Elements of Love - Kathinka Engel - E-Book

Elements of Love E-Book

Kathinka Engel

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Beschreibung

Liebe in allen Farben und Elementen Schüchterne Blicke, feurige Berührungen und das Kribbeln im Bauch beim ersten Date. Ist es nicht schön, auf Wolke Sieben zu schweben? Jede der zwölf romantischen Geschichten erzählt von der großen Liebe und einem der vier Naturelemente. Wunderschön illustriert und veredelt ist die Anthologie ein Muss für alle New-Adult Leser:innen. Fantastisch oder real, slow-burn oder prickelnd, straight oder queer: Die perfekte Lektüre zum Träumen und Verlieben im sommerlichen Garten, auf dem Balkon oder am Meer. Ein Sturm der Gefühle: Feuer, Erde, Wasser, Luft in 12 einzigartigen Kurzgeschichten zum Verlieben Zwei Lieblingsgenres vereint in einem Buch: Romance und Romantasy! Die 12 romantischen Kurzgeschichten von 12 großartigen Autor:innen sind vereint unter dem Oberthema: Die vier Elemente: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Perfekt für Leser:innen von New Adult und Romantasy.  Bestsellerautor:innen und vielversprechende Talente aus dem Romance- und Romantasy-Genre rücken in romantischen Kurzgeschichten jeweils eins der vier Elemente in den Mittelpunkt. Die Autor:innen: Kathinka Engel, Marie Grasshoff, Christian Handel, Stefanie Hasse, Lea Kaib, Laura Labas, Kim Leopold, D.C. Odesza, Carina Schnell, Rose Snow, Andreas Suchanek, Nena Tramountani Mit wunderbaren Gedichten von Marie Weis und fantastischen Illustrationen von Tiffy Jung!

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München Jahr 2024

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Stefanie Jung und Shutterstock.com

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Erde

Vita: Kathinka Engel

Kathinka Engel

Des Zufalls Schicksal

Vita: Nena Tramountani

Nena Tramountani

Altlasten

JANUAR

FEBRUAR

MÄRZ

APRIL

MAI

JUNI

JULI

AUGUST

SEPTEMBER

OKTOBER

NOVEMBER

DEZEMBER

Vita: Stefanie Hasse

Stefanie Hasse

Ein kleines bisschen Magie schadet nie

I. PASS AUF, WO DU DEINE HÄNDE REINSTECKST

II. MANCHMAL MUSS ERDELEMENTARIN EINFACH MAL DEN MUND HALTEN

III. WER MIT DEM FEUER SPIELT, VERBRENNT SICH

IV. KANN ES SEIN, DASS ES HIER ZIEMLICH HEISS IST?

Luft

Vita: Carina Schnell

Carina Schnell

When the Wind Carries your Name

FIONA

ELLIE

FIONA

Vita: Christian Handel

Christian Handel

Die Sehnsucht der Nachtigall

NINA

JORIS

NINA

Vita: Kim Leopold

Kim Leopold

Free Falling

BEN

TORI

BEN

TORI

BEN

TORI

BEN

TORI

Wasser

Vita: Laura Labas

Laura Labas

Seda

Vita: D. C. ODESZA

D. C. Odesza

When the sea saves us

AVA

WAYNE

AVA

Vita: Andreas Suchanek

Andreas Suchanek

Von Wasser geküsst

VON ERDE BERÜHRT

VON LIEBE VERLETZT

VON WIND GETRAGEN

VON STURM UMTOST

VON WASSER GEKÜSST

Feuer

Vita: Marie Graßhoff

Marie Graßhoff

Feuer der Vergangenheit

KAPITEL 1: ASCHE

KAPITEL 2: EIS

KAPITEL 3: FEUER

KAPITEL 4: LICHT

Vita: Lea Kaib

Lea Kaib

Love with Fire

Vita: Ulrike Mayrhofer und Carmen Schmit

Rose Snow

Nichts als heiße Luft

Elements of Love – POETRY

Vita: Marie Weis

Element Erde

Element Luft

Element Wasser

Element Feuer

Die Illustratorin

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

 

Kathinka Engel kennt die Buchwelt aus verschiedensten Perspektiven: Als leidenschaftliche Leserin studierte sie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, arbeitete für eine Literaturagentur, ein Literaturmagazin und als Redakteurin, Übersetzerin und Lektorin für verschiedene Verlage. Wenn sie nicht gerade schreibt oder liest, trifft man sie in Craftbeer-Kneipen, im Fußballstadion oder als Backpackerin auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Mit ihrem Debüt Finde mich. Jetzt schaffte Kathinka Engel es aus dem Stand auf die SPIEGEL-Bestsellerliste.

Bei Instagram teilt sie unter @kathinka.engel ihre Begeisterung für Bücher.

Kathinka Engel

Des Zufalls Schicksal

 

Jeden Morgen wache ich mit dem Sonnenaufgang auf. Hier draußen im Sequoia National Park, wo Rio und ich seit zwei Monaten leben und endlich, endlich nur für uns sein können, passt man sich automatisch der Natur an. Sobald die Vögel anfangen zu zwitschern, regt sich Rio neben mir. Ich öffne die Augen und sehe ihn an. Sehe seine entspannten Gesichtszüge, sein glückliches Lächeln, und weiß, das hier war die richtige Entscheidung.

»Guten Morgen«, sagt er auch heute mit seiner kratzigen Morgenstimme, robbt auf meine Bettseite und küsst mich.

»Guten Morgen«, antworte ich und erwidere sein Lächeln.

Er setzt sich auf, streckt sich. Ich betrachte seinen wunderschönen Rücken. Anfangs fiel es mir schwer, meinen Blick loszureißen. Aber inzwischen hat mein Kopf verstanden, dass diese Momente kein Ablaufdatum haben.

Rio geht wie jeden Morgen laufen, und auch ich schäle mich aus dem Bett, stapfe die knarzenden Stufen unserer Blockhütte nach unten und stelle die Espressokanne auf den Herd. Kurz darauf setze ich mich mit einem dampfenden Kaffee in der einen und meinem Laptop in der anderen Hand auf die Veranda hinter dem Haus. Von dort aus hat man einen wunderbaren Ausblick auf den kleinen Teich und den Wald um uns herum.

Hier, inmitten der lebendigen Geräusche der Natur, inmitten des Dufts nach Harz und Erde, schreibe ich das Drehbuch über die Liebesgeschichte meiner Urgroßeltern Josip und Dunja. Wie sie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg aus dem ehemaligen Jugoslawien in die USA emigrierten und sich auf der langen Überfahrt kennenlernten. Wie sie sich bei ihrer Ankunft in New York aus den Augen verloren und Jahre später wiederfanden. Jeden Tag wächst mein Drehbuch, das gleichzeitig die Abschlussarbeit für mein Drehbuchstudium an der UCLA ist.

Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee, schließe für einen Moment die Augen. Dann öffne ich das Dokument und tauche ein.

 

Das Schiff schaukelte. Seit zwei Tagen nun hatte Josip keinen festen Erdboden mehr unter den Füßen, und er hatte sich immer noch nicht entschieden, was das kleinere Übel war: sich an Deck an die Reling zu klammern, salzige Seeluft zu atmen und dem Meer bei seiner schlechten Laune zuzusehen, oder in der Kajüte zu bleiben, wo er sich hinlegen und auf Schlaf hoffen konnte.

Doch die Kajüte war ihm heute zu eng, die Luft zu stickig. Seine Familie war nicht wohlhabend wie andere an Bord der Odyssey. Es war schwierig gewesen, die Überfahrt zu organisieren. Ihre gesamten Ersparnisse – die der Eltern, die der Schwester und seine eigenen – waren in die Passagen geflossen. Selbst der zehnjährige Petar hatte sein Sparschwein plündern wollen, doch am Ende waren nur vier Münzen und ein Knopf zusammengekommen.

Josip betrat breitbeinig das Deck, um das Schwanken auszugleichen, und sog gierig die Luft ein. Seit zwei Tagen war ihm mulmig, und seit zwei Tagen hatte er nichts gegessen. Seine Mutter machte sich deswegen bereits Sorgen, aber immerhin hatte er sich – im Gegensatz zu Petar und Ana – auch seit zwei Tagen nicht übergeben.

Er sah sich um. An der Reling standen Menschen paarweise oder in kleinen Gruppen. Für niemanden an Bord war der Aufbruch von zu Hause eine leichte Entscheidung gewesen, das Land zu verlassen, ihre Heimat, ihre Freunde und Familie, doch für alle von ihnen war sie alternativlos gewesen. Josip erkannte die Rosenthals, eine deutsche Familie, deren Sohn Petar ein Kartenspiel beigebracht hatte. Ein frisch verheiratetes Paar aus Belgien stand ein paar Meter weiter. Sie hielt sich ihren Bauch, weil ihr schlecht und weil sie schwanger war. Josip beneidete sie nicht um ihren Zustand.

Am Heck des Schiffs stand eine Frau. Sie war allein. Er hatte sie schon ein paarmal gesehen. Sie musste in Anas Alter sein, vielleicht achtzehn oder neunzehn. Ihr Kleid bauschte sich im Wind, und sie war die Einzige hier oben – soweit Josip es aus der Ferne beurteilen konnte – , die einigermaßen entspannt wirkte.

Er ging auf sie zu. Zu Hause war er nicht unbedingt dafür berühmt gewesen, Unterhaltungen mit Fremden anzufangen, aber auf dem Schiff war es leicht, gemeinsame Themen zu finden, sofern man die gleiche Sprache sprach. Es war ein Vorteil, dass er bereits ein wenig Englisch konnte. So hatte er Petar sagen können, dass der deutsche Junge mit dem Kartenspiel Max hieß und aus München stammte. Er hatte Ana weitergegeben, dass eine junge Londonerin ihre Frisur mochte. Und er hatte einen der Offiziere gefragt, ob sich das Wetter denn bald bessern würde. Das Lachen des jungen Mannes hatte jeder verstanden, und es stellte sich heraus, dass dies gutes Wetter war. Er hatte es »leichtes Schaukeln« genannt, und Josip war rot geworden.

Doch mit der Frau an der Reling hatte Josip noch nicht gesprochen. Und genau das würde er jetzt ändern. Denn sie war ihm aufgefallen. Ihr leises Lachen neulich Abend. Ihr schlanker Hals, den sich feine Locken entlangkräuselten. Ihre Statur – aufrecht, elegant. Sie hätte ihn definitiv eingeschüchtert, wären sie sich zu Hause begegnet, obwohl Josip bei den jungen Frauen durchaus gut ankam. Aber es gab eben welche, denen fühlte er sich gewachsen. Und es gab Frauen wie sie.

Josip räusperte sich. »Good day«, sagte er und war sich seines starken Akzents überaus bewusst.

Sie nickte, drehte sich jedoch nicht zu ihm um. Josip stellte sich neben sie und bemerkte, dass sie lächelte. Also war seine Gesellschaft wohl nicht unerwünscht.

»My name is Josip«, sagte er.

Immer noch sah sie ihn nicht an, aber das Lächeln wurde breiter.

»Do you speak English?«, fragte er.

»Little bit«, gab sie zurück, und ihre Stimme machte, dass er eine Gänsehaut bekam. Nicht nur ihre Stimme, sondern auch ihr Akzent, der seinem eigenen so ähnlich war.

»Woher kommst du?« Er sagte es in seiner Sprache und hoffte, sie würde ihn verstehen. Wie schön wäre es, Serbisch sprechen zu können mit jemandem, mit dem er nicht verwandt war!

Sie lachte leise. Dann sagte sie: »Mala Draga.«

»Nein!«, entfuhr es Josip. Denn das war doch nicht möglich. »Mala Draga in Šumadija?«

»Ja.«

Josip war ein Träumer. Sein Vater machte sich oft darüber lustig, dass er in seinen eigenen Welten mehr zu Hause war als in der echten Welt. Dass er das Leben romantisierte und dem Schicksal und all den kleinen Momenten, die sich schlussendlich zum Schicksal zusammenfügten, zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Seine größte Angst war, dass Josip in Amerika seinem Traum nachrennen würde: Drehbücher für diese amerikanischen Filme zu schreiben, über die man im Dorf sprach. Aber in diesem Augenblick wäre selbst Josips Vater still gewesen.

»Meine Familie ist aus Jaruga«, sagte Josip leise, dennoch wusste er, dass sie ihn verstand.

Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander. Josip wollte sie so viel fragen, dass die Worte sich gegenseitig blockierten. Er wollte über das Schicksal sprechen, wissen, wie sie hieß, wer sie war, wie es kam, dass sie ausgerechnet hier war, auf diesem wackelnden Schiff. Warum sie im Gegensatz zu allen anderen eine gesunde Gesichtsfarbe hatte. Doch er sagte nichts. Stand nur da, spürte sein Herz pochen und war sich ihrer Anwesenheit bewusst.

»Ich bin Dunja«, sagte sie nach einer Weile.

Dunja. Josip hätte den Namen gern laut ausgesprochen. Seine Zunge fand ganz automatisch seinen Gaumen, dort, wo das D war. Dann tippte sie weiter vorne das N an und rollte zurück, um das J zu schmecken. Aber kein Laut kam aus seinem Mund.

»Und du siehst aus, als würdest du dich gleich übergeben.« Sie lachte, und Josip fragte sich, woher sie das wusste, wo sie ihn doch die gesamte Zeit über nicht angeschaut hatte. »Du musst dir einen Punkt suchen und ihn mit den Augen festhalten. Dann macht dir das Schwanken nicht mehr so viel aus.«

»Deswegen hast du mich nicht angesehen!« Josip biss sich auf die Zunge, denn so viel Erleichterung hatte er eigentlich nicht preisgeben wollen.

Sie nickte.

»Woher weißt du dann, dass ich aussehe, als …«

»Ich habe dich vorgestern gesehen. Und gestern. Und heute Morgen. Und ich gehe mal davon aus, dass du immer noch grün im Gesicht bist.«

Sie hatte ihn gesehen. Sie hatte ihn wahrgenommen. Es war Josip völlig egal, dass er grün im Gesicht war.

»Na komm«, sagte sie. Dann streckte sie den Finger aus. »Siehst du die Wolke da vorne? Die schauen wir an.«

Sie standen nebeneinander und betrachteten die Wolke. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, dann ging es Josip besser. Doch er war sich nicht sicher, ob es wirklich daran lag, dass sie immer neue Wolken fanden, an denen sich ihre Blicke festklammern konnten. Viel eher glaubte er, dass es an Dunjas Gegenwart lag. Sie schien ihm Halt zu geben auf diesem wackligen Schiff fern von jedem sicheren Hafen, vom festen Erdboden. Denn sie waren zwischen der dritten und vierten Wolke näher zusammengerutscht, und sein Arm berührte nun ihren Arm. Ihre Wärme drang durch sein Hemd und machte, dass er an nichts anderes mehr denken konnte.

 

Ich höre Rios Schritte, bevor ich ihn sehen kann. Dann materialisiert sich seine Gestalt zwischen den Bäumen. Er läuft jeden Tag zehn Meilen durch den Wald, an den meisten Tagen hängt er noch ein Work-out dran, damit er in Form bleibt. Aber was in L. A. Pflicht und Verzicht für ihn bedeutete, gibt seinem Tag hier Struktur und fühlt sich für ihn an wie Entspannung und Freiheit in einem.

Er winkt mir vom Pfad zu. »Ich habe einen Schwarzbären gesehen«, ruft er.

»Was? Wo?« Schwarzbären sind nicht ungefährlich. Meistens gehen sie Menschen aus dem Weg, aber man muss trotzdem auf der Hut sein.

»Auf der Lichtung«, sagt Rio und schwingt sich über das Geländer der Veranda. Er ist verschwitzt, dennoch suchen meine Lippen seine, als er sich zu mir beugt. Wenn man sich so sehr liebt, stört man sich offenbar auch nicht mehr am Schweiß des anderen.

»Hat er dich gesehen? War es gefährlich? Ich meine …«

»Keine Sorge«, sagt Rio mit einem amüsierten Grinsen. »Den Vortrag über den richtigen Umgang mit Schwarzbären bei Professor Ferne Resnik habe ich ungefähr siebzehn Mal gehört. Ich habe ihn aus einiger Entfernung gesehen und dann sofort langsam und leise den Rückzug angetreten. Er hat nicht mal gemerkt, dass ich da war.«

»Okay, gut.« Vielleicht bin ich übervorsichtig, aber Rio und ich sind beide Stadtmenschen. Wir haben nicht viel Erfahrung im Umgang mit Wildtieren. Da ist es besser, man passt auf.

»Und du?« Wieder beugt sich Rio zu mir hinab, doch diesmal, um auf mein Skript zu schielen.

»Nicht«, sage ich und halte die Hände vor meinen Bildschirm. Rio wird es zu lesen kriegen, sobald es fertig ist. Aber während ich noch daran arbeite, fühle ich mich unwohl dabei, es ihm zu zeigen. Beinahe, als wäre es zu intim, obwohl es zwischen uns eigentlich keinerlei Grenzen mehr gibt. Wenn man über Wochen auf engstem Raum in der Wildnis lebt, verschwindet jede Peinlichkeit, jedes Geheimnis, jede Scham. Vielleicht ist es auch gerade deswegen so wichtig, dass er seinen Sport hat und ich mein Manuskript für mich.

Rio lacht, küsst mich auf den Hinterkopf und verabschiedet sich dann unter die Außendusche.

 

Josip war ein schöner Mann. Schlank, hochgewachsen, die vollen schwarzen Locken fielen ihm in die Stirn. Er war Dunja bereits aufgefallen, als er mit seiner Familie an Bord gegangen war. Sie hatte an der Reling gestanden, den Hafengeräuschen gelauscht – Männerrufe, summende Maschinen, Möwengeschrei – und tief, tief eingeatmet.

Für ihre Eltern war der Aufbruch in diese neue, unbekannte Welt hart. Sie wussten nicht, was sie erwartete, und ließen dennoch die Annehmlichkeiten, die sie zu Hause gehabt hatten, hinter sich. Die finanzielle Sicherheit, das Ansehen, das sie im Dorf genossen hatten. Und auch Dunja ließ all das hinter sich. Besonders aber bedeutete der Abschied von zu Hause, dass sie Ivan loswurde. Ivan, der Sohn des Bürgermeisters, dem sie versprochen gewesen war. Ivan war Dunja auch aufgefallen, aber vor allem, weil er laut war und gerne derbe Witze auf Kosten anderer machte.

Josip war anders. Er sprach nur so laut, wie es nötig war, um ihn gegen den Wind zu verstehen. Er machte auch Witze, aber sie waren wohlüberlegt und hatten nie den Zweck, sich über andere zu erheben, sondern sie, Dunja, zum Lachen zu bringen. Und wenn er damit Erfolg hatte, lächelte er so breit, dass Dunjas Herz ganz weit wurde.

Zu Anfang taten sie beide noch so, als wären ihre Treffen auf dem Deck der Odyssey zufällig. Doch schon bald wurden sie zur Gewohnheit. Eine kribbelige, schöne, zweisame Gewohnheit als Kontrast zum fremden Alltag auf dem Schiff. Sie trafen sich immer an derselben Stelle, ob es regnete oder die Sonne auf sie niederbrannte. Es spielte keine Rolle, solange sie nebeneinanderstehen und auf den Horizont blicken konnten.

Josips Gesichtsfarbe war längst nicht mehr so grünlich wie bei ihrer ersten Begegnung, im Gegenteil, seine Wangen färbten sich jedes Mal tiefrot, wenn er sie nur erblickte. Und das war beinahe noch schöner als sein Haar oder sein Humor.

Doch das Allerschönste war Josips Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Geschichten aus der Heimat, Geschichten von seiner Familie, Geschichten, die er sich ausdachte, nur um Dunja zu unterhalten. Während er erzählte, rückte Dunja ganz aus Versehen näher an ihn heran, bis sie sich berührten. Und diese Berührung machte, dass Dunja nachts wach lag und an Josip dachte. Sie stellte sich vor, wie es wäre, seine lockigen Haare zu berühren. Seine roten Wangen, die sicher vor zauberhafter Verlegenheit ganz warm waren. Wie es wäre, von ihm umarmt zu werden. Vielleicht hochgehoben zu werden, weil auch er so voller Sehnsucht war. Wie es wohl wäre, ihm näher zu sein als das. Mit ihren Lippen beispielsweise.

Eines Tages fragte Josip sie, ob sie nicht genug Schlaf bekäme, denn Dunja rieb sich die Augen und gähnte zum wiederholten Mal.

Nun war Dunja diejenige, die rot wurde. Sie fühlte sich ertappt, obwohl Josip unmöglich wissen konnte, dass er der Grund für ihre Schlaflosigkeit war. »Das Einschlafen fällt mir schwer«, gab sie zu und musste den Blick abwenden.

»Frische Luft vor dem Zubettgehen soll helfen«, sagte Josip. Und so verabredeten sie sich zu einem nächtlichen Rendezvous an ihrem gewohnten Treffpunkt.

 

In den letzten Tagen haben Rio und ich viel über die Zukunft gesprochen. Wir werden nicht für immer hierbleiben können. Wir wollen nicht für immer hierbleiben. Meine Familie, meine Freunde sind in L. A., ebenso wie Rios Job und auch meine berufliche Zukunft. Bis gestern haben wir einen Bogen um das Thema einer möglichen neuen Rolle für Rio gemacht. Aber auf einmal ist es aus ihm rausgeplatzt. Wie viel Lust er auf die Verfilmung von The Gentle Art of Losing Your Mind hat. Die Figur des Carl sei genau der Charakter, den er spielen wolle. Verletzlich, gebrochen und dennoch stark. Und obwohl ich mich auf mein Skript konzentrieren sollte, kann ich nicht anders, als Gesprächsfetzen von Rios Telefonat mit Keanu mitzuhören, der den Film produzieren wird.

»Wenn Cy mich kennenlernen will, natürlich. Wäre mir eine Ehre.« Cy Bellamy, der Autor des Romans. »… in drei Wochen ohnehin in L. A.« Denn in drei Wochen muss ich mein Drehbuch abgeben. »Ich freu mich auch, Mann.«

Kurz darauf lehnt sich Rio in den Türstock und grinst mich an.

»Und?«

»Ich habe Keanu Reeves gerade sehr glücklich gemacht«, sagt er.

»Also war das eine Zusage?«

»Eine vorläufige.«

»Herzlichen Glückwunsch.« Ich freue mich unheimlich, dass Rio ein Projekt gefunden hat, das ihn begeistert. Nach This is our Time und dem Drama um seinen ehemaligen Manager Steve, der versuchte, ihn in Rollen zu drängen, die Rio nicht spielen wollte, ist dieses Independent-Projekt genau das, was er braucht.

»Keanu hat außerdem gefragt, wann er dein Drehbuch lesen darf.«

»Wenn du weiter so in der Tür lehnst, dauert es jedenfalls länger«, sage ich grinsend, weil diese Pose einfach verboten gut aussieht.

»Wenn ich weiter wie in der Tür lehne?« Er hebt eine Augenbraue. »Scherz, ich muss eh noch eine Runde Holz hacken.«

»Das macht es nicht einfacher«, rufe ich ihm noch nach, widme mich jedoch brav wieder meinem Skript.

 

Josip war in den letzten Tagen weniger nervös gewesen, wenn er sich mit Dunja getroffen hatte. Obwohl sie immer noch die schönste Frau war, die er je gesehen hatte. Obwohl alles, was sie sagte, beängstigend klug war. Obwohl sie ihn anblickte, als würde sie direkt in ihn hineinsehen. Denn während ihrer Gespräche und flüchtigen Berührungen war er zu der Gewissheit gelangt, dass sie ihn auch mochte. Und wenn jemand wie er jemanden wie sie für sich gewinnen konnte, machte er wohl etwas richtig.

Doch nun war er nervös. Deswegen wartete er auch deutlich zu früh an ihrem vereinbarten Ort. Die Nacht war sternenklar, der Mond stand hell am Himmel. Die See war angenehm ruhig, und eine kühle Brise wehte durch Josips Haare. Er lehnte mit dem Rücken an der Reling, weil er sie sehen wollte, wenn sie auf ihn zukam. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, obwohl abgesehen von der Uhrzeit, zu der sie sich trafen, nichts anders war als sonst. Und doch fühlte es sich anders an. Ernsthafter. Intimer.

Und dann kam sie. Und auch sie sah ernsthafter aus. Sie hob die Hand zum Gruß, blickte sich unsicher um, denn sie waren zum ersten Mal allein an Deck. Zu zweit allein. Das hatte Josip nicht bedacht. Zumindest hatte er nicht bedacht, dass es Dunja unangenehm sein könnte. Dass sie vielleicht sogar Angst haben könnte mit einem Mann, der eigentlich ein Fremder war, auch wenn er ihr während der letzten zehn Tage alles über sich erzählt hatte, was es zu erzählen gab. Alles und noch mehr.

»Ich wusste nicht, dass es so ausgestorben sein würde«, sagte er, als Dunja in Hörweite war. »Vielleicht sollten wir …«

Doch da zuckte ihr Mundwinkel. »Ein schöner Abend«, sagte sie, und der Anflug von Unsicherheit, den er wahrgenommen hatte, war verschwunden.

»Ein sehr schöner Abend.« Seine Stimme war ganz rau, und als sein Blick auf Dunjas Arm fiel, sah er, dass sie eine Gänsehaut hatte. »Ist dir kalt?« Er machte Anstalten, ihr sein abgetragenes Jackett zu geben.

»Nein.« Sie lächelte ihn an, und nun bekam auch Josip eine Gänsehaut. »Wie wäre es mit einer Gutenachtgeschichte?«, fragte sie.

»Damit du schlafen kannst?« Josips Mund fühlte sich auf einmal ganz trocken an, denn Dunja hatte sich neben ihn gestellt. So dicht, dass sich ihre Hüften, ihre Arme, ihre Schultern berührten.

»Ja.«

Josip schluckte. Etwas war anders. Kribbeliger und gleichzeitig voller Gewissheit. »Habe ich dir schon mal erzählt, wie mein Freund …«, er zögerte, weil ihm auf die Schnelle kein Name einfiel, »… Milan sich in ein Mädchen verliebt hat, das zu gut für ihn war?« Er wusste, dass er die Geschichte nicht erzählt hatte. Schließlich hatte er keinen Freund namens Milan.

Sie schüttelte den Kopf. »Geht die Geschichte gut aus?«, fragte sie.

Er sah in ihre großen, dunklen Augen. Schluckte. Schluckte erneut. »Ich hoffe es«, sagte er.

»Dann will ich sie hören.«

Josip räusperte sich und begann. »Milan hatte sie schon ein paarmal gesehen. Nur von Ferne, weil er sich nicht getraut hatte, sie anzusprechen. Er wusste, dass sie zu gut für ihn war.« Josip erzählte, wie der Zufall Milan und das Mädchen zusammenbrachte. Wie sie sich unterhielten. Wie sie feststellten, dass die Zeit schneller verging, wenn sie zusammen waren, obwohl sich beide genau das Gegenteil wünschten. Wie sie sich jedoch nicht näherkommen konnten, weil sie nie allein waren.

»Und dann?«, fragte Dunja leise und streifte sachte mit ihrer Hand Josips Hand. Er wusste nicht, ob absichtlich oder aus Versehen, aber die Berührung machte ihn mutig.

»Dann …«, er fuhr mit seinem Fingerknöchel über ihren Handrücken, »… erzählte sie ihm, dass sie Schwierigkeiten hatte, einzuschlafen.« War er verrückt? Er fühlte sich verrückt. Es war riskant, er konnte mit seiner Forschheit alles ruinieren, was sich zwischen ihnen entsponnen hatte. Aber auf eine seltsame Weise, die seinen Kopf ganz leicht machte, fühlte er sich sicher.

»Und er schlug vor, dass sie sich am Abend treffen sollten, weil frische Luft helfen würde?«, fragte Dunja leise.

Josip nickte. »Er hatte keine Hintergedanken. Erst als sie seine Hand berührte …«

Dunja strich über Josips Finger, und Josip blieb die Luft weg, sodass er einen Moment nicht weitersprechen konnte.

»Was ist passiert, als sie seine Hand berührt hat?«

»Da haben sich andere Gedanken vorgedrängelt.«

»Was für Gedanken?« Josip hatte das Gefühl, Dunja war atemlos von keinerlei Anstrengung.

»Dass er ihr gerne näher wäre als das.« Er blickte auf ihre Hände, und als hätten sie ein Eigenleben, verwoben sich ihre Finger miteinander.

»So?«, fragte Dunja, und Josip nickte, weil er nicht mehr sprechen konnte. »So auch?«, fragte sie und legte ihre andere Hand sanft an seine Wange. Wieder nickte er und schloss die Augen. »Und so?« Sie fuhr ihm mit der Hand durch die Haare, und er atmete zitternd aus.

»Ja.«

»Und … so?«

Josips Augen waren immer noch geschlossen, aber er spürte, wie Dunja sich auf Zehenspitzen stellte, wie ihr Körper sich ganz leicht gegen seinen drängte. Und dann spürte er ihre Lippen auf seinen Lippen.

Es war nur ein kurzer, flüchtiger Kuss, aber er hielt seine Welt an.

»Ja«, sagte Josip, aber es war nur noch ein Hauchen.

»Und war sie auch in ihn verliebt?«, fragte Dunja, und Josip öffnete seine Augen wieder, weil er sie ansehen musste.

»Du wolltest, dass die Geschichte gut ausgeht …«, sagte er, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, während sein gesamter Körper vor Verlangen und Aufregung taub wurde.

Dunjas leises Lachen erfüllte die Luft, und Josip atmete es ein. Dieses Lachen. »Ich glaube, sie war in ihn verliebt. Aber sie hatte ein bisschen Angst, weil sie keinerlei Erfahrung auf dem Gebiet hatte und er aussah wie ein Filmstar.«

Jetzt musste Josip lachen. »Es war nicht so, dass er unbedingt wusste, was er tat«, gab er zu.

»Nicht?« Sie machte große Augen.

»Na ja, er war schon ein paarmal mit Mädchen ausgegangen. Aber nichts hatte sich je so angefühlt.«

»Hat er die anderen Mädchen geküsst?«, fragte sie.

Josip nickte. Es war ihm ein bisschen unangenehm, aber Dunja sah nicht aus, als würde sie ihn dafür verurteilen.

»Na, dann hätte er ihr doch zeigen können, wie man es macht.«

Sie sahen sich an. Dunjas Augen funkelten frech und voller Erwartung. Josip hatte das Gefühl, er wurde schon wieder seekrank, aber auf eine andere Art diesmal. Auf eine Art, die sein gesamtes Inneres durcheinanderrüttelte. Dann überbrückte er die Distanz zwischen ihnen und presste seine Lippen auf ihre. Fest und ein bisschen gierig, weil er nichts dagegen machen konnte, dass er sie wollte. Von Kopf bis Fuß, mit Haut und Haar, seit dem Moment, in dem er sie das erste Mal wahrgenommen hatte, bis in alle Ewigkeit.

 

Mein Skript wächst. Es gibt Tage, an denen ich nicht schreibe, sondern nur überarbeite. Manchmal gibt es Tage, an denen ich nur lösche. Aber dann gibt es wieder die richtig guten Tage, an denen ich im absoluten Flow bin. Da sprudeln die Worte nur so aus mir heraus. Da weiß ich ganz genau, dass ich Josips und Dunjas Ton treffe. Da schreibe ich so, dass die Dialoge ans Herz gehen, wie ich es mir immer vorgestellt habe.

Kreativ arbeiten bedeutet nicht, jeden Tag von der Muse geküsst zu werden. Aber es bedeutet, es wenigstens jeden Tag zu versuchen. Appetit kommt beim Essen, sagt man. Und Ideen kommen beim Kreativsein, ob man nun Lust hat oder nicht.

Heute läuft es zäh, weil ich mir selbst Druck mache. Ich will das Wochenende frei haben, um meinem Kopf eine Pause zu gönnen, aber die Deadline sitzt mir im Nacken. Deswegen besteht mein kreativer Prozess heute aus einer Mischung aus Seufzen und Fluchen.

»Läuft es nicht?«, fragt Rio aus der Küche, wo er sich an einer Lasagne versucht. Sein Essen schmeckt inzwischen richtig gut, auch wenn es nicht immer so aussieht.

»Wörter sind blöd«, gebe ich zurück. »Sie machen nicht, was sie sollen. Und außerdem kenne ich nur noch ungefähr dreihundert. Schreib mal ein Drehbuch aus nur dreihundert Wörtern.«

»Wenn du willst, bringe ich dir ein paar bei«, sagt Rio. »Was hältst du von ephemeral?«

»Was bedeutet das?«

»Kurzlebig. Vergänglich.«

»Meine Kreativität ist ephemeral«, sage ich, und Rio lacht. »Blöde Muse mit ihrem blöden Liebesentzug.«

»Wenn du willst, küsse ich dich stattdessen. Dann wird sie vielleicht eifersüchtig und kommt angerauscht.«

Im nächsten Moment tut er genau das. Küsst mich. Seine weichen, vollen Lippen liegen auf meinen, seine Zunge bahnt sich den Weg in meinen Mund. Ich seufze, doch diesmal ist es ein genussvolles Seufzen. Ich presse mich an ihn, denn wenn ich mich ohnehin nicht auf mein Skript konzentrieren kann, könnten wir den Nachmittag vielleicht auch anders verbringen, doch Rio löst sich von mir.

»Wenn du nicht willst, dass die Lasagne ephemeral ist, müssen wir das leider auf später verschieben.« Er grinst und verschwindet wieder in der Küche.

 

Zu Anfang waren Dunja die einundzwanzig Tage auf der Odyssey wie eine Ewigkeit vorgekommen. Die normale Route dauerte nur knapp zwei Wochen, aber aufgrund der angespannten politischen Situation nahmen sie eine südlichere und damit längere Route über die karibischen Inseln nach New York. Doch jetzt, wo sie und Josip sich so oft wie möglich wegstahlen, um einander nah zu sein und immer näher, hätte die Überfahrt ruhig noch länger dauern können. Sie kamen sich so nah, wie sie nur konnten ohne wirkliche Privatsphäre. Aber obwohl sich Dunjas gesamtes Inneres danach sehnte, auch diese Grenze zu überschreiten, würde das warten müssen, bis sie verheiratet waren.

Sie erschrak bei diesem Gedanken. Hatten sie sich nicht eben erst kennengelernt? Andererseits kannte sie Josip schon jetzt deutlich besser als Ivan, und den hätte sie schließlich auch heiraten sollen. Außerdem wollte sie sich ein Leben ohne Josip nicht mehr vorstellen, auch wenn sie, sobald sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, erst einmal ihre Eltern von der Liaison überzeugen mussten. Denn Dunja und Josip wussten beide, dass er nicht unbedingt der war, den Dunjas Eltern sich für ihre Tochter vorgestellt hatten. Aber Amerika war eine neue Welt. Dort galten andere Regeln. Man war freier. Und Josip und sie würden einen Weg finden, zusammen zu sein, das stand außer Frage.

Am letzten Abend blickten sie wieder einmal von der Reling aufs Meer hinaus. Dunja meinte, in der Ferne bereits die Lichter New Yorks zu erkennen. Der Ort, der von nun an ihre Heimat sein sollte. Ihre und Josips.

»Habt ihr schon einen Plan, wo ihr unterkommt?«, fragte Dunja, denn sie musste wissen, wo sie Josip finden konnte.

»Ich habe dir alles aufgeschrieben. Meinen vollen Namen, die Namen meiner Eltern, die Adresse des Großonkels, bei dem wir erst einmal wohnen, bis wir Arbeit gefunden haben.« Er fasste in seine Hosentasche, in die Innentasche seines Jacketts. »Ich Esel. Er ist in meiner anderen Hose.« Er lachte. »Ich gebe ihn dir morgen, wenn wir von Bord gehen.«

Sie schmiegte sich an ihn. Schmiegte sich in Gedanken noch immer an ihn, als sie wenig später zum letzten Mal in ihr leicht schwankendes Bett kroch. Träumte von ihm, von ihrem Leben in diesem neuen Land, auf diesem fremden Fleckchen Erde.

 

Am nächsten Morgen herrschte bereits früh reges Treiben. Passagiere drängten sich an Deck, Koffer und Taschen stapelten sich in den engen Gängen. Auch Dunjas Familie hatte so viel mitgenommen, wie sie nur konnte. Während sie sich nun voll bepackt Richtung Ausgang aufmachten, blickte Dunja sich immer wieder nach Josip oder seiner Familie um. Er würde sie finden. Er hatte es versprochen.

»Wir müssen zusammenbleiben, Dunja«, sagte ihre Mutter mit leichter Panik in der Stimme. Denn die Menschen rempelten sie von allen Seiten an.

Und dann gingen sie von Bord. Langsam wie zähflüssiger Sirup ergossen sich die Passagiere der Odyssey aufs amerikanische Festland. Menschen riefen, brüllten. Sie sollten hier langgehen. Dort lang. Nicht stehen bleiben. Weiter, weiter. Dunja übersetzte für ihre Eltern, obwohl auch ihre Englischkenntnisse bestenfalls rudimentär waren.

Von hinten drängelten weitere Passagiere. Und das nicht nur von der Odyssey. Es schien, als seien sie inmitten von Tausenden von Leuten, die alle in dieselbe Richtung gedrängt wurden. Richtung einer großen Halle, wo ihre Dokumente überprüft wurden.

Dunja blickte sich um. Wo war Josip? Sie hätte am liebsten nach ihm gerufen, aber sie traute sich nicht. Nicht vor ihren Eltern, nicht in einer Situation, in der ihr Verhalten über die Zukunft ihrer Familie in Amerika entscheiden konnte.

Doch in diesem Moment sah sie ihn. Sah ihn winken. Sah, wie er sich durch die Menge schob, um zu ihr zu gelangen. Ihr Herz hüpfte. Er tauchte ab und im nächsten Moment einen halben Meter weiter vorne wieder auf. Dann war er wieder verschwunden, und sie hatte schon Sorge, ihn aus den Augen verloren zu haben, doch er kämpfte sich weiter und immer weiter. Und dann spürte sie eine Hand an ihrer Hand und einen Zettel.

Das war der Moment, in dem sie von einem Mann grob an der Schulter gepackt und gemeinsam mit ihren Eltern in die volle, stickige Halle geschoben wurde.

»Ich finde dich«, rief Dunja, der es jetzt egal war, was die Eltern von ihr dachten. Das Letzte, was sie von Josip sah, war eine Kusshand, die er ihr über alle Köpfe hinweg zuwarf.

»Weiter!«, blökte ein uniformierter Mann, und von hinten drängten sich immer mehr Menschen nach drinnen.

Ihre Mutter kam ins Straucheln, und Dunja bekam gerade noch ihren Arm zu fassen. Dabei fiel ihr Josips Zettel aus der Hand. Sie half ihrer Mutter hoch und wollte sich nach dem Papier bücken, doch man ließ sie nicht. Sie wurde einfach vorangeschoben.

»Stopp!«, rief sie. »Ich habe was verloren!« Doch niemand nahm Notiz von ihr. »Ein Papier, bitte!« Verzweifelt versuchte sie, sich einen Weg zurück zu bahnen, doch ihr Vater hielt sie auf.

»Was tust du?« Er nahm sie fest am Arm. Natürlich, sie durften auf keinen Fall getrennt werden. Aber wie sollte sie Josip jemals finden, wenn sie nicht wusste, wo sie suchen musste?

»Aber …«, sagte sie, die Kehle eng. »Aber …« Doch es gab nichts, was sie hätte tun können. Hunderte von schmutzigen Stiefelpaaren waren bereits über die Notiz getrampelt.

 

»Möchtest du es lesen?« Ich halte einen Stapel Papier in der Hand, den ich im Nachbarort in einem Copyshop habe ausdrucken lassen.

»Bist du etwa fertig?« Rio reißt die Augen auf. Diese schönen grauen Augen mit den blauen Sprenkeln und dem goldenen Rand um die Pupille.

»Es stehen noch ein paar Kommentare am Rand, die kannst du einfach ignorieren. Oder selbst welche dazuschreiben, wenn dir was auffällt. Oder …«

»Her damit!« Er springt auf und reißt mir so überenthusiastisch mein Drehbuch aus der Hand, dass ich lachen muss.

»Es ist sicher noch nicht perfekt. Aber ich habe noch zwei Wochen bis zur Abgabe, also …«

»Schhhhh«, macht Rio und legt sich den Zeigefinger auf die Lippen. »Ich lese.«

Wieder muss ich lachen, obwohl es mich kolossal nervös macht, dass er nun der Erste ist, der Josips und Dunjas Geschichte lesen wird. Die Geschichte, die ich schreiben wollte, seit ich ein Teenager war. Vielleicht schon länger.

»Falls du es nicht magst, denkst du, du könntest es mir schonend beibringen?«

»Ferne?«

»Hm?«

»Ich will in Ruhe lesen.« Er grinst, als er von der ersten Seite aufsieht. »Und ich werde es mögen, weil du es geschrieben hast.«

»Ja, aber …«

»Du solltest einen Spaziergang machen. Den hast du dir verdient nach den letzten Wochen. Einfach mal den Kopf ausschalten, den Wald und die Natur genießen.«

»Sich der Tatsache bewusst werden, dass das Leben ephemeral ist, weil man jeden Moment von einem Schwarzbären vermöbelt werden kann.«

»Genau das.«

Und das tue ich, während Rio mein erstes vollständiges Drehbuch liest.

 

Es hatte ihn drei Jahre gekostet. Drei Jahre, in denen er seine Eltern weichgeklopft hatte. In denen Ana und Petar seine Drehbücher gelesen, kritisiert, gelobt, gefeiert hatten. Drei Jahre, in denen er sich und seine Familie zunächst mit Gelegenheitsjobs auf Baustellen und in Lagerhallen und dann mit einer einigermaßen ordentlich bezahlten Stelle als Kellner in einem feinen Restaurant auf der Upper East Side über Wasser gehalten hatte. Drei Jahre, in denen er seine Englischkenntnisse nicht nur verbessert, sondern perfektioniert hatte. Das letzte Skript hatte er sogar komplett auf Englisch geschrieben. Er hatte extra Geld gespart, um es Korrektur lesen zu lassen. Doch die Schwester seines Kollegen Sid, die als Hauslehrerin arbeitete, hatte ein blütenweißes Manuskript und die fünfzehn Dollar, die er als Bezahlung beigelegt hatte, zurückgeschickt. Sie schrieb, es sei sprachlich perfekt und inhaltlich so spannend, dass es keine Arbeit, sondern reinstes Vergnügen gewesen sei.

Josip war versucht gewesen, Sid zu fragen, ob seine Schwester liiert sei. Ob er sie vielleicht als Dankeschön – oder auch mehr, aber das würde er Sid nicht unter die Nase reiben – mal zu einem Abendessen einladen könne. Doch das musste warten, bis er aus Los Angeles zurück war. Denn endlich, endlich hatte er seine Eltern so mürbe gemacht, dass sie ihn – unter Protest zwar, denn wie sollten sie zwei volle Monate ohne ihn auskommen? – gehen ließen.

Drei Jahre hatte es ihn gekostet, seine Eltern davon zu überzeugen, ihn sein Glück versuchen zu lassen. Und drei Jahre hatte es ihn gekostet, Dunja zu vergessen. Er war ein paarmal mit Mädchen ausgegangen und hatte schnell verstanden, dass er in New York als überdurchschnittlich attraktiv galt. Aber immer hatte er ihr Bild vor Augen gehabt. Wie sie an der Reling stand, eine Wolke mit ihrem Blick fixierend.

Er hatte sich lange gefragt, warum sie ihn nicht gesucht hatte. Öfter noch, warum sie ihn nicht gefunden hatte. Und jetzt, da er etwas aus sich machen würde, hatte er das Gefühl, endlich loslassen zu können. Er wollte in die Zukunft sehen. Wollte Menschen mit seinen Geschichten erreichen. Wollte sich verlieben und das Leben leben. Und als er nach Los Angeles aufbrach, wusste er, dass es jetzt losging.

 

Los Angeles war heißer als New York. Los Angeles war langsamer als New York. Aber in New York war Josip mittlerweile zu Hause. Er kannte sich aus. Er wurde erkannt. Hier nahmen die Menschen keine Notiz von ihm. Seit sechs Wochen lebte er in einem kleinen, miefigen Zimmer. Klapperte Filmstudio um Filmstudio, Agentur um Agentur ab. Er hatte die Geschichte seines Drehbuchs so viele Male erzählt, dass er inzwischen selbst verstand, warum sich niemand für eine derart langweilige Geschichte begeistern konnte. Er dachte an Sids Schwester, die es geliebt hatte, und schämte sich.

Er hatte gedacht, er hätte der Welt etwas zu sagen. Er hatte seine Familie im Stich gelassen, auch wenn es nur für zwei Monate war. Hatte sie gelockt mit einem besseren Leben.

»Vielen Dank, Mr Resnik«, sagte der Mann Mitte fünfzig, der einen grauen Anzug trug und in einem fort Zigarre rauchte. »Es ist nicht das, was wir momentan suchen, aber ich wünsche Ihnen alles Gute.«

»Was suchen Sie denn?«, fragte Josip, denn vielleicht konnte er es mit einem anderen Stoff noch mal versuchen.

»Romanzen und Krimis«, antwortete der Mann. »Das geht immer.«

Josip nickte, schüttelte seine Hand und verließ das Büro.

Die Sonne brannte heiß auf ihn nieder, während er den Sunset Boulevard entlangging. Er war durstig. Hungrig obendrein. Aber er hatte kaum genug Geld in der Tasche, um die Zimmermiete für die nächsten zwei Wochen zu bezahlen.

Er bog nach rechts in eine Seitenstraße ab, ohne ein wirkliches Ziel vor Augen. Er wollte nur einen Moment im Schatten stehen, seine Wunden lecken und die paar Münzen, die in seiner Hosentasche klimperten, zählen. Da fiel sein Blick auf den Namen eines Restaurants. Nataša’s. Das Háček auf dem s entlockte ihm ein Lächeln. Er konnte die Ćevapčići beinahe schon auf der Zunge schmecken.

Als hätten seine Beine auf einmal ein Eigenleben, trugen sie ihn auf das Restaurant zu. Na und? Dann würde er eben sein letztes Geld für ein jugoslawisches Essen ausgeben. Er war so einsam, so frustriert, so ganz und gar auf Kriegsfuß mit der Welt, dass es ihn nicht mehr kümmerte, wenn er dafür zwei Wochen würde hungern müssen.

Er trat durch einen klappernden Vorhang aus Plastikperlen ins kühle Innere. Ventilatoren summten, aus einem Radio spielte Musik. Musik aus seiner Heimat. Zwei alte Männer besetzten den Tisch am Fenster, sodass er sich direkt neben die Tür setzte.

»Ich bin gleich da«, schallte eine Stimme aus der Küche, und der starke Akzent machte, dass Josips Herz vor Einsamkeit schmerzte.

Er blickte auf die Speisekarte, die auf der klebrigen Plastiktischdecke lag, doch er wusste bereits, was er bestellen würde.

»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte in diesem Moment die Stimme mit dem wundervollen Akzent.

»Einen Eistee und die Ćevap…« Josip blickte auf und erstarrte.

Und sie erstarrte ebenso. Ihre Augen wurden größer und größer, während er sich sicher war, dass er nun den Verstand verloren hatte. Denn das konnte nicht sein. Früher hätte er es Schicksal genannt, aber als Dunja nicht gekommen war – drei Jahre lang –, hatte er den Glauben an das Schicksal begraben. In seiner Erinnerung war die Begegnung mit Dunja immer weiter zu einem Zufall zusammengeschrumpft. Zu einem flüchtigen, ephemeralen Moment. Aber hier und jetzt wurde das Ephemerale, der Zufall zu Schicksal. Oder das Schicksal zu Zufall, man konnte es nicht mehr auseinanderhalten.

Stift und Block rutschten ihr aus der Hand und fielen zu Boden. Doch sie machte keine Anstalten, sie aufzuheben, sondern sah ihn einfach nur immer weiter an. Und er sie.

Nach einer gefühlten Ewigkeit zog sie den Stuhl an Josips Tisch zurück und ließ sich zitternd darauf sinken. Und als ihre Hand auf der klebrigen Tischdecke zu liegen kam, nahm Josip sie in seine – vor allem, weil er wissen wollte, ob sie echt war.

»Du!«, sagte sie irgendwann, und eine Träne tropfte mit einem leisen Plopp auf den Tisch.

»Und du«, sagte Josip. Dann fragte er: »Was ist passiert?«

Dunja erzählte ihm die ganze tragische Geschichte. Danach die ganzen tragischen drei Jahre, die seither vergangen waren. Sie blickte ihn an, und er wusste, dass seine Gefühle wieder da waren – vielleicht nie wirklich weg, sondern immer in den Tiefen seines Herzens verwurzelt gewesen waren.

»Sind deine Eltern da?«, fragte Josip.

Dunja nickte und deutete auf die Küche.

Josip hatte immer noch nichts getrunken. Der Eistee war vollkommen in Vergessenheit geraten. Aber gegen die Trockenheit in seiner Kehle hätte kein Eistee der Welt etwas ausrichten können. Er marschierte in die Küche, wo Töpfe dampften und Pfannen zischten.

»Was machen Sie hier?«, fragte Dunjas Vater auf Serbisch.

»Ich bin hier, um Sie um die Hand Ihrer Tochter zu bitten«, sagte Josip.

»Na hören Sie mal. Ich kenne Sie doch gar nicht!« Dunjas Vater schwang drohend eine Kelle in Josips Richtung.

»Ich bin Josip Resnik. Ich habe Ihre Tochter auf der Überfahrt nach New York kennengelernt. Ich habe nicht viel, aber ich werde mehr daraus machen.«

»Und wie, wenn ich fragen darf?«

»Als Drehbuchautor.«

»Haben Sie schon ein Buch verkauft?«

»Noch nicht, aber das werde ich.« Auf einmal war Josip sich sicher.

»Dann kommen Sie wieder, wenn Sie es geschafft haben, aber verschwenden Sie nicht meine Zeit«, sagte Dunjas Vater.

 

Während der nächsten zwei Wochen kam Josip jeden Tag ins Restaurant von Dunjas Eltern. Er setzte sich an den Platz, auf dem er am ersten Tag gesessen hatte, sah Dunja an, trank Eistee und schrieb an einem neuen Drehbuch. Des Zufalls Schicksal nannte er es, und es erzählte die Geschichte einer gefundenen, verlorenen, wiedergefundenen Liebe. Eine Romanze, wie der Mann in Grau es gesagt hatte. Nach Feierabend gingen Dunja und er durch die Straßen spazieren. Nun schauten sie bei ihren Treffen auf Berge und Palmen, statt wie früher auf die vorbeiziehenden Wolken und das weite Meer. Sie liefen Hand in Hand. Gern wären sie ins Kino gegangen oder in eins der Restaurants, aber Josip hatte kein Geld mehr.

Doch eines Tages kam er ins Nataša’s und setzte sich nicht. Stattdessen lief er schnurstracks auf Dunja zu, nahm ihre Hand und sagte: »Dunja Bojana Jovanović.« Seine Stimme zitterte. Und dann ging er vor ihr auf die Knie. Denn Josip hatte sein Drehbuch verkauft.