Where the Roots Grow Stronger - Kathinka Engel - E-Book
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Where the Roots Grow Stronger E-Book

Kathinka Engel

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Beschreibung

Romantisch, authentisch und mitreißend! »Ich bin verliebt! In Shetland, in Connal, in diese Geschichte, in die ich so tief eingetaucht bin, dass ich den Wind in den Haaren gespürt habe und die salzige Meeresluft riechen konnte. Einfühlsam, sanft und so herzerwärmend!« Spiegel-Bestsellerautorin Lilly Lucas Vor drei Jahren verließ Fiona überstürzt ihre Heimat Shetland, nachdem eine unerwartete Nachricht ihr Leben von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt hatte. Jetzt kehrt sie zurück zu ihren Wurzeln, zurück zu ihren Schwestern Nessa und Effie, zurück zur rauen Schönheit der Shetlands – und zurück in die Nähe ihrer großen Liebe Connal. Obwohl die letzten drei Jahre für sie einsam und schmerzhaft waren, ist Fiona sicher, damals die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Doch ihre plötzliche Flucht hat tiefere Spuren hinterlassen, als sie dachte – nicht nur bei ihr, sondern auch bei allen Menschen, die sie liebt. Und selbst nach all der Zeit ist einer von ihnen noch immer Connal. »Ein großartiger Reihenauftakt! Ehrlich, authentisch, ernst und trotzdem cozy.« @inas.little.bakery »Eine schmerzhafte Liebe, Shetlands raue Naturkulisse und drei starke Frauenfiguren – ein kluger und mitreißender NA-Roman!« @ant1heldin »›Where the Roots Grow Stronger‹ ist der absolute Wahnsinn. Ein New-Adult-Roman, der emotional, ehrlich und hoffnungsvoll zugleich ist! Ich habe jetzt schon Sehnsucht nach Schottland.« @lauraslesestunde Band 1 der Shetland-Love-Reihe von Spiegel-Bestsellerautorin Kathinka Engel. Perfekte Lektüre … … für die LeserInnen von Kelly Moran, Lilly Lucas und Kira Mohn. … für alle, die sich nach tiefen Gefühlen sehnen. … zum Herzerwärmen. … zum Davonträumen und Abtauchen. … für ein paar gefühlvoll-prickelnde Stunden. … für kalte Herbsttage. Kathinka Engel kennt die Buchwelt aus verschiedensten Perspektiven: Als leidenschaftliche Leserin studierte sie allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, arbeitete für eine Literaturagentur, ein Literaturmagazin und als Redakteurin, Übersetzerin und Lektorin für verschiedene Verlage. Mit ihrem Debüt »Finde mich. Jetzt« schaffte sie es aus dem Stand auf die Spiegel-Bestsellerliste.

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Für Jennifer, Nini und Anne.In einer vergifteten Umgebung wart ihr mir die größtmögliche Unterstützung. Ihr habt mich ich selbst sein lassen, als mein Ich am wenigsten gepasst hat. Dank euch habe ich gelernt, mich im großen Unwohlsein wohlzufühlen.

 

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Where the Roots Grow Stronger« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Michelle Gyo

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

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Inhalt

Cover & Impressum

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Danksagung

Zwischen gestern und heute

Liegt mein Herz.

Kann nicht ins Morgen.

Will nur zurück.

Es ist das Beste, sagst du.

Es ist das Richtige.

Nur du entscheidest.

Ich werde nicht gefragt.

Doch eine Antwort,

die hab ich dennoch:

Wie kann das Beste

zugleich das Bitterste sein?

Wie kann das Richtige

zugleich das Falscheste sein?

Du kannst nicht mehr, sagst du.

Doch das hier kann ich nicht.

Will es nicht einmal versuchen.

1

Ich denke an dich. Hinter meiner Nachricht blinkt der blaue Cursor. Ich lösche den Punkt, lösche das dich. Ich füge beides wieder hinzu.

»Nina Ince«, dröhnt die Stimme aus den Boxen, und lauter Beifall erschallt.

Nina tritt in ihrer Abschlussrobe auf die Bühne, nimmt ihr Zeugnis entgegen, schüttelt dem Dekan die Hand. Sie strahlt für ein Foto und geht dann auf der anderen Seite der Bühne die Stufen wieder hinunter und zurück zu ihrem Platz, wo sie mit begeistertem Tuscheln in Empfang genommen wird.

»Thomas Jepson.« Erneuter Beifall, während Thomas sich seinen Weg durch die Reihen bahnt.

Der Cursor auf meinem Handy blinkt immer noch. Ein stummer Vorwurf. Es ist völlig albern. Heute ist Nessas Geburtstag. Ich sollte verdammt noch mal in der Lage sein, meiner großen Schwester eine kurze Nachricht zu schicken. Aber unsere letzte Konversation ist drei Monate her, wie mir WhatsApp sehr nüchtern gezeigt hat. Wobei es weniger eine Konversation ist als vielmehr ein Vielleicht meldest du dich mal? von Nessa und ein Schweigen meinerseits. Genau das macht es jetzt so kompliziert. Ich will nicht, dass sie denkt, ich würde nur aus Höflichkeit schreiben, weil man das nun mal so macht an einem Geburtstag.

»Afsaneh Kashani.«

Irina nimmt meine linke Hand und drückt sie. »Gleich bist du dran«, flüstert sie und grinst mich an.

»Andrew Keller.«

Ich nicke, blicke wieder auf mein Handy. Denn andererseits ist es eigentlich auch keine Option, sich nicht bei ihr zu melden.

»Alexa Kirby.«

»Und denk dran, heb deine Robe an, wenn du die Stufen hochläufst. Du willst nicht, dass hundert Handykameras festhalten, wie du vor versammelter Mannschaft auf die Fresse fliegst«, sagt Irina leise.

Letztes Jahr gab es bei der Zeremonie einen kleinen Vorfall, der es bis auf YouTube und dort zu übertriebenem Ruhm geschafft hat. Eine Absolventin verhedderte sich in ihrer – zugegeben viel zu langen – Robe und legte sich wenig elegant auf die Stufen. Deswegen bläut Irina uns allen schon seit Tagen ein, dass wir ja vorsichtig sein sollen.

»Chloe Lacroix.«

Ein letztes Mal blicke ich auf meine Nachricht. Mein Daumen schwebt über dem Papierflieger. Abschicken. Nicht abschicken. Warum ist das so schwierig?

»Priya Laishram.«

Eine Reihe vor mir erhebt Priya sich strahlend. Sie beugt sich über die Lehne, umarmt erst mich, dann Irina. Fröhlich winkt sie ihrer Familie zu, die zusammen mit all den anderen Angehörigen auf den Rängen sitzt. Ich drehe den Kopf, kann aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Allerdings hört man die Familie Laishram unter dem lauten Klatschen und den Rufen deutlich heraus.

»Fiona Linklater.« Ohne die Nachricht abzuschicken, sperre ich mein Handy und lege es im Aufstehen auf meinen Platz.

»Das bist duuuu!«, quietscht Irina und drückt meine Hand erneut.

»Ach so?«, sage ich lächelnd, während ich mich an ihren langen Beinen vorbeischiebe. Unter Irinas wachsamem Blick hebe ich meine Robe ein paar Zentimeter an und gehe vor zur Bühne. Von den Beifallsrufen und dem Applaus kriege ich kaum etwas mit. Nur dass von oben keine Familienmitglieder jubeln, wird mir auf einmal sehr bewusst.

Aber du wolltest es so, sagt eine Stimme in meinem Kopf, während ich eine Stufe nach der anderen hochsteige. Ich drehe den Kopf, winke Irina, Priya und all den anderen zu. Der Dekan lächelt, als ich ihm die Hand hinstrecke.

»Herzlichen Glückwunsch, Miss Linklater«, sagt er und gibt mir mein Zeugnis.

Als ich die Treppe auf der anderen Seite zurück in den Zuschauerraum hinabgehe, werde ich von den Scheinwerfern geblendet und kneife die Augen zusammen. Der Applaus ebbt ab, das Knistern meiner Robe kommt mir auf einmal ohrenbetäubend laut vor. Warum ist es plötzlich so warm?

»Joel Makepeace.«

Und mein Moment ist vorbei. Meine fünfzehn Sekunden Ruhm.

Zurück auf meinem Platz blicke ich auf das dicke Papier, das dort, wo meine Finger waren, leicht feucht ist. Unter dem völlig überladenen Emblem der Universität lese ich:

University of the West of England

Bristol

Fiona Linklater

has been awarded the degree of

Bachelor of Fine Arts (Hons)

 

»Das hast du sehr würdevoll gemacht«, sagt Irina. »Sehr senkrecht.«

»Irina Nabokina.«

Doch Irina ist damit beschäftigt, sich mein Zeugnis, das sie mir sofort aus der Hand gerissen hat, genau anzusehen.

»Miss Nabokina«, sage ich, »du bist dran.«

»Was? Wer? Oh«, macht sie und beeilt sich, auf die Bühne zu kommen. Dabei vergisst sie ihre Robe zu halten, kommt auf der ersten Stufe ins Straucheln und – fängt sich gerade noch. Sie grinst in meine Richtung, tippt sich einmal an den Kopf und schreitet dann sehr elegant auf den Dekan zu.

Während wir noch klatschen und johlen, dreht sich Priya zu mir um. »Wir haben es geschafft!«, flüstert sie. »Wir haben verflucht noch mal einen Abschluss in der Tasche.«

 

Aus den offenen Fenstern des Crown and Crow dringt ein oldschool Trip-Hop-Song.

»Es ist der absolute Wahnsinn«, sagt Irina. »Da reißt man sich drei Jahre lang den Arsch auf – pardon my French –, und am Ende geht es einfach nur um ein Blatt Papier, das dich von nun an berechtigt, dir für einen Chef ebendiesen Arsch aufzureißen, bis du in Rente bist. Eigentlich ist das Leben also eine Aneinanderreihung vom Aufreißen des eigenen Arschs. Zeig noch mal dein Zeugnis!«

Sie streckt die Hand aus, denn ihr eigenes haben ihre Eltern nach dem Abendessen in weiser Voraussicht mit ins Hotelzimmer genommen. Sie hatten mich eingeladen, mich ihnen anzuschließen, aber ich wollte nicht das Gefühl haben, ihnen zur Last zu fallen. So schlenderte ich durch die abendlichen Straßen, wurde etwas melancholisch und kam schließlich viel zu früh in unserem Stammpub an.

»Ich glaube«, sagt Priya grinsend, »wir sollten Fionas Zeugnis vielleicht lieber sicher in ihrem Rucksack verstaut lassen, bevor …«

Priyas Freund Nick tritt mit einem Tablett voller Pints an unseren Tisch und stellt es etwas zu schwungvoll ab, sodass die Gläser gegeneinanderklirren. Aus dem ein oder anderen schwappt ein wenig von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit auf den Tisch.

»Bevor Nick es in Ale ertränkt«, beendet James Priyas Satz. »Cheers, mate. Die nächste Runde geht auf mich.« Mit diesen Worten nimmt er sich ein Pint vom Tablett.

Wir stoßen erneut auf unsere Erfolge an. Auf Nicks Geschichtsbachelor, James’ Abschluss in Anthropologie. Auf Annies und Mikkels Bachelor in Englischer Literatur, auf Priyas und Irinas Abschluss in Kulturmanagement (»Mit Auszeichnung«, kreischt Irina zum ungefähr zehnten Mal in den letzten zwei Stunden) und meinen Bachelor in bildender Kunst. Einen Tisch weiter stimmen ein paar unserer Kommilitonen, die wir vom Sehen kennen, in unser Jubeln mit ein.

»Kunst, hm? Was hast du damit jetzt vor?«, fragt einer von ihnen an mich gewandt. Im Schein der bunten Lichterketten, die den Außenbereich des Crown and Crow beleuchten, schimmern seine schwarzen Locken in allen möglichen Farben.

»Fiona, dieses heftig begabte Wunderkind«, mischt Irina sich ein, »wird der nächste Stern am Himmel englischer Bildhauerinnen. Merk dir dieses Gesicht.« Sie kneift mir in die Wange, und ich mache mir nicht die Mühe, sie daran zu erinnern, dass ich Schottin bin.

»Wow, echt?«, fragt der Dunkelhaarige. »Was haust du denn so?«

»Ich modelliere. Aus Ton«, sage ich. »Und Irina hier« – ich nicke ihr zu – »übertreibt natürlich maßlos. Ich bin einfach nur in der nächsten Runde für eine Stelle in einer Galerie hier in Bristol.«

»Mit Aussicht auf eine eigene Ausstellung!«, präzisiert Irina.

»Ja, das schon, aber erstens wäre sie winzig, und zweitens muss ich das Vorstellungsgespräch auch erst mal rocken.« Ich zucke mit den Schultern. Mich selbst kleinmachen und meine Leidenschaft herunterspielen, kann ich. Vielleicht sollte ich das in die Rubrik »Stärken« auf meinem Lebenslauf schreiben. Und bei »Schwächen«: konfliktscheu, feige, verschlossen.

»Klingt trotzdem cool«, sagt der Kerl vom Nebentisch.

»Und was ist mit dir?«, frage ich höflich.

»Ich ziehe nächste Woche nach London. Hab ein Traineeship bei einer Beratung ergattert. Inklusive Assessment Center und allem. Das war super kompetitiv, aber ich hab’s geschafft. Die zahlen dir im ersten Jahr schon siebzig K.«

»Ja Mann, du wirst scheiße reich und fütterst uns alle durch«, lallt sein Nebenmann und hebt das Glas, das ein anderer gerade vor ihn gestellt hat. In einer blassgelben Flüssigkeit schwimmt ein Shotglas. Der Geruch von Red Bull dringt an meine Nase.

»Trink eine Jägerbomb mit uns«, sagt der Dunkelhaarige und schiebt mir ein übriges Glas her.

Ich will gerade ablehnen, weil zwei scheußliche Getränke nicht unbedingt besser werden, wenn man sie zusammenmixt – minus und minus ergibt eben nicht immer plus –, doch er lässt mich gar nicht zu Wort kommen.

»Hör zu. Das hier ist vermutlich mein letzter Abend in Bristol. Hast du Lust, den mit mir zu feiern? Ich finde deinen Akzent megahot, und du bist voll süß …« Er versucht Verheißung in seine Stimme zu legen.

Mir entfährt ein kurzes Lachen.

»Sorry, war das blöd? Ich hab’s echt als Kompliment gemeint. Und mit meinen Kumpels hier« – er rüttelt am Arm von einem seiner Freunde, der mit dem Kopf auf dem Tisch schläft – »ist nicht unbedingt noch viel anzufangen.«

»Die Komplimente sind angekommen«, versichere ich ihm. »Aber …« Ich weiß nicht einmal, wohin dieser Satz führen wird. Was aber? Aber ich habe kein Interesse? Aber ich habe kein Interesse an dir? Aber ich habe kein Interesse an Sex mit dir? Aber ich habe kein Interesse an Sex im Allgemeinen? Ein paarmal bin ich in den letzten Jahren mit dem Bruder meiner Mitbewohnerin im Bett gelandet. Und kurz hatte ich so etwas wie einen Freund, doch es war nicht das Richtige. Es war nie das Richtige. Nie mehr. Es war immer … gewollt irgendwie. Unlocker. Ich war unlocker. Und danach – fühlte ich mich nicht besser. Auch nicht unbedingt schlechter. Es war nur einfach sinnlos. So sinnlos, dass ich mich schon ein paarmal gefragt habe, ob mir die Fähigkeit, Zwischenmenschlichkeit wertzuschätzen, abhandengekommen ist. Ob mein Herz seither einfach leer ist. Ist Einzelgängerin zu sein eine Schwäche? »… ich will den Abend mit meinen Freunden verbringen«, sage ich schließlich und muss auf einmal gegen ein Bild vor meinem inneren Auge ankämpfen. Ein kantiges und gleichzeitig sanftes Gesicht, dunkle Augen, noch dunklere Locken. Ein Lächeln auf den schönen Lippen.

»Oh, klar, kein Problem. Ich geb dir meine Nummer, falls du es dir nachher auf dem Heimweg noch anders überlegst«, sagt er und befreit mich damit aus der Erinnerung, die nicht mehr wehtun dürfte – und es doch tut. Er kritzelt etwas auf einen Zettel. »Aber no pressure.« Dann wendet er sich wieder seinen noch wachen Freunden zu.

»Ist er abgeblitzt?«, fragt James und blickt von dem Kartenhaus aus Bierdeckeln auf, das er zusammen mit der kichernden Irina zu bauen versucht.

Ich zucke mit den Schultern.

»Ich würd ihn nehmen«, sagt Irina und lässt einen Bierdeckel von etwas zu weit oben auf James’ Konstruktion fallen, sodass das gesamte Gebäude in sich zusammenkracht.

»Na danke, Irina«, sagt James.

»Verzeih mir!« Sie ringt theatralisch die Hände.

»Keine Ahnung.« Ich will nicht über meine Motive reden.

»And she’s back«, sagt Annie aus dem Nichts und sieht mich an.

»Wer?«

»Die verschlossene Fiona.«

»Wo kommt das denn her?«, frage ich.

Annie wirft Irina und Priya einen Blick zu. »Na ja … Manchmal hat man halt das Gefühl, dass du … wie soll ich sagen …«

»Du bist nicht unbedingt berühmt dafür, dass du viel von dir preisgibst«, springt Priya ihr bei. »Aber das ist okay«, fügt sie schnell hinzu. »Kann ja nicht jeder ein so offenes Buch sein wie Irina.«

Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, denn ich weiß ja, dass es stimmt. Ich gebe nicht viel preis. Ich bin gern in meinen eigenen Gedanken. Drücke mich durch meine Kunst aus. Doch vermutlich versteht niemand, was genau ich eigentlich vermitteln will.

»Das war kein Vorwurf oder so«, sagt Annie und nimmt meine Hand. »Fühl dich nicht schlecht deswegen.«

Das hatte ich eigentlich auch gar nicht vor, aber auf einmal habe ich das Gefühl, dass ich in den letzten Jahren vielleicht doch ein bisschen mehr aus mir hätte rausgehen können. Nur wie?

»Letzte Runde, Leute«, ruft der Barkeeper nach draußen.

»Wollen wir hier noch eins trinken oder gleich in den Brandon Hill Park?«, fragt Nick.

»Brandon Hill«, rufen Irina und Priya und Mikkel, während James und Annie »Hier noch eins trinken« sagen.

»Fiona?«

»Brandon Hill«, entscheide ich.

 

Auf dem Weg in den kleinen Park sammeln wir hier und da weitere Absolventen ein. Bei einem Vierundzwanzig-Stunden-Kiosk kaufen wir billiges Lager und ein paar Cider. Die Stimmung ist merkwürdig flirrend, so als wäre etwas Großes passiert, obwohl das Große eher unsere letzten Prüfungen vor ein paar Wochen waren. Doch heute Abend ist die Stadt zum letzten Mal voller Studentinnen und Studenten dieses Jahrgangs. Schon bald werden sich unsere Wege trennen. Irina geht nach London, fängt ein Praktikum bei Sotheby’s an. Vielleicht sollte ich ihr wirklich Adams Nummer geben. Priya reist für zwei Monate nach Indien zu ihrer erweiterten Familie, weswegen Nick ab und zu eine kleine Krise kriegt. Denn er selbst unterzieht sich einem einjährigen Lehrertraining und kann nicht mit. Annie will einen E-Book-Verlag für queere Literatur gründen – das erste Buch, das sie verlegen wird, ist auch schon gefunden: eine Sammlung von aggressiven, allerdings ziemlich guten Kurzgeschichten meiner Mitbewohnerin Lulu. Mikkel geht nach Kopenhagen zurück, um dort in der Firma seines Vaters zu arbeiten, und James hat noch überhaupt keinen Plan. Was bedeutet, dass wir beide wohl erst einmal in Bristol bleiben.

Im Park sitzen schon einige Studentengrüppchen beisammen, die trinken und feiern. Es ist nicht gern gesehen und an einigen Orten auch nicht ganz legal, aber nach einer Graduation drücken alle ein Auge zu.

Während wir uns einen Platz suchen, die anderen zischend ihr Foster’s öffnen, wird mir auf einmal bewusst, dass etwas zu Ende geht. Etwas, das meins war, ganz allein meins. Die Entscheidung, nach Bristol zu gehen. Das Studium. Meine Freunde, denen ich mich zwar vielleicht nie so ganz geöffnet habe, die mich aber trotzdem ohne jeden Vorbehalt ins Herz geschlossen haben. Die letzten drei Jahre sind mit diesem Abend, dieser Nacht, die inzwischen feucht und kühl ist, vorbei. Meine Clique, mein Alltag – all das wird sich nun wieder ändern. Vielleicht zum Besseren, vielleicht zum Schlechteren. Aber auf jeden Fall wird es anders sein. Ohne Irina, ohne Priya. Mit James, doch wer weiß, wie lange noch.

Ich lasse den Blick über meine Freunde schweifen. Priyas leuchtende Augen, die so wach sind, dass ihnen nichts entgeht. Der pausbäckige Nick, der im Rugby-Team der Uni spielte und die Statur eines kleinen Schranks hat. Mikkels hellblonde Haare, die in dieser Nacht beinahe zu fluoreszieren scheinen. Annie mit ihren geflochtenen Zöpfen und dem Barett auf dem Kopf und James, dessen Englishness beinahe albern ist, die aber wohl nur mir auffällt. Wir alle sitzen vermutlich ein letztes Mal auf diese Weise zusammen.

 

Als sich der Himmel im Osten ein paar Stunden später langsam lila färbt, sind Mikkel und Annie bereits gegangen. Während wir uns alle voneinander verabschieden, uns versprechen, dass wir in Kontakt bleiben werden, ich mehr als einmal sogar schwören muss, nicht abzutauchen, kann Irina ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Und der Alkohol tut sein Übriges. Sie war diejenige, die uns alle zusammengebracht hat. Die uns überredet hat, nachts nach Wales hinüberzufahren, einfach nur, um mal dort gewesen zu sein. Die uns gezeigt hat, wie man auf Russisch Wodka trinkt (allerdings nur ein einziges Mal, weil unsere Performance am Glas, wie sie es ausdrückte, eine herbe Enttäuschung für sie war). Die uns an ihrem Leben hat teilhaben lassen, wie ich es vorher noch nie erlebt habe. »Ihr sollt mich besser kennen als ich mich selbst, damit ich mich ab und zu mal ausruhen kann«, sagte sie.

Auf dem Weg den St Alphonsus Hill hinauf beginnt es langsam zu dämmern. Vögel, die über den Winter hierbleiben, zwitschern in den Vorgärten der Reihenhäuser. Die Müllabfuhr sammelt blaue Recycling-Tüten am Straßenrand ein. Das Haus, in dem ich mit Lulu die Parterre-Wohnung gemietet habe, ist eines der letzten in der Straße. Und während ich müde einen Fuß vor den anderen setze, Irinas blumiges Parfüm noch immer in der Nase, spiele ich kurz mit dem Gedanken, Adam anzurufen. Aber dann schüttle ich den Kopf, als könnte ich damit auch den Gedanken an Sex abschütteln. Und auch das Bild vor meinem inneren Auge, das der Gedanke an Nähe zu einer anderen Person unweigerlich heraufbeschwört.

2

»Fiona?« Lulus genervtes Rufen wird vom Hämmern gegen die Badezimmertür untermalt. »Fiona, ernsthaft. Ich muss ins Bad.«

»Ich beeil mich«, sage ich, wische mit der Handfläche einmal über den beschlagenen Spiegel und blicke mir selbstkritisch ins Gesicht. Sieht so jemand aus, dem man einen Job in einer Galerie geben würde?

»Fiona, ich hab da keine Lust mehr drauf. Jedes Mal die gleiche Scheiße!«

»Ich hab doch gesagt, ich bin gleich fertig.«

Durch die Tür höre ich, wie Lulus Freundin Tonya leise auf sie einredet. »Entspann dich. Interessiert sowieso niemanden, ob du ein paar Minuten später im Café bist.«

Lulu und ich verstehen uns nicht besonders gut. Ich weiß nicht einmal, woran das liegt. Von Anfang an war unsere Wohngemeinschaft zweckmäßig. Wahrscheinlich ist sie eigentlich ziemlich cool. Annie mag sie jedenfalls gern. Aber Lulu und ich – wir wurden irgendwie nie richtig warm miteinander. Was vielleicht auch daran liegt, dass ich in meinem ersten Monat hier so gut wie gar nicht mit ihr gesprochen habe. Ich konnte nicht. Ich hatte ja nicht einmal das Gefühl, genug Luft zum Atmen zu bekommen, geschweige denn zum Sprechen. Und als ich dann langsam auftaute, war es wohl einfach zu spät.

Mein Handy vibriert auf der Ablage über dem Waschbecken. Eine neue Nachricht von Irina.

London ist so geil. Wenn man von den Preisen, der Größe, der ewigen U-Bahn-Fahrerei, der schlechten Luft und der langen Schlange beim Coffeeshop um die Ecke absieht. Geht’s dir gut, Babe? Mache mir Sorgen, weil ich nicht mehr auf dich aufpassen kann.

Kurz darauf vibriert es wieder.

Du wirst das übrigens rocken nachher, verstanden?!

Ich grinse. Irina meldet sich andauernd bei mir, die treue Seele. Ungefähr jedes dritte Mal schreibe ich etwas zurück, das ihren Nachrichten natürlich nicht gerecht wird. Aber ich gebe mein Bestes, auch wenn das wenig ist.

Mit dem knallroten Lippenstift, der so gut zu meinen langen rostroten Haaren passt, male ich meine Lippen nach, tusche mir die Wimpern, bis meine Augen aussehen, als säßen sie inmitten eines schwarzen Dornenkranzes, und bin danach mit dem Anblick eigentlich ganz zufrieden.

Mein Outfit wartet auf der Waschmaschine auf mich. Ein dunkelgrüner Plisseerock, der weit über die Knie reicht und hübsch genug ist, um keine hohen Schuhe dazu tragen zu müssen, in denen ich mir immer seltsam vorkomme. Overdressed und mit einem Gang, der nicht zu mir passt. Das liegt vermutlich daran, dass Absatzschuhe erst in Bristol Teil meiner Garderobe wurden. Mein langärmliges Oberteil ist aus schwarzem Samt. Nicht zu förmlich, nicht zu leger. So, dass ich mich darin wohlfühle. Wie ich selbst.

»Du wirst das rocken«, wiederhole ich Irinas Nachricht. »Natürlich wirst du das rocken.« Ich nicke mir zu. »Erzählen Sie uns etwas über Ihre Kunst, Miss Linklater.« Mit gestrafften Schultern räuspere ich mich. »Letztes Jahr hatte ich eine kleine Ausstellung unter dem Motto Entzauberung und Verzauberung. Verzauberung von Alltäglichem, Entzauberung dessen, was die Gesellschaft verklärt. Das Konzept der Jungfräulichkeit beispielsweise. V soll das ausdrücken. Aus deflowering wird ein flowering. Ich möchte Frauen eine Stimme geben. Mal subtiler, mal lauter. Mein Abschlussprojekt umfasst vier Frauenfiguren aus der griechischen Mythologie. Vier Figuren, die in der Mythologie vor allem Mütter waren, die bei mir jedoch eine eigene Stimme …«

»Führst du Selbstgespräche?«, ruft Lulu von draußen. »Alter, ich schwöre, ich trete gleich die Tür ein.«

»Gib mir fünf Minuten«, flehe ich. In einer Stunde habe ich das Vorstellungsgespräch. Irgendwie muss ich meine Nerven in den Griff kriegen.

»Ich geb dir fünf Sekunden!«

»Inwiefern ist Ihre Kunst Ihrer Meinung nach relevant? Und warum passt sie zu uns?« Wieder straffe ich die Schultern, lächle mir zu. »In der Umkehr gelingt uns oft eine objektivere Bewertung. Im besten Fall sogar eine Neubewertung. Das Mädchen, das sich nicht sicher war, ob ihr erstes Mal richtig war. Frauenfiguren, die vergessen wurden. Wir treffen uns in der Kunst, finden Gleichgesinnte und bekommen einen frischen Blick auf uns selbst. Das ist immer relevant, wenn Sie mich fragen. Und das ist auch genau der Grund, warum ich mich in Ihrer Galerie sehe. Als Künstlerin und als Mitarbeiterin. Neben …« Verdammt, jetzt fällt mir sein Name nicht ein.

Das Handy summt.

Schick mal ein Bild von deinem Outfit, Gorgeous.

Beim letzten Wort höre ich Irinas rollendes R und muss unwillkürlich lachen. Ich halte das Handy vor den Spiegel, sauge meine Wangen ein, sodass ich einen komischen Fischmund bekomme, und mache ein Foto.

Bitte sehr. Für Kritik ist es zu spät, und mein Ego zu fragil.

Den Geräuschen aus dem Nebenzimmer nach zu urteilen, sind Lulu und Tonya noch mal ins Bett gegangen, und ich atme auf. Mein Handy vibriert erneut, und ich will Irinas Antwort lesen, als mir klar wird, dass es sich um einen Anruf handelt. Und dass es nicht Irinas Name ist, der auf dem Display prangt, sondern Nessas. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ausgerechnet jetzt? Ausgerechnet fünfundfünfzig Minuten vor meinem alles entscheidenden Vorstellungsgespräch?

Ganz ruhig, Fi, ermahne ich mich. Bestimmt will sie sich nur für die Geburtstagsnachricht bedanken. Die Geburtstagsnachricht. Verflucht! Habe ich sie überhaupt abgeschickt? Ich weiß es nicht mehr. Und je länger ich meinem Handy dabei zusehe, wie es sich unter der Vibration Millimeter für Millimeter Richtung Abgrund schiebt, desto sicherer werde ich, dass ich sie nicht abgeschickt habe.

Nessa ist hartnäckig. Sie legt nicht auf. Und weil ich keine Mailbox aktiviert habe, dauert dieser peinliche Moment, in dem meine Wangen immer heißer werden, eine gefühlte Ewigkeit. Auf einmal halte ich das vorwurfsvolle Summen nicht mehr aus.

»Hallo?«, sage ich mit dünner Stimme. Meine Hand, die das Handy viel zu fest ans Ohr presst, ist ganz feucht.

»Fiona?«

»Ja?« Eine Konversation aus Ein-Wort-Fragen. Der beste Beweis dafür, wie verkrampft es zwischen uns ist.

»Hast du einen Moment?«

»Okay?«

»Ähm, also, Dad ist tot.« Ich höre sie am anderen Ende der Leitung ausatmen.

Das ist ein Scherz. Das muss ein Scherz sein. Das … Es kann nicht sein, dass wir monatelang keinen Kontakt haben, und dann so was. Das ist … es ist …

»Was?« Ich halte nach wie vor an den Ein-Wort-Fragen fest, fällt mir auf. Fast bin ich versucht, zu kichern. Denn das ist alles ein Scherz, oder?

»Dad ist letzte Nacht gestorben.«

»Dad ist …« Ein zweites Wort. Aber das dritte bringe ich nicht über die Lippen.

»… gestorben.«

»Bist du … bist du sicher? Ich meine, geht das denn so schnell?« Ich weiß, dass ich absoluten Blödsinn von mir gebe. Natürlich kann man schnell sterben. Man kann schließlich auch vom Blitz erschlagen werden. Das Sterben an sich ist ja eine sehr punktuelle Sache. Im einen Moment lebt man, im anderen …

»Fiona, er ist tot.« Nessa klingt gefasst. Streng. Ungeduldig.

»Okay, krass«, sage ich wie ein absoluter Volltrottel. »Wie ist er … ich meine, wie ging es ihm?«

»Er ist wohl in seinem Bett eingeschlafen. Ich habe keine Ahnung, wie es ihm ging. Nicht so gut, schätze ich. Es ging ihm ja nie gut, seit … Das weißt du ja.« Ihr starker Shetland-Akzent klingt ungewohnt in meinen Ohren, aber gleichzeitig nach zu Hause. Oder nach Familie. Ich weiß es nicht.

»Hast du ihn noch mal gesehen? Oder Effie? Wart ihr mal bei ihm?«

»Ich war vor ein paar Wochen mal da. Habe den gröbsten Müll beseitigt, sein Zimmer gelüftet.«

»Wow.«

»Es ist jetzt keine richtige Überraschung für uns, weißt du?«, sagt Nessa. »Keine Ahnung, wie es für dich ist, wie viel Kontakt du zu ihm hattest.« Mir entgeht der leise Vorwurf nicht. »Er war echt ungesund. Und so negativ. Es wurde in den letzten Jahren immer schlimmer. Er war nur noch in seinem Zimmer und im Pub. Hat mit niemandem gesprochen.« Ich kann förmlich hören, wie sie mit den Schultern zuckt. »Effie sagt, jetzt ist er sicher glücklicher, weil er Mum wiedersehen kann.«

Effie. Unsere jüngste Schwester. Das ist so typisch für sie. Sie sieht in allem das Schöne. Zumindest war es vor drei Jahren noch so. Aber wenigstens das scheint sich nicht verändert zu haben.

»Und jetzt?«, frage ich. Ich stehe seltsam neben mir, als wäre ich gar nicht ich. Als wäre ich gar nicht hier. Meine Gefühle lassen sich nicht richtig zuordnen. Bin ich traurig? Vermutlich, auch wenn keine von uns dreien eine wirkliche Beziehung zu ihm hatte, seit ich ungefähr zwölf war. Das ist zehn Jahre her. Und selbst davor machte er es uns alles andere als leicht in seiner tiefen Traurigkeit.

»Na ja, was wohl? Wir müssen seine Angelegenheiten regeln. Als Erstes mal seinen Deckel im Pub bezahlen.« Ein bekümmertes Schnauben dringt an mein Ohr. »Die Beerdigung wird wohl innerhalb der nächsten sieben Tage stattfinden, also falls du kommen willst …«

»Natürlich«, sage ich schnell, auch wenn meine Kehle eng wird. »Natürlich komme ich. Und ich helfe dir. Euch.«

»Ach?«, sagt Nessa nur.

»Ist doch klar.«

»So klar war mir das jetzt, ehrlich gesagt, nicht.«

»Tut mir leid, dass ich dir nicht zum Geburtstag gratuliert habe.« Ich habe keine Ahnung, warum ich das sage. Dies ist mit Sicherheit nicht der beste Moment, um über verpasste Geburtstagsgrüße zu sprechen. Aber mein Kopf – wenn es denn noch mein Kopf ist, so fremd, wie sich alles anfühlt – macht, was er will.

»Kein Ding.«

»Na ja, schon ein bisschen. Und ich wollte dir schreiben. Ehrlich. Ich hab nur vergessen, die Nachricht abzuschicken, weil das der Tag meiner Graduation war …« Das klingt wie die lahmste Ausrede der Welt.

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Was?«

»Na, zu deinem Abschluss.«

»Ach so. Danke. Alles Gute nachträglich, Nessa.«

»Danke.«

»Hör zu, ich schaue gleich nach Flügen, in Ordnung? Dann bin ich heute Abend oder spätestens morgen da.«

»Wie du willst.«

Es ist nicht unbedingt so sehr eine Frage des Wollens. Es steht für mich einfach außer Frage, dass ich nach Lerwick komme, um Nessa und Effie zu helfen. Auch wenn Nessa das vielleicht anders sieht, ich bin kein schlechter Mensch. Zumindest versuche ich, keiner zu sein. Stärke: Kein schlechter Mensch. Aber mit Fragezeichen.

»Ich schicke dir die Infos, sobald ich gebucht habe, okay?«

»Okay?«, sagt sie, doch es klingt wie eine Frage. Eine sehr skeptische noch dazu.

»Danke für den Anruf.«

»Natürlich.« Das rollende R, das so ganz anders ist als das von Irina, klingt mir noch im Ohr, nachdem wir aufgelegt haben.

»Ich nehme den letzten Schluck Milch, Fiona. Pech gehabt«, ruft Lulu von draußen.

Ich öffne die Badezimmertür, und während Lulu mit dem Milchkanister in der Hand »Na endlich« stöhnt, sage ich: »Mein Dad ist tot.«

 

Lulu und Tonya sitzen mir am Küchentisch gegenüber und sehen mich an. Lulu hat sich krankgemeldet, was nicht nötig gewesen wäre, aber es ist irgendwie nett, dass sie sich um mich sorgt.

»Du kannst das Gespräch sicher verschieben«, sagt Tonya. »Wenn der eigene Vater stirbt, hat man absolut das Recht auf einen Nachholtermin.«

»Ich weiß ja nicht einmal, wann ich zurückkomme. Ich habe meiner Schwester versprochen, dass ich ihr helfe.«

»Du hast eine Schwester?«, fragt Lulu, und das sagt vermutlich alles über unser Verhältnis. Oder über meine Offenheit.

»Zwei sogar. Effie und Nessa. Nessa ist die Älteste. Effie ist im Juni zwanzig geworden.« Ich habe keine Ahnung, warum ich das erzähle. Aber immerhin weiß ich, dass ich nichts falsch gemacht habe, als ich Effie nicht gratuliert habe. Sie macht sich nichts aus ihrem Geburtstag, der gleichzeitig auch der Todestag unserer Mum ist.

»Soll ich für dich in der Galerie anrufen?«, fragt Tonya.

»Danke, aber das ist nicht nötig.« Ist es tatsächlich nicht. Denn ich bin seltsam gefasst. Auch wenn es traurig ist auf gewisse Weise. Dad hatte allerdings wirklich keinen Spaß daran, auf dieser Welt zu sein.

Ich wähle die Nummer und warte auf das Freizeichen. Dann: »Ja, hallo, hier ist Fiona Linklater. Ich hätte in einer halben Stunde ein Vorstellungsgespräch bei Ihnen. Jetzt ist es aber leider so, dass ich gerade vom Tod meines Vaters erfahren habe und …« Meine Stimme bricht nun doch unerwartet, irgendwie gequetscht hoch und gleichzeitig kratzig.

»Mein Beileid«, sagt die Frau am anderen Ende.

»Danke. Also jedenfalls muss ich den Termin deswegen leider absagen.«

»Das verstehen wir natürlich. Sehr schade. Allerdings können wir die Stelle nicht unbesetzt lassen. Das wäre nicht fair den anderen Bewerberinnen und Bewerbern gegenüber.«

»Ja, okay, klar. Gäbe es denn die Möglichkeit, dass Sie mich kontaktieren, falls keiner der Bewerber infrage kommt? Ich habe wirklich großes Interesse an dem Job.«

»Ich würde Ihnen nicht raten, sich große Hoffnungen zu machen, Miss Linklater. Die Bewerberinnen und Bewerber, die wir auswählen, kommen ja nicht umsonst in die nächste Runde.«

»Ja, das weiß ich, es ist nur … es wäre wirklich mein Traum gewesen in Ihrer Galerie …« Meine Stimme erstirbt.

»Manchmal laufen die Sachen anders, als wir uns das gewünscht haben. Das wird mit Sicherheit nicht die letzte Chance gewesen sein, die Sie bekommen. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

»Danke.« Doch sie hat schon aufgelegt, und ich fühle mich auf einmal ganz klein. Klein und passiv. Hätte ich kämpfen sollen? Hätte ich Nessa nicht anbieten sollen, zu kommen? Aber nein, das geht nicht. Das wäre nicht richtig gewesen.

»Und?«, fragt Tonya.

»Sie besetzen die Stelle trotzdem.«

»Fuck.«

»Macht nichts. Ehrlich.« Aber es macht sehr wohl etwas. Es war mein absoluter Traum. Darauf habe ich die letzten Jahre hingearbeitet. Stattdessen muss ich jetzt nach Flügen suchen. Ich muss nach Hause. Nach Hause. Auf einmal fällt mir das Atmen wieder schwer, wie damals vor drei Jahren.

»Du kriegst eine neue Chance. Ernsthaft, Fiona. Du bist echt gut. Und klug. Das ist eine seltene Kombination.«

Lulu stößt ein leises Husten aus, das wie »Schleimer« klingt, und wendet sich ab.

»Du sammelst dich jetzt erst mal, fliegst nach Hause, bringst die Sachen deines Vaters in Ordnung. Und dann steht dir das ganze Land offen. Was sage ich, die ganze Welt.«

Ich nicke dankbar, aber mir wird die Kehle eng bei der Vorstellung, wieder irgendwo ganz allein neu anzufangen. Und dann wird sie noch enger, als mir klar wird, dass Nessa, Effie und ich nun Vollwaisen sind.

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bist du nicht mehr da?

3

Loganair LM60, zeigt mein Handydisplay an. Und Loganair LM60 hat jetzt schon eine halbe Stunde Verspätung, wodurch mein Anschlussflug in Aberdeen zu einer Zitterpartie wird. Aber Loganair LM60 war leider meine einzige Chance, heute nach Shetland zu kommen. Ich fliege von Bristol nach Aberdeen und von dort mit einer kleinen Maschine nach Sumburgh. Das ist der größte Flughafen der Inseln und mit dem Bus eine Stunde von Lerwick entfernt. Wenn alles gut geht, bin ich also um kurz nach zehn zu Hause. Zu Hause. Bei dem Gedanken beiße ich mir auf die Zunge.

Mein Zuhause ist in Bristol. Dort, wo ich die letzten drei Jahre gelebt habe. Allein. Unabhängig. Ohne Sicherheitsnetz, aber auch ohne alles verzehrenden Schmerz. Ich habe es geschafft. Habe es zu meinem gemacht. Und was, bitte, ist zu Hause, wenn nicht das? Vielleicht der Ort, wo du herkommst, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Vielleicht der Ort, an dem deine Familie ist. Damit meine Gedanken für einen Moment die Klappe halten, sehe ich mich nach einem Boots oder Superdrug um, um mir einen Meal Deal zu holen. Wasser, irgendein matschiges Sandwich und Salt-and-Vinegar-Crisps, damit ich mir keine überteuerten Snacks im Flugzeug kaufen und während der nächsten fünf Stunden nicht verhungern muss.

Ham & Eggs.

Chicken & Avocado.

 

Die quietschbunten Verpackungen sind ebenso wenig einladend wie die Mayonnaise-Schlieren auf den Plastikfenstern. Ein Mann neben mir drängelt ungeduldig und nimmt sich ein BLT. Kurz darauf stellt er es zurück und greift noch mal nach einem anderen. Auf den zweiten Blick sehe ich, dass er im ersten Anlauf die Veggie-Version erwischt hatte. Die nehme ich mir nun und gehe mit Sandwich, Crisps und Wasser zum Self-Checkout.

Mit einem Seufzen lasse ich meinen Rucksack auf einen freien Sitz in der Wartehalle fallen und nehme daneben Platz. Dann öffne ich in WhatsApp die Konversation mit Nessa. Und tatsächlich, hinter den Worten Ich denke an dich blinkt immer noch der Cursor. Ich lösche sie endgültig.

Wenn ich den Anschluss in Aberdeen kriege, bin ich heute Abend da.

Das ist sie nun, die erste Nachricht seit drei Monaten, die ich meiner großen Schwester schicke. Die Häkchen verfärben sich schnell blau.

Okay.

Mehr nicht. Kein Sollen wir dich abholen? Kein Ich freu mich. Aber woher sollte das auch kommen, ich kriege es ja nicht einmal hin, ihr zum Geburtstag zu gratulieren.

Doch kurz darauf erscheint eine weitere Nachricht auf meinem Handy.

Kann gar nicht glauben, dass wir uns heute Abend sehen!!!!!! Auch wenn es ein trauriger Anlass ist. Weinendes Emoji.

Effie. Mein letzter Kontakt mit ihr liegt sogar noch etwas länger zurück. Und ich weiß nicht einmal, warum. Denn Effie macht es einem leicht. Hat es auch mir immer leicht gemacht. Dennoch konnte ich nicht. Konnte den Kontakt nach Hause nicht halten. Nach Hause. Da ist es schon wieder.

Ich freu mich, tippe ich als Antwort, und ohne lange darüber nachzudenken, schicke, ich sie ab.

UNDICHMICHERST!!!! Viele Party-Emojis.

Es fühlt sich gut an. Dass Effie sich freut, fühlt sich gut an, und das Gefühl der tiefen Einsamkeit, das ich beim Gedanken an Lerwick und Shetland empfunden habe, wird ein bisschen verdünnt. Nicht mit Vorfreude, das wäre übertrieben. Zu lange ist es her, zu merkwürdig kommt es mir vor. Aber ich empfinde eine deutliche Erleichterung darüber, dass wenigstens ein Mensch sich auf meine Ankunft freut. Ein einziger Mensch. Denn ich selbst gehöre wohl auch zur anderen Fraktion.

 

Tatsächlich erwische ich den Anschlussflug in Aberdeen gerade noch so. Völlig außer Atem deute ich auf den freien Fensterplatz in Reihe sieben.

Eine ältere Dame erhebt sich, macht dem jungen Kerl, der in der Mitte sitzt, Platz, damit er mich reinlassen kann. Mit einem frechen Grinsen und einer galant-ausladenden Geste lässt er mich durch.

»Danke«, sage ich, verstaue meinen Rucksack unter dem Sitz vor mir und will gerade meine Kopfhörer aufsetzen, um dann ungestört in die Dämmerung starren zu können.

»Arbeit oder Vergnügen?« Es ist der Kerl neben mir.

»Wie bitte?«

»Bei mir ist es Arbeit.« Er verdreht die Augen. »Gehört ein für alle Mal abgeschafft, wenn du mich fragst.« Er hat definitiv einen schottischen Akzent, aber einen ganz sanften. Als wäre es ein Überbleibsel, das er sich abgewöhnt hat.

Ich muss an Irina denken, die der Gedanke, sich den Allerwertesten aufgerissen zu haben, um das nun bis zur Rente weiter durchzuziehen, auch belastet.

»Vielleicht hast du den falschen Job?«, schlage ich vor und nestle auffällig am Kabel meiner Kopfhörer herum, damit er merkt, dass ich lieber meine Ruhe habe.

»Das ist mal sicher.« Er lacht. Es ist ein schönes Geräusch, und ich wende den Kopf, um ihn anzusehen. Er sieht ulkig aus. Nicht schlecht, aber so, als würden die Einzelteile seines Gesichts nicht ganz zusammenpassen. Die Augen, die Nase, der Mund, für sich genommen ist das alles hübsch, doch das Gesamtbild stimmt nicht richtig. Außerdem, fällt mir nun auf, trägt er einen dunkelroten Samtanzug und darunter ein Hemd mit buntem Paisley-Muster. Was für ein schräger Vogel!

»Such dir doch was anderes«, schlage ich vor und stecke das Kabel meiner Kopfhörer in den vorgesehenen Anschluss.

»Wenn’s nur so einfach wäre …«, erwidert er.

Ich warte einen Moment ab, um nicht unhöflich zu sein, dann setze ich die Kopfhörer auf und mache meine Playlist an. Die kleine Maschine beginnt das Rollfeld entlangzuhumpeln. Jede noch so kleine Erschütterung spürt man überdeutlich, wenn man in diesen winzigen Flugzeugen sitzt. Kurz vor der Startbahn halten wir, dann geht es alles ganz schnell. Wir werden tief in unsere Sitze gedrückt – und im nächsten Moment wackeln wir in der Luft. Ich schließe die Augen, atme tief durch. In etwas mehr als einer Stunde werde ich die Hauptinsel, die ironischerweise Mainland heißt, betreten.

Etwas pikt mich in den Arm, und ich schaue auf. Es ist der komische Kerl neben mir. Er sagt etwas, aber wegen der Musik in meinen Ohren verstehe ich ihn nicht. Wieder stupst er mich mit seinem Zeigefinger an.

Etwas widerwillig nehme ich die Kopfhörer ab. »Ja?«

»Mir ist langweilig.«

Ihm ist langweilig?

»Hast du Lust, was mit mir zu trinken? Ich lade dich ein.«

Aus einer länglichen Papiertüte mit goldenem Aufdruck, den ich auf die Schnelle nicht entziffern kann, zieht er eine Flasche teuer aussehenden Sekt. Oder ist es Champagner?

»Und Sie auch, gnädige Frau«, sagt er an die alte Dame zu seiner Rechten gewandt.

»Na, hören Sie mal, junger Mann«, sagt sie, doch er lässt sich nicht beirren, strahlt erst mich an, dann sie. Und tatsächlich wird sie unter seinem Blick weich und nickt. »Ein Gläschen kann wohl nicht schaden.«

»Das will ich wohl meinen. Was ist mit dir?«

Und ebenso wie die alte Dame knicke auch ich ein. »Ja, okay.«

»Yes!«, sagt er. »Eine gute Entscheidung.« Zu meiner wachsenden Verwunderung holt er aus einer Packung drei Sektflöten aus Plastik und stellt sie auf seinen Klapptisch. Mit einem gekonnten Ploppen öffnet er die Flasche und schenkt großzügig ein. »Es ist nicht der Beste, aber man nimmt, was man kriegen kann.« Er reicht mir und der alten Dame je ein Glas und nimmt sich selbst das letzte. Einen Moment hält er inne, dann gluckst er. »Wäre ein guter Slogan für Aberdeen.«

»Vielleicht solltest du ins Marketing gehen«, sage ich, stoße mit ihm an und nehme einen Schluck.

»Gekühlt hatten sie auch keinen.« Er zuckt mit den Schultern. »Eigentlich eine Verschwendung. Aber wenn man schon mal ein Spesenkonto hat …« Er grinst wieder auf diese schelmische Art.

Beinahe bin ich versucht, ihn zu fragen, was er denn nun für einen Job hat, den er hasst, der es ihm jedoch ermöglicht, auf Firmenkosten warmen Duty-free-Champagner zu trinken.

Doch er kommt mir zuvor. »Bist du aus Shetland?«

»Ursprünglich, ja.«

»Und unursprünglich?«

»Gerade wohne ich in Bristol.«

»Und jetzt auf Heimatbesuch?«

»Kann man so sagen.«

»Und warum siehst du dann so bedrückt aus?«

Ich weiß nicht einmal, warum ich einem völlig Fremden, dessen Gesicht aus nicht zusammengehörenden Puzzleteilen besteht, darauf antworte. Aber ich tue es. Sage den Satz, der so viel Gewicht hat. Der seit meinem Umzug in Bristol mein ganzes Leben, mein ganzes Handeln bestimmt hat. »Es ist das erste Mal seit drei Jahren.«

»Hossa«, sagt er. »Da hatte jemand keine Lust aufs Landleben.« Er beugt sich verschwörerisch zu mir und flüstert in ungeheurer Lautstärke: »Psssst, ich auch nicht!« Dann genehmigt er sich einen ordentlichen Schluck. »Leute wie du und ich brauchen Trubel«, sagt er nach einer kurzen Pause. »Wir sind nicht für die Einöde gemacht.«

Bei ihm stimmt das mit Sicherheit. Ich kann ihn mir sehr gut in irgendwelchen Boho-Clubs in London oder Paris vorstellen. Aber nach Shetland sieht er wirklich nicht aus. Meine Motive waren andere, doch das binde ich ihm nicht auf die Nase.

»Leute wie du und ich sind außerdem für Flugzeuge gemacht, in denen es eine erste Klasse gibt, damit man seine Beine in einem einigermaßen gesunden Winkel halten kann«, sagt er. »Lässigkeit ist in so beengten Verhältnissen eine hohe Kunst, die ich leider nicht beherrsche.«

Mein Blick folgt seinen tatsächlich langen Beinen bis zu seinen wackelnden Zehen, die in bunten Ringelsocken stecken. Seine teuer aussehenden Schuhe stehen ordentlich daneben. Für was um Himmels willen sollte eine Firma Verwendung für einen Kerl wie ihn auf Shetland haben?

»Was ist mit Ihnen«, wendet er sich nun der alten Frau zu und verwickelt sie in ein Gespräch. Sie ist mitteilsamer als ich, und das scheint ihm zu gefallen, sodass ich mich zurücklehne, mit einem Ohr der absurden Konversation neben mir und mit dem anderen dem einschläfernden Motorengeräusch des Flugzeugs lausche. Ich hoffe eigentlich auf ein Nickerchen, das meine Gedanken zum Schweigen bringt. Stattdessen male ich mir aus, wie es sein wird, wieder auf die Insel zu kommen. Wie Effie und Nessa reagieren werden. Ob es mir gelingt, mich von ihm fernzuhalten. Und wenn nicht, wie ich mich verhalten soll. Denn die letzte Erinnerung an ihn sind seine gestrafften Schultern, sein stolzer Gang, sein »Das meinst du nicht ernst«, sein »Diese Unterhaltung ist noch nicht vorbei«, sein »Wir reden morgen, wenn du wieder bei Sinnen bist.« Doch Morgen ist nie passiert.

 

Mein Koffer ist natürlich der letzte, den die Ausgabe ausspuckt. Alle zehn Sekunden checke ich die Uhr auf meinem Handy, während ich nun zum zweiten Mal an diesem Tag durch einen Flughafen sprinte. Der letzte Bus fährt um Punkt acht Uhr – in genau zwei Minuten. Wenn ich den nicht erwische …

Die Türen des Terminals öffnen sich, ich renne hindurch Richtung Haltestelle. Und in diesem Moment fährt der Bus an mir vorbei.

»Verflucht!«, rufe ich und stampfe mit dem Fuß auf. »Verflucht, verflucht, verflucht!«

Was jetzt? Ich blicke mich um, aber die paar Leute, die noch hinter mir aus dem Gebäude kommen, nehmen keine Notiz von mir. Ich ziehe meinen Rollkoffer zu einer Bank und lasse mich darauf sinken. Es ist kalt. Es ist dunkel. Es nieselt. Die winzigen Tropfen sind wie kalte Nadelstiche in meinem Gesicht. Ich hatte vergessen, wie wenig einladend der Herbst hier ist. Wie kalt, wie trübselig. Hatte vergessen, wie trostlos dieser Flughafen ist. Kein Bus nach zwanzig Uhr. Vielleicht hatte der schräge Vogel doch recht, vielleicht bin ich nicht für die Einöde gemacht. Denn das ist dieser Ort, der den Namen Flughafen eigentlich nicht verdient. Flugmarina vielleicht. Eine Betoneinöde auf jeden Fall. Ich lasse die Schultern sinken, ziehe mir die Kapuze meines Parkas über den Kopf und atme kalte Luft. Sie riecht salzig. Nach Meer. Nach Weite. Ich atme wieder. Und wieder. Ich atme ganz frei.

Auf den Shetlandinseln ist man nirgendwo weiter als fünf Kilometer vom Meer entfernt. Früher kam es mir immer vor wie eine unendliche Weite. Eine unendliche Freiheit. Bis zu diesem einen Tag vor drei Jahren, als es zu einer unerträglichen Enge wurde.