Emily Bones - Gesa Schwartz - E-Book

Emily Bones E-Book

Gesa Schwartz

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Beschreibung

Ein Schmöker mit atmosphärischem Setting und eine Geschichte, die Tim Burton verfilmen würde

Emily glaubt zu träumen, als sie sich eines Nachts in einem Grab wiederfindet. Aber es ist kein Traum. Entsetzt stellt sie fest, dass sie gestorben ist und nun als Geist auf dem Friedhof Père Lachaise herumspuken muss. Aber sie denkt gar nicht daran, sich damit abzufinden. Denn sie ist keines natürlichen Todes gestorben, und fortan hat Emily nur noch ein Ziel: Sie will ihren Mörder finden und sich das Leben zurückholen, das er ihr gestohlen hat. Doch das ist selbst für einen Geist viel gefährlicher, als Emily es je für möglich gehalten hätte ...

Für Kinder ab 10 Jahren.

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Das Buch

Emily glaubt zu träumen, als sie sich eines Nachts in einem Grab wiederfindet. Aber es ist kein Traum. Entsetzt stellt sie fest, dass sie gestorben ist und nun als Geist auf dem Friedhof Père Lachaise herumspuken muss. Aber sie denkt gar nicht daran, sich damit abzufinden. Denn sie ist keines natürlichen Todes gestorben, und fortan hat Emily nur noch ein Ziel: Sie will ihren Mörder finden und sich das Leben zurückholen, das er ihr gestohlen hat. Doch das ist selbst für einen Geist viel gefährlicher, als Emily es je für möglich gehalten hätte …

Die Autorin

© Moutevelidis Photography

Gesa Schwartz wurde 1980 in Stade geboren. Sie hat Deutsche Philologie, Philosophie und Deutsch als Fremdsprache studiert. Ihr besonderes Interesse galt seit jeher dem Genre der Phantastik. Nach ihrem Abschluss begab sie sich auf eine einjährige Reise durch Europa auf den Spuren der alten Geschichtenerzähler. Für ihr Debüt »Grim. Das Siegel des Feuers« erhielt sie 2011 den Deutschen Phantastik Preis in der Sparte Bestes deutschsprachiges Romandebüt. Zurzeit lebt sie in der Nähe von Hamburg in einem Zirkuswagen.

Mehr über Gesa Schwartz: www.gesa-schwartz.de

Gesa Schwartz auf Facebook: www.facebook.com/GesaSchwartz

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

1

Es war die Dunkelheit, die Emily weckte. Sie war so vollkommen, dass sie den Augen keinen Halt bot. Emily konnte sie fühlen wie ein lebendiges Wesen, das sie von allen Seiten umdrängte, und sie seufzte verschlafen. Sie hatte nicht das Geringste dafür übrig, mitten in der Nacht aufzuwachen und sich in völliger Finsternis wiederzufinden. Deshalb achtete sie normalerweise darauf, dass die Vorhänge in ihrem Zimmer vor dem Schlafengehen ein wenig geöffnet waren. Aber sie ging jede Wette ein, dass Sophie sie wieder heimlich zugezogen hatte. Ihre kleine Schwester hatte nämlich ständig Angst, dass jemand hereinsah. Vampire. Monster. Irgendwelche Fantasiegestalten eben, von denen sie in ihren Büchern gelesen hatte. Nicht, dass Emily diese Furcht nicht bekannt vorkam. Aber immerhin war sie dreizehn Jahre alt. Sie war kein Kind mehr. Und das bedeutete, dass sie sich zumindest nicht anmerken lassen durfte, dass sie in schwachen Momenten noch genauso an all die Hirngespinste glaubte wie ihre Schwester. Abgesehen davon fand sie es bedeutend schlimmer, sich gefährliche Kreaturen in ihrem Zimmer vorzustellen als durch eine Glasscheibe von ihr getrennt jenseits davon. Der Gedanke an mögliche Ungeheuer ließ sie schaudern. Sie brauchte Licht. Sofort. Entschlossen richtete sie sich auf – und schlug mit der Stirn gegen etwas Hartes. Der Schmerz zuckte durch ihren Schädel, und als sie nach ihrer Schläfe griff, stieß sie mit dem Ellbogen gegen eine Wand, wo für gewöhnlich gar keine war.

»Verflucht, was …«, murmelte sie und stellte fest, dass ihre Stimme seltsam dumpf klang. So als wäre sie anstatt in ihrem Zimmer in einem sehr viel kleineren Raum. Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung, doch ihre Hände waren schneller als ihr Verstand. Sie tasteten über eine dritte Wand direkt neben ihr. Aber sie war nicht glatt wie in ihrem Zimmer, sondern mit weichem Stoff verkleidet, und darunter … Sie grub ihre Finger durch das Gewebe. Holz. Kaltes, raues Holz. Emily konnte nicht verhindern, dass ihre Hände anfingen zu zittern. Die Wände waren viel zu nah und überall um sie herum, so als wäre sie in einer Kiste oder … Die Erkenntnis schoss eiskalt durch ihren Leib. Oder in einem Sarg.

Emily lag da wie erstarrt. Erst jetzt nahm sie das Satinkissen unter ihrem Kopf wahr, das Spitzentuch, das über ihren Beinen lag, und den Rosenkranz, der nun mit leisem Klackern von ihrem Brustkorb rutschte. Das Geräusch ließ sie zusammenfahren. Sie war in einem Sarg! Haltlose Panik stieg in ihr auf und sie brauchte ihre gesamte Kraft, um sie niederzukämpfen. Es musste eine Erklärung dafür geben, irgendeine, die nicht vollkommen entsetzlich war. Ihre Gedanken jagten durch ihren Schädel, und plötzlich tauchte ein Name in ihr auf, der Emily erleichtert die Luft ausstoßen ließ. Lisa!

Sie kannte ihre beste Freundin seit Kindertagen. Fast ebenso lange verband sie eine Vorliebe für düstere Filme und Bücher, und weil einfach partout kein Vampir an ihr Fenster klopfen und für den entsprechenden Nervenkitzel sorgen wollte, hatten sie irgendwann angefangen, sich gegenseitig Streiche zu spielen. Emily erinnerte sich daran, wie sie sich über Monate hinweg mit unheimlichen Masken erschreckt hatten, und sie musste noch immer grinsen, als sie an ihren letzten Streich zurückdachte. Lisa hatte bei ihr übernachtet und war um Punkt Mitternacht in solche Panik verfallen, dass Emily geglaubt hatte, sie würde sich überhaupt nicht wieder beruhigen. Der Grund war Lisas Spinnenphobie gewesen – und der riesige Karton krabbelnder Plastikspinnen, der sich plötzlich über dem Bett entleert hatte. Lisa war kreischend durchs ganze Zimmer gesprungen und hatte wie wild mit den Armen gefuchtelt, während die winzigen Viecher sich in ihren Haaren verfangen hatten. Noch Wochen später war sie bei dem mechanischen Surren der Spinnen zusammengezuckt. Und jetzt hatte sie also die Gelegenheit der Rache genutzt und Emily in einen Sarg gesperrt. Sehr passend, immerhin war Halloween, und abgesehen davon arbeitete Lisas Vater als Bestatter. Emily biss sich auf die Lippe. Aber wie zur Hölle war sie in den Sarg hineingekommen? Und wieso erinnerte sie sich überhaupt nicht daran?

Sie begann, den Deckel abzuklopfen. Er hob sich keinen Fingerbreit, doch Emily zwang sich, ihn Stück für Stück nach einem Spalt abzusuchen und so gelassen wie möglich an den vergangenen Abend zu denken. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich gemeinsam mit Lisa für das Kostümfest in der Schule verkleidet hatte. Lisa war als Zombie gegangen und Emily als Grufti, gewandet in ein knielanges Gothic-Kleid, Netzstrumpfhose und Hexenstiefel. Das Amulett mit dem silbernen Drachen, das ihr Vater ihr geschenkt hatte, war die perfekte Ergänzung gewesen. Sophie hatte ihr die Haare mit dem Glätteisen zu wilden Locken gedreht, bis sie ausgesehen hatte, als hätte sie in die Steckdose gefasst. Dann waren sie aufgebrochen, nicht ohne die übliche Ermahnung ihres Onkels, vorsichtig zu sein. Emily sah ihn vor sich mit seinem zerzausten Haar und der Brille, die immer ein wenig schief auf seiner Nase saß. Er war vielbeschäftigter Architekt und hatte für Kinder eigentlich nicht sonderlich viel übrig. Außer für Sophie und Emily, die Kinder seines Bruders, der vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Ein Stich ging durch Emilys Brust, als sie an ihren Vater dachte. Sie wusste, dass die übertriebene Sorge ihres Onkels mit seinem Tod zu tun hatte, und ihr selbst fehlte er auch, manchmal so sehr, dass sie kaum atmen konnte. An ihre Mutter erinnerte sie sich nur noch verschwommen, sie war bald nach Sophies Geburt gestorben. Aber ihr Vater war noch immer so präsent, als wäre er nur kurz zur Tür hinausgegangen. Er war Schriftsteller gewesen. Seit Emily denken konnte, hatte er ihr Leben mit abenteuerlichen Geschichten gefüllt … ihr liebevoller, sanfter Vater, der nie aufgehört hatte, an Wunder zu glauben, und den kein Wunder der Welt gerettet hatte.

Emily presste die Hände fester gegen den Sargdeckel. Für solche Gedanken war jetzt keine Zeit. Sie musste sich auf den letzten Abend konzentrieren. Lisa und sie hatten das Haus verlassen, waren zur Métro-Station gelaufen und dort in ein Gewühl geraten. Emily erinnerte sich, dass sie Lisa aus den Augen verloren hatte … und dann an nichts mehr.

Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Atem schneller ging. Was, wenn sie sich irrte und Lisa nicht das Geringste mit dieser Situation zu tun hatte? Was, wenn sie entführt und irgendwo im Wald lebendig begraben worden war? Der Gedanke schlang sich um ihre Kehle. Angestrengt versuchte sie, wieder an das Kostümfest zu denken oder daran, wie sie nach Hause gekommen war. Aber in ihrem Kopf war nichts mehr als lähmende Dunkelheit und sie verschmolz mit der Finsternis um sie herum zu einer Furcht, der sie nicht mehr länger standhalten konnte. Mit aller Kraft schlug sie gegen das Holz – und bekam im nächsten Moment eine Ladung Erde ins Gesicht. Hustend fuhr sie in die Höhe. Sie strampelte mit den Beinen, ihre Hände wühlten sich durch Erde und Blumengestecke und endlich kletterte sie auf allen vieren ins Freie.

Es war tiefste Nacht. Der Vollmond schien so hell, dass er Emily blendete, und sie starrte auf das aufgewühlte Erdreich zu ihren Füßen, das noch immer von Blumen bedeckt wurde. Es war eindeutig ein Grab. Sie zupfte sich die Blüten aus den Haaren und sah sich um. Rings herum standen Grabsteine, alte Bäume rauschten im Wind und in einiger Entfernung erhoben sich die typischen Totenhäuser von Père Lachaise. Emily zog die Schultern an. Sie war auf dem größten Friedhof von Paris.

Sie fröstelte, als der Wind nach ihrem Haar griff, doch ehe sie der Gedanke an irgendwelche Ungeheuer befallen konnte, stieß sie die Luft aus. Kein Entführer würde auf die Idee kommen, sein Opfer auf einem Friedhof zu vergraben, schon gar nicht auf dem Cimetière du Père Lachaise, der fast so gut bewacht wurde wie eine Festung und obendrein zu den größten Touristenattraktionen von Paris gehörte. Und abgesehen davon hätte sie dem Sarg nie aus eigener Kraft entkommen können, wenn er nicht vorher für genau diesen Zweck präpariert worden wäre. Also hatte sie recht gehabt. Lisa steckte hinter alldem und eins war sicher: Dieses Mal hatte sie es übertrieben. Gut, die Sache mit den Spinnen war auch nicht von schlechten Eltern gewesen. Aber die beste Freundin an diesem Ort zu vergraben, das war ein ganz anderes Kaliber. Ob sie tatsächlich ihren Vater eingeweiht hatte? Emily konnte sich nicht vorstellen, dass der gutmütige Bestatter bei so einem Unsinn mitgemacht hätte. Doch vielleicht hatte einer seiner Auszubildenden sich hinreißen lassen. Mit finsterer Miene klopfte sie sich die Erde von ihrem Kostüm. Es war ihr immer noch unheimlich, dass sie sich an den Abend nicht mehr erinnerte, aber auch dafür gab es eine Erklärung, wenngleich sie ihr nicht gefiel. Wahrscheinlich hatte sie auf dem Fest heimlich Alkohol getrunken. Die älteren Schüler hatten sicher ein paar Flaschen mit hineingeschmuggelt, und erfahrungsgemäß reichten schon wenige Schlucke aus, um Emily in komatösen Tiefschlaf zu versetzen. Sie seufzte. Wenn ihr Onkel davon erfuhr, würde er ihr die Hölle heißmachen, und er hätte sogar recht damit, was das Ganze noch verschlimmerte. Aber sie hatte nicht vor, ihm etwas zu erzählen. Stattdessen verzog sie den Mund zu einem teuflischen Lächeln. Ganz gleich, wie Lisa dieser Streich gelungen war – er würde Vergeltung finden. Emilys Rache würde fürchterlich sein.

Sie schlang die Arme um ihren Leib und stapfte drauflos. Sie konnte nur hoffen, dass die Tore nach draußen nicht verschlossen waren. Sonst hatte sie nur die Wahl, entweder zum Friedhofswächter zu gehen und zu riskieren, dass er sie an ihren Onkel verriet, oder bis zum Morgengrauen zwischen den Büschen auszuharren, bis der Friedhof seine Pforten wieder öffnete und sie entwischen konnte. Beides war nicht gerade verlockend, umso weniger nun, da sich ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die unbeleuchteten Bereiche jenseits der Wege richtete. Und mit jedem Blick in die Schatten konnte sie sich weniger gegen die Furcht wehren, die mit eisigen Klauen nach ihr griff.

Zwar war sie oft genug auf diesem Friedhof gewesen, um sich einigermaßen auszukennen, aber sie hatte ihn noch nie in der Nacht besucht und schon gar nicht allein. Und wie jeder andere Ort schien sich auch der Cimetière du Père Lachaise in der Dunkelheit in ein Refugium düsterer Magie zu verwandeln, in dem alles möglich war … insbesondere alle Schrecken, die Emily sich nur vorstellen konnte. Sie verzog das Gesicht bei diesem Gedanken. Ihr Onkel würde über sie lächeln, wie er es immer tat, wenn die Fantasie mit ihr durchging. Aber sie konnte nichts dafür. Seit sie sich erinnern konnte, dachte sie sich Geschichten aus, wie ihr Vater es getan hatte, und gegen eine Umgebung wie diese war sie machtlos. Wie sollte sie auch einen kühlen Kopf bewahren, wenn sie sich hinter jedem Grabstein einen Werwolf vorstellen konnte?

Der Gedanke an eine solche Kreatur genügte, um sie schneller gehen zu lassen. Plötzlich schien es ihr, als würden die Blätter der Bäume ihren Namen flüstern, und sie bemerkte Schemen abseits des Weges, deren lang gezogene Schatten über die Gräber huschten. Angespannt warf Emily einen Blick über die Schulter. Vermutlich waren es nur die Katzen, die seit jeher auf dem Friedhof heimisch waren, aber sie hatte trotzdem das Gefühl, als würde ihr jemand folgen. Jemand … oder etwas. Sie presste die Zähne aufeinander. Verdammt, sie musste sich zusammenreißen. Das Ganze war nichts weiter als ein Scherz. Vielleicht wartete Lisa irgendwo hier im Gebüsch, dann durfte Emily sich auf keinen Fall die Blöße geben und Angst zeigen! Entschlossen schaute sie wieder nach vorn – und krachte mit jemandem zusammen.

Der Zusammenprall war so heftig, dass Emily für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Sie hörte ein seltsames Geklapper und fand sich gleich darauf vor einem Haufen bleicher Knochen wieder. Entsetzt starrte sie auf das menschliche Skelett, das dort in Einzelteilen vor ihr lag, und in das Gesicht eines Totenschädels, der mit rot glühenden Augen zu ihr herauffunkelte.

»Verdammt, was fällt dir ein?«, krächzte der Schädel und ein knöcherner Finger sauste in die Luft und pikste Emily vor die Brust. »Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?«

Emily stand da wie erstarrt und sah mit offenem Mund zu, wie das Skelett sich wieder zusammensetzte. Für einen winzigen Moment rief ihr hilfloser Verstand ihr zu, dass Lisa möglicherweise die Filmfreaks aus der Schule um Hilfe gebeten hatte, um diese Kreatur zu basteln. Aber gleich darauf richtete der Knochenmann sich auf, sein Schädel erglühte in rotem Feuer und jede vernünftige Erklärung verbrannte in seinen Augen. Emily sah noch, wie er einen Schritt auf sie zutrat. Dann warf sie sich herum und rannte los.

»Die Jugend von heute«, kreischte das Skelett ihr nach. »Keinen Respekt mehr vor dem Alter!«

Emily lief, so schnell sie nur konnte. Ihre Schritte hetzten über die Wege, und mit jedem Stolpern wurde ein Gedanke in ihr stärker: Sie träumte. Es gab keine andere Erklärung mehr. Nie im Leben hätte Lisa ein sprechendes Skelett bauen können, ob mit oder ohne Hilfe. Und Emily kannte Albträume dieser Art, die so real waren, als würden sie wirklich passieren, und aus denen sie jedes Mal mit rasendem Herzen aufschreckte. Aber sosehr sie sich auch bemühte, der Gedanke beruhigte sie nicht. Zu deutlich spürte sie die Schmerzen in ihren aufgeschrammten Knien, zu eindringlich hörte sie den Wind in den Bäumen, und ihre Furcht zog sich zu einem einzigen Wort zusammen: Fort. Nur fort von diesem Ort, der seine Dunkelheit immer enger um sie schloss. Sie stieß einen Laut der Erleichterung aus, als das Tor vor ihr auftauchte. Schwer atmend warf sie sich dagegen – und fand es verschlossen.

Die Verzweiflung packte sie mit eisernem Griff. Die Schatten ringsum begannen zu tanzen, sie sah es aus dem Augenwinkel, der Wind heulte wie Totengesang, und sie konnte sie spüren: all die unheimlichen Kreaturen, die sich in ihrem Rücken zusammenfügten und bald schon aus der Finsternis treten würden. Fast gewaltsam ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie musste nach dem Friedhofswärter suchen. Wenn sie erst in seinem Wachthäuschen saß, eine Decke um die Schultern, und darauf wartete, dass ihr Onkel sie abholte, würde sich alles klären. Sie spürte sie selbst, die Hilflosigkeit ihrer Gedanken, aber sie drehte sich dennoch um. Und da, umgeben von tiefster Dunkelheit, bewegte sich ein grelles Licht direkt auf sie zu.

Im ersten Moment hielt sie es für ein Glühwürmchen. Doch als es näher kam, erkannte sie, dass es fast so groß war wie eine ausgestreckte Hand. Ihr nächster Gedanke, dass es vielleicht die Taschenlampe des Nachtwächters war, wurde von dem wilden Zickzack zerschlagen, mit dem das Licht sich näherte, und als es schließlich wie eine flackernde Flamme vor ihr in der Luft innehielt, zog sie die Brauen zusammen. Niemals hätte sie mit dem Anblick gerechnet, der sich ihr nun bot.

Inmitten des Lichts schwebte ein gnomenartiges Wesen mit silbernen Haaren, die sich wie unter Wasser bewegten, einem dürren, in eine blaue Uniform gekleideten Körper und einem Gesicht mit breitem Mund, Knollennase und großen tiefblauen Augen. Auf seinem Kopf saß zwischen zwei langen abstehenden Ohren eine Mütze, die heruntergefallen wäre, hätte es sie nicht festgehalten, und mit der anderen Hand umklammerte es eine Pappkarte, die fast so groß war wie die ganze merkwürdige Kreatur.

»Verzeihung«, sagte der Gnom. »Ich bin zu spät. Ich hätte nicht gedacht, dass du heute schon auftauchst, normalerweise dauert es länger, bis … Nun ja, wie auch immer. Jetzt bin ich ja da und wir können …«

»Wer zum Teufel bist du?«, entfuhr es Emily, und sie stellte fest, dass ihre eigene Stimme ihre Furcht zurückdrängte. Mochte sie träumen oder langsam den Verstand verlieren – es half gar nichts, in Panik zu verfallen. Und vielleicht konnte diese Kreatur ihr helfen, Licht ins Dunkel zu bringen. Der Gnom jedoch schaute beinahe beleidigt aus der Wäsche.

»Mein Name ist Cosimo«, erwiderte er, als hätte sie das wissen müssen, und strich mit einigem Stolz seine Uniform glatt. »Zuständig für die Begrüßung und Registrierung der Neuankömmlinge und staatlich geprüfter Wegweiser in der dritten Generation. Ungewöhnlich für einen Irrwicht, ich weiß. Aber was wäre die Welt ohne das Ungewöhnliche?«

Sein Lachen klang wie das Klackern winziger Steine am Meeresrand und brachte Emily gegen ihren Willen zum Lächeln. »Du bist … was?«

»Ein Irrwicht«, wiederholte er geduldig. »Wir gehören zur Familie der Irrlichter, haben aber viel hübschere Frisuren.« Er zwinkerte, wobei Emily nicht sagen konnte, ob seine Worte scherzhaft gemeint waren oder nicht. »Jedenfalls heiße ich dich herzlich willkommen«, fuhr er fort. »Willkommen in der Welt der Geister und Untoten, der Schattenspieler und Nekromanten, der Wiedergänger und Gespenster. Willkommen im Refugium der Nacht!«

Emily öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Sie wollte in Gelächter ausbrechen, aber stattdessen stand sie einfach da. Ein Scherz ihrer besten Freundin. Eine Entführung. Ein Traum. Ein kurzfristiger Ausbruch von Wahnsinn. All diese Erklärungen für die Ereignisse schmolzen plötzlich zugunsten einer einzigen zusammen, und die war so schrecklich, dass Emily einen Augenblick brauchte, um sie zu begreifen. »Willst du damit sagen, dass ich … tot bin?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch Cosimo strahlte.

»Aber sicher«, rief er und warf so freudig die Arme in die Luft, dass er fast seine Pappkarte fallen gelassen hätte. »Mausemäßig sogar!«

Emily hatte das Gefühl, als würden ihre Knie weich werden, und sie setzte sich in Bewegung, um ihren Körper an einer Ohnmacht zu hindern. »Das ist nicht möglich«, murmelte sie, während der Irrwicht ihr rasch nacheilte. »Verstorbene tragen doch kein Kostüm!«

Er musterte sie von der Seite. »Ach«, machte er. »Das ist ein Kostüm?«

»Natürlich«, gab sie zurück. »Glaubst du etwa, ich laufe jeden Tag wie ein Grufti durch die Gegend?«

Cosimo grinste von einem Ohr zum anderen und nickte eifrig. »Von jetzt an schon. Alle Geister haben das an, worin sie gestorben sind. Und bevor du fragst: Es ist ganz normal, dass du dich nicht an deinen eigenen Tod erinnerst und etwas verwirrt bist. Die meisten Geister haben so ein Trauma, das am besten in Gruppensitzungen aufgearbeitet wird.«

Emily riss die Augen auf. »Gruppen-was?«

»Keine Sorge.« Der Irrwicht tätschelte ihr die Schulter, worauf goldene Funken über ihren Arm rieselten. »Bald wirst du alles verstehen, was dir jetzt noch fremd ist. Und du bist ja nicht allein. Der Friedhof hat jede Menge Bewohner, das kann ich dir versichern.«

Schaudernd dachte Emily an das Skelett zurück. »Aber ich habe einen Körper!«, rief sie und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme sich überschlug. »Und ich blute sogar, siehst du?«

Sie deutete auf ihre Knie, doch Cosimo lächelte nur nachsichtig. »Dein Bewusstsein hält sich an dem Glauben fest, dass du einen Körper hättest. Deswegen kommt es dir so vor, und tatsächlich materialisierst du dich hin und wieder ohne jede Kontrolle. Aber die meiste Zeit über ist das nicht echt. Es ist wie …« Er überlegte und riss dann in plötzlicher Begeisterung die Augen auf. »… ein Phantomschmerz!«

Emily stolperte über aufgewühlte Erde. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie den Weg verlassen hatte, und es war ihr auch einerlei. »Aber ich atme«, brachte sie hervor. »Ich kann die Luft fühlen, sie ist eisig kalt!«

»Ja«, erwiderte Cosimo, der nun neben ihr innehielt. »Das ist alles eine Sache der Gewöhnung. Würdest du jetzt auf der Stelle mit dem Atmen aufhören, würdest du vermutlich sogar bewusstlos werden, aber davon möchte ich dir dringend abraten. Denn es gibt doch nichts Unehrenhafteres als einen Geist, der in Ohnmacht fällt!« Er seufzte, als hätte er schon zu vielen Geistern genau dabei zugesehen. Dann kehrte das Lächeln auf seine Züge zurück. »Aber mit der Zeit wirst du dich an deinen neuen Körper gewöhnen, und ich kann dir jetzt schon versprechen, dass das eine reine Freude sein wird! Nun … jedenfalls überwiegend. Denn so ein Geisterkörper ist zu viel mehr in der Lage, als du dir vorstellen kannst. Was meinst du, wie du aus deinem Grab entkommen bist, hm? Kein Mensch hat solche Kräfte!«

Ein Schauer flog über Emilys Leib. »Meinem … Grab?«

Cosimo nickte so stolz, als wäre er selbst es gewesen, der aus dem Sarg hinausgeklettert war, und schaute an ihr vorbei. Emily folgte seinem Blick und musste feststellen, dass sie, ohne es zu merken, wieder zu dem Grab zurückgekehrt war, aus dem sie sich ins Freie gewühlt hatte. Doch ehe sie sich fragen konnte, ob sie im Kreis gelaufen war, sauste Cosimo an ihr vorbei und zog ihre Aufmerksamkeit auf den Grabstein. Er lag im Schatten zwischen zwei Bäumen, sodass sie ihn bisher nicht gesehen hatte.

Der Irrwicht setzte sich mit baumelnden Beinen darauf und ließ sein Licht über den Marmor gleiten wie Sonnenstrahlen über schwarzes Wasser. »Wir haben uns große Mühe gegeben, die Erde locker zu halten«, sagte er und schaute mit vielsagendem Lächeln auf das Blumenmeer zu seinen Füßen. »Und ich habe höchstpersönlich bei dir gewacht, bei Wind und Wetter. Manchmal musste ich tagelang in der Laterne hocken, denn sosehr ich den Regen liebe, schadet er leider meinem Licht. Also saß ich dort hinter den Spiegeln … und saß … und saß … Ich kann dir sagen, das war vielleicht öde! Aber Regeln sind Regeln, keine Hüte. Und kein Neuankömmling darf allein sein, wenn er auftaucht. Es tut mir sehr leid, dass es bei dir nun trotzdem so gekommen ist. Aber zum Glück habe ich dich ja recht schnell gefunden.«

Emily spürte seinen Blick, doch sie konnte ihn nicht ansehen. Ihre gesamte Aufmerksamkeit lag auf dem Grabstein hinter den zerdrückten Blumen. Der Marmor glänzte in Cosimos Licht und darauf stand, in goldenen Lettern und mit einer geschwungenen Rose über dem ersten Buchstaben, ihr Name. Emily Bones.

»Was zur Hölle …«, sagte sie, aber sie beendete ihren Satz nicht. Denn im selben Moment fiel ihr Blick auf die Grablaterne. Sie sah ihr eigenes Gesicht in deren Spiegelglas – und auf einmal war nichts als Stille mehr in ihrem Kopf. Es war eine Stille, die sich rasch in ihrem ganzen Körper ausbreitete, und sie sank auf die Knie, während sie den Blick ihres Spiegelbildes erwiderte. Ihre rabenschwarzen Haare standen zerzaust von ihrem Kopf ab wie an dem Abend, als sie das Haus verlassen hatte. Aber ihre Haut war silberbleich im Mondlicht, ihre Augen glühten in dunklem Grün … und die Stille kam nicht aus ihrem Kopf, wie sie geglaubt hatte. Atemlos griff sie sich an die Brust und erstarrte. Ihr Herzschlag war verstummt.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Cosimo die Arme in die Luft warf. »Emily ist tot!«, rief er und sprang freudig auf die Beine. »Es lebe Emily!«

In wildem Zickzack sauste er auf sie zu und hielt ihr die Pappkarte unter die Nase. Mit einem kurzen Blick erkannte sie, dass es sich um eine Art Registrierungsformular handelte, und wieder war es ihr Name, den sie las. Sie schauderte, als sie begriff, dass er mit Blut geschrieben worden war. Aber sie nahm es nicht mit den Augen wahr. Sie konnte es … riechen …

Die Übelkeit packte sie mit solcher Gewalt, dass sie vor Cosimo zurückwich. Sie sah noch, wie der Irrwicht erbleichte, und kurz schien es ihr, als würde ihr Spiegelbild in der Laterne den Mund zu einem Lächeln verziehen – dem Lächeln einer Toten. Dann hob sie die Hand an ihre Schläfe, und im nächsten Moment tat sie das Unehrenhafteste, zu dem ein Geist in Cosimos Augen fähig war. Sie wurde ohnmächtig.

2

»Sie wacht auf!«

Die Stimme kam wie aus weiter Ferne. Für einen Moment gab Emily sich dem Gedanken hin, doch alles nur geträumt zu haben. Den Sarg. Den Friedhof. Ihr eigenes Gesicht in der Grablaterne mit Augen aus grünem Feuer. Aber dann fühlte sie die Erde unter ihren Fingern, und Cosimos aufglühendes Licht hinter ihren Lidern machte jede Hoffnung zunichte. Es war kein Traum gewesen. Alles war wirklich passiert. Stöhnend blinzelte sie in den goldenen Schein – und riss die Augen auf. Es war nicht der Irrwicht, der sich über sie beugte und jetzt die Hand nach ihr ausstreckte. Es war ein Zombie.

Der Schreck fuhr Emily mit solcher Wucht in die Glieder, dass sie in die Höhe schoss. Cosimo stieß einen überraschten Schrei aus, der verblüffend nach einem quiekenden Meerschweinchen klang. Der Zombie landete rücklings in den Blumen, und Emily wich vor ihm zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Als er gestorben war, musste er ein junger Mann gewesen sein. Sein zerzaustes Haar mit dem Undercut an der linken Seite erinnerte sie an die coolen älteren Jungs aus der Schule. Aber seine Klamotten schienen aus dem 19. Jahrhundert zu stammen. Er trug einen abgerissenen Gehrock, ein Halstuch und eine Weste, die wie sein Hemd und seine gestreifte Hose schon mal bessere Zeiten gesehen hatten. Heruntergekommener als seine Kleidung jedoch sah er selbst aus. Seine Haut war aschfahl und mit blauen Flecken übersät. Quer über die linke Wange verlief eine gezackte Narbe, seine Lippen waren aufgesprungen und seine Fingernägel so schwarz, als hätte er mit einem Hammer darauf herumgehauen. Das Schlimmste aber waren seine Augen. Sie waren blutunterlaufen und sahen aus wie gesprungenes Glas, während er zu Emily herüberstarrte … wie die Augen des Monsters aus einem Horrorfilm, das sich im nächsten Moment auf sein wehrloses Opfer stürzen würde.

»Ich schmecke ganz scheußlich«, brachte Emily hervor, als sie mit dem Rücken gegen ihren Grabstein stieß. »Außerdem bin ich tot, alles klar? Es lohnt sich nicht, mich zu fressen!«

Hätte sie noch einen Herzschlag gehabt, dann hätte sie ihn vermutlich in ihrem gesamten Körper gefühlt. Aber der Zombie sah sie nur an, als hätte sie den unlustigsten Witz des Jahrhunderts gemacht, und seufzte tief.

»Es ist immer dasselbe«, stellte er fest. »Entweder halten die Neulinge mich für einen Axtmörder oder für einen Zombie. Und ich frage mich jedes Mal, ob einer von beiden einen Arztkoffer mit sich herumtragen würde.«

Jetzt war es an Emily, ihn anzustarren. Niemals hätte sie erwartet, ihn sprechen zu hören, noch dazu mit einer ganz normalen Stimme. In den Filmen, die sie kannte, waren Zombies für gewöhnlich reichlich minderbemittelt. Sie warf einen Blick auf den Arztkoffer, der tatsächlich neben ihm stand. »Hannibal Lecter vielleicht«, entfuhr es ihr, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte. »Allerdings ist der kein Axtmörder im eigentlichen Sinn.«

»Das kommt darauf an«, sagte der Zombie, der kein Zombie war. »Wie oft muss man eine Axt bei einem Mord benutzen, um ein Axtmörder zu sein?«

Emily zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber bestimmt ist das unter Mördern ein Titel, auf den man stolz sein kann. So wie ein Mörder-Diplom. Und dafür muss man wahrscheinlich einiges tun … beziehungsweise zerhacken.«

Ihr Gegenüber lachte, doch Cosimo, der bisher von einem zum anderen geschaut hatte, schüttelte den Kopf. »Da haben sich ja zwei gefunden. Darf ich vorstellen? Emily, verwirrter Neugeist. Und Raphael, unser friedhofseigener Sanitäter.«

Erst jetzt fiel Emily die Binde auf, die Raphael am Arm trug. »Ein Sanitäter für Geister? Man könnte meinen, dass die keinen mehr benötigen.«

»Du hast gerade das Gegenteil bewiesen«, stellte Raphael fest. »Dein Körper ist nicht mehr der eines Menschen, aber dein Verstand wird noch eine Weile brauchen, um das zu begreifen. Bis dahin ist es wichtig, beide behutsam zu behandeln. Ich habe alles getan, was ich bei einem lebendigen Menschen getan hätte, dessen Kreislauf ich stabilisiere. Sonst wärst du möglicherweise ins Koma gefallen. Oder du hättest den Verstand verloren und wärst ein verrückter Geist geworden.«

»Und davon haben wir hier weiß Gott schon mehr als genug.« Cosimo griff nach einem kleinen Gerät an seinem Gürtel, das gerade in diesem Moment anfing zu blinken. »Wie passend«, murmelte er mit finsterer Miene. »Einer meiner Schützlinge hat sich aus Versehen in seiner eigenen Gruft eingesperrt.« Er seufzte so tief, als würden alle wahnsinnigen Geister der Welt auf seinen Schultern sitzen. Dann rückte er seine Mütze zurecht und gab Raphael die Registrierkarte. »Hier hast du Emilys Daten für deinen Bericht. Und jetzt entschuldigt mich bitte. Ich muss einen Geist aus seinem Grab befreien.« Er brachte ein schiefes Lächeln zustande und sauste zwischen den Totenhäusern davon, so schnell, dass seine Flugbahn als goldene Linie hinter ihm zurückblieb.

»Ich bin also tatsächlich ohnmächtig geworden«, murmelte Emily. »Das ist mir noch nie passiert.«

»Du bist ja auch noch nie zuvor gestorben«, gab Raphael zu bedenken. »Aber keine Sorge, so wie dir geht es vielen. Kreislaufzusammenbrüche, Halluzinationen, Blutarmut … es gibt einiges, mit dem die Untoten sich herumschlagen. Ganz besonders am Anfang, wenn sie neu hier sind. Ist ja auch keine Kleinigkeit, plötzlich aus dem eigenen Grab aufzuerstehen. Ich bin froh, dass es dir jetzt wieder besser geht. Auch wenn du immer noch ziemlich blass um die Nase bist.«

»Eine natürliche Blässe scheint ja zum Geistsein dazuzugehören«, stellte Emily fest. »Und du siehst ehrlich gesagt auch nicht aus wie das blühende Leben.«

Sie ließ den Blick über die Blutergüsse an seinem Hals schweifen und blieb an einem blutigen Fleck hängen, der seine Weste in Brusthöhe bedeckte. Der Stoff war zerrissen und darunter konnte Emily einen Verband erkennen.

»Bei mir ist das naturgegeben«, sagte Raphael achselzuckend. »Ich wurde vor knapp 200 Jahren beim Pariser Juni-Aufstand erschossen.«

Fast hätte Emily gelacht, so absurd erschien ihr die Situation. Gerade erst hatten sie den Aufstand der Republikaner gegen König Philippe I. in der Schule durchgenommen … und jetzt fand sie sich einem Kerl gegenüber, der dabei umgekommen war.

»Und du bist auch ein Geist?«, fragte sie, um nicht nur dazusitzen und vollkommen fasziniert auf seine zerfetzte Weste oder die Narbe an seiner Wange zu starren.

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Draugr, auch Wiedergänger genannt. Unser Aussehen richtet sich nach der Art unseres Todes. Ich habe zum Beispiel von einem Draugr gehört, der ertrunken ist und jetzt als Wasserleiche herumläuft. Er soll ständig erkältet sein, weil er nie trocken wird. Bei mir ist es so, dass meine Wunden nicht verheilen, was manchmal zum Problem wird. Ich kann kein Blut sehen, verstehst du?«

Unwillkürlich musste Emily grinsen. »Und dann arbeitest du ausgerechnet als Sanitäter?«

»Mit dem Blut anderer habe ich weniger Probleme. Aber dir würde auch mulmig zumute werden, wenn du an dir runterguckst und ein riesiges Loch in der Brust hast, in dem du dein eigenes Herz sehen kannst.«

Emilys Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war. Auf einmal hatte sie einen Kloß im Hals, und sie spürte die sanfte Kälte, die von ihr ausging … den Frost des Todes, den sie in sich trug. »Ich weiß ja nicht mal, ob ich noch eins habe.«

»Natürlich hast du ein Herz«, sagte Raphael mit fast empörter Entschlossenheit. »Im Herzen leben die Träume. Und ich bin mir sicher: Davon hast du noch mehr als genug.«

Er lächelte, und Emily konnte sich nicht mehr erklären, wieso sie gerade noch Angst vor ihm gehabt hatte. Sie nahm seine blauen Flecken kaum noch wahr, selbst die blutunterlaufenen Augen erschienen ihr nicht mehr sonderlich furchterregend. Stattdessen fiel ihr auf, dass sich das Mondlicht darin spiegelte. Es sah aus wie schillerndes Wasser und brachte sie dazu, Raphaels Lächeln zu erwidern. »Keine Ahnung, ob das wahr ist«, sagte sie. »Es fällt mir ja schon schwer, überhaupt zu entscheiden, was gerade Traum ist und was nicht. Ich meine … ich sitze hier als Geist und rede mit einem Wiedergänger.«

Raphael lachte. »Und darauf kannst du stolz sein. Es gibt nämlich gar nicht so viele von uns, wie man denken könnte. Wirkliche Draugr sind eine seltene Spezies in der Anderwelt.«

Emily hob die Brauen. »Anderwelt?«

»Bitte entschuldige.« Er legte den Kopf schief. »Ich vergesse immer, dass das für Menschen deines Zeitalters eine Überraschung ist. Ja, du hast richtig gehört. Es gibt sie wirklich, die Kreaturen, die sich in jahrhundertelanger Tradition an das Leben der Menschen angepasst haben, ohne dass die etwas von ihnen merken würden. Werwölfe. Kobolde. Feen und so weiter. Die meisten lebendigen Anderwesen halten sich allerdings von den Friedhöfen fern. Abgesehen von ein paar Wahnsinnigen wie Cosimo. Nun ja, so verrückt ist das ja eigentlich gar nicht. Der Cimetière du Père Lachaise ist schon was ganz Besonderes. Ein Ort voller Düsternis und Schönheit … und voller Zauber.«

Emily hatte keine Ahnung, ob sie noch einen Magen besaß. Aber nun ging ein aufgeregtes Kribbeln durch ihren Bauch, gerade dort, wo sonst ihr Magen gewesen war, und irgendetwas tief in ihr führte einen wilden Freudentanz auf. Die Anderwelt existiert. Insgeheim hatte Emily es immer gefühlt: Wenn sie mit Sophie am Fenster gestanden und sich überlegt hatte, welche Fabelwesen gerade aus der Dunkelheit zu ihnen heraufschauten. Wenn sie den Geschichten ihres Vaters gelauscht hatte. Wenn sie sich danach gesehnt hatte, die Magie, die sie in Büchern erlebte, auch in Wirklichkeit zu erfahren. Aber erst jetzt, da sie mit einem Pseudozombie auf ihrem eigenen Grab hockte, konnte sie es wirklich glauben.

Sie wandte den Blick über die umliegenden Gräber, und zum ersten Mal nahm sie die glimmenden Pflanzen wahr, die an den Totenhäusern emporrankten, die Blätter der Bäume, die mit tausend Stimmen wisperten, und die zarten Knochenvögel, die auf den Ästen saßen und aus schwarz glühenden Augen zu ihr herabschauten. Sogar eine halb durchsichtige Katze bemerkte sie, deren aschgrauer Leib zwischen den Gräbern dahinhuschte, während ihre Pupillen im Dunkeln aufblitzten. Raphael hatte recht, dieser Ort war voller Zauber. Und sie war nun ein Teil davon, ein Teil der Anderwelt, nach der sie sich ihr Leben lang gesehnt hatte. Sie war ein Teil davon als … Geist.

Das Wort fiel in sie hinein wie ein Stein in einen tiefen Brunnen und zerschlug das Lächeln auf ihren Lippen. Da war sie wieder, die entsetzliche Stille in ihrem Inneren, die ihr ganz deutlich machte, was es bedeutete, ein Geist zu sein: eine Kreatur der Dunkelheit ohne Blut und Leben in den Adern. Emily schauderte. Sie war tot. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Kehle zusammenschnürte.

»Ich begreife das alles nicht.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so etwas an der Situation ändern. »Gerade laufe ich noch mit meiner besten Freundin durch Paris und jetzt …«

Raphael nickte verständnisvoll. »Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Aber immerhin musst du dich nicht mit offenen Wunden herumschlagen. Das ist doch schon mal was.«

»Großartig.« Emily verzog das Gesicht. »Dafür habe ich Augen wie grüne Leuchtdioden. Ich bin ein Geist! Und dabei weiß ich noch nicht mal, wie ich gestorben sein soll.«

Raphael seufzte. »Normalerweise hätte Cosimo dich darüber aufklären müssen, aber er ist offenbar nicht mehr dazu gekommen. Er bemüht sich wirklich sehr, doch manchmal ist er etwas überfordert von seinen Aufgaben, seit er die Einweisung der Neuankömmlinge übernommen hat. Aber er hat mir ja deine Karte gegeben. Lass uns mal sehen, was passiert ist.« Er schaute auf ihre Registrierkarte und hob gleich wieder den Blick. »Emily Bones? Ein ungewöhnlicher Name.«

Emily grinste. »Er stammt auch von einem ungewöhnlichen Menschen. Mein Vater war Schotte.«

»Ah, ich verstehe. Nun ja, wenn es stimmt, was man sich über die Schotten erzählt, wirst du hier gut zurechtkommen. Auf diesem Friedhof braucht man nämlich ein gewisses Maß an Sturheit, an Verrücktheit … und an Liebe zu Geschichten.« Raphael lächelte, dann schaute er erneut auf ihre Karte. »Emily Bones«, wiederholte er. »Geboren vor dreizehn Jahren, gestorben in der Nacht von Halloween, Todesursache …«

Sein Lächeln verschwand so plötzlich, dass Emily sich aufsetzte. »Was ist los?«, fragte sie nervös.

»Die Todesursachen werden mit Buchstaben abgekürzt«, sagte er, ohne den Blick von der Karte zu lösen. »H für Herzinfarkt, N für Nierenversagen, S für Suizid und so weiter. Auf deiner Karte steht ein großes M.«

Emily zuckte mit den Achseln. »Und was bedeutet das?«

Raphael sah sie an. Auf einmal stand ein Ernst in seinen Augen, der sie schaudern ließ. »Es bedeutet, dass du keines natürlichen Todes gestorben bist«, sagte er vorsichtig. »Du wurdest ermordet.«

Die Worte hallten in Emilys Schädel wider, aber es dauerte einen Moment, bis sie ihren Sinn erfasste. »Von wem?« Sie hörte ihre eigene Frage kaum, so leise hatte sie gesprochen.

Raphael schüttelte den Kopf. »Das steht hier nicht.«

Emily brachte kein Wort mehr heraus. Stattdessen jagten alle möglichen Mordszenarien durch ihren Kopf. Sie sah dunkle Gestalten mit Messern auf sie zukommen, Pistolen, die sich auf sie richteten, dann Hände, die sich um ihren Hals legten. Hustend rappelte sie sich auf, um diese Bilder fortzudrängen.

»Wer hätte mich umbringen sollen?« Sie war selbst überrascht vom festen Klang ihrer Stimme. »Ich bin vielleicht nicht das beliebteste Mädchen in der Schule, aber niemand hasst mich so sehr, dass er mich ermorden würde.« Kurz dachte sie an Madame Perrin, ihre ehemalige Mathelehrerin, die in der ganzen Schule gefürchtet war. Zum einen weil sie verteufelt streng war, zum anderen weil sie erstaunliche Ähnlichkeit mit einem bösartigen Troll hatte. Vor Urzeiten hatte Emily ihr ein Furzkissen auf den Stuhl gelegt, und dafür bedachte Madame Perrin sie immer noch mit ihrem finstersten Trollblick, wenn sie sich im Flur begegneten. Aber selbst eine Schreckgestalt wie Madame Perrin wäre wohl kaum zu einem Mord fähig. Emily schüttelte den Kopf. »Das ergibt nicht den geringsten Sinn.«

»Es gibt die verschiedensten Motive und Hintergründe für einen Mord«, stellte Raphael fest. »Ohne nähere Informationen ist es sinnlos, darüber zu spekulieren. Oder erinnerst du dich daran, was in der Nacht deines Todes vorgefallen ist?«

»Nein«, entgegnete Emily. »Aber ich werde nicht einfach zu einem Geist werden, ohne herauszufinden, aus welchem Grund. Es muss jemanden geben, der weiß, was passiert ist. Jemanden, der …«

Weiter kam sie nicht. Ein heftiges Dröhnen brach über den Friedhof herein und ließ die Erde beben. Es war Glockenklang, so laut, dass Emily ihn in ihren Knochen fühlte – beziehungsweise in ihren Phantomknochen, wie Cosimo sagen würde.

»Was zur Hölle ist das?« Sie presste sich die Hände auf die Ohren, was den donnernden Lärm nicht davon abhielt, ihre Zähne zum Klappern zu bringen.

»Du bist gerade rechtzeitig wieder zu dir gekommen«, rief Raphael. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern im Toben der Glocken. »Es ist Zeit für die Vollversammlung.«

»Die was?«

»Die Vollversammlung«, wiederholte er. »Da treffen sich alle Friedhofsbewohner unter dem Vorsitz des GdU. Wenn jemand weiß, was dir zugestoßen ist, dann das Gremium der Untoten!«

Emily kam nicht mehr zum Antworten. Denn da jagte ein Schwarm pechschwarzer Schatten über sie hinweg. Sie duckte sich instinktiv. Die Schatten sahen aus wie zerrissene Kleider, und während Emily ihnen in vollendeter Verwirrung nachschaute, kam Bewegung in die Finsternis rings herum. Zuerst war es nur ein Flackern zwischen den Totenhäusern und uralten Bäumen. Dann traten sie aus der Dunkelheit: Skelette, Geister, Frauen in langen Gewändern mit leichenblassen Gesichtern, Männer, deren Augen in Flammen standen, und Kinder, so durchscheinend, als bestünden sie aus Nebel. Einige stoben aus den verschlossenen Türen der Gruften, manche krochen aus den Gräbern, wieder andere tauchten einfach auf, als wären sie die ganze Zeit über da gewesen und hätten just in diesem Moment beschlossen, sich zu zeigen. Sie schienen ein gemeinsames Ziel zu haben, denn sie bewegten sich allesamt in dieselbe Richtung über den Friedhof. Mit jedem Glockenschlag wurden es mehr, und ehe Emily wusste, wie ihr geschah, wurde sie gemeinsam mit Raphael von dem Strom der wandelnden Leichen erfasst und mitgezogen … geradewegs auf die Quelle des Lärms zu.

3

In Emilys Erinnerung war die Kapelle von Père Lachaise ein kleines, unscheinbares Gebäude ohne großartigen Firlefanz. Aber offenbar machte es eine Menge aus, ob man den Friedhof aus menschlicher Perspektive betrachtete oder mit den Augen eines Geistes. Denn das, was sich vor Emilys Blick erhob, als sie nun im Strom der Untoten um die Ecke bog, hatte mit dem grauen Kapellenhäuschen von einst nicht mehr das Geringste zu tun.

Das Gebäude bestand aus schwarzem Feuer. Säulen umrahmten das Eingangsportal, gotische Fenster zierten die Fassade und bei jedem Glockenschlag ergossen sich aus dem hoch aufragenden Turm Funkenströme in die Nacht. Das Portal stand weit offen, und das Innere der Kapelle glühte in so rotem Licht, dass Emily keine Einzelheiten erkennen konnte. Allerdings sah der Zug der Untoten davor aus wie ein Heer aus Scherenschnitten, und ihr kam es so vor, als würde sie direkt ins Höllenfeuer gezerrt. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen. Aber sie wollte Antworten – und die würde sie nicht bekommen, wenn sie jetzt davonlief. So blieb sie, wo sie war: eingezwängt zwischen einer mörderisch stinkenden Geisterfrau und einem Skelett, dessen Ellbogen sich in ihre Phantomrippen bohrte.

Unaufhaltsam ging es auf die Kapelle zu. Emily hatte gerade noch genug Zeit, um festzustellen, dass der Widerschein des schwarzen Feuers überraschend kühl über sie hinwegstrich. Dann wurde sie durch das Portal gequetscht wie ein Kiesel durch ein Nadelöhr. Fast meinte sie, ein PLOPP zu hören, als die Menge auf der anderen Seite auseinanderströmte und sie freigab. Sie taumelte einige Schritte nach vorn, blinzelte in das rote Licht – und traute ihren Augen kaum.

Im Inneren war die Kapelle viel größer, als sie von außen den Anschein gemacht hatte. Sie sah aus wie ein riesiges Kirchenschiff. Die Untoten verteilten sich rasch auf den Bänken zwischen den turmhohen Säulen, den mit steinernen Figuren verzierten Balustraden und den Kronleuchtern, die über dem Mittelgang hingen. An dessen Ende stand ein Richterpult mit fünf verwaisten Sesseln, die an die Throne von Königen erinnerten. Und über allem glitten Flammenschleier durch die Luft und tauchten die Szenerie in das rote Licht, das Emily schon von außen durch das Portal wahrgenommen hatte.

»Das ist Magie«, sagte Raphael, der jetzt neben ihr stehen blieb. »Sie hat ihre dunklen Seiten, aber gleichzeitig ist sie wunderschön.«

»Magie«, flüsterte Emily, ohne sich von den Schleiern abzuwenden »Ich hätte nicht gedacht …«

»… dass es sie wirklich gibt?«, beendete Raphael ihren Satz. »Eins sollte dir inzwischen klar geworden sein: Es gibt Orte, an denen alles möglich ist. Und dieser Friedhof gehört dazu.«

Emily war fest entschlossen, sich nicht von der Magie dieses Ortes einwickeln zu lassen. Aber die Flammenschleier veränderten ihre Form von tanzenden Menschen über Tiere, die einander jagten, bis hin zu Wolken und Meereswellen, und auf einmal erschien ihr flackerndes Licht Emily gar nicht mehr so bedrohlich. Fast zärtlich strich es über ihr Gesicht, und sie konnte nicht verhindern, dass sie mit einem Lächeln dastand wie ein Kind vor dem Weihnachtsmann. Ganz egal, wie unwirklich und schrecklich ihr die ganze Situation bisher erschienen war – hier unter den brennenden Schleiern hatte sie das Gefühl, als wäre sie in das Innere eines glühenden Kohlestücks geraten: mitten hinein in einen Kosmos voller Zauber, bei dem jede Gegenwehr zwecklos war. Im nächsten Moment spürte sie, dass sie beobachtet wurde.

Schräg über ihr auf der Balustrade saß ein Junge und schaute zu ihr herab. Er war ein wenig älter als sie, auffallend blass und komplett schwarz gekleidet. An den Fingern trug er etliche Ringe. Sein helles halblanges Haar stand störrisch von seinem Kopf ab, und denselben Trotz fand sie auch in seinen Augen, die die Farbe von flüssigem Silber hatten. Um ihn herum hatten sich ein paar andere Jugendliche gruppiert, die bemüht waren, ihm hinsichtlich seiner Coolness nachzueifern, ohne damit auch nur ansatzweise Erfolg zu haben. Er beachtete sie nicht einmal. Ein Bein hatte er lässig aufgestellt, aber sein Blick war so prüfend und durchdringend auf Emily gerichtet, dass sie die Arme vor der Brust verschränkte. Wer auch immer er war – das spöttische Lächeln, das nun auf seine Züge trat, galt ihr. Sie straffte die Schultern. Möglich, dass sie gerade etwas dämlich aus der Wäsche geguckt hatte. Aber sie würde sich nicht von einem Kerl einschüchtern lassen, der sie auf diese Weise ansah – einem Rebell in albernem Rockstaroutfit und mit dem arrogantesten Lächeln der Welt.

Ein lautes Knarzen riss sie aus ihren Gedanken. Hinter ihr wurde das Portal von einem hünenhaften Glatzkopf geschlossen, der aussah wie ein Friedhofswärter mit seiner dunklen Uniform und dem düsteren Blick. Nur seine behaarten Klauenhände und die pupillenlosen wachsweißen Augen ließen vermuten, dass er doch kein Mensch mehr war. Raphael zog Emily in eine der Sitzreihen, und sie sah gerade noch, wie Cosimo in allerletzter Sekunde durch das Portal schlüpfte. Blitzschnell sauste er auf sie zu und ließ sich schwer atmend auf die Lehne der Bank plumpsen. Dann schloss sich das Tor, und das allgemeine Gemurmel wurde von einem hässlichen Kobold unterbrochen, der auf das Richterpult gesprungen war und mit einem winzigen Gong in der Hand einen enormen Krach machte. Gewittergleich grollte der Ton durch die Kapelle und brachte alle zum Schweigen. Der Kobold schaute in so vollendeter Herablassung in die Menge, als hätte er gerade ein Ungeheuer bezwungen. Dann sprang er mit platschendem Geräusch vom Pult, und fünf Gestalten betraten den Raum, die sich hoheitsvoll auf den Thronen niederließen.

Auch sie waren keine Menschen, zumindest nicht mehr. Ganz rechts saß eine Frau in zerschlissenem Hochzeitskleid, daneben ein dicker Mann, der seinen abgetrennten Kopf vor sich auf den Tisch legte und ohne Weiteres als Schlossgespenst durchgegangen wäre. Am linken Ende hatte ein Skelett Platz genommen, das Emily zu ihrem Schrecken als das Skelett erkannte, das sie kurz nach ihrer Flucht aus dem Grab über den Haufen gerannt hatte. Es warf ihr finstere Blicke zu und schaute ansonsten abschätzig in die Menge. Rechts von ihm hockte ein aschgrauer kleiner Junge mit seltsamen Symbolen auf der Haut. Und in der Mitte, die bleichen Finger um einen Stapel mit Papieren geschlossen, saß ein Buchhalter.

Zumindest sah der dünne Mann mit seinem blütenweißen Hemd und den Ärmelschonern so aus. Wortlos tauchte er eine Schreibfeder in ein Tintenfass und notierte etwas auf dem obersten Blatt seines Stapels. Er schrieb nicht mit Tinte, das war Emily klar, und sie roch ihn wieder: den metallischen Duft von frischem Blut. Im selben Moment hob der Buchhalter den Kopf. Er wirkte inmitten seiner Beisitzer geradezu unscheinbar. Fast hätte er ein ganz gewöhnlicher älterer Herr sein können, wären seine Augen nicht gewesen. Denn sie waren blind, abgesehen von einem kleinen roten Punkt dort, wo normalerweise die Pupille war. Der Punkt flackerte wie eine Flamme. Und darin lag eine Glut von solcher Hitze, dass Emily den Atem anhielt.

Der Buchhalter griff nach dem Hammer, der vor ihm lag, und ließ ihn donnernd auf das Pult niedergehen. Etliche Anwesende hüpften vor Schreck in die Höhe. Danach rührte sich niemand mehr, abgesehen vom Buchhalter selbst, der die Papiere ein Stück von sich wegschob. Dann setzte er sich auf, und als sein Blick glühend heiß durch die Menge schweifte, zweifelte Emily nicht mehr daran, was sie von Anfang an gefühlt hatte: Dieser Kerl war nicht blind. Mit seinen Augen aus rotem Feuer sah er durch Fleisch und Knochen hindurch … bis tief hinab in Abgründe, die kein gewöhnliches Auge ertragen konnte.

»Willkommen«, sagte er nun mit einer Stimme, die wie das Ächzen eines uralten Baumes klang. »Mein Name ist Sisterius Octavion und als Erster Vorsitzender des Gremiums der Untoten begrüße ich alle Bewohner des Friedhofs zur Vollversammlung. Heute haben wir verschiedene Tagesordnungspunkte auf der Liste. Unter anderem will die Arbeitsgruppe Beleuchtung ihr neues Konzept zur Illumination der Straßen vorstellen, inklusive des überfälligen Finanzierungsplans.« Er warf einen strengen Blick in Richtung einiger Geister, die sofort noch eine Spur blasser wurden. »Aber zuerst werden wir die Neuankömmlinge begrüßen, wie es bei uns Brauch ist. Wir beginnen mit … Moment … Emily Bones.«

Emily fuhr so heftig zusammen, dass sie versehentlich Cosimo von der Bank schubste. Empört sauste der Irrwicht hoch in die Luft, während sich sämtliche Blicke zu ihr umwandten. Sie kam sich vor wie in einem ihrer Albträume, in dem sie vor der ganzen Klasse ein Referat halten musste, ihre Mitschüler jedoch alle gruselige Monster waren, die ihr Böses wollten. Dort zog sie sich meist aus der Affäre, indem sie entweder aufwachte oder direkt zu einem ninjamäßigen Kampf überging, den sie selbstredend immer für sich entschied. Leider hatte sie noch nicht herausgefunden, wie sie diese Kräfte auch jenseits ihrer Träume anwenden konnte. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als wie erstarrt dazusitzen und sich anglotzen zu lassen.

»Emily Bones!«, donnerte Sisterius’ Stimme durch die Kapelle. Er schaute sie jetzt direkt an, und das so stechend, als hätte er die ganze Zeit über gewusst, wo sie sich befand.

»Du musst nach vorn gehen«, raunte Raphael ihr zu. Er nickte aufmunternd, und unter Zuhilfenahme all ihrer Kräfte stemmte Emily sich auf die Beine. Ihre Knie zitterten verräterisch, als sie an den Reihen der glotzenden Leichen vorüberging. Mit staubtrockenem Mund blieb sie vor dem Gremium stehen. Aus der Nähe sahen sie allesamt noch fürchterlicher aus als aus sicherer Entfernung.

»Emily Bones«, sagte Sisterius ein drittes Mal und musterte sie mit exakt demselben Blick, den ihr Onkel perfektioniert hatte, wenn sie in Klamotten zur Schule gegangen war, die ihm missfielen. Dann schaute er auf das Papier in seiner Hand. »Herzlich willkommen auf dem Cimetière du Père Lachaise. Du bist gestorben und …«

»Nein.«

Emily brauchte einen Moment um zu begreifen, dass sie es gewesen war, die dieses Wort hinausgeschleudert hatte. Alle anderen hatten es offenbar sofort gemerkt. Es wurde mit einem Mal totenstill.

Wie in einem Grab, schoss es Emily durch den Kopf, und sie konnte nichts dagegen tun, dass ein nervöses Ziehen durch ihre Brust ging. Was war eine Kapelle mit Hunderten von Leichen anderes als ein Grab? Als hätte er ihre Beklommenheit bemerkt, hob Sisterius den Kopf, quälend langsam wie eine Schlange, die kurz davor stand, ihr Opfer zu verschlingen.

»Wie bitte?«, fragte er mit beinahe ehrlichem Interesse.

Emily holte tief Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr. »Ich bin nicht einfach gestorben«, sagte sie und bemühte sich, unter seinem starren Blick nicht zu blinzeln. »Ich wurde ermordet. Gerade war ich noch quicklebendig und …«

»Oh.« Sisterius machte eine abwinkende Geste, die jedes weitere Wort auf Emilys Zunge zerbröselte. »Wir sind nicht hier, um über die Flüchtigkeit des Lebens zu diskutieren. Wir sind hier, um dem Protokoll Genüge zu tun, und das bedeutet: die Neuankömmlinge in die Kartei einzutragen und einzuweisen.«

Emily kannte ihn genau: diesen Moment, in dem es klüger war, den Mund zu halten, und der sich als warnender Stich in ihren Schläfen ankündigte. Sie konnte nicht mehr zählen, wie oft er sich ihr schon bemerkbar gemacht hatte. Und jedes verfluchte Mal hatte sie die Warnung ignoriert. So auch jetzt. Sie streckte das Kinn vor. »Es geht mir nicht um das Leben.« Sie hörte mit Genugtuung, wie ihr aufkeimender Zorn die Unsicherheit aus ihrer Stimme trieb. »Es geht mir um den Tod. Und ich will wissen, wer für meinen verantwortlich ist. Gehört es nicht zur Einweisung der Neulinge, deren Fragen zu beantworten?«

»Das kommt auf die Fragen an«, sagte Sisterius so leise, dass Emily ihn kaum verstand. Aus irgendeinem Grund klang seine Antwort wie eine Warnung. Doch da beugte sich der Junge zu ihm hinüber. Sie flüsterten miteinander, bis Sisterius schließlich nickte. »Allerdings erinnert Barco mich gerade daran, dass wir mit Mordopfern keine guten Erfahrungen gemacht haben«, stellte er fest. »Solange der Gedanke an ihren eigenen Tod sie nicht loslässt, sind sie nur schwer in die Gemeinschaft zu integrieren. Daher gebe ich deiner Frage statt.« Er studierte erneut das Papier in seiner Hand. »Emily Bones … ah ja. Gestorben in der Nacht von Halloween, Todesursache …« Er stockte und musterte sie erneut von Kopf bis Fuß. »Eigentlich hätte ich mir denken können, dass du ermordet wurdest. Niemand, der auf natürliche Weise stirbt, hat so eine Frisur.«

So langsam wurde Emily es leid, wegen ihres Kostüms beleidigt zu werden. »Ist das alles: ein Kommentar zu meiner Frisur? Wie wäre es mit einer Antwort auf die Frage, von wem ich umgebracht wurde?«

Das Licht in Sisterius’ Augen glomm unheilvoll auf. »Du wurdest ermordet von … einem Toten.«

Ein Raunen ging durch den Raum, das Sisterius mit einem strengen Blick erstickte.

Emily identifizierte es erst nach einem Moment als das, was es war: ein Ausdruck von Angst. Dennoch glaubte sie, sich verhört zu haben. »Von einem … was?«

Sisterius seufzte geduldig. »Das ist eine Kreatur aus dem Reich des Todes. Eigentlich ist der Begriff selbsterklärend.«

»Ich dachte, wir alle hier wären tot«, sagte Emily. »Cosimo hat gesagt …«

»Irrwichte sind nicht die Fachleute, wenn es um die richtigen Begrifflichkeiten geht«, unterbrach Sisterius sie und warf einen stummen Tadel in Cosimos Richtung. »Also: Es gibt die Lebenden. Es gibt die Toten. Und es gibt uns: die Untoten. Geister wie dich zum Beispiel, die mal lebendig waren und aus welchen Gründen auch immer an der Welt haften bleiben. Oder Kreaturen, die weder den Lebenden noch den Toten zugerechnet werden können. Wie Vampire.« Er streifte einen mickrigen Kerl im Publikum mit einem Blick, der an Verächtlichkeit nicht mehr zu überbieten war.

Emily erstickte ihre aufkeimende Euphorie angesichts der Tatsache, dass sie gerade mit einem Vampir im selben Raum war, auch wenn er ganz anders aussah, als sie es sich vorgestellt hatte. »Und die Untoten wohnen auf Friedhöfen?«

»Nicht alle«, gab Sisterius zurück. »Die Vampire ziehen es für gewöhnlich vor, unter den Lebenden zu sein, und das ist auch richtig so. Immerhin herrschen sie abseits der Friedhöfe über die Anderwesen. Wir Geister allerdings sind auf allen Friedhöfen von Paris zu Hause, und noch an einigen anderen Orten wie alten Häusern und Kirchen. Es gibt doch nichts Schöneres als das Knarzen von moderndem Holz und Schimmelgeruch.« Er verzog den Mund zu einem schwärmerischen Lächeln, bis er merkte, dass Emily ihn mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Unbehagen anstarrte. »Wie dem auch sei«, sagte er und räusperte sich. »Wir verwalten unsere Refugien in Eigenregie, und von der Welt dort draußen halten wir uns fern. Zum einen weil wir Kontakte zu den Menschen so weit wie möglich vermeiden. Du wirst sicher Dutzende Bücher kennen, in denen Menschen einem Geist begegnen, und selten geht das gut aus.«

Emily musste ihm zustimmen. Sie hatte Geistergeschichten stets gern gelesen, weil sie so unheimlich waren, und war dabei meist auf der Seite der Geister gewesen, da die Menschen entweder dumm oder ignorant oder beides gewesen waren und den Geistern das Leben schwer gemacht hatten. Sie hatte allerdings nicht damit gerechnet, einmal selbst ein Geist zu werden.

»Und zum anderen lauern dort draußen Gefahren«, fuhr Sisterius fort. »Durch Geisterjäger beispielsweise oder …«

»… durch die Toten«, murmelte Emily.

Sisterius nickte. »Die haben zwar ihr eigenes Reich, das auf magische Weise von unserer Welt getrennt ist, und die meisten von ihnen sollen durchaus friedlich sein. Manchmal gerät einer von ihnen zufällig in unsere Welt, aber für gewöhnlich bereiten sie keine größeren Probleme. Allerdings werden weite Teile ihrer Welt von dem finsteren Fürsten Dhragar beherrscht, und der trachtet seit langer Zeit danach, die Herrschaft über diese Welt an sich zu bringen.«

Bei Nennung dieses Namens ging erneut ein Raunen durch die Menge, und dieses Mal ließen die Zuschauer sich nicht allein durch einen Blick beruhigen. Ganze drei Mal musste Sisterius den Hammer niedersausen lassen, bis wieder Stille herrschte. Erst als die Untoten eingeschüchtert genug dasaßen, wandte er sich wieder an Emily.

»Die genauen Hintergründe sind jetzt zu kompliziert, wenn ich mir dich so ansehe. Vermutlich wirst du sonst vor Überforderung jede Minute ohnmächtig, und das wollen wir dem armen Cosimo nicht schon wieder zumuten. Jedenfalls gelingt es manchmal einem Schergen Dhragars, in diese Welt vorzudringen, und jeder Einzelne von ihnen ist ein ganz anderes Kaliber als die gewöhnlichen Toten, die sich mitunter zufällig hierherverirren. Im Totenreich sind Dhragars Schergen gefürchtete Krieger und auch in unserer Welt verfügen sie über große Kräfte. Aber wie alle Toten können sie sich nur so lange darin aufhalten, wie sie das Leben von jemand anderem in sich tragen. Das kann das Leben eines Menschen sein oder eines Tieres … oder der letzte Lebensrest eines Untoten. Nach diesem gieren die Toten besonders, denn er birgt reinste Magie in sich, und sie scheuen keine Grausamkeit, um ihn zu bekommen. Nun … wie gnadenlos sie sind, hast du ja selbst schon erfahren.«