Scherben der Dunkelheit - Gesa Schwartz - E-Book

Scherben der Dunkelheit E-Book

Gesa Schwartz

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Beschreibung

Poetisch, romantisch und betörend schön

Die sechzehnjährige Anouk verbringt die Ferien in einem kleinen Dorf in der Bretagne. Kurz nach ihrer Ankunft gastiert der Dark Circus in der Nähe: ein geheimnisvoller Zirkus, der im Dorf für seine düsteren und besonderen Vorstellungen bekannt ist. Auch Anouk gerät schnell in seinen Bann und damit in einen Kosmos, den sie kaum für möglich hielt: Eine magische Welt öffnet sich vor ihr, in der sie den mysteriösen Zauberer Rhasgar kennenlernt. Doch der Dark Circus birgt mehr, als Anouk ahnt. Bald schon schwebt sie in tödlicher Gefahr und weiß nicht mehr, wem sie trauen kann. Denn es gibt keine Regeln im Dark Circus bis auf eine: Nichts ist, wie es scheint ...

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Seitenzahl: 800

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GESA SCHWARTZ

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1. Auflage 2017

© 2017 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Text © Gesa Schwartz

Lektorat: Michelle Gyo

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

(tomertu, lpedan, Parfonova Iuliia, Serg Zastavkin)

kk · Herstellung: eS

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-21475-3V001

www.cbt-buecher.de

Für die Königin der Farben

1

Der Zirkus leuchtete. Bunte Lampions hingen zwischen den Oberlichtwagen, das Kassenhäuschen stand in goldenem Licht, und dahinter, von Glühbirnen bekränzt, erhob sich das Zirkuszelt. Es sah aus, als würde es aus Feuer bestehen, so rot war es. Über dem Eingang hing ein Schild, auf dem in altmodischer Schrift Dark Circus zu lesen war. Und tatsächlich strahlte der Zirkus eine tiefe Düsternis aus, geheimnisvoll wie ein Versprechen … oder ein Fluch.

Anouk ließ ihr Zeichenmesser sinken und bewegte ihre Finger. Sie hockte noch gar nicht so lange mit ihrem Block auf der Bank vor dem Dorf, aber trotzdem hatte der eisige Wind ihre Hände schon steif gefroren. Jetzt schlug er ihr die Haare ins Gesicht, doch sie beachtete ihn nicht. Stattdessen musterte sie das Bild des Dark Circus, das sie gerade beendet hatte. Wie bei all ihren Zeichnungen hatte sie auch hier schwarze Tusche auf Wachsmalfarben aufgetragen und dann mit ihrem Messer fortgekratzt. Nun glühten die Linien, als würde der Zirkus tatsächlich in Flammen stehen. Die Tusche an ihren Fingern hinterließ einen Schatten, als sie die Konturen nachzog, und ihr schoss durch den Sinn, wie warm es in ihrer eigenen Zeichnung sein musste, wenn sie nur einen Weg hineinfände. Denn auf ihrem Bild mochte der Dark Circus ein magischer Ort sein. Aber jenseits ihres Zeichenblocks gab es ihn nicht.

Sie schaute zum Parkplatz hinüber, auf dem der Zirkus Position bezogen hatte. Er war in der Nacht angekommen, zusammen mit einer Kälte, die Anouk aus dem Schlaf gerissen und ans Fenster getrieben hatte. Wie ein Relikt aus lang vergangener Zeit hatte er in einer Karawane aus historischen Zugmaschinen, Transportfahrzeugen und Oberlichtwagen eine glühende Schneise aus Lichtern in die dunklen Hügel gefräst. Bei diesem Anblick war ein Kribbeln durch Anouks Magen gegangen wie früher, wenn sie in den Schatten ihres Kinderzimmers ein Fabelwesen vermutet und mit dem berauschenden Gefühl in die Dunkelheit geschaut hatte, einem Wunder nahe zu sein. Jetzt bei Tageslicht war von diesem Eindruck allerdings nichts mehr übrig. Das Zelt war aschgrau, schwach nur erleuchtet von fahlen Glühbirnen, die Zirkuswagen standen da wie aus Blei gegossen, und das Kassenhäuschen erinnerte an den Eingang einer Gruft und hatte kaum etwas mit Anouks Zeichnung gemein. Insgesamt sah der Dark Circus aus, wie sie sich fühlte: blass und fremdartig zwischen den wilden, freien Hügeln der Bretagne, die ihn noch eigentümlicher wirken ließen, als er es ohnehin schon war.

Seufzend schaute sie über die Hügel hinweg. Als Kind hatte sie oft die Ferien hier verbracht. Es war ein Ort glücklicher Stunden für sie gewesen, doch diese Zeiten waren lange vorbei. Inzwischen begeisterten sich ihre Eltern für Sport- und Aktivreisen und das bedeutete Action am laufenden Band. Herumsitzen und Nachdenken war verpönt und wurde mit mitleidigen bis vorwurfsvollen Blicken geahndet, und da Anouk nun einmal besonders gern herumsaß und nachdachte oder mit ihren Büchern und Bildern in fremde Welten abtauchte, barg ein gemeinsamer Urlaub mit ihren Eltern ein gewaltiges Konfliktpotenzial. Und so war es ihr sehr gelegen gekommen, als ihre Tante Justine sie gefragt hatte, ob sie über die Ferien in ihrem Wirtshaus einhüten wollte. Vor ein paar Jahren hatte Justine es an diesem Ort eröffnet, doch nun fuhr sie in wenigen Tagen zu ihrem Exmann nach New York, um den Geburtstag ihrer gemeinsamen Tochter Madeleine zu feiern. Anouk hatte vor der Wahl gestanden: entweder eine Rückkehr an diesen Ort ihrer Kindheit – oder von morgens bis abends Bauch-Beine-Po mit ihren Eltern. Es war keine schwere Entscheidung gewesen. Offensichtlich hatte sie dabei allerdings vergessen, dass auch sie sich in den letzten Jahren verändert hatte. Sie war inzwischen sechzehn und kein Kind mehr, das sich für Wettrennen über die Hügel und Drachenfliegen begeistern konnte. Außerdem war es ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich aus der umtriebigen Welt ihrer Eltern hinauskatapultiert worden zu sein. Seit ihrer Ankunft drückte ihr die Stille aufs Gemüt, die über den Hügeln lag, reglos wie ein Spiegel, der ihr eigenes Gesicht zeigte.

Sie schaute erneut zum Zirkus hinüber, der von den Dorfbewohnern heimgesucht wurde, als wäre er die Attraktion des Jahrhunderts. Die Leute drängten sich in der Schlange vor dem Eingang, aber der Zirkus verharrte gespenstisch regungslos, und je länger Anouk ihn betrachtete, desto stärker hatte sie das Gefühl, als wäre er gar nicht wirklich da … wie ein Trugbild zwischen Tag und einbrechender Nacht.

»Wow, das sieht toll aus!«

Madeleines Stimme ließ Anouk so heftig zusammenfahren, dass ihr der Block aus den Händen fiel. Im letzten Moment fing sie ihn auf.

»Verflucht«, stieß sie aus und funkelte ihre Cousine wütend an, die mit wehenden roten Locken vor ihr stand. »Musst du mich so erschrecken?«

Für den Bruchteil einer Sekunde neigte Madeleine schuldbewusst den Kopf. Doch gleich darauf kehrte der übermütige Funke in ihren Blick zurück, den Anouk nur zu gut kannte. Mochte sie sich mit ihren dunklen Haaren und dem schmalen, blassen Gesicht optisch noch so stark von der sommersprossigen Madeleine unterscheiden, die außerdem drei Jahre jünger war als sie selbst – aber der spöttische Trotz in deren Augen war mit dem ihren identisch und zeigte eindeutig, dass sie miteinander verwandt waren.

»Ich wusste nicht, dass du so leicht zu erschrecken bist«, stellte Madeleine fest. »Ihr Stadtmenschen seid doch angeblich so hart im Nehmen.«

Anouk schnaubte. »Das sind wir auch. Allerdings haben wir es nicht so oft mit tückischen rothaarigen Koboldmädchen zu tun, die urplötzlich aus dem Gebüsch springen.«

Madeleine grinste wie am Abend zuvor, als sie Anouk dazu überredet hatte, heute mit ihr in den Zirkus zu gehen. »Du warst so versunken in dein Bild, dass du mich nicht gesehen hast. Seit du angekommen bist, finde ich dich ja sowieso entweder hinter einem Buch oder vor einer Zeichnung. Wenn ich allein an dein Zimmer bei uns denke!«

Anouk musste lächeln. Ihr kleines Zimmer im Wirtshaus quoll seit ihrer Ankunft vor Büchern und Bildern über, denn sie hatte nicht nur ziemlich schnell die Bibliothek ihrer Tante geplündert, sondern auch selbst einiges mitgebracht. Seit sie allein verreiste, hatte sie stets drei Koffer dabei: zwei große für Bücher und Bilder und einen kleinen für Klamotten. Ihre Freundinnen lachten darüber, aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, das anders zu handhaben. Bücher und Bilder waren ihre Begleiter, ihre Vertrauten, ihre Freunde. Sie verreiste ja auch nicht ohne ihren Herzschlag.

»Meine Eltern wären nicht begeistert«, gab sie zurück. »Sie würden es lieber sehen, wenn ich meine Freizeit beim Joggen oder im Fitnessstudio verbringe. Aber ich habe lieber ein Buch vor der Nase als ein Turngerät. Nirgendwo ist die Welt so lebendig wie auf dem Papier.«

Madeleine schaute auf ihren Zeichenblock. »Sieht ganz so aus. Dein Bild wirkt fast … magisch.«

Anouk musste lachen. »Manchmal fühlt es sich beim Zeichnen wirklich so an. Dann kommt es mir so vor, als könnte ich das sehen, was wirklich da ist – das, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Mein Vater hält das natürlich für kompletten Unsinn, und meine Mutter fand meine Malereien zwar ganz süß, als ich noch klein war, aber inzwischen sagt sie mir eher: Lass endlich den Kinderkram und konzentriere dich auf die wichtigen Dinge im Leben. Was auch immer das sein soll.«

»Den Spruch hat jede Mutter drauf, glaube ich«, sagte Madeleine grinsend. »Aber wer weiß, vielleicht wirst du eine berühmte Malerin. Das Talent dafür scheint ja in der Familie zu liegen. Ben hat doch auch …«

Sie verstummte so plötzlich, als hätte ihr jemand einen Hieb verpasst, und biss sich mit einer Verlegenheit auf die Lippe, die Anouk seufzen ließ. Sie hatte ihre Cousine wirklich gern, aber sie konnte diesen vorsichtigen Blick nicht ausstehen, mit dem Madeleine sie jetzt bedachte. Er begegnete ihr immer, wenn das Thema auf Ben kam – ihren kleinen Bruder, der vor fünf Jahren am Arschloch Krebs gestorben war. Anouk hatte ihn geliebt. Sie liebte ihn noch immer, so sehr, dass sie jedes Detail seines Gesichts im Schlaf hätte zeichnen können und den Gedanken an sein helles, klares Kinderlachen kaum ertrug. Sie wusste auch, dass sein Tod sie verändert hatte, wusste um die Mauer aus Kühle, die sie seitdem um sich herum errichtet hatte und die sie von der Welt da draußen trennte, und um die Traurigkeit in ihren Augen, die wie ein schwarzer Stein war unter stillem Wasser und die sich jederzeit in schneidenden Frost verwandeln konnte. Aber sie war kein zerbrechliches Pflänzlein, das in Tränen ausbrach, sobald Bens Name genannt wurde, und sie wollte auch nicht so behandelt werden. Diesen Triumph gönnte sie der Krankheit nicht.

»Keine Sorge«, sagte sie deshalb. »Du kannst ruhig von Ben sprechen, ohne dass ich anfange zu heulen. Und du hast recht, er hat auch gern gezeichnet, am allerliebsten Fabelwesen.«

Ein zaghaftes Lächeln vertrieb die Unsicherheit von Madeleines Gesicht. »Daran erinnere ich mich. Er hat mir mal ein Bild von einem Drachen geschenkt. Der war so riesig, dass nur sein Auge aufs Blatt gepasst hat.«

Anouk lachte. Das klang ganz nach ihrem Bruder. »Du hättest sein Zimmer sehen sollen. Die Wände waren mit seinen Bildern gepflastert. Er hat die Sonne und den Mond gemalt, dass sie aussahen wie Zauberkreaturen, und er hat ständig Greifen in den Wolken entdeckt und Spukgestalten in dunklen Straßen. Jedes Mal, wenn wir früher hier waren und nachts der Sturm ums Haus gebraust ist, haben wir uns ausgemalt, welche Kobolde gerade dort oben die Dachschindeln zum Klappern bringen. Natürlich habe ich geahnt, dass es keine Kobolde gibt, die auf den Häusern der Menschen herumtanzen. Aber mit Ben habe ich mich so stark nach ihnen gesehnt, dass es mir vorkam, als gäbe es sie wirklich.« Sie hielt inne, so deutlich erinnerte sie sich daran, wie sie gemeinsam mit Ben dem Klappern der Schindeln gelauscht hatte … damals, als die Welt noch voller Wunder gewesen war.

»Es ist bestimmt seltsam, wieder hier zu sein«, sagte Madeleine vorsichtig. »Nach all der Zeit, meine ich, und ganz allein.«

»Ein wenig«, gab Anouk zu. »Ich bin diese Stille nicht mehr gewohnt und überall erwarten mich hier Erinnerungen wie aus einem anderen Leben. Ben und ich hatten so viel Spaß beim Versteckspielen auf den Hügeln, und heimlich sind wir immer auf den Mauern der alten Ruine herumgeturnt, drüben auf den Klippen. Heute kann ich mir das kaum noch vorstellen. Durch meine Höhenangst wird mir ja schon beim Schaukeln schwindlig. Aber damals war alles anders. Ben hat diesen Ort sehr gemocht, genau wie ich selbst. Hier ging es uns immer gut. Und ganz davon abgesehen bin ich nicht allein. Ich habe doch ein Koboldmädchen an meiner Seite.«

Madeleine strahlte. »Da hast du recht. Die Ruine kenne ich übrigens auch ziemlich gut. Ich habe mir mal fast den Hals gebrochen, als ich bei einer Mutprobe am alten Wehrturm hochgeklettert bin. Maman ist aus dem Schimpfen gar nicht mehr rausgekommen.«

Anouk konnte sich Justine in wütendem Zustand lebhaft vorstellen, denn ihr Vater hatte ein ebenso aufbrausendes Temperament wie seine Schwester. »Dann ist es ja gut, dass wir heute was ganz Ungefährliches unternehmen. Auch wenn ich nicht sicher bin, wie spannend es werden wird.«

Sie schaute skeptisch zum Dark Circus hinüber, aber Madeleine lächelte nur. »Sehr spannend, das kann ich dir garantieren. Bisher macht es nicht den Anschein, aber du wirst dich doch wohl nicht vom äußeren Bild täuschen lassen? Immerhin hast du die wahren Farben des Dark Circus schon ziemlich gut getroffen.«

»Du hast sie also tatsächlich auch gesehen«, sagte Anouk und stieß erleichtert die Luft aus. »Ich dachte schon, ich hätte das Ganze geträumt.«

Madeleine schüttelte den Kopf. »Der Dark Circus ist kein Traum, so viel ist sicher. Lass uns gehen. Dann wirst du schon sehen, was in ihm steckt.«

Anouk ließ den Block in ihre Tasche gleiten, und sie machten sich auf den Weg zum Parkplatz, um sich in die lange Schlange der Wartenden zu stellen. Es standen hauptsächlich Erwachsene vor dem Kassenhäuschen, die leise miteinander sprachen und hin und wieder zu den Unterkünften der Artisten hinüberspähten. Die historischen Zirkuswagen lagen dunkel und verlassen da, von Schwaden aus Holzspänen umspielt. Sie wirkten ebenso wie das aschgraue Zelt, als wären sie aus der Zeit gefallen, und Anouk konnte sich nicht gegen die gespannte Erwartung wehren, die von den tuschelnden Menschen langsam auf sie übergriff.

Dann öffnete sich das Kassenhäuschen und Schritt für Schritt ging es vorwärts. Der Verkäufer war ein Junge von vielleicht zwölf Jahren, der in einem abgewetzten Smoking steckte. Sein dunkles Haar stand in allen Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab, und jedes Mal, wenn er von den Besuchern eine Münze bekam, warf er sie durch die Luft und zauberte an ihrer Stelle die Eintrittskarte hervor. Mit jedem Lob röteten sich seine zuvor noch auffallend bleichen Wangen ein wenig mehr, und als er Anouk ihre Karte reichte, konnte sie nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Sein rechtes Auge war beinahe schwarz, aber sein linkes war von so heiterem Blau, dass sie meinte, die Strahlen der Sonne auf ihrer Haut spüren zu können.

In kleinen Gruppen wurden die Besucher in das Zelt eingelassen und schließlich waren auch Anouk und Madeleine an der Reihe. Mit einigen anderen wurden sie in einen düsteren Gang geführt. Vom anderen Ende fiel Licht über die Köpfe. Anouk meinte schon, das Innere des Vorzelts erkennen zu können, als die Besucher direkt vor ihr abrupt stehen blieben. Gleichzeitig huschten dunkle Gestalten rechts und links an den Wartenden vorbei, und bevor Anouk sich umdrehen konnte, schloss sich der Vorhang hinter ihnen mit unheimlichem Raunen. Im selben Moment wurde es stockdunkel.

Einzelne Schreckenslaute wurden laut, dicht gefolgt von unsicherem Gelächter. Anouk spürte Madeleine neben sich, als sie sich in Bewegung setzte, aber trotzdem beschleunigte sich ihr Puls. Sie hasste nichts mehr, als in plötzlicher Dunkelheit gefangen zu sein – und diese Finsternis war vollkommen. Mit jedem Schritt fühlte sie sich hilfloser und die taumelnden Menschen ringsum machten die Sache auch nicht besser.

Jemand trat Anouk in die Hacken und brachte sie zum Stolpern. Im letzten Augenblick fing sie einen Sturz ab, aber Madeleine war nicht länger an ihrer Seite, und die Stimmen der anderen wurden plötzlich leiser. Anouk hatte den Eindruck, als wäre sie ganz allein in einen abgelegenen Gang geraten. Sie musste sich zwingen, nicht nach Madeleine zu rufen wie ein kleines Kind. Mit klopfendem Herzen hob sie die Hände, um nicht gegen ein Hindernis zu laufen. Sie tastete über Wände aus Holz und Glas und stieß gegen etwas Weiches. Sie berührte seidenen Stoff – und eine eiskalte Hand schloss sich um ihren Arm.

Das Entsetzen fuhr mit solcher Wucht in ihren Leib, dass sie keinen Ton hervorbrachte. Dort in der Dunkelheit stand etwas, das auf sie gewartet hatte, etwas von solchem Schrecken, dass ihr der Atem stockte. Sie riss ihre Hand zurück, aber da blendete direkt vor ihr ein Licht auf, und sie schaute in das Gesicht eines Harlekins. Sein kalkweißes Gesicht war mit Rissen überzogen wie gesprungenes Porzellan, seine Augen blutunterlaufen, und als er den Mund aufriss und schrie, zeigte er messerscharfe Zähne.

Anouk kreischte so laut, dass ihre Stimme sich überschlug. Bei ihrem Sprung nach hinten stieß sie mit Madeleine zusammen, die ihrerseits von einem düsteren Clown erschreckt worden war. Erst als die Schreie der anderen Besucher in Gelächter übergingen, begriff Anouk, dass sie den Artisten des Dark Circus auf den Leim gegangen waren. Der Harlekin verzog den grausam geschminkten Mund zu einem Grinsen. Dann setzte er sich in Bewegung und trieb sie vorwärts, bis sie endlich durch einen schwarzen Vorhang das Vorzelt zur Manege erreichten.

Spinnenwebbehangene Kristallleuchter und düstere Musik sorgten auch hier für unheimliche Stimmung, aber davon abgesehen schien es doch ein recht gewöhnlicher Zirkus zu sein. Selbst der obligatorische Popcorngeruch stieg Anouk in die Nase, und fast war sie enttäuscht, als sie sah, wie sich einer der Clowns ganz in ihrer Nähe den Schweiß abwischte und darunter normale Menschenhaut sichtbar wurde. Kopfschüttelnd verdrehte sie die Augen. Sie benahm sich wie ein Kind. War sie etwa auch enttäuscht, dass es den Weihnachtsmann nicht gab?

»Also ehrlich«, sagte sie, als Madeleine mit zwei Tüten Popcorn auf sie zukam. »Du hättest mich ruhig vorwarnen können.«

»Und mir den ganzen Spaß verderben?«, erwiderte ihre Cousine mit diabolischem Grinsen. »Niemals! Wobei der Tunnel jedes Mal unheimlicher wird. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich ganz allein im Dunkeln. Das war echt gruselig.«

Im Hauptzelt setzte sich die düstere Stimmung fort. Anouk und Madeleine nahmen auf abgenutzten Samtsesseln Platz, aßen ihr Popcorn und beobachteten, wie der Harlekin, der Anouk gerade noch in Angst versetzt hatte, über die Sitzreihen kletterte, um andere Besucher zu erschrecken. Immer wieder hallten gellende Schreie durch das Zelt, was auch daran lag, dass der Harlekin sich ausgesprochen geschickt bewegte. Es sah fast so aus, als hätte er den Körper einer Spinne, so mühelos und schnell huschte er über die freien Sessel, um dann urplötzlich hinter seinen Opfern aufzutauchen.

»Eine Nachahmung ist übrigens nicht empfehlenswert«, stellte Madeleine fest. »Ich habe es vor zwei Jahren versucht und mir dabei den Arm gebrochen. Maman hat mir danach monatelang verboten, die Stühle im Frühstücksraum auch nur anzurühren.«

Anouk fuhr zusammen, als eine Frau ganz in ihrer Nähe einen panischen Schrei ausstieß und vor dem Harlekin zurückwich, der dicht neben ihr aufgetaucht war. »Glück im Unglück«, entgegnete sie. »Immerhin hast du dich nicht an Hochseilartistik versucht.«

»Ach nein?«, fragte Madeleine betont unschuldig. »Vielleicht hat es auch nur niemand mitbekommen.«

»Ich hätte es mir denken können«, sagte Anouk kopfschüttelnd. »Der Leichtsinn muss in der Familie liegen.« Sie wollte Madeleine gerade erzählen, wie sie mit Ben mal die Hebefigur aus Dirty Dancing nachstellen wollte und ihren Bruder dabei fast in den Frisierspiegel ihrer Mutter befördert hatte. Aber kaum, dass sie Luft holte, verdunkelte sich der Raum, und die Vorstellung begann.

Es war so finster, dass Anouk damit rechnete, jeden Moment wieder in das Gesicht des Harlekins zu blicken. Doch stattdessen glühte ein blaues Licht im Zentrum der Manege auf. Es wurde größer, bis sie erkannte, dass es ein Eisvogel war, der dort schwebte. Anouk sah noch das tückische Blitzen in dessen Augen. Dann stieß er einen Schrei aus, und so schnell, dass er einen blauen Schemen in der Luft hinterließ, schoss er auf das Publikum zu.

Die Menschen kreischten, als er in einem Affenzahn durch die Reihen jagte und sie auf die Beine trieb. Mit einem Triumphruf flog er zurück in die Manege und explodierte zu einem schillernden Funkenregen. Und daraus trat ein Weißclown vor das Publikum. Er hob den Kopf, langsam, als müsste er schwere Lasten von seinem Nacken stemmen, und Anouk konnte in der atemlosen Stille die Anstrengung fühlen, die ihn das kostete. Sein schwarzes, mit goldenen Sternen besticktes Kostüm war abgenutzt, und eine Narbe zog sich über seine linke Wange, die selbst die in typischer Weißclownart aufgetragene Schminke nicht verdecken konnte. Kurz verzog er das Gesicht wie unter Schmerzen. Dann hob er die Faust und zwischen seinen Fingern flatterte mit jubelndem Ruf der Eisvogel hervor. Die Zuschauer brachen in Beifall aus, und der Clown lächelte angesichts der stehenden Ovationen, als der Vogel auf seiner Hand landete. Auch Anouk spendete ihm Applaus, aber bei seinem Anblick überkam sie ein Frösteln. Bildete sie es sich ein, oder war sie plötzlich zurück, die Kälte, die sie in der vergangenen Nacht aus dem Schlaf geholt hatte?

»Willkommen«, rief der Clown mit einer Stimme wie fernes Gewittergrollen. Sie fuhr Anouk mit betörend dunkler Kraft in die Glieder und ließ den Boden unter ihren Füßen vibrieren. »Willkommen auf den Schwingen der Illusionen, willkommen in der Finsternis – willkommen im Dark Circus! Mein Name ist Masrador und ich führe euch heute durch das Programm.« Er verneigte sich majestätisch, und seine Augen blitzten wie die seines Vogels, während er darauf wartete, dass der Beifall verklang und die Zuschauer wieder Platz nahmen. »Ihr wart sehr mutig, euch in unser Reich zu wagen«, fuhr er dann fort. Anouk kam es so vor, als fixierte sein Blick jeden einzelnen Besucher, als er langsam an ihnen vorüberging. »Manche Gesichter sind neu«, sagte Masrador mit stetigem Lächeln. »Andere kenne ich schon gut. Aber auch ihnen habe ich nie die Frage gestellt, mit der wir den heutigen Abend beginnen wollen. Sagt mir, verehrte Gäste: Warum trägt dieser Zirkus den Namen Dark Circus?«

Irgendwer rief ihm eine Antwort zu, aber er schüttelte den Kopf und brach in donnerndes Gelächter aus. Es war ein Lachen, das wie ein Fluch auf die Köpfe niederging, und da begriff Anouk, was sie an seinem Anblick so beunruhigte. Er sah aus wie ein Clown, doch nicht wie einer von den lustigen, die man aus dem Zirkus kannte. Er wirkte, als hätte er die Maske, hinter der seinesgleichen sich für gewöhnlich versteckten, zerbrochen. Und darunter lag nichts als namenlose Finsternis. Anouk überkam der Impuls, aufzuspringen und wegzulaufen, nur fort von dieser Kreatur, die wie ein Riss war in ihrer Welt. Aber gleich darauf drehte Masrador sich um die eigene Achse und hörte auf zu lachen. Die Sterne auf seinem Anzug funkelten, jede Düsternis verschwand von seinem Gesicht, und er lächelte über die Reihen hinweg, als wäre ihm nur zu bewusst, welche Wirkung seine Stimme gerade entfaltet hatte. Anouk stieß die Luft aus. So weit war es also schon gekommen. Eine kurze Zeit in der Einöde, und sie ließ sich von einem Clown mit Glitzerkostüm und Theaterschminke ins Bockshorn jagen. Aber offensichtlich war sie damit nicht allein. Zu ihrer Beruhigung beobachtete sie, dass auch etliche andere Zuschauer aufatmend in ihre Sessel zurücksanken.

»Ich will euch erlösen«, rief Masrador nun. »Der Dark Circus trägt seinen Namen, weil er euch in die Dunkelheit führen wird – nicht nur in unsere, sondern auch in eure eigene! Doch damit er seine Kräfte vollends entfalten kann, brauchen wir eure Hilfe. Wie ihr seht, haben wenige Stunden zwischen diesen Hügeln ausgereicht, um ihm jede Farbe zu rauben. Aber ihr könnt sie ihm zurückgeben! Färbt unseren Zirkus wieder bunt mit eurem Applaus! Wollt ihr das tun, ihr wagemutigen Wanderer in den Schatten?«

Sofort brandete der Beifall wieder auf. Doch dieses Mal stoben Funken unter den Händen der Zuschauer auf. Fasziniert sah Anouk, dass auch über ihre Finger winzige Feuerfunken flogen. Sie schwirrten durch die Luft, sanken auf die Sessel, den Boden, die Zeltwände nieder und tauchten den ergrauten Zirkus an etlichen Stellen in lichte Farben. Es sah aus, als zerrissen sie einen trüben Schleier über einer fantastischen Wirklichkeit.

»Ja«, rief Masrador in den Applaus hinein. »Das sind die Farben, die ich meine! Und nun seht – seht in die Dunkelheit, die euch erwartet hat!«

Damit senkte er die Arme mit einer fließenden Geste, und während seine Gestalt in Finsternis gehüllt wurde, fiel ein Spotlight auf eine am Boden liegende Artistin. Langes dunkles Haar fiel über ihre Schultern, und ihr rotes Kleid schmiegte sich nebelgleich um ihren Körper, als sie sich an einem über ihr hängenden Seil auf die Beine zog. Dann lief sie zu unheilvoller Musik durch die Manege, so schnell, dass ihr Kleid hinter ihr herflatterte. Durch den Schwung hob das Seil sie in die Luft und sie flog zwei Runden über die Köpfe der Zuschauer hinweg. In der dritten ließ sie das Seil plötzlich los. Anouk hielt den Atem an. Sie erwartete, dass die Artistin in die Reihen stürzen würde. Aber stattdessen lief diese einfach weiter, scheinbar ohne jeden Halt. Sie lächelte, als der Applaus sie in Feuerfunken hüllte, griff wieder nach dem Seil und kletterte in vollendeter Eleganz höher. Immer wieder wickelte sie sich das Seil um die Glieder, schwebte kopfüber hoch in der Luft und stemmte sich so mühelos gegen die Schwerkraft, dass Anouk mit offenem Mund zu ihr hinaufstarrte. Schließlich kletterte sie bis zur Zirkusdecke und knotete sich das Ende des Seils um den Fuß. Anouk wurde schon beim Zusehen schwindlig. Sie wusste, was passieren würde, und doch stieß sie einen Schrei aus, als es dann tatsächlich geschah. Die Artistin ließ sich fallen. Schreckenslaute hallten durch das Zelt, als das Seil über ihr zerriss. Sie warf den Kopf zurück – und wurde kaum wenige Zentimeter über dem Boden aufgefangen, ohne dass Anouk hätte sagen können von was. Unter frenetischem Jubel landete die Artistin auf den Füßen, und Anouk ertappte sich dabei, wie sie durch die Zähne pfiff. So eine Zirkusnummer hatte sie noch nie gesehen.

Sie griff nach dem Popcorn, aber sie kam nicht dazu, sich entspannt zurückzulehnen. Denn als Nächstes lief ein Jongleur in die Manege, gekleidet in das samtene Kostüm eines Gauklers. Erst auf den zweiten Blick erkannte Anouk in ihm den Jungen, der ihr die Karte verkauft hatte. Nun war sein Gesicht weiß geschminkt und sein Mund mit roten Linien zu beiden Seiten verbreitert. Auf seinen Wangen prangten die Farben von Spielkarten und seine ungleichen Augen glühten vor Übermut. Mühelos warf er seine Kegel in die Höhe und wirbelte sie mit solcher Geschwindigkeit durch die Luft, dass sie silberne Streifen in der Luft hinterließen. Er lachte dabei, als würde er mit ihnen im Zwiegespräch stehen, bewegte sich leichtfüßig vor und zurück – und schleuderte plötzlich einen Kegel auf einen Mann in der ersten Reihe zu. Einige Zuschauer kreischten auf, der Mann krallte sich in seinen Sessel. Doch da stieß der Gaukler ein Lachen aus und der Kegel verharrte vor dem Gesicht des Mannes. Kreidebleich starrte dieser darauf. Dann rief der Gaukler einen Befehl und der Kegel landete unter dem Beifall des Publikums wieder in seiner Hand. Anouk hatte keine Ahnung, wie er das gemacht hatte, und es kümmerte sie auch nicht. Sie fühlte sich wie damals, wenn sie mit Ben im Zirkus gewesen war: unbeschwert wie ein Kind, das nicht gekommen war, um Geheimnisse zu lüften, sondern um sich von ihnen verzaubern zu lassen.

Die Artisten machten es ihr leicht, denn sie waren allesamt wie Figuren aus einer märchenhaften Geschichte. Da gab es einen als Vampir verkleideten Fakir, der mühelos über rasiermesserscharfe Glasscherben lief, einen traurigen Clown, der mit einer gläsernen Geige wunderschöne Musik machte, und eine Schlangenfrau, die sich verbiegen konnte, als wäre sie aus Gummi. Ein kleines Mädchen ließ weiße Papiervögel fliegen, die unter ihrem Zuruf zu echten Vögeln wurden, und schließlich trat ein Mann mit goldener Haut und bronzenem Bart auf, der sich als Feuerschlucker entpuppte und am Ende selbst verbrannte, bis nur noch ein Haufen Asche übrig war. Die Stille war fühlbar, als die letzten Flocken niederfielen – und Anouk sprang begeistert von ihrem Sitz auf, als sich goldene Schwingen aus der Asche erhoben und der Mann als Phönix daraus hervorschoss. Majestätisch flog er über die Sitzreihen hinweg. Knisternde Funken fielen von seinen Flügeln nieder und schließlich landete er mit erhabenem Schwingenrauschen in der Manege und verwandelte sich in seine menschliche Gestalt zurück. Demütig neigte er den Kopf und ließ einen gewaltigen Feuerregen über den Zuschauern niedergehen. Dann erlosch das Licht in der Manege. Aber es wurde nicht dunkel im Zirkuszelt. Denn ohne dass Anouk es bemerkt hatte, waren weitere Farben in den Dark Circus zurückgekehrt, mit jedem Applaus, jedem Zuruf, jedem begeisterten Pfiff. In allen Nuancen des Regenbogens hatten sie das Zelt ergriffen und bildeten hoch oben an der Decke langsam das Wort PAUSE.

»Du hast ja ganz rote Wangen«, stellte Madeleine fest und lachte, als Anouk überrascht die Hand hob. »Keine Sorge, das ist hier ganz normal. Schau dir nur die anderen an. Ich glaube, so viel Spaß hatten viele von ihnen seit Monaten nicht.«

In der Tat entdeckte Anouk leuchtende Augen, wohin sie schaute. Viele Männer hatten zerzauste Haare, bei den Damen war das Make-up verwischt, und sie lachten, als wäre es ihnen vollkommen egal.

»Du hattest recht«, sagte Anouk, als sie sich mit Madeleine auf den Weg nach draußen machte. »Ich hätte wirklich was verpasst, wenn ich nicht mitgekommen wäre.«

Madeleine strahlte von einem Ohr zum anderen. »Da bin ich froh, auch wenn ich es mir ja gedacht habe. Wollen wir draußen etwas Luft schnappen?«

Anouk ging vor, während Madeleine sich in der Schlange für die Bowle mit Trockeneis anstellte. Die Gläser dampften geheimnisvoll, und Anouk lächelte, als sie einen Mann im Greisenalter auf sein Glas schauen sah, so bezaubert, als wäre er ein kleiner Junge, der eine Fee erblickt hatte.

Die Nachtluft war kühl, aber angenehm angesichts der Hitze im Zelt. Anouk drängte sich durch die Menge und fand einen Platz ein wenig abseits. Die Besucher waren ausgelassener Stimmung. Sie fing begeisterte Gesprächsfetzen auf und musste lachen, als sie hoch oben auf dem Dach des Vorzelts den Haarschopf des Gauklers entdeckte. Der Junge lag flach auf dem Bauch und lauschte den Lobpreisungen mit leuchtenden Augen. Doch kaum hatte Anouk ihn bemerkt, schien er zu spüren, dass sie ihn ansah, und erwiderte ihren Blick. Im ersten Moment hob er entschuldigend die Schultern. Aber dann ging ein schelmisches Leuchten durch seine Augen und er zwinkerte ihr übermütig zu. Anouk lächelte. Wäre Ben hier gewesen, hätte er sich mit dem Jungen dort oben sicher hervorragend verstanden. Sie wollte ihm gerade unauffällig zuwinken, als er abrupt den Blick von ihr fortriss. Er schaute über die Menschen hinweg und seine Miene verfinsterte sich. Kurz nur presste er die Zähne aufeinander, als unterdrückte er einen Fluch. Dann zog er den Kopf ein und kroch von seinem Versteck weg, bis Anouk ihn nicht mehr sehen konnte.

Sie folgte seinem Blick und bemerkte eine alte Frau, die am Rand des Platzes stand. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem Mieder wie aus vergangenen Zeiten und einen Hut in derselben Farbe, der ihr schief auf dem Kopf saß. Tiefe Falten zerfurchten ihr Gesicht, aber ihre Augen blitzten voller Leben, als sie durch einen Spalt zwischen zwei Zirkuswagen herüberspähte – und voller Zorn. Ihre Lippen bebten, so wütend murmelte sie vor sich hin, und mehrfach hob sie die Hand, um Abwehrzeichen in die Luft zu malen. Neugierig trat Anouk einen Schritt auf sie zu, um sie besser sehen zu können. Im selben Moment begegnete die Alte ihrem Blick und Anouk zog die Brauen zusammen. Es war nicht nur Zorn, der in den Augen der Fremden stand. Vor allem anderen war es Furcht.

Mit einem Schlag hörte Anouk die Stimmen der anderen Zuschauer nicht mehr. Alles, was sie deutlich wahrnahm, war die Fremde, die jenseits des Parkplatzes stand, als würde ihr eine unsichtbare Mauer verbieten, auch nur einen Schritt näher zu kommen. Und sie spürte, wie der Blick der alten Frau die Unbeschwertheit von ihren Schultern brannte wie einen Mantel, der nur noch aus Fetzen bestand. Stattdessen drang ihr die Kälte in den Leib, die sie vergangene Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte, und es kam ihr so vor, als würde die Welt um sie herum sich dunkel färben … so dunkel wie das, was sie hinter Masradors Zügen gesehen hatte. Die Finsternis kroch über das Zelt, die Wagen, die Menschen, bis es aussah, als wäre alles zu Asche geworden. Anouk konnte fühlen, wie diese Dunkelheit auch sie ergriff, und da bewegte die alte Frau erneut die Lippen. Sie formte Worte, etwas wie …

»Was tust du da?« Madeleines Stimme drang wie durch Watte an Anouks Ohr und brachte sie trotzdem dazu, erschrocken herumzufahren. Ihre Cousine sah sie abwartend an. Sie hielt in jeder Hand ein Glas und die Welt um sie herum war plötzlich wieder genauso farbenfroh wie noch vor wenigen Augenblicken. Anouk deutete über ihre Schulter unauffällig auf die alte Frau. »Wer ist das?«

Madeleine reichte ihr ein Glas. »Wen meinst du?«

»Die alte Frau«, erwiderte Anouk ungeduldig. »Die Fremde mit …«

Sie verstummte, als sie Madeleines Blick folgte. Der Platz zwischen den Wagen war leer.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Madeleine besorgt. »Du bist ja ganz blass.«

»Gerade eben stand da eine Frau«, sagte Anouk wie zu sich selbst. »Sie hat seltsame Zeichen in die Luft gemalt, und es sah aus, als würde sie …« Aber bevor sie den Satz beendet hatte, schüttelte sie den Kopf. Was sollte sie Madeleine erzählen? Dass sie Angst bekommen hatte, nur weil dort drüben eine seltsame Frau gestanden hatte, die vermutlich zur Zirkustruppe gehörte? Sie kam sich vollkommen lächerlich vor. »Ach, gar nichts. Ich glaube, ich bin nur einem weiteren Trick des Dark Circus auf den Leim gegangen.«

Madeleine musterte sie prüfend, aber sie kam nicht dazu, weiter nachzufragen. Das dumpfe Dröhnen eines Gongs verkündete das Ende der Pause, und während Anouk sich inmitten der fröhlichen Menschen ins Zelt schob, wich die Kälte aus ihren Gliedern. Natürlich war die alte Frau ein Mitglied des Dark Circus, was sollte sie sonst sein? Und ihr Auftritt hatte seine Wirkung ja auch nicht verfehlt: Anouk war das Herz in die Hose gerutscht, als wäre sie ein ängstliches Kind. Sie musste beinahe über sich selbst lachen, so albern erschien ihr die Situation auf einmal.

Doch als sie in ihrem Sessel saß und das Licht ausging, sah sie noch einmal die Augen der alten Frau vor sich, und es fiel ihr schwer, den Ausdruck der Furcht aus ihren Gedanken zu vertreiben. Deutlich erinnerte sie sich an den flüsternden Mund der Fremden, und ein Frösteln zog über ihren Rücken, als sie erneut die Worte von deren Lippen las:

Lauf weg.

2

Die Kehle des Artisten kam dem Dolch gefährlich nahe. Mit einer Hand balancierte er auf einer Stange, während direkt unter ihm ein funkelnder Dolch auf einem Pfahl steckte. Eine falsche Bewegung, und er würde sich den Hals aufschneiden. Ganz davon abgesehen, dass der Akrobat auf seinem Rücken eine Frau trug, die sich auf hohen Absätzen zu betörender Musik bewegte. Im Zelt war es totenstill, als der Artist sich noch tiefer auf den Dolch hinabsenkte. Dann stemmte er sich blitzartig in die Höhe. Wie schwerelos schoss er hoch in die Luft, riss die Stange mit sich – und stieß sie zielsicher in die Klinge des Dolchs. Kurz nur schwankte er. Dann breitete die Frau die Arme aus, und als der Artist mit ihr in der Manege landete, erklang tosender Applaus.

Anouk klatschte, bis ihr die Hände wehtaten. Der Dark Circus hatte sie auch nach der Pause in atemloser Spannung gehalten. Hin und wieder war das Gesicht der alten Frau in ihr aufgeblitzt, aber sofort wieder im Funkenregen des Beifalls untergegangen. Und nun, da eine Horde johlender Clowns in die Manege rannte und Scherze mit dem Publikum trieb, musste Anouk über die Warnung der Frau lachen. Wenn die merkwürdige Alte doch kein Teil des Dark Circus war, so hatte sie zumindest einen gehörigen Dachschaden. Warum sollte Anouk vor diesen Spaßvögeln weglaufen?

Gerade hatte sie das gedacht, als ein Ton durch die Manege ging. Er klang wie Glas kurz vor dem Zerspringen. Im selben Moment erstarrten die Clowns in ihren Bewegungen. Ein seltsamer Glanz ging durch ihre Augen. Dann fielen ihre Körper in sich zusammen wie Gebilde aus Sand, und an ihrer Stelle blieben Spiegel zurück, die sich schwebend um sich selbst drehten. Einer von ihnen leuchtete auf, als mit den ersten Klängen düsterer Musik ein menschlicher Schemen darin erschien. Kurz stand er einfach da, ein Schattenriss inmitten der Helligkeit. Dann setzte er sich in Bewegung und trat mit einem einzigen Schritt aus dem Spiegel in die Manege.

Es war ein junger Mann, ganz in Schwarz gekleidet. Sein Mantel war abgenutzt und staubbedeckt, als wäre er geradewegs aus einer anderen Welt gekommen, ein Messer hing an seinem Gürtel, und in seinen Händen bewegte er zwei Kristallkugeln. Sie glitten über seine Finger, als schwebten sie, ohne dass er ihnen auch nur einen Blick zuwarf. Das dunkle Haar fiel ungezähmt in seine Stirn und unterstrich den Bronzeton seiner Haut. Seine Augen jedoch waren von so intensivem Blau, dass es aussah, als trüge er Kontaktlinsen. Ein tiefer Ernst lag in ihnen, der in seltsamem Kontrast zu den gerade noch tanzenden Clowns stand, und Anouk konnte sich nicht gegen die Faszination wehren, die sie bei seinem Anblick ergriff. Aber gleichzeitig erregte etwas an ihm ihren Unwillen. Vielleicht war es das Lächeln auf seinen Lippen, das sie an die Engelsstatuen der Pariser Friedhöfe denken ließ: leicht herablassend, als hätte er alle Weisheit der Welt für sich gepachtet.

Für einen Moment stand er nur da und betrachtete die Zuschauer, als müssten sie ihn unterhalten und nicht umgekehrt. Dann zog er blitzschnell die Hände von den Kugeln zurück. Aber diese fielen nicht zu Boden. Unter den überraschten Rufen des Publikums verharrten sie in der Luft. Der Magier bewegte leicht die Finger, und als hätte er ihnen einen Befehl gegeben, schwebten die Kugeln auf zwei Kinder in der ersten Reihe zu. Es waren ein Junge und ein Mädchen, die neugierig zu den Kugeln aufschauten.

Der Magier rührte sich nicht vom Fleck, aber als das Mädchen die Hand nach einer der Kugeln ausstreckte, vollführte er eine unscheinbare Geste, und die Kugel zuckte zurück, als hätte sie sich erschreckt. Das Mädchen riss die Augen auf, doch es kam nicht dazu, erneut nach der Kugel zu greifen. Denn nun hob der Magier beide Hände, und sofort flogen die Kugeln um die Kinder herum, so schnell, dass beide anfingen zu lachen. Das Publikum klatschte amüsiert, und Anouk sah staunend zu, wie die Kugeln sich blau verfärbten, umso strahlender, je lauter die Kinder lachten.

Schließlich ließ der Magier die Kugeln in einem glitzernden Funkenregen zusammenstoßen und befahl sie zu sich zurück. Doch anstatt sie aufzufangen, breitete er gebieterisch die Arme aus, worauf sie weit auseinanderflogen und jeweils am anderen Ende der Manege in Hüfthöhe über dem Boden innehielten. Zwischen ihnen lag nichts als Luft, aber der Magier strich über den leeren Raum, als würde er ein Seil berühren – und schwang sich hinauf. Unter dem Beifall des Publikums breitete er die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, und hob die beiden Kugeln mit nichts als einem kurzen Nicken in die Höhe. Anouk kniff die Augen zusammen, aber sie konnte beim besten Willen kein Seil erkennen und auch keine Sicherungsfäden, die im Gegenlicht für gewöhnlich sichtbar wurden. Ohne jeden Halt stand der Magier in der Luft.

Er war fast unter der Zeltdecke angekommen, als er sich in Bewegung setzte. Während er weitere Kristallkugeln aus den Taschen seines Mantels zauberte – viel mehr, als eigentlich hineinpassen sollten –, ging er Schritt für Schritt auf dem unsichtbaren Seil voran. Geschmeidig drehte er sich um die eigene Achse, doch da zeigte sich, dass dieses Seil offenbar seinen eigenen Willen hatte. Plötzlich schien es sich aufzubäumen, denn der Magier stolperte und erlangte erst im letzten Moment das Gleichgewicht zurück. Anouks Magen zog sich zusammen. Schon der Anblick ließ ihr Herz schneller schlagen, aber der Magier schien keine Furcht vor der Tiefe zu kennen. Eine Kugel nach der anderen ließ er in seinen Händen rotieren, erst zwei, dann drei und schließlich auf jeder Hand eine Pyramide aus vier Kugeln, und während er sie scheinbar mühelos bewegte, widersetzte sich das Seil unter seinen Füßen nach Kräften und warf ihn mehrfach beinahe hinunter. Jedes Mal ging ein ängstliches Raunen durchs Publikum, und Anouk stockte der Atem, als der Magier ins Taumeln geriet. Das Seil kämpfte gegen ihn, gleich würde er die Balance verlieren und dann …

Weiter kam sie nicht. Sie sah noch, wie der Magier die Arme ausbreitete und die Kugeln in seinen Händen aufglühten. Im nächsten Moment war er verschwunden. Rufe des Erstaunens hallten durch die Manege – und da tauchte der Magier wieder auf, am anderen Ende des Seils, die Kugeln in seinen Händen zu silbernem Feuer entfacht. In rasender Geschwindigkeit schickte er eine nach der anderen über das Seil, und jedes Mal, wenn es sich unter ihnen hob, loderten sie auf. Es war, als würden sie es unter ihre Kontrolle zwingen, während sie eine Spur aus brennendem Silber hoch oben in der Luft hinterließen. Als sie zu ihrem Herrn zurückkehrten, rührte das Seil sich nicht mehr.

Die Funken des Beifalls flogen bis zum Magier hinauf, während er in einem Überschlag durch die flammenden Schwärme sprang, als wäre er ein Schatten an der Zirkusdecke. Mit Leichtigkeit hielt er das Gleichgewicht und ließ eine Kugel nach der anderen über seinen Körper gleiten, hinauf zu den Schultern, über den Rücken und die Brust, immer schneller, bis es aussah, als würden ihn Lichtströme umfließen. Dabei glitt er vor und zurück, so sicher, als würde er über weiches Gras laufen. Und für keinen Wimpernschlag verlor er den Kontakt zu seinen Kugeln, selbst dann nicht, als er sich in raschen Sprüngen mehrfach um die eigene Achse drehte. Feuerfunken aus Applaus hüllten ihn ein, als er auf dem Seil landete und die Kugeln ihren Flug verlangsamten. Eine nach der anderen verharrte auf dem Körper des Magiers, auf den Schultern, den Ellbogen, den Händen, bis es aussah, als würde er marionettengleich von ihnen in der Luft gehalten. Dann schloss er die Augen und verharrte regungslos.

Es war ein schönes Bild, wie er in der Dunkelheit schwebte. Die Kugeln funkelten auf seinen Gliedern, und Anouk bemerkte die Konzentration, die sich als leichter Schatten zwischen seinen Brauen abzeichnete. Es war, als lauschte er auf etwas oder als riefe er etwas, wortlos und doch so eindringlich, dass die Luft in der Manege zu zittern begann. Dann spannte er die Muskeln, und als hätte er ihnen einen kräftigen Stoß verpasst, schossen die Kugeln hoch in die Luft. In gleißenden Bahnen flogen sie durch die Manege – und mitten hinein in die Spiegel. Kurz herrschte beklemmende Finsternis. Nur die Gestalt des Magiers wurde von einem schwachen Spotlight erhellt. Dann fiel grelles Licht aus den Spiegeln, und die Kugeln kehrten in die Manege zurück, pfeilschnell und mit etlichen weiteren ihrer Art im Schlepptau. In langen Schnüren zogen sie durch die Luft. Anouk hörte sie klirren, als sie dicht an ihr vorbeiflogen, und als sie mit den anderen Zuschauern applaudierte, huschte ein Lächeln über die Züge des Magiers.

Noch immer stand er mit geschlossenen Augen da, aber nun hob er die Arme. Die Kugeln verließen ihre Bahnen und verteilten sich im Raum. Langsam schwebten sie aufwärts, als wären sie Sterne, die an ihren angestammten Platz am Himmel zurückkehrten. Im selben Moment ging ein Raunen durch die Reihen. Denn nicht allein die Kugeln strebten der Zirkusdecke zu – die Sessel der Zuschauer flogen ihnen nach. Anouk krallte sich an ihrem Sitz fest, als dieser sich in die Luft erhob. Aber es ging so ruhig aufwärts, als würde sie von einer Hebebühne getragen, und die tiefe Düsternis unter ihr verwischte den lähmenden Blick in die Tiefe, der sie sonst in Panik versetzt hätte. Leise stieß sie den Atem aus. An diesem Abend hatte der Zirkus ihr so viel Unerklärliches gezeigt, da waren schwebende Sessel fast schon eine Kleinigkeit.

Madeleine lachte ihr zu, sie war ein Stück unter ihr, und Anouk beobachtete, wie der Magier einen Zuschauer nach dem anderen in die Luft hob. Bei keiner anderen Darbietung hatte sie bisher das Gefühl gehabt, so nah dabei zu sein wie jetzt, da sie inmitten der kristallenen Kugeln schwebte. Es war fast, als gleite sie tatsächlich durch den nächtlichen Sternenhimmel. Sie lächelte, als sie das Zelt in einer der Kugeln gespiegelt fand, und schaute zum Magier hinüber. Noch immer stand er regungslos auf seinem unsichtbaren Seil. Dann öffnete er die Augen und gleichzeitig tauchten glühende Bilder in den Kugeln auf.

Anouk sah Gesichter darin, den Himmel, Wälder und Meere, sie sah Tiere und Schatten, und für einen Augenblick glaubte sie sogar, Musik erkennen zu können, fließend wie Schleier aus Seide. Das Publikum stieß verzückte Laute aus. Es kam ihr so vor, als würden die Kugeln dadurch noch farbenprächtiger strahlen – als wären die Bilder, die sie sah, auf irgendeine Weise mit den Zuschauern verbunden, tief vergrabene Erinnerungen vielleicht, die nun geborgen worden waren, oder Träume, von unsichtbaren Händen ins Zwielicht gehoben. Der Gedanke ließ sie den Atem anhalten, und gleichzeitig wollte sie lachen, so absurd erschien er ihr. Im selben Moment fiel ihr Blick auf die Kugel direkt vor ihr.

Bens Haar stand in allen Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab, und seine Augen sprühten vor Übermut, genau wie früher, wenn er alle Menschen in seiner Umgebung mit seiner unbändigen Lebensfreude angesteckt hatte. Anouk merkte kaum, wie sie die Hand nach ihm ausstreckte. Aber sie spürte sein Haar an ihren Fingern, weich wie frisch gefallener Schnee, und im selben Augenblick flammte das Bild unter ihrer Berührung auf. Es wurde so hell, als wäre es mit den Strahlen der Sonne in die Finsternis gemalt worden. Und da hörte sie Bens Stimme, gegossen in sein helles, klares Kinderlachen. Es klang in ihr wider wie ihr eigener Herzschlag … und da spürte sie, dass sich dieser Ton in der Manege fortsetzte.

Zuerst wollte sie über sich selbst den Kopf schütteln, so absurd erschien ihr diese Empfindung. Aber es gab keinen Zweifel. Dunkel ging ihr Puls durch den Raum und schickte die Farben des Bildes über das Zelt. Anouk sah die Wärme aus Bens Augen in tiefem Grün an der Decke über ihr erglühen … und fühlte gleichzeitig, wie eben diese Wärme tief in ihr selbst abnahm. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sosehr sie sich auch bemühte ruhig zu bleiben, so wenig wollte es ihr gelingen. Die Kugel vor ihr war ein Spiegel, das spürte sie nun mit aller Kraft, und je stärker sie aufglühte, desto mehr verblasste Bens Bild in ihren Gedanken. Sie krallte ihre Hände in die Sessellehnen. Der Dark Circus bestahl sie, er nahm ihr die Farben. Mit rasendem Puls riss sie ihren Blick los – und sah, dass die Zeit um sie herum stillstand.

Die Menschen ringsum waren erstarrt. Mit hingebungsvollen Gesichtern betrachteten sie die Kugeln, manche lächelnd, andere wie verzaubert. Aber als Anouk ihren Blicken folgte, fand sie keine Meere und Wälder mehr. Stattdessen sah sie ihr eigenes Spiegelbild in jeder einzelnen Kugel. Es erschien ihr seltsam fremd, nun, da Bens Lachen ihr die übliche Kühle von den Zügen gebrannt hatte. Doch sie kam nicht dazu, ihren eigenen Blick zu erwidern. Denn noch jemand schaute sie an, so unverwandt, dass ihr das Blut in den Kopf stieg. Es war der Magier, der inmitten all der Kugeln zu ihr herübersah.

Sein Lächeln war verschwunden. Was auch immer er mit den anderen Besuchern angestellt hatte, es hatte bei ihr nicht funktioniert. Tiefes Erstaunen machte sein Gesicht ganz sanft, und da begriff sie, dass er in diesem Moment genau das spürte, was sie fühlte: ihr pochendes Herz, ihre eisigen Hände, Haare, weich wie Schnee – und die Nähe, die sich mit all diesen Empfindungen zwischen ihnen ausbreitete und die keiner von ihnen auch nur ansatzweise erwartet hatte. Anouk atmete schnell, während die Farben ihrer Kugel über ihr Gesicht glitten. Noch immer schwebte der Magier dort drüben inmitten seiner Lichter, aber es gab keine Distanz mehr zwischen ihnen, keine Menschen, keine Sterne. Er war ihr so nah, dass sie glaubte, seinen Atem auf ihren Wangen zu spüren. Und zu ihrer eigenen Überraschung kehrte die Kühle nicht auf ihre Züge zurück, mit der sie seit Jahren die Welt von sich fernhielt. Stattdessen überkam sie der plötzliche Impuls, die Hand nach dem Magier auszustrecken und ihn festzuhalten, ehe er in einem der Spiegel verschwinden konnte. Erst als ein scharfer Schmerz durch ihren Arm ging, merkte sie, dass sie die Finger mit aller Kraft in die Sessellehnen gekrallt hatte, als wollte eine innere Stimme sie in die Realität zurückholen. Erschrocken stellte sie fest, dass sie sich gefährlich weit nach vorn gelehnt hatte, und mit gleißender Schärfe erkannte sie die Tiefe unter sich. Panisch drückte sie sich zurück in den Sessel, der schwankend nach hinten kippte. Der Magier fuhr zusammen, als hätte er Anouks Schreck auch gespürt – und verlor das Gleichgewicht.

Anouk stieß einen Schrei aus. Wie in Zeitlupe erloschen alle Kugeln. Sie hörte die panischen Rufe der Menschen, die nun wie aus einer Trance erwachten und mit den Kugeln in die Tiefe stürzten, fühlte den Luftzug in ihrem eigenen Haar, als der Sessel mit ihr abwärtsraste … und sah, dass der Magier in der Manege landete und im letzten Augenblick die Arme emporriss. Die Luft wurde ihr aus der Lunge gepresst, so plötzlich kam der Sessel zum Stehen. Gleichzeitig explodierten die Kugeln und alle Spiegel zu einem Feuerwerk, das jede Furcht, die gerade noch die Manege erfüllt hatte, in glühenden Funkenschwärmen zerriss.

Begeistert sprangen die Menschen von ihren Sitzen, kaum dass sie sicher am Boden gelandet waren. Anouk aber sah das Entsetzen auf den Zügen des Magiers, bevor er sein Lächeln auf seine Lippen zurückrief und sich verneigte – und sie spürte seinen Blick noch auf sich, als die Manege längst wieder im Dunkeln lag. Die anderen Zuschauer mochten sich täuschen lassen, doch sie fühlte mit jeder Faser ihres Körpers, dass dieser Sturz nicht geplant gewesen war. Sie waren haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschrammt.

Die folgenden Darbietungen liefen an ihr vorüber wie in einem Traum. Erst als zum Abschluss alle Artisten erneut in die Manege kamen, kehrte sie in die Realität zurück. Masrador animierte das Publikum zu einem frenetischen Applaus, worauf die Sitzreihen in Feuerfunken gehüllt wurden. Das Zelt erstrahlte in prächtigen Farben, aber Anouk nahm es kaum wahr. Sie sah nur den Magier, der durch den Tumult zu ihr herüberschaute, als wären sie ganz allein inmitten all der Flammen.

Er stand regungslos wie hoch oben auf seinem unsichtbaren Seil. Sein Lächeln war kühl und rätselhaft wie zwischen den Spiegeln, doch in seinen Augen lag ein Ausdruck, der sie schaudern ließ: eine Warnung vor ihm, dem Zauberer, dem sie sich gerade noch so nah gefühlt hatte. Ein eisiger Luftzug strich ihr das Haar zurück. Mochte er tausend Mal mit beiden Füßen auf dem Boden stehen: In Wirklichkeit fiel er noch immer, das spürte sie nun mit Gewissheit. Und er würde sie mit sich reißen, wenn sie ihm noch einmal nahe kam … tief hinab in eine Finsternis, von der sie keine Vorstellung hatte.

3

Das Gelächter drang unerträglich laut in Anouks Zimmer. Seufzend ließ sie ihr Buch sinken. Seit einer geschlagenen Stunde versuchte sie, in Die Welt der bretonischen Sagen abzutauchen, einen uralten Schinken, den sie in der Bibliothek ihrer Tante gefunden hatte. Aber Justine hatte wenige Tage vor ihrem Abflug nach New York ein letztes Mal Besuch von ihren Freundinnen aus der Nachbarschaft, und nun saßen die Damen zusammen beim Tee, redeten über ihre Männer oder die neue Frisur einer abwesenden Bekannten und brachen regelmäßig in so ohrenbetäubendes Lachen aus, dass Anouk meinte, die Holzdielen unter ihrem Bett ächzen zu hören. Es war unmöglich, in eine fiktive Welt zu fliehen, wenn die Realität von kreischenden Frauen beherrscht wurde, so viel war sicher.

Sie schaute zum Fenster hinüber. Draußen flogen die Wolken über den Nachmittagshimmel, und sie musste daran denken, wie sie einmal mit ihren Eltern durch dieses Dorf spaziert war und beide ihr Fabelwesen am Himmel gezeigt hatten. Drachen, Feen und Seeschlangen hatten sie in den Wolken entdeckt, und Anouk schüttelte den Kopf, so unwirklich erschien es ihr, sich an diese Seite ihrer Eltern zu erinnern. Heute würden beide sie für verrückt erklären, wenn sie ihnen davon erzählte. Ihre Mutter würde in ironischer Kälte die Brauen heben, und ihr Vater würde mit seinem knappen, spöttischen Lachen darauf antworten, das ihr jedes weitere Wort abschnitt. Dabei hatte er früher ebenso laut und zügellos gelacht wie seine Schwester … und wie Ben.

Der Gedanke an ihren Bruder wischte jedes Lächeln von Anouks Lippen. Sie ließ den Blick über die Bilder schweifen, die sie von ihm mitgenommen hatte, und konnte sein Lachen hören, so deutlich, als bräuchte sie nur den Kopf zu wenden, um Ben anzusehen. Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so intensiv daran erinnert und jeder einzelne Ton ließ ihr Herz rasen. Schließlich sprang sie aus dem Bett und griff nach ihrem Mantel. Sie musste dringend einen klaren Kopf bekommen. In der vergangenen Nacht hatte sie kaum ein Auge zugetan. Immer wieder war Bens Gesicht in der Kristallkugel vor ihr aufgetaucht, im steten Wechsel mit tanzenden Clowns, prasselnden Feuerfunken und dem rätselhaften Blick des dunklen Zauberers. Erst im Morgengrauen hatte sie es geschafft, die Ereignisse im Zirkus auf das herunterzubrechen, was sie gewesen waren: durch mehr oder weniger billige Tricks produzierte Illusionen. Sie war so oft mit Ben im Zirkus gewesen, da war es kein Wunder, dass sie geglaubt hatte, ihn in der Kristallkugel zu sehen. Aber jetzt war die Vorstellung vorbei. Und ihr stand nicht der Sinn danach, sich durch einen Zirkusbesuch weiter derartig in Aufregung versetzen zu lassen.

Sie lief gerade die Treppe hinunter, als ihre Tante aus der Küche kam. Justines Locken standen wie immer in unbezähmbarem Elan von ihrem Kopf ab und umrahmten ihr Gesicht, das vom Lachen gerötet war. »Bitte entschuldige«, sagte sie und deutete unauffällig in Richtung Küche. »Eigentlich sind wir alle ganz gesittet – ehrlich! Aber es kommt ja nicht alle Tage vor, dass man zu seinem Ex über den Atlantik fliegt. Da können ein paar abschreckende Anekdoten über Liebesrevivals nicht schaden.«

»Madeleine würde es sicher nicht so schlecht finden, nach New York zu ziehen«, stellte Anouk fest. »Allerdings ist die Frage, ob es das wert wäre.«

»Glaub mir«, sagte Justine und seufzte. »Das wäre es nicht. So oder so, wir wollten dich nicht aus dem Haus treiben. Schon gar nicht bei diesem Wetter. Willst du nicht zu uns in die Küche kommen? Wir sind vielleicht gerade ein bisschen durchgedreht, aber immerhin haben wir Kekse.«

Anouk musste grinsen. »Das schlagende Argument der dunklen Seite. Sehr verlockend, aber ich gehe lieber ein bisschen spazieren. Ist ja schon eine ganze Weile her, seit ich das hier zuletzt gemacht habe.«

Ihre Tante hob die Brauen, als hätte Anouk ihr eröffnet, eine Runde im Meer schwimmen gehen zu wollen. Aber dann schüttelte sie ergeben den Kopf. »Ich sehe schon: Du bist das Kind deiner Eltern. Die lassen sich ja von einem Unwetter wie dem da draußen auch nicht abschrecken, von irgendwelchen Gefahren mal ganz zu schweigen. Ich möchte nicht wissen, in welche Schluchten sie sich gerade stürzen.«

»Da ist ein Rundgang über die Klippen doch geradezu langweilig.« Anouk lächelte, wohl wissend, dass Justine recht hatte, was ihre Eltern betraf. In den letzten Jahren hatte es keine sportliche Herausforderung gegeben, der die beiden sich nicht gestellt hätten, wie riskant sie auch erschienen war.

Justine seufzte und strich Anouk das Haar zurück, so wie sie es früher immer getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. »Da hast du auch wieder recht. Und wer weiß: Vielleicht heben wir dir noch ein paar Kekse auf für später.«

»Da schlägt mein dunkles Herz gleich schneller«, sagte Anouk und öffnete die Tür. »Bis später, und mach dir keine Sorgen. Ich bin bald wieder da.«

Sie sah noch, wie Justine ihr mit diesem typischen Lächeln nachsah, das ihre Mutter früher auch perfekt beherrscht hatte: so sorgenvoll, als würde jenseits der eigenen Arme alles Übel der Welt warten. Dann zog sie die Tür hinter sich zu.

Es begann zu regnen, kaum dass sie auf die Straße trat. Der Wind zerrte an ihrem Mantel, aber mit jedem Schritt wich die Anspannung aus ihren Gliedern. Der Regen hatte immer schon die Gabe gehabt, sie zu beruhigen und ihr gleichzeitig das Gefühl zu geben, lebendig zu sein. Und dafür liebte sie ihn. Sie lief über den schmalen Pfad zu den Klippen und stellte fest, dass diese Gegend in all ihrer Einsamkeit noch genauso verzaubert war wie damals, als sie als Kind hinter jedem Kiesel einen Kobold entdeckt hatte. Gespenstischer Dunst lag über den Hügeln, und als sie die Ruine erspähte, die auf der höchsten Klippe stand, machte ihr Herz einen Satz.

Sie konnte nicht mehr sagen, wie oft sie in dem Gemäuer herumgeklettert war, früher, als sie noch nicht diese dämliche Höhenangst gehabt hatte, und sie hielt den Atem an, als sie das Ächzen der knorrigen Bäume hörte, die noch immer um die alten Mauern herumstanden. Dunkel drang das Rauschen der Wellen an ihr Ohr, die tief unten gegen die Klippe schlugen, und ein beschwingtes Glücksgefühl ließ sie schneller laufen. Leichtfüßig bog sie um die Trümmer des einstigen Wehrturms – und erstarrte. Sie war nicht allein in ihrer zerbrochenen Festung der Einsamkeit. Dort auf einem Seil, das vom Wehrturm hinüber zur gegenseitigen Mauer führte, stand der Magier.

Er hatte sie noch nicht bemerkt. Mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen balancierte er auf dem Seil, gekleidet in eine schwarze Hose und einen Pullover in derselben Farbe, der vom Regen durchnässt an seinem Körper klebte. Doch er schien weder Wind noch Kälte zu spüren. Barfuß hielt er das Gleichgewicht, als das Seil unter ihm unsichtbar wurde, und bewegte sich mit beeindruckender Routine vor und zurück. Aber sein Ausdruck war nicht kühl und überlegen wie in der Manege, sondern voller Hingabe an den Wind, der nach seinem Haar griff, das Rauschen des Meeres und den Regen, der über sein Gesicht lief wie über Marmor. Unwillkürlich musste Anouk lächeln. Sie hatte noch nie einen Menschen getroffen, der den Regen so sehr liebte wie sie selbst.

Das Knacken war so laut, dass Anouk zusammenzuckte. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie aus dem Schatten des Turms hervorgetreten war, aber nichtsdestotrotz stand sie plötzlich zwischen den Mauern des Innenhofs, den verräterischen Zweig noch unter ihrem Fuß. Der Magier fuhr erschrocken herum – und verlor das Gleichgewicht. Gerade noch rechtzeitig wirbelte er um die eigene Achse und rollte sich am Boden ab, bis er katzengleich auf allen vieren innehielt. Mit rasendem Herzen lief Anouk auf ihn zu, um zu sehen, ob er sich verletzt hatte. Doch ehe sie ihn erreichte, sprang er mit zornigem Knurren auf.

»Verflucht noch eins«, rief er und kam ihr entgegen. »Verfolgst du mich etwa?«

Anouk prallte vor seiner Kälte zurück. Jede Sanftheit war von seinen Zügen gewichen, und nun sah sie wieder dem spöttischen Engel ins Gesicht, der vor allem eines in ihr hervorrief: wütenden Trotz. »Du bist wohl gar nicht von dir überzeugt, was? Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen, aber eins ist mal klar: Selbstüberschätzung ist ja wohl die unsympathischste Eigenschaft, die es gibt!«

Er schnaubte. »Ich wüsste da noch ein paar andere – plötzlich auftauchen wie ein Kastenteufel zum Beispiel und alles durcheinanderbringen! Zufällig hier vorbeigekommen, wenn ich das schon höre! Und zufällig Äste zerbrechen, um mich vom Seil zu reißen, was?«

»Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, erwiderte Anouk und meinte es ehrlich. »Aber ich habe nicht geahnt, dass du im strömenden Regen hier trainierst. Immerhin hast du doch ein riesiges Zelt zur Verfügung.«

»Ein Zelt, das sich nach sechs Stunden Probe wie ein Käfig anfühlt«, fuhr er sie an. »Verdammt, reicht es dir nicht, dass du fast meine Vorstellung verdorben hättest? Musst du mir jetzt auch noch beim Training auf die Nerven gehen? Ich gebe dir einen guten Rat: Halte dich fern von mir!«

Damit stapfte er an ihr vorbei, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Anouk wusste nicht, ob es am Frost in seiner Stimme lag oder daran, dass er sie behandelte wie ein dummes Kind, aber ihre Wangen glühten, als sie herumfuhr. »Es ist nicht meine Schuld, wenn dein alberner Hokuspokus bei mir nicht wirkt!«

Er blieb stehen wie vom Donner gerührt und drehte sich so langsam zu ihr um, als hätte sie ihm einen Kiesel an den Kopf geworfen. Kurz glaubte sie, er würde sein Messer ziehen, so wütend sah er sie an. Doch dann stieß er die Luft aus, und auf seine Züge trat eine Herablassung, die fast noch schlimmer war als sein Zorn. »Du hast keine Ahnung, wovon du da redest«, sagte er kalt. »Mein Hokuspokus hätte dir beinahe das Genick gebrochen, ist dir das nicht klar? Aber was erwarte ich von jemandem, der nichts Besseres zu tun hat, als bei diesem Wetter einen Spaziergang zu machen! Sieh dir die Wolken da hinten an, die du offenbar noch gar nicht bemerkt hast. Es wird bald ein Unwetter kommen und hier gibt es keinen Schutz. Da drängt sich mir doch die Frage auf: Bist du lebensmüde oder einfach nur wahnsinnig?«