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1733 reist Prinz Anton Ulrich von Braunschweig in Begleitung seiner Flügeladjutanten Fritz von Heimburg und Hieronymus von Münchhausen (dem späteren Lügenbaron) nach St. Petersburg. Dort soll er Anna Leopoldowna heiraten, die Nichte der grausamen und exzentrischen Zarin Anna. Die beiden scheuen Verlobten kommen sich kaum näher und dürfen erst heiraten, nachdem der Prinz sich im Türkenkrieg auf der Krim bewährt hat. Ihr Sohn Iwan wird von der Zarin zum Thronfolger bestimmt und nach ihrem Tod noch im Säuglingsalter zum Zaren gekrönt. Als Regentin für den kindlichen Herrscher ist Anna Leopoldowna völlig überfordert. Dies nutzt Elisabeth Petrowna, eine Tochter Peters des Grossen, um in einem Staatsstreich die Macht an sich zu reissen. Die Braunschweiger werden zuerst nach Lettland verbannt, dann, da die neue Zarin einen Umsturzversuch befürchtet, in die entferntesten Regionen des Reiches. Anna Leopoldowna stirbt nach der Geburt ihres fünften Kindes, der Rest der Familie muss dreissig Jahre in Cholmogory am Rande des Eismeeres ausharren. Erst nach dem Tod ihres Vaters 1776 dürfen die - inzwischen erwachsenen - Kinder mit Hilfe ihrer Tante, der Königin von Dänemark, nach Jütland ausreisen. Obwohl sie immer wieder darum bitten, in ihre russische Heimat zurückkehren zu dürfen, müssen sie in Dänemark, wo sie sich bis zuletzt als Fremde fühlen, ihre letzten Lebensjahre verbringen. Ihr Bruder Iwan, der "Eismeerzar", hat ein noch härteres Schicksal. Seit dem Alter von vier Jahren von seiner Familie getrennt, wird er vollkommen isoliert in der Festung Schlüsselburg im Ladogasee gefangen gehalten und Jahre später bei einem angeblichen Fluchtversuch von seinen Wärtern umgebracht. Wie seine gesamte Familie wurde er hilfloses Opfer der Machtgier skrupelloser Herrscherinnen
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Seitenzahl: 180
Veröffentlichungsjahr: 2019
André Link
Eismeerzar
Iwan VI. und die grausamen Kaiserinnen
Historischer Roman
© 2019 André Link
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
Coverfoto: Danielle Biver
ISBN
Paperback:
978-3-7482-0674-3
Hardcover:
978-3-7482-0675-0
e-Book:
978-3-7482-0676-7
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André Link
Eismeerzar
Iwan VI. und die grausamen Kaiserinnen
Historischer Roman
„Ich bin ermüdt, ich hab geführt
Des Tages Bürd: Es muss eins Abend werden.
Erlös mich, Herr, spann aus den Pflug.
Es ist genug! Nimm von mir die Beschwerden.“
Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1633-1714)
Personenverzeichnis
Peter I., Zar
Katharina I. (Jekaterina), seine Gattin, Zarin
Alexej Petrowitsch, Sohn Peters I. aus erster Ehe
Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel, seine Gattin
Peter II., beider Sohn, Zar
Töchter Peters I.:
Elisabeth (Elisawetta) Petrowna, Zarin
Anna Petrowna
Herzog Karl-Friedrich von Holstein-Gottorp, ihr Gatte
(Karl) Peter III., beider Sohn, Zar
Katharina II. (Jekaterina, eigentlich Sofie von
Anhalt-Zerbst), seine Gattin, Zarin
Pawl (Paul I.), beider Sohn, Zar
Iwan V., Halbbruder Peters I., Zar
Seine Töchter:
Anna Iwanowna, Zarin
Katharina (Jekaterina)
Herzog Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin,
ihr Gatte
Anna Leopoldowna (eigentlich Elisabeth), beider Tochter, Regentin
Prinz Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel,
ihr Gatte
Beider Kinder:
Iwan VI., Zar
Katharina (Käthe)
Elisabeth (Lieschen)
Pjotr (Peter)
Alexej
Geschwister von Prinz Anton Ulrich:
Karl I., Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel
Philippine Charlotte von Preuβen, seine Gattin
Elisabeth Christine, Königin von Preuβen
König Friedrich II. von Preuβen, ihr Gatte
Luise Amalie
Prinz August Wilhelm von Preuβen, ihr Gatte
Ludwig Ernst, Herzog von Kurland
Ferdinand
Juliane Marie, Königin von Dänemark
Erbprinz Frederik, ihr Sohn
Kronprinz Frederik (später König Frederik VI.), ihr
Stiefenkel
Adlige am Hof von Sankt Petersburg:
Ernst Johann von Bühren (Biron), Herzog von Kurland, Favorit der Zarin Anna
Andreas Ostermann, Premierminister
Burkhard Christoph von Münnich, Feldmarschall
Katharina (Jekaterina) Dolgorukowa, Braut Peters II.
Elena Dolgorukowa, ihre Schwester
Hofdamen Anna Leopoldownas:
Julie (Julchen) von Mengden
Jakobina (Bina) von Mengden, ihre Schwester
Moritz Graf zu Lynar, sächsischer Gesandter
Flügeladjutanten von Prinz Anton Ulrich:
Friedrich (Fritz) von Heimburg
Hieronymus von Münchhausen
Erster Teil
1
„In Petersburg, Fritz, gibt es die besten Kachelöfen der Welt“, sagte Prinz Anton Ulrich mit einer altväterlichen Allwissenheit, wie sie nur ihm eigen war.
Kachelöfen - von wegen! Was vermag die beste Heizung gegen Minustemperaturen bis in den April hinein, gegen Schneewehen, die wie Gebirge zum Himmel wachsen, gegen eine weiβe Last, die Dörfer bis zur Spitze der Kirchtürme unter sich begräbt, gegen zugefrorene Seen, die das halbe Jahr unter einem Eispanzer liegen? Und in dieses frostige Land mussten nun wir beide. Anton Ulrich, weil sein Vater Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel war, seine Tante deutsche Kaiserin und seine Schwester angehende Königin von Preuβen. Ich, weil ich als sein Kornett ihm nicht von der Seite zu weichen hatte.
Noch kurz vor der Abreise hatte er mich zu seinem Flügeladjutanten ernannt. Für einen Landjunker aus Blankenburg, dessen Vorfahren noch fünf Generationen zuvor die Wälder des Harzes gerodet hatten, eine nicht unbeträchtliche Ehre. Die Uniform mit den breiten Ärmeln und den blitzenden Litzen stand mir gut, und in Gedanken schwang ich bereits die Standarte, die ich einem kaiserlich-russischen Kürassierregiment durch Tundra und Taiga vorantragen sollte.
Dem Beispiel meines Herrn folgend, wappnete ich mich mit Gelassenheit. In der Tat war Anton Ulrich das Paradebeispiel eines Stoikers. Sah man seine schweren Augenlider und sein gelbes Haupthaar über seinen Leibnitz geneigt, wusste man, dass diesen Fürstenspross nichts erschüttern konnte. Eigentlich hatte ihn sein phlegmatisches Wesen für eine Universitätsaula oder einen Bischofsstuhl vorbestimmt, als Sohn des Herzogs von Braunschweig blieb ihm aber nichts anderes übrig, als ein Schlachtross zu besteigen und eine Thronerbin zu heiraten. Beides nahm er mit dem Pflichtbewusstsein auf sich, das einem mustergültig dazu erzogenen Welfen zukam.
Bevor es in die Tundra ging, warteten wir die Hochzeitsfeierlichkeiten ab, die Herzog Ferdinand Albrecht mit Pracht und Prunk seiner Tochter auf Schloss Salzdahlum ausrichtete. Arme Elisabeth Christine: Hätte sie geahnt, was sie an der Seite dieses kalten Fisches von Hohenzollernprinzen erwartete, sie hätte sich im Burggraben von Salzdahlum ertränkt.
Sie aber war nichtsahnend, und auch uns schwante nicht, was uns in Russland erwartete. Überall, wo unsere Expedition passierte, erwies man dem Grafen Stolberg (unter diesem Namen reiste mein Herr) und seiner Begleitung die gebührenden Ehren. Hieronymus von Münchhausen, mein früherer Stubenkamerad, führte die kleine Reitereskorte an, neben uns im Wagen saβ Pastor Jörg Bachmann, den wir wegen seiner Russischkenntnisse mitgenommen hatten. Dass er diese Kenntnisse lediglich aus Büchern bezog und die einfachsten Wörter nicht auszusprechen wusste, sollten wir zu unserem Leidwesen erst im weiteren Verlauf der Reise erfahren.
Als der gewichtige Seelsorger uns schlieβlich verriet, dass russische Verben zwei Aspekte, aber nur eine Vergangenheitsform haben, die Dingwörter und Adjektive sich in sieben grammatischen Fällen deklinieren und selbst die Zahlwörter einen Wurm von komplizierten Beugungen hinter sich her schleppen, winkten wir stöhnend ab. Nun, Anton Ulrich war ein Tüftler und hatte ganze Tage in der sagenumwobenen Hofbibliothek von Wolfenbüttel verbracht. Er hatte uns das eingebrockt, mochte er die Ungereimtheiten dieser barbarischen Sprache in den Griff bekommen!
Kurzweil fand Prinz Anton während der wochenlangen Fahrt in seinen Büchern, und zwischendurch amüsierten uns die Anekdoten und Geschichtchen, die Hieronymus in ununterbrochener lockerer Folge zum Besten gab. Er war wie ich gerade sechzehn geworden, und ich hatte mit ihm die unwahrscheinlichsten Abenteuer erlebt und die tollsten Späβe ausgeheckt. Uns beide muntere Gesellen an seiner Seite zu haben tat dem Leisetreter-Prinzen ganz gut.
Ein kunterbunter Wirbel, drehte sich das Karussell der Reisebilder um uns. In Wismar trieben die Kirchtürme wie Schiffsrahen, in Stettin begrüβte uns der preuβische Stadtkommandant Fürst Christian August von Anhalt-Zerbst. Dass uns hier der Vater einer künftigen Zarin und Widersacherin meines Herrn willkommen hieβ, konnten wir ja nicht wissen … Diejenige, die einst Russland mit eiserner Faust regieren und, wie ihre Vorgängerinnen, uns das Leben schwer machen sollte, bekamen wir jedenfalls nicht zu Gesicht, da sie gerade erst den Windeln entwachsen war.
Beseligt unter dem Ansturm der auf uns einstürzenden Eindrücke schnupperte mein Prinz die Kathederluft von Königsberg ein, dann wagten wir uns nach Livland vor und bewunderten das Mitauer Schloss, in dem die Zarin als Herzogin von Kurland dahinvegetiert hatte, bevor sie Kaiserin wurde. Jetzt bewohnte, wenn er nicht gerade an ihrer Seite war, das Anwesen Annas Favorit Ernst Johann von Bühren, den man in Russland „Biren“ aussprach, der sich aber am liebsten französisch als „Biron“ anreden lieβ.
Dass der mächtigste Mann im Staat sich der Importenz unserer Wenigkeit bewusst war, zeigte sich gleich bei unserer Ankunft in Riga: Biron schickte uns eine mit Zobeln vollgestopfte sechsspännige Kutsche und eine säbelrasselnde Dragonereinheit, die uns wie Könige nach Sankt Petersburg geleiteten.
2
Ich kam in Blankenburg zur Welt und wurde dort in der Bartholomäuskirche aus der Taufe gehoben. Da meine Eltern sich wenig um mich kümmerten, war ich mehr oder weniger mir selbst überlassen. Ein bisschen wuchs ich wie ein kleiner Wilder auf. Meiner gutmütigen Gouvernante und dem pedantischen Lehrer, der mich mit Französisch und Latein peinigte, entronnen, strolchte ich stundenlang zu Füβen des Ziegenbergs und des Struvenbergs herum. Ich watete barfuβ durch den Goldbach, hob Vogelnester aus, stellte Eidechsen, Fröschen und Wieseln nach und löschte meinem Durst im Moorwasser. Ich nehme an, all dem verdanke ich meine eiserne Gesundheit, die mich Temperaturen bis minus dreiβig Grad trotzen lässt.
Als ich zwölf Jahre alt war, kam Ludwig Rudolf, Fürst von Blankenburg und angehender Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, eines Tages zur Jagd. Der dicke Mann mit den Hamsterbacken und dem Wohlstandsbauch, der fast sein grünes Jagdwams sprengte, saβ auf einem braunen Wallach, den man schwerlich für diese Last beneiden konnte.
Mit anderen Knaben der Umgebung schlug ich mich durch die Wälder und trieb Hasen und sonstiges Viehzeug vor das fürstliche Schieβgewehr, damit es seine Beute bequem mit bloβer Krümmung des Zeigefingers abknallen konnte.
Das Resultat muss befriedigend gewesen sein, denn als die niedergemähten Hasen, Marder, Dachse und Eichhörnchen in säuberlichen Reihen vor ihm lagen, legte der Fürst, dem man gesagt hatte, dass ich mehr als ein Bauernlümmel war, seine tapsige Hand auf meinen Blondschopf und sagte: „Bon travail, mon gars. Du bist ein braver kleiner Kerl. Sag, willst du nicht als Page zu uns ins Schloss kommen?“
Mein Vater war gleich Feuer und Flamme. Wahrscheinlich sah er mich bereits auf edlem Streitross wie Prinz Eugen gegen Türken, Wallachen und sonstige Kreaturen ins Feld ziehen.
So kam ich nach Braunschweig und Wolfenbüttel. Zunächst musste ich Nachttöpfe leeren, auf dem Kutschbock sitzen, wenn die jeweiligen Herzöge (infolge mehrerer Sterbefälle gab es eine rasche Folge von Herrschaftswechseln) ausfuhren, sie zu Audienzen oder Kirchgängen begleiten.
Dann wurde ich Prinz Anton Ulrich zugeteilt, der mich in sein Regiment aufnahm. Ich hatte ihn schon früher inmitten seiner Geschwister von ferne im Schlosshof von Blankenburg erblickt und wusste, dass ich von diesem schlaksigen und ernsten jungen Mann nichts zu befürchten hatte. Jetzt konnte ich als braunschweigischer Kornett den Stallburschen Standpauken halten, wenn sie unsere Pferde nicht ordentlich gestriegelt hatten oder das Zaumzeug schief hing. Ich durfte aber auch die Stiefel meines Herrn putzen und sogar seinen Brustpanzer polieren. Dass man im achtzehnten Jahrhundert noch mit so einem Relikt aus dem Mittelalter herumlief, hatte mich zunächst verwundert, aber schneidig war es schon.
In Braunschweig lernte ich Hieronymus von Münchhausen kennen, der als Halbwaise früh an den Hof gekommen war. Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass sein Groβvater, der wie er Hieronymus hieβ, braunschweigischer Premierminister gewesen war. Da dessen Enkel aus den Niederungen, nämlich Bodenwerder an der Weser, kam, schaute ich zunächst etwas auf ihn herab. Nach einer zünftigen Rauferei wurden wir dann aber gute Freunde. Hatten wir gemeinsam etwas ausgeheckt oder ausgefressen, gab es schon mal Arrest oder Schläge. Zum Spieβrutenlauf ist es – gottlob – nie gekommen.
Anton Ulrich war alles andere als ein strenger Herr. Er saβ lieber über seinen Büchern als über seinem Reittier. Allerdings sah die Welfentradition eine militärische Laufbahn vor. Seine Brüder Ferdinand und Ludwig Ernst, die bereits ehrenhaft in kaiserlich-österreichischen oder preuβischen Diensten standen, waren dafür begabter, und der verhinderte Scholar machte es ihnen nach, so gut er konnte.
Mit seinen dreizehn Geschwistern war Anton Ulrich auf den Gütern seines mütterlichen Groβvaters Ludwig Rudolf (derselbe, dem ich die Jagdbeute vor die Flinte trieb) von seiner Mutter Antoinette Amalie unprätentiös, aber liebevoll groβgezogen worden. Herzog von Braunschweig war damals August, der älteste Sohn des kunstsinnigen und auch dichterisch talentierten Herzogs Anton Ulrich. Sowohl August wie auch Ludwig Rudolf starben nach kurzem Regnum, und so ging das vereinte Herzogtum Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel an Ferdinand Albrecht II. aus der Linie Bevern über, und der war Anton Ulrichs Vater.
3
Im Sommer 1733 ging es nach Berlin. Herzog Ferdinand Albrecht suchte sich durch eine ausgeklügelte Heiratspolitik Preuβen zu nähern, und so wurde jetzt die Vermählung seines ältesten Sohnes Karl mit der Hohenzollernprinzessin Philippine Charlotte gefeiert.
Berlin verblüffte uns in mehr als einer Hinsicht. Hier brannten die Straβenlaternen die ganze Nacht, und der Kehricht wurde nicht einfach in die Spree gekarrt, sondern von einem speziell dafür vorgesehenen Fuhrwerk weggebracht. Und hatte man unterwegs ein dringendes Bedürfnis, so standen, um sich der anfallenden Last anzunehmen, überall dienstbare Geister mit Kübeln bereit.
König Friedrich Wilhelm hatte Textilmanufakturen, Banken und die allgemeine Schulpflicht ins Leben gerufen, war aber im Übrigen als trinkfester Grobian bekannt, der am liebsten mit seinem „Tabakskollegium“ beim Zechen saβ. Seinen Spitznamen „Soldatenkönig“ trug er nicht umsonst. Besonders stolz war er auf seine „Langen Kerls“, die er aus ganz Europa für seine Garde zusammentrommelte.
In Berlin gab es nichts als Truppenparaden. Alles war militärisch, das sah man bereits an den Kriegermasken am Zeughaus. Da hatten es die Kinder des Königs nicht leicht, die er auch noch im Erwachsenenalter an einem straffen Gängelband hielt. Muβe, ihren geistigen Neigungen nachzugehen - die Prinzessinnen Wilhelmine und Amalie komponierten, und auch Kronprinz Friedrich widmete sich gerne dieser Kunst - hatten sie kaum. Mit Letzterem wäre Ulrich Anton gerne ins Gespräch gekommen, aber das lieβ der König nicht zu, der wie ein grimmiger Fleischerhund im Hintergrund lauerte. So musste Anton Ulrich es bei gelegentlichen Plaudereien mit seiner künftigen Schwägerin Philippine bewenden lassen, die wie er Christian Wolff und Salomon Gessner las.
Wir hatten wenig Zeit, einen Blick auf die königlichen Schlösser in Berlin, Potsdam und Charlottenburg zu werfen, da ging es schon wieder nach Hause. Herzog Ferdinand Albrecht hatte eine Überraschung für Anton Ulrich. Mit Graf Gustav von Löwenwolde, der im Auftrag der Kaiserin Anna Iwanowna durch Europa reiste, war ein Handel zustande gekommen. Wenn er sich am Riemen risse, so eröffnete der Herzog stolz seinem Sohn, könne er eine ebenso gute Partie wie seine Geschwister machen und eine künftige Zarin von Russland heiraten.
4
So etwas hatten unsere Augen noch nicht gesehen: Da reihten sich die Adelspaläste aneinander, und einer prächtiger beleuchtet als der andere. Die Petersburger schienen ein Vermögen an Kerzen und Laternen auszugeben! „Wo ist denn die Newa?“, fragte Anton Ulrich Leutnant von Boyer, der unsere berittene Eskorte befehligte.
„Sie liegt Euch zu Füβen“, antwortete der Leutnant. „Nur, sie ist gefroren.“
In der Tat, was wir für Reflexe auf dem Straβenpflaster gehalten hatten, waren gelb und blau angestrahlte Eisschollen. Eisschollen … In Wolfenbüttel blühten jetzt die Astern, und die Boskette hingen voller Äpfel und Birnen …
In einem veilchenblauen Meer trieb am Newaufer die kaiserliche Residenz, der Winterpalast, der von Tausenden violetter Lampions beleuchtet war. Wir schritten über Hunderte Treppenstufen und durch endlose Saalfluchten, krampfhaft bemüht, uns unsere Erregung nicht anmerken zu lassen, aber uns schlug das Herz bis zum Hals.
Wir wurden in einer riesigen Thron- und Empfangshalle erwartet. Anna Ioannina - so hieβ sie offiziell - saβ unter einem Baldachin, den der russische Doppeladler in seinen Fittichen hielt. Sie war rund wie eine Tonne und trug eine kleine Krone auf ihrem schwarzen Haar, das in kunstvoll geringelten, mit Perlen durchflochtenen Locken herabfiel. Imposant war sie schon, Russlands Monarchin, allein die Hängebacken, zwischen denen eine spitze Nase wie ein Schnabel vorstieβ, waren westfälischen Schinken nicht unähnlich.
Um die Herrscherin hatten sich ihre höchsten Würdenträger aufgestellt, deren Rang und Bedeutung wir erst nach und nach erfahren sollten. In der Hauptsache waren dies Premierminister Andreas von Ostermann und Feldmarschall Burkhard Christoph von Münnich (auf Russisch „Minich“), die Brüder Löwenwolde, die für die Zarin auf Freierschau gegangen waren, Nikolaus Korf, Vorsitzender der Akademie der Wissenschaften, Semjon Saltykow, der Zarin für Spitzeldienste unentbehrlich, Mikhail Golitsin, der das nicht zu unterschätzende Amt des Oberhofnarren bekleidete.
Die Zarin musterte uns aus scharfen wasserblauen Augen, kniff ihre Lippen zu und sagte nichts. Aus den Reihen der Würdenträger wand sich ein leicht gebückter, dunkelhäutiger Mann, der wie ein Wegelagerer aussah: Ernst Biron, Annas Favorit und Liebhaber, dem man die Manieren eines Pferdekutschers und die Gerissenheit eines Kosaken zuschrieb.
Er grinste uns an, dass man das Weiβe seiner kohlschwarzen Augen leuchten sah, und sagte: „Und welcher der jungen Herren ist der Graf Stolberg … pardon, wollte sagen: Seine Durchlaucht Prinz Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern?“
Anton Ulrich stolperte vor und stotterte: „A vos services … Euer u..untertänigster Diener.“
Wenn er aufregt war, stotterte er halt, und flammendes Rot färbte seine bleichen, schmalen Wangen. Ja, Prinz Anton Ulrich hatte kein leichtes Leben.
Aus den erlauchten Reihen um den Thron war Kichern zu hören, und die Zarin und ihr Favorit tauschten mokante Blicke aus. Anton Ulrich machte einen weiteren ungeschickten Bückling, und dann sprudelte es aus ihm: „Dies ist mein Flügeladjutant, Karl Friedrich Freiherr von Heimburg, und mein Fähnrich, Hieronymus Baron von Münchhausen.“
Premierminister von Ostermann schien dies als Signal zu deuten, sich bemerkbar zu machen. Er trat einen Schritt vor, wobei seinem mit Schnupftabak besprenkelten pfirsichfarbenen Frack fingerdicker Schweiβgeruch entströmte, und sagte feierlich, doch ohne einen Anflug von Wärme: „Willkommen in Sankt Petersburg, der Stadt Peters des Groβen. Ich hoffe, Durchlaucht haben eine angenehme Reise gehabt.“
In diesem Moment schnappten die schmalen Lippen Anna Iwanownas wie der Rachen eines Hechtes auf, und sie fauchte in perfektem Deutsch: „Nun, Prinz Anton Ulrich, wollt Ihr nicht Eure Braut begrüβen?“
Dies war die offizielle Vorstellung der Verlobten. Steif verbeugte sich Prinz Anton vor seiner Zukünftigen, und sie deutete ebenso steif einen bewusst knappen Knicks an. Anna Leopoldowna, Zarinnennichte und einstige Prinzessin von Mecklenburg, war zierlich, ohne graziös zu sein, und keine Schönheit, aber auch nicht hässlich. Unbestimmtheit war das Wesen der Thronerbin, deren eher eckiges, todernstes Gesicht nie ein Lächeln zu erhellen schien. Im Mittelpunkt zu stehen war ihr zuwider, denn in den weiteren Verlauf der Konversation mischte sie sich nicht ein, sondern versteckte ihre Hände in ihrem Muff und stand mit gesenkten Augen wie eine Schneiderpuppe herum.
Plötzlich lebhaft, wenn nicht zappelig geworden, beherrschte die Zarin unterdessen das Geschehen. Sie erkundigte sich nach Kaiser Karl VI. - den wir kaum kannten -, nach König Friedrich Wilhelm und seinem Sohn Kronprinz Friedrich – die wir nur zweimal im Leben gesehen hatten.
„Spielt er noch immer fleiβig Flöte?“, krächzte die Zarin mit ihrer heiseren Stimme.
„Oh, seine Offizierscharge versieht der Kronprinz doch sehr gewissenhaft“, gab mein Herr Auskunft, und ich erinnerte mich, wie auf der Hochzeit seiner Schwester sein Schwager schwärmerisch das Orchester auf seiner Querflöte zu musikalischen Höhepunkten geführt hatte. Die Reize von Prinzessin Christine – die doch allerliebst war – hatten ihn weniger verzückt.
„Nun, dann gibt es wenigstens etwas, das er nicht vernachlässigt.“ Die Zarin wechselte höhnische Blicke mit Biron. „Ein Erbprinz, dem Flötespielen das Höchste ist – si ce n’est pas ridicule.“
Anton Ulrich stand verlegen, als bereits die nächste Frage aus kaiserlichem Mund kam: „Und Ihr, Euer Gnaden, spielt Ihr auch ein Instrument?“
„Violoncello, Majestät.“
„Das unhandliche Ding, das man sich zwischen die Beine steckt?“ Wie eine Beschimpfung spie es die Zarin aus. „Nun, ich hoffe, Ihr klemmt Euch auch mal etwas anderes zwischen die Beine …. Wir wollen Kindergeschrei im Winterpalast hören, junger Mann, versteht Ihr das?“
Anton Ulrich wurde rot bis zu den Ohren, Anna Leopoldowna rührte sich nicht, ich hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht laut herauszuplatzen.
Die Zarin war aber noch nicht fertig. Während Biron sich vorbeugte, um ihr mit seinem Taschentüchlein den Schweiβ von der Stirn zu wischen, knurrte sie: „Ich geh nie in die Oper. Kann das Gedudel auf den Tod nicht leiden. Und erst das Gekreische der Kastraten! Gadost!“
Voller Ehrfurcht lauschte der Hof den Tiefgründigkeiten seiner Gebieterin. Die wiederum schenkte ihr Gehör etwas, das von drauβen kam. Die kleinen wasserblauen Augen blitzten, die feisten Hände fuchtelten um sich. „Was ist das für ein Lärm?“, gellte die Kaiserin und sprang mit einer Flinkheit auf, die man ihrer stattlichen Statur nicht zugetraut hatte.
Die erlauchten Reihen wichen zurück, nur Saltykow, dem dieses besondere Vorrecht zu gebühren schien, schnellte vor und reichte seiner Herrin, die, ihren Hermelin wie einen Fetzen von sich schleudernd, zur nächsten Fensternische geeilt war, ein Gewehr. Drei, vier Schüsse ratterten durch das von Lakaien aufgerissene Fenster, und im abendlichen Dunkel sah man drei tote Möwen herabfallen.
„So, die machen uns keinen Ärger mehr“, jubilierte die Kaiserin und hielt im Triumph den rauchenden Gewehrlauf hoch. Ja, so war sie, Anna Ioannina, Herrscherin aller Reuβen und leidenschaftlichste Waidfrau ihres Reiches.
5
Alexej, der zweite Herrscher der Romanow-Dynastie, hinterlieβ drei Söhne. Der Älteste regierte als Fjodor III. nur zwei Jahre. Auf den Thron folgten ihm, gemeinsam zu Zaren gekrönt, sein Bruder Iwan und sein Halbbruder Peter. Da jedoch Iwan V. körperlich und geistig stark zurückgeblieben und Peter noch ein Kind war, übernahm ihre Schwester Sofia die Regentschaft für sie. Dies tat sie mit einer solchen Autorität und einem solch ausgesprochenen Willen zur eigenen Machtausübung, dass Peter sie ins Nowodjewitschi-Kloster sperrte. Die Leichen ihrer angeblichen Liebhaber aus den Reihen der für sie streitenden Strelitzen-Kompanien lieβ er zur allgemeinen Abschreckung vor ihrem Fenster aufzuhängen.
Peter herrschte nun resolut, willensstark, rücksichtslos – und allein. Zum Regieren war der einige Jahre ältere Iwan nicht imstande. Trotz seiner Behinderung hatte er es aber fertiggebracht, drei Töchter zu zeugen. Die älteste, die impulsive, lebensfrohe Jekaterina, war der Liebling ihrer Mutter, die jüngste, Praskowia, hatte von ihrem Vater die rachitische Konstitution und den kümmerlichen Verstand geerbt, so dass sie im weiteren Ringen um die Macht keine Rolle spielte.
Die unscheinbar-verschlossene Anna, die mittlere der Schwestern, war zwar das Aschenputtel ihrer Mutter, der sie nichts recht machen konnte, sie verbrachte aber eine weitgehend unbeschwerte Kindheit in Ismailowo bei Moskau mit seinen verschwenderischen Gärten, Orangerien und Wasserspielen. Peter der Groβe, der seinen Blick stets nach Westen gerichtet hielt, suchte sich den deutschen Fürsten anzunähern und wählte einen davon, den jungen Herzog von Kurland Friedrich Wilhelm, als Bräutigam für seine Nichte aus. Die Hochzeit wurde tagelang mit einem Pomp gefeiert, der die Brautleute schier zermalmte. Der Bräutigam war jedenfalls davon so mitgenommen, dass er kaum zwei Monate nach der Eheschlieβung den Weg alles Irdischen ging. Anna saβ nun in Mitau, verwitwet und mittellos, und langweilte sich zu Tode. Immer wieder flehte sie in Briefen den Zarenonkel an, ihr doch Geld und, wenn möglich, einen neuen Ehemann zu schicken. Darauf ging Peter ebenso wenig ein wie seine Gemahlin Katharina, die sich nach seinem Tod die Zarenkrone aufsetzte. Die Dinge änderten sich nicht, nachdem Katharina, einstige Bauernmagd aus Lettland und durch eine kuriose Schicksalsfügung zur Selbstherrscherin Russlands aufgestiegen, sich zu Tode gehurt und gesoffen hatte.
Man machte nunmehr Peter, den minderjährigen Enkel Peters des Groβen, zum Zaren. Sein Vater war der Zarewitsch Alexej, seine Mutter Charlotte von Braunschweig- Wolfenbüttel gewesen - ein Omen, das ihrem Neffen, unserem Prinzen Anton Ulrich, eine Warnung hätte sein müssen, wenn er sich nicht derart blind in das Vermählungsabenteuer gestürzt hätte.
Alexej war Peter dem Groβen verhasst, weil er sich nicht seinen Reformen anschlieβen wollte. Von seinem ungeduldigen Vater bedrängt und gedemütigt, setzte sich der Zarensohn ins Ausland ab und suchte Zuflucht bei seiner Schwägerin, Kaiserin Elisabeth Christine, und ihrem Gatten Karl VI., der, überrumpelt durch das plötzliche Auftauchen des Zarewitsch, ihn nach Italien abschob.