Einfach Literatur - Klaus Willbrand - E-Book

Einfach Literatur E-Book

Klaus Willbrand

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Beschreibung

Der neue Literaturverführer / bekannt als @buchantiquariat_willbrand auf Instagram und TikTok »Welche Werke von Thomas Mann sollte man gelesen haben?« »Welche anglo-amerikanischen Schriftstellerinnen sind besonders empfehlenswert?« Wer Antworten auf diese oder ähnliche Fragen sucht oder einfach Lust hat, sich mit Literatur zu beschäftigen, ist bei Klaus Willbrand bestens aufgehoben. In seinem ersten Buch teilt der Antiquar seine eigene Leserbiographie und spricht Empfehlungen aus – gewohnt meinungsstark und mit profundem Wissen. Er erzählt, wie er selbst zur Literatur gefunden hat, welche Schriftsteller:innen und Werke ihn in seinen ersten Lesejahren geprägt haben und was es mit seinem dreijährigen Lesesabbatical auf sich hatte. »Einfach Literatur« ist eine Einladung, sich mit der Weltliteratur zu beschäftigen – klug und unterhaltsam.

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Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Klaus Willbrand | Daria Razumovych

Einfach Literatur

Eine Einladung

 

 

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

Coverabbildung: Silvia Reimann

ISBN 978-3-10-492219-5

 

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Inhalt

[Inhalt]

Begegnung mit Klaus Willbrand

Ein bitterer Anfang

Vom Buchhandelslehrling zum Ersten Sortimenter

Der väterliche Freund Joseph Caspar Witsch

Literatur als Kunst

Was bedeuten Bücher für mich?

Die Frage muss also vielmehr lauten: Was bedeutet Literatur für mich?

Was Literatur zum Entstehen braucht

Literatur im Wandel

Rat für Buchliebhaber:innen

Menschen zum Lesen anregen

DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR

Thomas Mann

Heinrich Böll

Franz Kafka

Günter Grass

Friederike Mayröcker

Max Frisch

Rolf Dieter Brinkmann

Anna Seghers

Alfred Andersch

Marieluise Fleißer

Ingeborg Bachmann

Robert Musil

Thomas Bernhard

Gabriele Wohmann

Hans Henny Jahnn

Arno Schmidt

Hans Fallada

Christa Wolf

Wolfgang Koeppen

Uwe Johnson

Ilse Aichinger

H.C. Artmann

Friedrich Dürrenmatt

Elfriede Jelinek

Meine Zeit in Berlin

Begegnung mit Arno Spitz

Begegnung mit Willy & Lars Brandt

ANGLOAMERIKANISCHE LITERATUR

Ezra Pound

Virginia Woolf

Ernest Hemingway

William Faulkner

Thomas Pynchon

James Joyce

George Orwell

Emily Dickinson

Sylvia Plath

Oscar Wilde

Joseph Conrad

Toni Morrison

Allen Ginsberg

Dashiell Hammett

Raymond Chandler

Jack London

Lesesabbatical

FRANZÖSISCHSPRACHIGE LITERATUR

Marguerite Duras

Sartre

Simone de Beauvoir

Albert Camus

Antoine de Saint-Exupéry

Georges Simenon

Blaise Cendrars

Marcel Proust

Françoise Sagan

Zwischen Rätseln und Realität

25000 Bücher

Ein paar Worte zum Schluss

Danksagung

Begegnung mit Klaus Willbrand

Ein Sonntagnachmittag im September. Klaus und ich sitzen uns im Antiquariat gegenüber, vor uns die aufgeklappten Laptops. Normalerweise steht da noch ein Hocker, auf diesem ein Stativ, das ironischerweise Klaus und nicht mir gehört, darin eingeklemmt mein Smartphone. Heute machen wir allerdings keine Videoaufnahmen. Es ist der erste Versuch einer Wortfindung der etwas anderen Art. Für uns beide. Und zumindest eine von uns beschleichen flüchtige Bedenken, ob sie dieser Unternehmung gewachsen ist.

Klaus starrt auf seinen Bildschirm und erzählt ganz nebenbei eine Geschichte aus seiner Kindheit, dann von der Schreibmaschine, mit der er an die 2000 Seiten Rätsel getippt hat. Es könnte ein offener Affront gegen sein neues Schreibgerät sein, was ich still ignoriere. Dann essen wir den Kuchen auf und trinken unseren Tee. Weit kommen wir an diesem Nachmittag nicht. Ich kriege es mit der Angst zu tun, ob dieses Buch je vollendet werden kann, aber darüber macht sich zumindest einer von uns überhaupt keine Sorgen, und am Ende soll er recht behalten.

Anfang des Jahres 2024 steht Klaus noch vor der Entscheidung, sein über 20 Jahre bestehendes Antiquariat zu schließen. Als langjährige Bekannte und Kundin, und jemand, die beruflich viel mit Social Media zu tun hat, mache ich Klaus einen Vorschlag, den er nicht ablehnen kann. »Wir gehen auf die Kanäle«, wie er so schön sagte, und zwar mit Videos über Literatur. Über Nacht geht er viral, nach ein paar Monaten sind wir bereits in den wichtigsten Zeitungen Deutschlands, und 200000 Fans später denkt er ganz sicher nicht mehr ans Zumachen. Nur wenige Monate später sitzen wir uns im Antiquariat gegenüber und schreiben gemeinsam an diesem Buch. Manche Träume gehen also doch in Erfüllung, egal wie alt man ist.

Über unser Duo wurden zu Anfang die wildesten Behauptungen aufgestellt. Durch ähnliche Narrative auf Social Media beeinflusst, sind wir auf einmal Großvater und Enkelin oder ich eine Schülerin, Mitarbeiterin, Assistentin. Auch Wochen nachdem etliche Medien über uns berichtet haben, ruft eine Mitarbeiterin des WDR an und fragt, ob sie mit der Enkeltochter spreche. Besonders amüsant ist die Sicht eines wütenden Kritikers, der behauptet, dass hinter dem Ganzen eine Maschinerie steckt, der arme Mann vor die Kamera gezerrt wird und ihm Worte in den Mund gelegt werden. Es sind alles interessante Ansätze, die so nicht stimmen. Wobei ich gerne Zeugin gewesen wäre, wie jemand versucht, Klaus etwas in den Mund zu legen.

Halten wir die echte Geschichte fest. Kennengelernt haben wir uns auf dem Antik-Markt am Neumarkt in Köln, am 21. September 2021. Klaus und sein Antiquariatskollege Ulrich Doege stellten einen insgesamt acht Meter langen Büchertisch prominent am Eingang zum Markt auf und präsentierten eine unglaubliche Fülle von Literaturschätzen aus den letzten 300 Jahren. Es war eine Art offene Buchhandlung mit zwei kompetenten Beratern. Ich weiß noch, wie ich dort von Freude erfüllt stand und mich gefragt habe, warum kleine Buchläden und Antiquariate systematisch von den großen Buchhandelsketten abgelöst werden, die ich seit langem nicht mehr gerne betrat. Hier war jedes Buch sorgfältig ausgelegt, die Bereiche thematisch sortiert, keine Wühlkiste weit und breit, wie man sie sonst von Trödelmärkten kennt. Ich kaufte mir unter anderem Band 1 der Recherche von Marcel Proust aus dem Suhrkamp Verlag, unterhielt mich angeregt mit dem älteren Herrn, der mir seine Visitenkarte in die Hand drückte, und versprach, für Nachschub in den Laden zu kommen. Was ich einige Zeit später auch tat, denn das Gespräch mit Klaus Willbrand entstand bereits an seinem Stand wie von selbst. Er erzählte mir etwas zum Hintergrund des Werkes, für ihn offensichtliche Kleinigkeiten, mir aber machten sie bereits Vorfreude auf die Lektüre. Sein Alter, er war damals frisch 80 geworden, machte mich überhaupt nicht stutzig. Er begegnete allen Menschen mit einer Offenheit, die keine Altersgrenzen kennt.

Das Antiquariat befindet sich im Weyertal in Köln, eine Gegend, die heute vor allem für ihre Krankenhäuser und universitären Einrichtungen bekannt ist, aber geschichtlich eine kulturell prägende Vergangenheit hat. Hier kam ich also hin, um mir den zweiten Band der Recherche zu kaufen, und besuchte Klaus in seinem zweiten Wohnzimmer, wie er es liebevoll nannte.

Das Antiquariat im Weyertal eröffnete er im Dezember 2001, seitdem liegt es still und gemütlich in dieser Straße. Sein halbrundes Panoramaschaufenster ist eine wahre Inspirationsquelle und Einladung für Passanten. Die Regale des 34 Quadratmeter großen Raumes sind bis an die Decke mit Büchern gefüllt; was es nicht in die erste Reihe geschafft hat, steht bis zu drei Reihen hinter dem gezeigten Sortiment. An den Wänden hängen Schallplatten, eingesprochene Werke von Autoren, die mit kleinen Nadeln befestigt sind, mehrere übereinander drapierte Teppiche führen die Besuchenden über einen kleinen Gang vom ersten in den zweiten Raum, wo Klaus Willbrand sie empfing. Dort fand man ihn über 20 Jahre vor, an seinem dunklen Eichentisch im alten Museumsstuhl – meist lesend und alleine. Natürlich hatte er einen festen Kundenstamm, viele gute Freunde und Bekannte, die ihn besuchen kamen, aber das Antiquariat hat sich seit seiner Gründung keiner großen Besucherzahlen erfreut. Ich selbst habe während meines Germanistikstudiums nur wenige Straßen entfernt gewohnt, bin jahrelang daran vorbei zur Uni geradelt und hatte keine Ahnung, welcher Schatz sich hinter diesen Wänden verbirgt.

Über all die Umwege, die das Leben so nimmt, stand ich nun, drei Jahre nach meinem Masterabschluss, in Klaus’ Antiquariat und war sofort eingenommen von diesem Ort. Ich sah all die Bücher in den Regalen, die ich während des Studiums gelesen hatte und die ich noch gerne lesen würde, erkannte großformatige Kunstbände, an denen ich mehrere Jahre lang im TASCHEN Verlag im Lektorat mitgearbeitet hatte, und vermisste dieses Gefühl, von Büchern umgeben zu sein. Er erkannte mich auf Anhieb – sein Gedächtnis war beeindruckend –, und wir setzten unsere Unterhaltung über Proust und die Literatur fort. Sie dauerte bis zu seinem Tod im Januar 2025 an.

Mich faszinierten nicht nur die Bücher, die es hier gab, nicht nur sein umfangreiches Wissen, was jahrzehntelang in ihm schlummerte und nur einen Anstoß brauchte, um nach außen zu gelangen. Vor allem faszinierte es mich, dass dieser Ort echt war. Hier war alles authentisch. Klaus, die Bücher, seine etwas schiefe Brille und auch die Maus, die zwischen den Regalen wohnt. Eine Authentizität, die unserer Gesellschaft nach und nach abhandenkommt, weil man überall hineinpassen will. Und alles ebnet sich unter diesem Wunsch. Unsere Wohnungen ähneln sich, die Cafés in unserem Viertel und auch die Buchläden. Klaus interessierte das alles nicht. Die Regale in seinem Laden hat er vor 20 Jahren selbst angebracht, jeder freie Platz wird hier für Bücher ausgenutzt. Und mit seiner direkten rheinischen Art hat er auch schon den einen oder anderen Besuchenden wieder aus dem Laden vertrieben. »Wissen Sie, Sie sollten sich selbst ein Urteil bilden. Wenn Sie in die Literatur einsteigen wollen, müssen Sie eine eigene Meinung entwickeln. Da nützt die Fremdmeinung nichts«, antwortete er einem jungen Kunden, der ihn nach seiner Einschätzung zu F. Scott Fitzgerald fragte.

Mich hat er nicht vertrieben. Vielleicht, weil ihn meine Liebe zu Proust besänftigt hat. Vielleicht auch wegen der Zeit, die ich gefunden habe, um seinen Geschichten zu lauschen. Und er hatte weiß Gott viel zu erzählen. Er besaß diese eigentümliche Art, von einem Thema zum anderen zu springen. Gerade waren wir noch bei Thomas Mann, da fiel ihm auf, dass er mir unbedingt von seinem Bekannten erzählen wollte, der einen echten Bruegel zu Hause hängen hat. Dann redeten wir über den weit entfernten feudalen Teil seiner angeheirateten Familie, bis Klaus geschickt wieder beim nächsten Thema landete. »Habe ich dir eigentlich schon von meiner Reise nach Dublin auf den Spuren von James Joyce erzählt?« Hatte er nicht, und irgendwie hatte ich im Gefühl, dass es eine längere Geschichte werden würde.

Schon beim ersten Besuch hatte ich den flüchtigen Gedanken, dass man sein Wissen digital festhalten und einem größeren Publikum zugänglich machen könnte. Damals arbeitete ich noch in einer PR- und Social-Media-Agentur, deswegen war es vielleicht naheliegend, dass mir dieser Gedanke kam. Ich schlug es ihm beim zweiten oder dritten Treffen vor. »Ein alter Mann auf TikTok – keiner will das sehen«, lautete seine Reaktion. Klaus konnte es sich schlicht und einfach nicht vorstellen, aber es lag nicht an mir, ihn umzustimmen. Zumindest nicht vor etwas mehr als zwei Jahren. Ich besuchte das Antiquariat fortan regelmäßig, das Thema kam aber bis März 2024 nicht erneut auf.

Mir wurde schnell klar, dass das Antiquariat im Weyertal ein Ort der Begegnungen war. Hier sprang man nicht für fünf Minuten rein, um ein Buch zu kaufen. So schnell würde man es erstens nicht finden, und außerdem musste man, ob man wollte oder nicht, zumindest ein bis zwei Sätze mit Klaus wechseln. Hier hatten die Menschen Zeit, stöberten ganz in Ruhe zwischen den Regalen und nahmen manchmal sogar auf dem Stuhl gegenüber von Klaus Platz, um zu plaudern – so natürlich auch ich. Im Laufe der Jahre hörte ich mir unzählige Geschichten an, viele auch doppelt, saß beim Sommerfest bis zwei Uhr nachts mit Sammlern, Uniprofessorinnen, Buchhändlern und Antiquaren zusammen und trank Kölsch. Dann trat ein befreundeter Schauspieler ganz spontan auf – er wollte uns das Gedicht »Die Gier« von Wilfried Schmickler präsentieren, und für einen Moment schauten alle gespannt seiner packenden Performance zu. Einfach so, im Hinterhof eines Mehrfamilienhauses in Köln-Sülz, in dem sich sein Antiquariat befand. Keiner zückte das Handy, keiner hatte den Drang, diesen Moment festzuhalten – keiner natürlich außer mir –, und das ist irgendwie schön. Es wurden Hände geschüttelt, und es fielen ständig wichtige Namen aus der Literaturszene. Horst Nibbe, berühmter Kölner Sammler und Antiquar, trank mit uns bis spät in die Nacht, Roberto Di Bella, Uni-Dozent und Brinkmann-Experte, kam auf einen kurzen Bücherplausch vorbei, Reiner Speck, Sammler und Publizist, schaute, ob es neue Bücher für seine ohnehin überquellende Sammlung gab. Hier wurde ein Leben gelebt, das sich um Bücher drehte, weil sie für diese Menschen essenziell sind. Ich dachte über Buchclubs, Lesungen und größere Formate nach, aber nach diesen Abenden fiel mir ein, dass man diese Atmosphäre nicht konversieren kann. Die Freunde und Bekannten von Klaus führen dieses Leben im Stillen. Und es liegt an uns, der Literatur einen Platz in unserem Leben einzuräumen.

Über die Jahre freundeten wir uns an. Ich besuchte Klaus mindestens einmal im Monat in seinem Antiquariat, brachte literaturbegeisterte Freunde und Freundinnen mit. Irgendwann zankten wir uns über das Bezahlen von Büchern, weil er sich weigerte, Geld anzunehmen, aßen gemeinsam Obstkuchen zu seinem Geburtstag, und ich brachte ihm Blumen vorbei. Regelmäßig klagte er über die schlecht laufenden Geschäfte, und wenn ich mich nach dreistündigen Gesprächen verabschiedete, ohne dass ein einziger Kunde uns gestört hatte, bekam ich eine Ahnung davon, was er meinte.

Im September 2023 kündigte ich meinen Agenturjob, ich wollte beruflich neue Wege gehen und mir eine Auszeit zum Reisen nehmen. Gemeinsam suchten wir meine Reiselektüre zusammen. Auf Klaus’ Empfehlung hin nahm ich Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, Dubliner Kurzgeschichten von James Joyce, Sartres Vorlesungen über Das Sein und das Nichts, Hermann Hesses Siddhartha und den Briefwechsel zwischen Sartre und Simone de Beauvoir mit. Ich verabschiedete mich für die nächsten drei Monate von Klaus, daraus wurden dann fünf, und als ich ihm im März 2024 wieder in seinem Antiquariat gegenübersaß, war er erleichtert: Er hatte damals keine Telefonnummer von mir und keine Postkarte über die Urlaubsverlängerung, weil ich sicher war, dass sie erst nach meiner Rückkehr ankommen würde. Schnell wechselten wir zu unseren üblichen Gesprächsthemen, und schnell wurde mir klar, dass Klaus kurz vor dem Aufgeben stand.

Sein ohnehin schlecht laufendes Geschäft war nach Corona noch menschenleerer geworden. Wenn er am Tag ein paar Bücher verkaufte, nutzte er das Geld direkt für einen Einkauf oder eine wichtige Anschaffung im Laden. Seine geringe Miete sowohl für das Ladengeschäft als auch für seine Wohnung im selben Haus hatte Klaus seiner langjährigen guten Freundin Ingeborg Reinsch zu verdanken, der das Haus gehörte. Nur so konnte er das Geschäft überhaupt halten. Rente hatte er keine, er war schließlich sein Leben lang selbständig. »Mir war immer klar, ich muss arbeiten, bis ich tot umfalle«, wiederholte er immer wieder, wenn wir auf dieses Thema zu sprechen kamen.

So kam mein erneuter Vorschlag, Social Media für den Laden auszuprobieren, Ende März wie gerufen, und Klaus sagte, ohne lange zu überlegen: »Lass es uns versuchen, ich habe nichts zu verlieren.« Gleich das erste Video ging durch die Decke. Ich erinnere mich, dass wir es zwischen Tür und Angel gedreht haben. Ich hatte noch kein konkretes Skript im Kopf, für Klaus war es eine ungewohnte Situation, gefilmt zu werden. Wenn man genau hinschaut, sieht man es an seinem unsicheren Lächeln in die Kamera. Es war Karfreitag und bereits spät, als ich mit wenigen Klicks ein Profil für das Antiquariat auf TikTok und Instagram anlegte und das erste Video vom Antiquariat hochlud. Eine passende Melodie, ein paar Sätze über den Besitzer und eine Einladung an alle, vorbeizukommen. Danach ging ich schlafen, nicht ahnend, dass es der Anfang vom spannendsten Projekt werden sollte, das ich je umgesetzt habe. Ich öffnete am nächsten Morgen die App und war nicht darauf vorbereitet, was mich dort erwartete. 10000 Menschen hatten über Nacht das Video von Klaus und seinem Antiquariat angeklickt, und die Kommentare ließen mich zumindest vermuten, dass es noch lange nicht das Ende war. Einige kommentierten, dass sie den Laden unbedingt besuchen kommen wollten, erhöhten mit ihren Kommentaren unsere Reichweite und fanden Klaus auf Anhieb sympathisch. Zu dem Zeitpunkt hatte er noch kein einziges Wort in die Kamera gesprochen. Ich rief ihn sofort an und sagte: »Klaus, du wirst es nicht glauben. 10000 Leute haben dein Video angeschaut, und es werden immer mehr.« »Wie viele?«, fragte er ungläubig und weil er sehr schlecht hörte, und sagte dann: »Nicht zu fassen. Dann machen wir weiter.« Darin bestand kein Zweifel.

»Welche drei Bücher sollte man gelesen haben, wenn man sich ernsthaft mit Literatur auseinandersetzt?«, fragte ich ihn für das zweite Video. Kein Kalkül, sondern persönliches Interesse. »Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit, James Joyces Ulysses und Franz Kafkas Prozess.« Eine Antwort, die uns gar nicht so exotisch vorkam, die aber vermutlich noch kein Booktoker auf diese Weise gegeben hatte. Von Anfang an ließ er sich nicht davon beirren, dass viele vielleicht den Prozess von Kafka, aber die wenigsten den längsten Roman überhaupt und schon gar nicht den unlesbaren Joyce angerührt hatten, aber er beantwortete die Frage trotzdem genau so, weil er felsenfest davon überzeugt war. Auch ich ließ mich nicht von Trends oder meinem einschlägigen Wissen über die Plattformen beirren und stellte ihm am Anfang nur Fragen, auf die ich gerne selbst eine Antwort wissen wollte. Fragen, die ich ihm so oder so im Laufe unseres Gesprächs gestellt hätte. »Würdest du den Beruf des Buchhändlers empfehlen?«, »Was hältst du von der neuen Kafka-Serie?« oder »Welcher Schriftsteller ist unterschätzt?«. So schlossen wir bereits zu Anfang stillschweigend den Pakt, dass dieses Projekt nur funktionieren konnte, wenn wir uns beide nicht verstellten und Spaß daran hatten. Im Nachhinein kommt es mir wie eine Farce vor, dass er mit all seiner Ernsthaftigkeit den Menschen Ulysses empfahl und den Beruf des Buchhändlers als vergebliche Lebensmühe darstellte, aber genau das war Klaus’ Naturell – er war authentisch. Das war echtes Wissen, das spürte man, und deswegen hatte er so eine Autorität und so eine Magie. Deswegen war dieses gemeinsame Projekt unbestechlich.

Mit der steigenden Reichweite legten wir uns einen Fragenkatalog an, unterteilten die Videos in verschiedene Kategorien – kurz, stellten eine Strategie für das weitere Vorgehen zusammen. Klaus lud sich die Apps herunter, war ab jetzt öfter an seinem Handy und klickte sich durch unsere Videos. Er screente am Anfang sogar die Kommentare, kam mit der Zeit aber kaum nach. Der Erfolg überrannte uns jeden Tag, so dass wir Zeitnot hatten, unsere Ideen in aller Ruhe zu besprechen. Ich kam mittlerweile jeden Tag ins Antiquariat. Klaus erwartete mich mit einem vollgeschriebenen Zettel, auf dem neue Themen festgehalten waren. »Wir müssen unbedingt die Russen besprechen; ich werde eine Liste mit den wichtigsten Schriftstellern und Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit zusammenstellen und eine Stellungnahme zum Thema ›Literatur ist Kunst‹ schreiben.« Von meinen zahlreichen Ideen ganz zu schweigen.

Mir wurde schnell klar, dass Klaus eine Website brauchte, denn langfristig konnten wir die Bestellungen, die uns auf einmal erreichten, nicht über Instagram und TikTok abwickeln. Sowieso fing für mich die Arbeit erst zu Hause nach einem Drehtag so richtig an. Ich sichtete die Videos, editierte sie mit einem Schnittprogramm, setzte Untertitel ein, baute Thumbnails zur Kategorisierung und stellte sie auf allen Plattformen ein. Bis heute lese ich persönlich jede einzelne Nachricht und jeden Kommentar durch, die uns erreichen, und versuche sie zu beantworten. Natürlich gilt das nicht für komplexe Fragestellungen, die ins Inhaltliche gehen. Nicht einmal mit Klaus’ Hilfe konnte ich Privatnachrichten dazu beantworten, wie er das Werk von James Joyce einschätzt und ob er eine ähnliche Lektüre empfehlen kann. Am Anfang haben wir es versucht, haben sogar der Einfachheit halber Sprachnachrichten an die Follower:innen verschickt, aber mit der Zeit wurde es unmöglich. Wir waren schließlich nur zu zweit. Auf die gelegentliche Kritik hin, unsere Videos seien zu oberflächlich, pflegte Klaus immer zu sagen: »Wir sind nicht im germanistischen Oberseminar, sondern bei Instagram und TikTok.« Und er hatte völlig recht damit.

In der Zwischenzeit beantwortete ich PR-Anfragen, die sich seit dem Artikel im Kölner Express vom 4. Mai 2024 häuften, und machte mit den Journalisten und Redakteurinnen Termine aus. Ich hatte Mitte April ein Mediakit zusammengestellt und es an drei lokale Zeitungen geschickt: Express, Kölnische Rundschau und den Stadtanzeiger. Alle meine Mails sind bei den Redaktionen untergangen, der Express berichtete schließlich darüber, weil ich über einen persönlichen Kontakt kam. Das war das erste und letzte Mal, dass ich unser Projekt am Telefon vorstellen musste.

Anfangs noch völlig überrumpelt von der medialen Aufmerksamkeit, wurden die fast wöchentlichen Termine für uns schnell zur Gewohnheit. »Also, wenn ich für so was anfällig wäre, dann würde ich jetzt mit ganz breiter Brust durch die Gegend laufen. Aber mir ist das eigentlich eher suspekt, und ich kann damit nicht so viel anfangen«, sagte Klaus inmitten des Medienhypes. Gegenüber allen Journalisten und Journalistinnen wurde er nicht müde zu betonen: »Wir sind ein gleichwertiges Team. Der eine kann nicht ohne den anderen.« Und wenn der Journalist zum wiederholten Male die Fragen nur an ihn adressierte, sagte er in seiner unverblümten Art, er sollte doch jetzt bitte eine Frage an Frau Razumovych richten. Anfangs störte es mich nicht, ich brannte für das Projekt und wollte mich ohnehin nie in den Mittelpunkt drängen. Als ich jedoch im ersten ZEIT-Artikel durchweg nur mit Vornamen angesprochen wurde, es in der SZ-Kolumne hieß: »Daria hält die Kamera«, und der Tagesspiegel es schaffte, während eines eineinhalbstündigen Telefonats keine einzige Frage an mich zu richten, war ich Klaus für seine frechen Kommentare während eines jeden Interviews sehr dankbar. »Dass ich da alleine herausgestellt werde, ist eine Hybris, denn ohne Frau Razumovych würde das gar nicht funktionieren«, sagte er im Interview mit der FAZ im Mai 2024.

Überhaupt ist es interessant, was wir in dieser kurzen Zeit alles über die deutsche Medienlandschaft lernen durften. Über gut vorbereitete Gesprächspartner:innen und starke Fragen bis hin zu freien Mitarbeitenden, die nicht zum Termin erschienen, uns mit jemand anderem verwechselten oder eigene Geschichten erfanden. Viele haben über die Atmosphäre im Laden geschrieben, quietschende Stühle, vollgestellte Regale und Klaus’ eigentümliche, unaufgeregte Art. Viele stürzten sich auf die wachsenden Zahlen und ausverkauften Produkte und ernannten ihn zum Bookfluencer des Jahres. »Ja, wieder der gleiche Mist, der Mist in Anführungszeichen«, sagte Klaus nach fast jeder Publikation. Denn es ist schwieriger als gedacht, das rüberzubringen, worum es uns wirklich geht: einfach nur um Literatur.

Den Beweis dafür, dass die Botschaft dennoch ankam, lieferten nicht nur manche Medien, sondern die Menschen online und vor Ort. Ich spreche von Teenagern, die ihre Schule schwänzend im Laden standen und sich gegenseitig die Leiter festhielten, bis jeder das fand, wonach er gesucht hatte. Über Schüler:innen einer 8. Klasse, die uns über TikTok freudig mitteilten, dass sie eine Arbeit über den SZ-Artikel vom 14. November 2024 geschrieben hatten. Ich spreche auch von den beiden dreizehnjährigen Mädels, die sich im Laden rumtummelten und sich nicht trauten, Klaus anzusprechen. Erst als er fragte, ob er helfen könne, sagten sie, dass sie gern ein Selfie mit ihm hätten; von Stolz erfüllt posierte Klaus mit seinen jungen Fans vor der Kamera. Und ich spreche auch von den Menschen auf der Straße und im Supermarkt, die Klaus zuriefen, dass er gute und wichtige Arbeit macht. Und das alles mit alten Büchern, für die sich in den letzten Jahrzehnten zumindest im Kölner Weyertal kaum jemand zu interessieren schien. Es ging uns um die Sichtbarmachung von Literatur, nicht um ihre Ästhetisierung. Vor allem für die junge Generation, damit sie die Chance bekommt, das Leben mit Literatur für sich zu entdecken. Es war weniger ein Gefühl, das wir vermitteln wollten, sondern eine Handlungsabsicht, die aus diesem Gefühl hervorging.

Der Dokumentarfilmemacher Stefan Eberlein, der im Dezember 2024 ins Antiquariat kam, um über einen möglichen Film zu sprechen, formulierte es so: »Ihr trefft einen Nerv. Es geht ja immer darum, etwas anzustoßen, indem man sich die Videos anschaut. Es regt die Menschen an, darüber nachzudenken, was er oder sie eigentlich ernsthaft im Leben macht, um was es eigentlich geht. Ihr steht eindeutig für eure Liebe zur Literatur, und jede oder jeder soll überlegen, was er oder sie eigentlich liebt, wirklich liebt.«

Wenn mich jemand fragt, was meiner Meinung nach unseren Erfolg ausmachte, dann antworte ich Folgendes: Wir liebten die Bücher so sehr, dass wir uns drei Stunden ohne Pause darüber unterhalten konnten, auch wenn keine Kamera auf uns gerichtet war. Das ist auch der Grund, warum Klaus die Fragen nie vorher bekam und ich mir keine Gedanken darüber machte, welche Fragen ich ihm stellte. Dass es da draußen über 200000 Menschen gibt, die unaufgeregten Videos über Literatur lauschen wollten, bestätigt nur, dass der Wunsch nach »mehr« auch bei den anderen präsent ist.