen sah, überkam mich ein unbändiges Glücksgefühl: Ich kann nicht glauben, dass das mein Baby ist. Ich liebe ihn so sehr, es ist kaum auszuhalten!

Mein Herz und meine Seele brannten vor Hingabe zu ihm. Wenn er sein Köpfchen drehte und aufmerksam um sich sah, hätte ich schwören können, dass er die Welt um sich herum ganz genau, ganz bewusst prüfte und das seltsame Ding, das da im Zickzack über seine Babybrust strich, mit einiger Neugierde wahrnahm. Dreizehn Tage war Marc alt. Ich fragte mich, wie groß seine Gedanken waren.

Seine Mandelaugen weiteten sich, wenn er den Kopf in Richtung meiner Stimme drehte. Sein kleiner Rosenknospenmund öffnete sich und suchte nach meinem Zeigefinger, mit dem ich seine Wange liebkoste. Dreizehn Tage kannten wir uns nun und sein ausgeprägter Sauginstinkt war mir wohlvertraut. Dabei hatte ich ein Bild von Marc in meiner zwölften Schwangerschaftswoche vor Augen: eine Ultraschallaufnahme, die ihn zeigt, wie er in mir schwebt, auf den Rücken gedreht, die Beinchen nach oben gereckt, an seinem Daumen nuckelnd.

Bereits vor Marcs Geburt hatte ich entschieden, dass ich ihm keinen Schnuller geben würde. Ich wollte keinen Zauberstab, der Marcs Schreie verstummen lassen sollte, kein Wundermittel für Zufriedenheit. Ich war doch für ihn da. Warum in aller Welt sollte er einen Schnuller brauchen? Mein kleiner Finger, allseits bereit, war in Position, leicht gebogen. Daran konnte er wunderbar nuckeln. Ich wusste, dass er noch nicht hungrig war, und ich war sicher, dass diese natürliche Art der Beruhigung jedwedes Unbehagen mildern würde. Was für ein Glücksgefühl: Ich war Mutter. Ich konnte Bedürfnisse erfüllen. Ich war überwältigt von der Liebe, die meinen Körper durchflutete. Und mit der Liebe kam die Sehnsucht, meinen Sohn nicht nur zu ernähren, zu versorgen, zu beschützen; nein, ich wollte alles für ihn sein.

Obwohl Babys und ihre Bedürfnisse komplettes Neuland für mich waren, spürte ich nicht die geringste Nervosität. Im Gegenteil: Mutter zu sein fühlte sich an wie das Natürlichste der Welt. Abgesehen von der Tatsache, dass Gott mich mit einem Kind gesegnet hatte, verstand ich die übergroße Freude, die mich überkam, wenn mein Baby satt, glücklich und zufrieden war, als ein Geschenk des Himmels. Ist es nicht seltsam, was wir in den verschiedenen Phasen unseres Lebens als befriedigend empfinden?

Von dem Moment an, als der Professor Marcs Unterhemdchen aufgeknöpft, das kalte Gel auf seinen kleinen Bauch geschmiert und die Ultraschallsonde vorsichtig in der glitschigen Masse hin und her bewegt hatte, war Marc ruhig geblieben. Er hatte nicht aufgemuckt, sich weder beschwert noch gewehrt. Und er hatte nicht geweint. Er faszinierte mich.

Helmut, mein Mann, saß zu meiner Linken, seine Hand auf meinem Knie. Manchmal bewegte er leicht seine Finger. Seine Berührung beruhigte mich, so wie meine Berührung ihn beruhigte und wie sie sicherlich auch Marc beruhigte. Die Hand meines Mannes auf mir, meine Hand auf unserem Sohn – eine Körperkontaktkette, deren Glieder durch Liebe miteinander verbunden waren.

Wir schauten aufmerksam zu, wie der Professor die Ultraschallsonde langsam umhergleiten ließ, wie sie den Nacken unseres Sohnes rechts und links hinauf und wieder hinunter schlich, wie sie sich den Weg über seine Brust bahnte, erst auf der linken Seite innehielt, dann auf der rechten, wie sie sich anschließend seinen Bauch entlangtastete, pausierte und wieder hoch zu seiner Brust fuhr. Links, rechts. Rauf, runter. Vor, zurück. Seite zu Seite. Langsam.

Die von der Ultraschallsonde produzierten Bilder, die sich auf dem Monitor bewegten, sagten uns nichts. Wir verstanden nur Bahnhof. Helmut umschloss meine linke Hand, die zu einer Faust verkrampft war, mit seiner rechten und zog sie zu sich. Auf seinem Schoß verweilten unsere Hände für einen Moment, bewegungslos und gespannt. Ich weiß nicht, ob ich meinen Puls klopfen spürte oder seinen. Irgendwann merkte ich, wie Helmut meine klammen Finger auseinanderfaltete, um meine Hand zu öffnen und sie mit der Innenfläche nach unten flach auf sein Hosenbein zu legen. Er drückte sie kurz und kräftig, dann tätschelte er sie zweimal, bevor er seine Hand auf meiner ruhen ließ.

Das Drücken und Tätscheln bedeutete, dass, selbst wenn er seine Hand wegzöge, ich meine ruhig liegen lassen sollte. Obwohl ich kein Deutsch konnte und Helmut sich mit Englisch abmühte, hatten wir unsere eigene Sprache. Eine bestimmte Berührung, ein Blick oder eine Bewegung sprachen Bände. Und nur wir verstanden einander. Ich betrachtete sein Gesicht von der Seite. Sofort wusste ich, dass auch er sehr angespannt war.

Vor unserer Hochzeit vor sechs Monaten – damals lebten wir noch auf zwei verschiedenen Kontinenten – hatte der bloße Gedanke an ihn meinen Puls beschleunigen lassen. Vor meinem geistigen Auge sah ich seine Augen und seinen Mund, ja, sein ganzes Wesen lächeln. Immer. Aber jetzt schienen seine Lippen nur ein schmaler Einschnitt in einem starren, ernüchterten Gesicht zu sein. Sein Kiefer schob sich hin und her, als würde er mit den Zähnen knirschen. Zähne zusammenbeißen. Locker lassen. Zähne zusammenbeißen. Locker lassen. So hatte ich ihn noch nie gesehen, und es gefiel mir nicht. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Warum dauerte das hier so lange?

Erwartungsvoll sah ich den Professor an. Zum Greifen nah saß er mir direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Untersuchungstisches.

»Ist das Ihr erstes Baby? Was hat Sie denn von Amerika den ganzen Weg nach Deutschland verschlagen? Oh, verstehe! Na, das nenn ich mal wahre Liebe. Und seit wann leben Sie jetzt schon hier? Aha … na ja, ich spreche ein kleines bisschen Englisch, aber Deutsch ist mir natürlich lieber … Unterscheidet sich das Leben in Deutschland sehr vom Leben in Amerika? Aus welcher Stadt kommen Sie denn eigentlich? Heute ist wirklich ein schöner Tag, finden Sie nicht auch? Machen Sie sich keine Sorgen. Die Untersuchung tut Ihrem Kleinen nicht weh.«

Dieses nette Geplauder fand nur in meinem Kopf statt. Sein kantiges Profil blieb starr, wie in Stein gemeißelt. Nicht der geringste Laut kam ihm über die Lippen. Nicht einmal ein »Kuckuck« für unseren Sohn. Der Professor wirkte zu abgebrüht, um sich zu räuspern. Er zog sein Ding durch und navigierte beharrlich die Ultraschallsonde umher. Seine Augen wandte er nur kurz vom Monitor ab, um die Position seiner Hand zu überprüfen. Ansonsten blieb sein Blick auf den Bildschirm fixiert.

Am liebsten hätte ich mich über den Tisch gelehnt, meine Hand nach ihm ausgestreckt, ihm an die Schulter gestupst und gefragt: »Herr Doktor, wonach genau halten Sie eigentlich Ausschau? Wie oft haben Sie so eine Untersuchung schon gemacht? Warum dauert das so lange? Kann uns mal jemand sagen – irgendjemand –, weshalb wir überhaupt hier sind? Werden alle deutschen Babys so untersucht? Ist das weltweit die gleiche Prozedur? Sind Sie jetzt fertig? Was bedeutet der kleine Punkt, der da auf dem Bildschirm rumspringt?«

Aber ich traute mich nicht. Er hatte eine undurchlässige Aura. Unzugänglich. Distanziert. Ein Granitbrocken. Vielleicht war es sein Titel, der mich abschreckte. Vielleicht sollte man Professoren nicht ansprechen, bevor sie einen ansprachen. Vielleicht war es sein blendend weißer Doktorkittel. Plötzlich machte ich mir so meine Gedanken über korrekte Umgangsformen zwischen Ärzten und Patienten. Gab es dafür eine Knigge-Regel? Wie lief das? Sollte ich mit meinen Fragen bis nach der Untersuchung warten? Wäre es unhöflich, mittendrin nach Erklärungen zu fragen? Würde ihn das stören? Ihn reizen? Ärgern? Und dann war da ja noch die Sprachbarriere. Ich wusste nicht, ob er Englisch verstand. Und wenn nicht, dann war es das »Hab ich ihn verstanden? Hat sie mich verstanden? Hab ich sie verstanden? Hat er mich verstanden?« nicht wert, weil abgehacktes Englisch und fragmentiertes Deutsch eher zu Kopfschmerzen als gegenseitigem Verständnis führen würden. Ich hatte keine Lust auf Deutsch-Akrobatik. Stattdessen sagte ich mir: Lass ihn weiter sein Ding machen. Lange kann’s ja nicht mehr dauern. Er wird dir sowieso sagen, dass alles okay ist. Also lass ihn in Ruhe. Dann wird er schneller fertig, wir können endlich zusammenpacken und kommen hier raus.

Er redete mir kein einziges Mal gut zu, sagte mir nicht, dass ich mich entspannen könne. Also tat ich es auch nicht. Ich konnte nicht. Im Hinterkopf schwirrte permanent der Gedanke umher, dass jemand ja nicht grundlos ins Krankenhaus überwiesen wird. Aber leider hatte ich keine Ahnung, weshalb wir hierhergeschickt worden waren. Ich war mir ganz sicher, dass mit unserem Baby alles in Ordnung war. Also, was war los? Gab es denn keine Kissen für diese unbequemen Stühle?

Dreißig Minuten waren vergangen. Eine Ewigkeit. Niemand hatte ein Wort gesagt, und ich wurde dieser Sache mehr und mehr überdrüssig. Abgesehen von Marcs süßen Babylauten und meinem Mama-Geflüster lag eine unheimliche Stille über dem Raum, die keinen Hinweis auf den Vulkanausbruch gab, der kurz bevorstand. Der Professor bewegte noch immer die Ultraschallsonde.

Dann, endlich, ohne seine Augen vom Bildschirm abzuwenden, brach er sein Schweigen und sagte in dieser Sprache, die für meine Ohren immer noch sehr hart klang: »Was ich sehe, ist leider nicht gut.«

Helmut schlug die Hände vor dem Kopf zusammen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, als er einen verzweifelten Seufzer ausstieß und auf seinem Stuhl regelrecht zusammenfiel. Ich richtete mich stocksteif auf. Ein unbeschreibliches Gefühl von Angst packte mich mit solcher Wucht, dass es mir fast den Atem verschlug. Blindlings krallte ich mich mit einer Hand in Helmuts Jackenärmel, während ich mich mit der anderen an Marc festklammerte. Ich brachte nur ein Flüstern hervor. Meine Stimme war so rau, als hätte etwas meine Stimmbänder versengt.

»Was hat er gesagt, Helmut?«

Obwohl er nur kurz zögerte, schien eine Ewigkeit zu vergehen, bevor er mir antwortete. Von dort, wo er saß, konnte er das Gesicht des Professors nicht wirklich sehen. Ich aber. Ich musste mich nur etwas nach rechts lehnen und meinen Hals strecken, um über Helmuts Schulter zu sehen. Das Gesicht des Professors befand sich in stabilem Gleichgewicht. Es war nur ein Moment. Vielleicht wartete Helmut darauf, dass der Professor sagen würde, er habe sich geirrt und wir könnten wieder aufatmen. Vielleicht traute Helmut einfach nicht seinen Ohren oder er dachte, er hätte den Professor missverstanden. Der Professor bewegte die Ultraschallsonde weiter.

Die Stuhlbeine kratzten auf dem Boden, als ich aufsprang. Ich ließ Helmuts Arm los und packte ihn an der Schulter. Die Kette zwischen meinem Mann, mir und meinem Sohn durfte nicht reißen. Panik befiel mich, und ich versuchte, die blendenden Lichtblitze wegzublinzeln, die meine Sicht verzerrten. Die Wände um mich herum rückten näher. Ich musste Ruhe bewahren. Es gab eine Erklärung. Alles würde sich aufklären. Ich war gefangen in diesem plötzlichen Anflug von brennendem Terror, der mir die Eingeweide herauszureißen schien und mich kraftlos machte. Selbst wenn ich es gewollt hätte: Ich konnte einfach nicht schreien. Kalter Schweiß unter meinen Achseln. Das Ende meiner Welt nahte, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich war wehrlos gegen das »Was ich sehe, ist leider nicht gut«, das in meinen Ohren widerhallte.

Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber Helmuts Reaktion brachte mich aus dem Gleichgewicht. Ich war vor Angst von Sinnen. Ich konnte mich hören, wie ich zu atmen versuchte. Fast zerriss ich den Ärmel seiner Lederjacke. Bei dem Versuch, mich zu beherrschen, brach meine Stimme.

»Was hat er gesagt, Helmut?« Ich spürte, wie der Professor mich ansah.

»Spricht Ihre Frau Deutsch?«

Helmut schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er.

Seine linke Hand stützte seinen Kopf, sein Ellbogen stützte sich auf den Untersuchungstisch. Mit seiner freien Hand griff er nach meiner. Er drehte sich um, sah zu mir auf, und ich konnte sehen, wie Tränen seine Augen füllten. Er zuckte zusammen, bevor er zu sprechen begann, und als er endlich anhob, klang seine Stimme, als gehörte sie einem anderen.

»Something’s wrong«, flüsterte er. »Etwas stimmt nicht.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2

Nur eine Untersuchung

Wir waren pünktlich zu unserem Elf-Uhr-Termin in der Abteilung für Kinderkardiologie der Uniklinik Köln angekommen. Es war Donnerstag, der 13. Dezember 1984.

Die Glasschiebetüren am Haupteingang zum Herzzentrum öffneten sich automatisch, als wir uns auf sie zubewegten. Helmut führte uns zu einem Schild, auf dem »Anmeldung« stand. Als wir vor dem Glasfenster standen, grüßte er die Dame dahinter, griff in seine Brusttasche und zog einen Brief heraus, den wir vom Evangelischen Krankenhaus Köln-Weyertal bekommen hatten, wo unser Sohn die Schwelle von meinem Becken in meine Arme überschritten hatte. Die Dame betrachtete das Dokument und erklärte uns, wo wir hinmussten.

Helmut hielt eine Seite von Marcs Babytragetasche, ich hielt die andere, und so stiegen wir gemeinsam die Treppe in den ersten Stock hinauf. Von dem Moment an, als wir uns ineinander verloren hatten, war unser Rhythmus derselbe gewesen. Immer synchron. Selbst als wir diese Treppe hinaufstiegen, nahmen unsere Füße jede Stufe in absolutem Gleichklang. Rechts, links, rechts, links, rechts, links. Als wir oben angekommen waren, sahen wir bereits die Tür, auf der in großen schwarzen Blockbuchstaben »Kinderkardiologie« stand. Helmut drückte sie auf, und dahinter befand sich ein gut ausgeleuchtetes Wartezimmer. Er übergab mir seine Schlaufe der Tragetasche.

»Setz dich, Schatz. Ich sage Bescheid, dass wir hier sind.«

Weil ich kein Deutsch konnte, wollte ich lieber von niemandem angesprochen werden. Also suchte ich mir ein ruhiges, unbesetztes Eckchen im Wartezimmer. Ich küsste Marc und wiegte ihn sanft in meinen Armen. Um ihn vor Zugluft zu schützen, die sich ihren Weg vielleicht in dieses Zimmer bahnen könnte, nahm ich die regenbogenfarbene Decke, die Tante Audrey gehäkelt hatte, aus der Tragetasche und drapierte sie über Marcs Beine. Die Decke war dünn und leicht und gleichzeitig leistete sie genau das rechte Maß an Schutz und Wärme. Ihre farbenfrohe Heiterkeit stand in krassem Gegensatz zu der gedrückten Stimmung, die im Wartezimmer herrschte. Unbehagen umhüllte mich. Was in aller Welt sollten wir hier? Langsam kroch der beißende Geruch von Chemikalien in meine Nase. Ich malte mir aus, was es sein könnte: eine ziemlich verwirrende Mischung aus Desinfektionsmittel, Butterbrötchen, Kaffee, Reinigungsalkohol und sterilen Nadeln. Ein Angst einflößender Geruch – und doch irgendwie passend für diesen Ort.

Obwohl vereinzelt selbst gemalte Kinderbilder an den weißen Wänden hingen, fühlte es sich überhaupt nicht nach einem kinderfreundlichen Ort an. Postergroße Ankündigungen von bevorstehenden Veranstaltungen im Krankenhaus schmückten das Zimmer. Jedes Mal, wenn ich einatmete, wallte etwas in meinem Magen auf. Außer der Erholungsphase nach Marcs Geburt hatte ich noch nie in meinem Leben Zeit in einem Krankenhaus verbracht. Ich hatte absolut keine Ahnung, was mich hier erwarten würde.

Helmut kam zurück, schloss die Tür hinter sich und kam auf uns zu. Gott sei Dank. »Ist das normal, Helmut? Ich meine, ist das bei allen Eltern in Deutschland so, wenn sie gerade ein Kind bekommen haben?«, fragte ich.

Ich wusste, dass er sich auch nicht besser auskannte als ich. Aber ich musste ihn fragen, nur um etwas zu sagen, um eine verbale Verbindung herzustellen und die nervliche Anspannung zu lösen. Meine Aufmerksamkeit war zu zwei älteren Kindern gewandert. Sie saßen an einem kleinen Holztisch in einer Spielzone in der Mitte des Wartezimmers und beschäftigten sich mit den wenigen Büchern und Spielsachen, die es hier gab. Die beiden waren ziemlich laut und in meinem angespannten Zustand wurde mir das alles zu viel. Außerdem störte es mich, dass ihre Eltern nichts unternahmen, damit die beiden etwas leiser waren.

Ich dachte genervt: Warum sagen diese Leute ihren Kindern nicht mal, dass sie leise sein sollen? Sie sind doch groß genug, um zu wissen, wie man sich in der Öffentlichkeit benehmen sollte, auch wenn sie am Kinderspieltisch sitzen.

Dann rief ich mich selbst zur Ruhe.

Komm runter! Beruhige dich. Beruhige. Dich. Du bist nur nervös, weil du nicht weißt, was los ist. Du verstehst es nicht, was auch immer es ist. Ganz sicher ist es einfach nur Routine. Eine Untersuchung, die jeder mit einem neugeborenen Baby machen muss. Die machen das bestimmt überall so, auf der ganzen Welt. Was weiß denn ich?! Es hilft nicht gerade, dass Helmut keine Ahnung hat, warum der Stationsarzt vom Weyertal-Krankenhaus uns hierhergeschickt hat – obwohl er das wissen sollte, es ist schließlich sein Land, verflixt noch mal!

In Gedanken versunken hatte ich gar nicht bemerkt, wie Helmut sich auf seinem Stuhl gedreht hatte, sodass er bequem seinen Arm um mich legen konnte. Er drückte meine Schulter und sagte lächelnd: »Keine Ahnung, mein Schatz. Ich hatte noch nie ein Baby. Aber mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher, dass alles okay ist. Wenn etwas nicht stimmen würde, hätte uns das schon jemand gesagt. Du warst schließlich zwölf Tage im Krankenhaus mit Marc und vor der Geburt hattest du alle möglichen Untersuchungen und alles war in Ordnung. Mach dir keine Sorgen!«

Ich nickte und versicherte mich, dass Helmut recht hatte, indem ich Marcs Finger und Zehen zählte. Alles da. Ich knuddelte ihn.

Er sieht gesund aus, dachte ich, absolut in Ordnung. Ich weiß rein gar nichts über Babys, aber Marc sieht gut aus. Helmut hat recht: Wenn etwas nicht stimmen würde, wüssten wir es schon längst.

Ich versuchte zu entspannen, doch Worte, die ich gehört hatte, hallten in meinem Kopf wider.

Wir haben einen Termin für Sie vereinbart in der Kinderkardiologie im Herzzentrum der Uniklinik. Es ist nur eine Untersuchung. Nur zur Kontrolle.

Dies hatte die diensthabende Schwester gesagt, kurz bevor wir das Krankenzimmer verließen, in dem ich mit Marc seit der Entbindung knapp zwei Wochen zuvor gelegen hatte. Zwölf Tage schienen übermäßig lang, aber 1984 war es im Weyertal normal, dass Frauen nach einem Kaiserschnitt so lange im Krankenhaus blieben. Die Schwester hatte Helmut den Brief gegeben, in dem unser Termin stand. Ich war an seine Seite geflogen, um mir das Blatt Papier genau anzusehen. Die Worte Kinder, Kardiologie und Universitätsklinik hatte ich entschlüsseln können und den Namen meines Sohnes natürlich auch. »Kein Grund zur Sorge. Nur eine Untersuchung«, hatte Helmut die Worte der Krankenschwester wiederholt. Sie war bereits über die Blüte ihrer Jahre hinaus, weißhaarig, wirkte matronenhaft und fühlte sich wohl damit. Vielleicht hatte sie Enkelkinder. Jedenfalls war sie der großmütterliche Typ. Als die Worte Universitätsklinik und Kardiologie fielen, hatte sie meine Beunruhigung bemerkt und mir, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, gut zugesprochen. Nun spielte ich ihre Worte immer und immer wieder wie eine Schallplatte in meinem Kopf ab. »Es ist nur zur Kontrolle«, hatte sie gesagt und meinen Arm getätschelt. Mit ihren gütigen Augen und ihrer sanften Stimme hatte sie mich tatsächlich beruhigt.

Doch nun waren die Sorgen zurückgekehrt. Ich versuchte, mich mit Logik zu überzeugen. Wir waren zwölf Tage in diesem Krankenhaus gewesen, dachte ich. Wenn etwas nicht stimmen würde, hätte uns schon längst jemand etwas gesagt. Oder doch nicht? Mein Gynäkologe hatte mich regelmäßig untersucht. Ich hatte einen Ausdruck von der fötalen Herzfrequenz meines Babys bekommen, als ich im dritten Monat schwanger war. Alles war gut. Und dann der Schnappschuss von Marc, als er ein zwölf Wochen alter Embryo war: das Ultraschallbild, auf dem er an seinem Daumen nuckelt. Alles war genau so, wie es sein sollte.

Jetzt komm schon, du hast dir doch noch nie unnötig Sorgen gemacht. Nun fang nicht damit an. Du hast keinen Grund, überhaupt nur den Verdacht zu hegen, dass etwas nicht stimmen könnte.

Ich sah zu Helmut. Er küsste mich auf die Wange und umwickelte seinen kleinen Finger mit dem winzigen Händchen unseres Sohnes. Eine Weile saßen wir still nebeneinander, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Ich schlug mein rechtes Bein über mein linkes. Es wollte nicht aufhören zu zucken.

Helmut war nicht der Typ fürs Stillsitzen und Nichtstun. Er vertiefte sich in eine Zeitschrift, während ich verstohlene Blicke in die Gesichter der anderen Eltern warf. Ich wollte nicht in ihre Intimsphäre eindringen. Aber ich konnte nicht anders, als sie anzusehen und mich zu fragen, welcher Schatten sich über das Licht in ihrem Leben gelegt hatte und weshalb sie hier gelandet waren. Ich sprach ein lautloses Gebet und hoffte, dass alle ihre Babys gesund würden. Und gleichzeitig wünschte ich mir das auch für unsers.

Alle sahen so trostlos aus – als hätte jemand das ganze Gewicht der Welt auf ihre Schultern geladen. Sah ich Resignation in ihren leeren Gesichtern? Wir saßen wahrscheinlich alle im selben Boot. Sie waren bestimmt auch zum ersten Mal in diesem Herzzentrum mit ihren Kindern und bestimmt wollten sie, wie wir auch, alles richtig machen. Warum gaben sie auf, bevor sie überhaupt wussten, gegen wen sie kämpften?

Auf der rechten Seite des Wartezimmers in der Nähe der Tür mit den großen schwarzen Blockbuchstaben saß ein türkisches Paar. Der Mann stand mehrmals auf und tigerte herum. Die Frau blieb sitzen. Sie hatte sich ihr Baby quer über ihren Schoß gelegt. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Rücken des Kindes, während sie es mit der Kraft ihrer Beine hin und her wiegte. Sie waren neben mir die einzigen Ausländer im Zimmer.

Auf der gegenüberliegenden Seite saß wortlos ein junges Pärchen. Die Frau hielt ihr Baby im Arm. Er saß nach vorne gebeugt auf seinem Stuhl, den blonden Kopf gesenkt, die gefalteten Hände zwischen den Beinen.

Ein paar Stühle entfernt von mir saß eine Großmutter, die leise mit ihrer Tochter sprach und sich gelegentlich, gurrend und Grimassen schneidend, ihrem Enkelkind zuwandte, das von seiner Mutter hin und her gewiegt wurde. Die beiden Frauen ignorierten dabei das ältere Enkelkind, das am Spieltisch saß, völlig, obwohl dieses nicht zu überhören war. Die Anspannung war fast greifbar.

Marc schlief friedlich in meinen Armen. Außer der Tür, die zur Aufnahme führte, gab es zwei weitere Türen. Zur rechten befand sich die Eingangstür, zur linken war eine Tür, die gelegentlich auf und wieder zuschwang. Jedes Mal, wenn sie das tat, erzeugte sie einen Luftzug, der wie ein Schmatzen klang. Die Tür hatte ein trübes Milchglasfenster, und ich hätte zu gerne gewusst, was sich dahinter abspielte. Bei jedem Auf- und Zuschwingen wurde der merkwürdige Geruch im Wartezimmer stärker. Einige Male huschten Krankenschwestern und Ärzte hastig hindurch, mit Akten und Ordnern unterm Arm. Wenn sie zu mir herübersahen, kamen sie vielleicht ein bisschen aus dem Takt, aber nicht aus dem Tempo. Zumindest hätten sie uns zunicken oder ein Lächeln schenken oder irgendetwas tun können, um diese bedeutungsschwere Ernsthaftigkeit hier drin ein wenig zu erleichtern. Als die Tür wieder einmal schmatzte, rief eine Schwester unseren Namen. Ich hörte die Tür nicht wieder hinter uns schließen. Aber manchmal fallen Türen einfach lautlos zu.

Wir standen auf einem Gang. Entlang eines Teiles der Wand reihten sich miteinander verbundene Stühle. Der seltsame Geruch schwängerte nun deutlich die Luft. Mehrere Zimmer führten rechts und links von diesem langen Gang ab. Wir wurden in ein Untersuchungszimmer auf der linken Seite gebeten. Das Zimmer war nicht besonders groß. Die Vorhänge waren zugezogen. Das Licht brannte. Wenigstens war es nicht dunkel.

Drei Stühle bildeten einen Rahmen um den Untersuchungstisch und das Ultraschallgerät. Ein Stuhl befand sich neben dem Ultraschallgerät auf der einen Seite des Tisches, die beiden anderen Stühle standen auf der anderen Seite.

Wir nahmen auf den beiden nebeneinander stehenden Stühlen Platz. Es war warm, fast stickig in diesem öden Zimmer. Kurz darauf klopfte es zweimal sachte an der Tür und sie öffnete sich. Helmut erhob sich, als der Arzt das Zimmer betrat.

»Guten Tag, Herr Professor. Ich bin Helmut Mayer.«

Helmut und der Professor schüttelten sich die Hände, dann wandte sich Helmut zu mir.

»Das ist meine Frau, und das ist unser Sohn, Marc.«

»Guten Tag«, grüßte der Professor, nickte und reichte mir mit einem Fast-Lächeln die Hand.

Da ich Marc nicht stören wollte, streckte ich meine Hand nur so weit unter meinem geliebten Bündel hervor, wie es mir möglich war. Der Professor kam zu mir rüber und griff das bisschen, was er von meinen ausgestreckten Fingerspitzen erreichen konnte. Sorgfältig studierte ich seine Erscheinung. Das Erste, was mir auffiel, waren seine Haare. Dick und glatt und kohlrabenschwarz. Seine Mähne mit natürlich fallendem Seitenscheitel war zu einem ansehnlichen Herrenschnitt gebändigt worden, an Nacken und Ohren sauber getrimmt. Meerwasserblaue Augen in einem scharf geschnittenen Gesicht. Ernst und eben, ohne Lachfältchen. Er hatte feingliedrige Hände.

»Guten Tag«, grüßte ich mit einem Lächeln zu ihm empor.

Er nickte wieder.

Ohne weitere Umstände setzte er sich uns gegenüber in Reichweite der diagnostischen Ausrüstung. Er öffnete die Akte, die er mit ins Zimmer gebracht hatte, und überflog kurz das erste Blatt. Dann wies er mich an, Marc auszuziehen. Allerdings richtete er sich dabei an Helmut, auf Deutsch. Dann sagte der Professor, ich solle Marc auf den Untersuchungstisch legen. Ich ließ sein Unterhemdchen an. Es hatte Druckknöpfe auf beiden Schultern, und ich dachte, es sei am besten, wenn ich das Hemdchen erst kurz vor der Untersuchung öffnen und sofort danach wieder schließen würde.

Der Untersuchungstisch lag unter einer frischen baumwollweißen Papierauflage verborgen. Ich platzierte eine unserer eigenen Decken darüber. Dann, als hielte ich ein äußerst rares, unbezahlbares Kunstobjekt in meinen Händen, bettete ich Marc vorsichtig auf die Decke und zog behutsam seinen Strampler bis zur Windel hinab, sodass seine Beinchen und Füßchen eingepackt blieben.

Schließlich war das hier ja nur eine Untersuchung, reine Kontrolle, und sicher würden wir eher früher als später wieder gehen können. Es war nicht nötig, ihn ganz auszuziehen und es ihm unbequem zu machen. Wie sehr hatte ich mich geirrt!

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3

Todesgefahr

Mir war gar nicht bewusst, dass ich nach den ernsten Worten des Arztes auf den Stuhl gesunken war. Obwohl Helmut sich direkt neben mir befand, nahe genug, um mich umarmen zu können, musste ich mich sehr anstrengen, um sein Gesicht deutlich zu erkennen. Als es mir endlich gelang, blickte ich ihn auf eine Weise an, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben getan hatte. Ich war sicher, er musste seinen Verstand verloren haben. Das Atmen war mir nur in kleinen heftigen Stößen möglich, meine Hand drückte ich flach gegen meinen Brustkorb, der sich hob und senkte.

»Wie meinst du das, es stimmt was nicht, Helmut?«

Nun wandte sich der Professor an mich, mit hölzerner Miene und in wackligem Englisch: »Das Baby ist sehr krank. Sie müssen es hierlassen. Wir müssen es heute Nacht beobachten. Morgen mache ich weitere Tests.«

Meine Augen drifteten ab, weg vom Gesicht des Professors, hin zu Marc. Mein Blick ruhte auf meinem kleinen Schatz, der Menschwerdung wahrer Liebe, aus meinem Mutterleib geboren. Marc bedeutete Helmut und mir die Welt. Er war unser Ein und Alles. Der Professor … nein, er konnte es nicht ernst meinen. Meine Augen fixierten ihn. Es war, als blickte ich in den Lauf eines Gewehres.

»Was meinen Sie? Wovon reden Sie da? Was soll das heißen: Lassen Sie Ihr Baby hier? Warum? Was stimmt nicht mit ihm? Nein! Auf gar keinen Fall! Warum? Ich lasse mein Baby nicht hier bei Ihnen! Helmut! Helmut, sag ihm, dass wir Marc nicht hierlassen! Er ist nicht krank! Das kann einfach nicht sein! Niemand hat jemals – jemals – irgendetwas darüber gesagt, dass Marc krank ist, Helmut. Bei all seinen Untersuchungen war alles in Ordnung! Du weißt das doch! Sag’s ihm! Sag ihm, er soll meinen Frauenarzt anrufen! Sag ihm –«

»Das Baby ist so krank, dass es jeden Moment sterben könnte«, unterbrach mich der Professor.

Seine Worte hallten durch den Raum. Wie Querschläger prallten sie zu mir zurück.

Ich erstarrte. Die Zeit stand still. Ich blickte leer in sein Gesicht und plötzlich befand ich mich hilflos in freiem Fall. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, stürzte ich in einen Abgrund. Mein Baby ist so krank, dass es sterben könnte? Jeden Moment? Ich starrte ihn ungläubig an. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Mir war schwindelig. Und zum allerersten Mal, seit ich denken kann, war ich sprachlos. Der ganze Raum war in Stille getaucht. Bis ich in Tränen ausbrach und komplett die Fassung verlor.

An den Tumult, der folgte, kann ich mich nicht mehr im Einzelnen erinnern. Jemand hatte die Tür zum Untersuchungszimmer unachtsamerweise halb offen gelassen. Aber wann? Ich war mir ganz sicher, dass der Professor sie hinter sich geschlossen hatte, als er das erste Mal hereingekommen war. Alle wuselten herum. Der Professor hatte das Zimmer für einen Moment verlassen und kam mit einer Krankenschwester zurück. Sie flüsterten irgendetwas miteinander und liefen vor mir hin und her. Helmut auch. Hin und her, um den Untersuchungstisch herum, hin und her, immer in Bewegung. Krankenschwestern, Ärzte und Eltern hielten Schritt mit diesem Tempo, jenseits der Tür, die das Untersuchungszimmer vom Gang trennte. Ganz unverhohlen spähten sie neugierig durch den Türspalt, im Vorbeigehen, gespannt darauf zu sehen, wer oder was denn der Auslöser für all die Aufregung sein konnte. Und sie sahen mich, eine hysterische Frau in einem Zustand des Deliriums.

Nur Marc und ich verweilten wie festgeklebt an unseren vorgesehenen Plätzen. Beide waren wir hilflos. Wo gingen denn alle hin? Die absolute Zerstörung der unnatürlichen Stille auf dem Krankenhausflur muss die anderen Eltern, die dort warteten, erleichtert haben. Welche Probleme sie auch immer belasten mochten, sie konnten keinesfalls so schlimm sein wie das Problem im Untersuchungszimmer am Ende des Ganges mit der schmatzenden Tür, wo eine arme Frau schrie und weinte. Mein Wehklagen muss sie beruhigt haben. Es muss sie getröstet haben, dass sie mit ihrem Schmerz und ihrem Leid nicht allein waren.

Die Krankenschwester, die den Professor in das Untersuchungszimmer begleitet hatte, versuchte, mir mit ihren mitfühlenden Augen und einem Fingerzeig in Richtung Tür auf Deutsch zu erklären, dass sie unser Baby in ein anderes Zimmer bringen musste. Mittlerweile hatten weitere Mitglieder des Krankenhauspersonals das Untersuchungszimmer betreten. Alle bemühten sich, mich zu beruhigen, aber es half nichts. Die Münder dieser Leute waren einfach nur weiche, formbare Löcher, die sich seltsam in ihren Gesichtern bewegten. Das Stimmengewirr war ein einziger Angriff auf meine Sinne. Selbst wenn ich ihre Sprache verstanden hätte, so hätte ich trotzdem nicht verstehen können, was sie mir zu sagen versuchten.

Ich fühlte mich in etwa so, als hätte ich ein Auto geparkt und den Motor ausgeschaltet, aber der Wagen rollte trotzdem weiter. Es half nichts, wie verrückt auf die Bremse zu treten. Er wollte nicht anhalten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Krankenschwester mit den freundlichen Augen das klebrige Gel von Marcs Brust wischte, ihn anzog, ihn sanft in ihre Arme nahm, sich dann umdrehte und mit ihm das Zimmer verließ, als ob ihre Worte, die ich nicht verstand, und das Zeigen zur Tür automatisch mein Einverständnis dafür nach sich gezogen hätten. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie gerade tatsächlich das Zimmer mit Marc verlassen hatte. Ich sprang auf, um ihr nachzulaufen, Helmut mir dicht auf den Fersen, der Professor direkt hinter ihm. Wir liefen an anderen Zimmern und dem Schwesternzimmer vorbei und landeten am fernen Ende des Ganges vor einer langen Stuhlreihe.

Ich war benommen, verwirrt, verloren. Durch meinen Tränenschleier konnte ich die Umgebung nur schemenhaft wahrnehmen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder wohin ich nun gehen sollte. Wo war mein Baby? Eine andere Krankenschwester tauchte plötzlich vor mir auf, ein Glas Wasser in der linken, eine Tablette in der rechten Hand. Der Professor hatte sie angewiesen, mir ein Beruhigungsmittel zu geben. Ich sah sie an, als ob sie schwer von Begriff wäre.

Ich will euer blödes Beruhigungsmittel nicht! Ich bin eine Mama, die ein Baby zu stillen hat!

Meine Nase triefte und ich konnte fühlen, wie ich schrie. Hörten die mich denn nicht? Kapierten sie’s einfach nicht? Konnte dieses medizinische Fachpersonal, konnten all diese hoch qualifizierten, top ausgebildeten Leute denn nicht verstehen, dass eine Frau, die ihr Baby stillte, kein Beruhigungsmittel nehmen würde?

Ich lehnte die Tablette mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. Die Krankenschwester sagte etwas, hob ihre Arme leicht an und versuchte erneut, mir das Angebot schmackhaft zu machen. Ich schaffte es, mir selbst klarzumachen, dass es nicht ihre Schuld war. Sie musste schließlich Anweisungen befolgen.

»Ihrem Baby geht es gut. Your baby is fine.«

Ich drehte mich blitzschnell zu der unbekannten Stimme um. Englisch! Englisch! Danke Gott, schluchzte ich. Ich bin gerettet. Gerettet! Mit einem Schlag hatte ich ein Rettungsseil, an dem ich mich festklammern konnte. Dieser Mann konnte meine Sprache sprechen. Fließend. Sein weißer Kittel verriet mir, dass er Arzt war. Er konnte mir helfen. Ich wusste es.

»Wo ist mein Baby?«

Dr. Gillor war von einer der Schwestern auf seiner Station gerufen worden, da er Englisch sprach.

Das Zimmer, in welches die Krankenschwester unseren Sohn gebracht hatte, lag zur Linken der langen Stuhlreihe. Dies war die Kardiologieabteilung für Säuglinge und Kleinkinder. Babys, Schwesternzimmer, Medikamente, Desinfektionsmittel. Die Duftmischung hing schwer in der Luft. Die Tür stand offen. Ich wollte das Zimmer betreten, als eine Krankenschwester mich auf sich aufmerksam machte. Sie wies Helmut und mich an, grüne sterile Baumwollschutzkittel über unsere Kleidung zu ziehen. Bevor ich mir den Kittel überzog, suchte ich Marc.

Ich stand auf Zehenspitzen, hielt mich am Türrahmen fest, streckte mich und suchte mit meinen Blicken nach meinem Baby, über ein Labyrinth aus Babybettchen, Maschinen, Tischen, Stühlen und Erwachsenen hinweg, die mich anstarrten. Mit meinem Handrücken wischte ich mir mein verheultes Gesicht und die triefende Nase ab. Ich kniff die Augen zusammen und dort, zur Linken, am anderen Ende des Zimmers, sah ich ihn, in den Armen einer Krankenschwester, sah, wie sie ihn wiegte. Er nuckelte an einem Fläschchen. Ich fühlte einen Stich in meinen tropfenden Brüsten. Das ist jetzt nicht wichtig, sagte ich mir. Hauptsache er isst und sie geht behutsam mit ihm um.

Ich zog mir schnell den Kittel über. Helmut fummelte noch an meinem Rücken herum, um die Druckknöpfe richtig zu schließen, während wir schon das Zimmer betraten. Man hatte Marc ausgezogen. Jetzt trug er nicht sein eigenes, sondern ein anderes Unterhemdchen und ein langärmeliges, weißes Baumwollstrickoberteil unter einem Strampelanzug aus gelbem Baumwollvelours. Auf Oberteil und Strampler standen die Worte »Universitätsklinikum Köln«. Ich konnte es nicht glauben.

Nur wenige Augenblicke zuvor, so schien es mir, waren wir auf dem Weg hierher gewesen und Helmut hatte gesagt, sobald wir die Untersuchung hinter uns hätten, würden wir uns eine schnuckelige Konditorei suchen und in aller Ruhe ein, zwei Tassen cremig milden Kaffee genießen und uns ein Stück sündhaft leckere, frisch gebackene Torte gönnen. Vielleicht sogar zwei Stück. Wir drei würden uns herzen und küssen und knuddeln und kuscheln, umgeben von Lebkuchenhäuschen, Porzellangeschirr und einer wahren Schatztruhe voller Plätzchen und Pralinen, Kuchen und Kekse, die man traditionell in diesem Land zur Weihnachtszeit serviert. Fröhliche Kellnerinnen würden uns bedienen und die freundlichen Cafébesucher würden uns beglückwünschend zulächeln. Und ich würde ganz außer mir sein vor Freude und mich in der unbestreitbaren Gewissheit sonnen, dass dies ohne Zweifel das wundervollste Weihnachtsfest meines Lebens wäre.

Wie hatte ich von dort hierhergelangen können? Von der noch nicht einmal eine Stunde zurückliegenden Vorfreude auf Kaffee und Kuchen und der allersegensreichsten Zeit meines Lebens zu diesem Krankensaal mit seinen seltsamen Gerüchen, die schwer in der Luft hingen, und diesem sterilen grünen Kittel und einer Krankenschwester, die mein dreizehn Tage altes Baby fütterte, das jeden Moment sterben konnte? Was war geschehen?

Sie lächelte zu uns empor. Lächelte ich zurück? Ich weiß es nicht. Aber ich wollte ihr dafür danken, dass sie behutsam mit unserem Sohn umging.

Ich wollte ihr sagen: Bitte vergessen Sie nicht, ihn ein Bäuerchen machen zu lassen – er mag es besonders gern, wenn man ihm sanft über den Rücken streichelt und ihm leichte, liebevolle Klapse gibt, und denken Sie daran, ihm den Mund abzuwischen, und wenn Sie schon mal dabei sind, können Sie auch gleich sein ganzes Gesichtchen abwischen, und bitte wärmen Sie die Lotion etwas an, bevor Sie ihn damit eincremen, und bitte lassen Sie ihn nicht zu lange in einer nassen Windel liegen, und vergessen Sie auf keinen Fall, wenn Sie ihm die Windel wechseln, ihn mit einem Feuchttuch abzuwischen und danach mit einem warmen eingeseiften Waschlappen, und vergessen Sie bitte nicht, seinen Popo gründlich mit Babycreme einzureiben und dann noch einen Hauch von Puder drüberzustäuben, bevor Sie ihm eine frische Windel anziehen, oh, und, nein, er braucht keinen Schnuller, und …

Stattdessen schaute ich mich im Zimmer um. Raumhohe rechteckige Fenster, die die gesamte Wand hinter den Babybettchen säumten, luden die Sonne geradezu zum Hereinlachen ein und sorgten für viel Licht. Die obere Hälfte der Wand rechts von mir, dort, wo sich der Eingang befand, bestand aus einem einzigen großen Doppelfenster mit blauen Vorhängen, die auf beiden Seiten aufgezogen waren. Weiße Wandschränkchen hingen an den Wänden und weiße Schrankmöbel standen auf jedem Zentimeter Bodenfläche. Es befanden sich zehn Babybettchen in dem Zimmer, die Gitterstäbe waren zur Sicherheit hochgezogen.

Piep. Piep. Piep. Piep.

Schrill, aber nicht ohrenbetäubend laut, durchdrang ein Warnsignal den Raum in regulären Abständen. Obwohl sich in diesem Zimmer mehrere Erwachsene aufhielten und sprachen, obwohl Babys gelegentlich weinten, konnte ich nur dieses ständig piepende Alarmzeichen hören. Meine geschwollenen Lider hoben sich und meine geröteten Augen suchten den Raum ab, von der Wand zur Decke, von Bettchen zu Bettchen, bis ich verstanden hatte: Neben jedem Babybett stand ein Elektrokardiogramm-Bildschirm. Mit jedem Piep blinkte ein pfenniggroßes Herz mit einer danebenstehenden Zahl in der oberen rechten Ecke des Monitors auf. Aber woher bekam der Bildschirm diese Informationen?

Ich betrachtete unseren Sohn genauer, der noch immer in den Armen der Krankenschwester lag. Seine Brust. Gleich als ich ihn gesehen hatte, war mir seine Brust seltsam knubbelig vorgekommen. Nun bemerkte ich die langen beigefarbenen Kabel, die sich von der Rückseite seines kleinen Stramplers zum Bildschirm neben seinem Bettchen schlängelten. Mehrere Klebebänder fixierten die Gaze, die wiederum die Nadel in seinem winzigen Handgelenk bedeckte: eine intravenöse Infusion. Ich war total verwirrt.

Irgendwie landete ich in einem Zimmer mit Dr. Gillor. Als wir uns gegenübersaßen, hätte ich mich selbst kaum wiedererkannt. Rotz und Tränen, Schock und Angst verbargen mein wahres Gesicht.

»Wie heißen Sie?«, fragte mich der Arzt auf Englisch.

»Tracie.«

Er sah mich an und konnte sich ein freundliches Lächeln kaum verkneifen.

»Nicht Ihr Vorname. Ihr Nachname.«

»Mayer.«

Ich sprach meinen neuen Nachnamen ohne eine Spur meines amerikanischen Akzents aus. Mayer. Einer der gängigsten deutschen Nachnamen. So einen Namen hatte er von mir wohl nicht erwartet. Irgendwie passten die Puzzlestücke für ihn nicht zusammen. Da war ich nun: braune Haut, lange schwarze Haare, achtundzwanzig Jahre alt, und ausgefallen gekleidet, zumindest in seinen Augen. Was des einen maßgeschneiderter Anzug ist, ist des anderen Lieblingsjeans. Aber ich weiß gar nicht mehr, was ich an diesem Tag getragen habe. Er sagte mir später, ich hätte geglitzert und dass sie eine solche Erscheinung wie mich einfach nicht gewohnt waren, damals. Er sagte, ich hätte ausgesehen wie ein Popstar. Ja klar, mit meiner fleckigen, tränenverschmierten Visage. Eyeliner und Mascara hatten schwarze Schlieren hinterlassen, von den Augen bis zum Kinn. Ich sah aus, als trüge ich die Spuren verbrannten Gummis von Autoreifen in meinem Gesicht, die einem unglücklichen Schicksal entgegengerast waren.

»Es gibt ein Problem mit dem Herzen Ihres Babys«, versuchte er mir beizubringen.

Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne, zu mir.

Meine Ausbrüche und Weinkrämpfe hatten nachgelassen. Mir war bewusst geworden, dass diese Menschen, diese Ärzte, nicht alle Idioten sein konnten. Meine Hysterie würde ihre Prognose nicht ändern. Ich stand unter Schock und strengte mich an, ganz bei mir zu bleiben. Wenn ich langsam und tief atmete, würde es mir vielleicht gelingen, und vielleicht würde sich in diesem Zimmer nicht mehr alles so drehen. Konzentrier dich! Ich musste versuchen, mich im Griff zu haben. Es stand sehr ernst um unser Baby. Und für Marc, allein schon für ihn, musste ich mich zusammenreißen. Jetzt sofort.

»Es scheint sehr ernst zu sein«, sagte Dr. Gillor.

Ich strauchelte. »Was scheint sehr ernst zu sein?«, fragte ich.

»Die Situation mit dem Herzen Ihres Jungen.«

In den vier Wänden des Besprechungszimmers gefangen gab ich mir große Mühe, Dr. Gillors Worten all meine Aufmerksamkeit zu schenken. Aber das Problem war, dass nichts von dem, was er sagte, Sinn ergab. Nicht auf Englisch. Nicht auf Deutsch. Nicht auf Suaheli. Überhaupt nicht. Gar nicht. Nix. Null. Nada. Punkt aus. Du kannst dich später beim Schicksal bedanken, sagte ich mir. Aber jetzt musst du aufpassen, aufpassen, aufpassen!

Es ist ein furchtbares Gefühl, wenn man versucht, sich an etwas festzuhalten, und es nichts zum Festhalten gibt. Man ist so weit draußen. Es gibt kein Entkommen. Also fängt man an, sich vorzutasten, weil man ja nichts sieht. Man streckt die Hände aus, macht zaghafte, kleine Schritte. Man hat Angst, sich zu bewegen, aber man weiß, dass man es muss. Doch man greift nur ins Nichts, in einen Nebel, der so dick ist, dass man ihn mit einem Messer schneiden könnte. Man tastet sich weiter voran, streckt die Hände weiterhin aus nach irgendetwas, überzeugt davon, dass man einen Baum oder eine Wand, eine Schulter oder irgendetwas finden wird, das einem helfen kann, wieder die Orientierung zu gewinnen. Aber da ist … nichts.