Ophelia Nachtgesang - Gesa Schwartz - E-Book

Ophelia Nachtgesang E-Book

Gesa Schwartz

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Beschreibung

Magisch, finster, abenteuerlich – diese Dunkle Fee verzaubert.

Ophelia ist eine Dunkle Fee, die verstorbene Seelen ins Totenreich führt. Leider geht dabei so manches schief: Mal verliert sie die Seelen, mal lockt sie mit ihrem Gesang die falschen an. Der Schwarze Zirkel gibt ihr eine letzte Chance: Sie soll den dreiundneunzigjährigen Augustus Pinlin ins Totenreich begleiten. Allerdings ist Augustus ein begnadeter Magier. Und so passiert es, dass dieser einen Großteil von Ophelias magischen Fähigkeiten an sich nimmt. Und da der Alte noch eine Rechnung offen hat, bietet er ihr einen Deal an: Ophelia hilft ihm und bekommt im Gegenzug ihre magischen Kräfte zurück. Und so beginnt ein Abenteuer, das sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte ausdenken können ...

Ein Spannungsschmöker der Extraklasse ab 11 Jahren

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Das Buch

Ophelia Nachtgesang ist eine Dunkle Fee, die verstorbene Seelen ins Totenreich führt. Leider macht sie ihren Job ausgesprochen schlecht: Mal verliert sie die Seelen unterwegs, mal lockt sie mit ihrem Gesang die falschen an. Der Rat der Dunklen Feen gibt ihr eine letzte Chance, in den Schwarzen Zirkel aufgenommen zu werden: Sie soll den 93-jährigen Augustus Pinlin ins Totenreich begleiten. Allerdings ist Augustus ein begnadeter Magier, der kurzerhand einen Großteil von Ophelias magischen Fähigkeiten an sich nimmt. Da der Alte noch eine Rechnung offen hat, bietet er ihr einen Deal an: Ophelia hilft ihm und bekommt im Gegenzug ihre magischen Kräfte zurück. Und so beginnt ein Abenteuer, das sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte ausdenken können ...

Die Autorin

© Moutevelidis Photography

Gesa Schwartz wurde 1980 in Stade geboren. Sie hat Deutsche Philologie, Philosophie und Deutsch als Fremdsprache studiert. Ihr besonderes Interesse galt seit jeher dem Genre der Phantastik. Nach ihrem Abschluss begab sie sich auf eine einjährige Reise durch Europa auf den Spuren der alten Geschichtenerzähler. Für ihr Debüt „Grim. Das Siegel des Feuers“ erhielt sie den Deutschen Phantastik Preis in der Sparte Bestes deutschsprachiges Romandebüt. Seither wurden ihre Bücher mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. Gesa Schwartz lebt mit ihrer Familie in Hamburg und schreibt am liebsten in ihrem Zirkuswagen.

Mehr über Gesa Schwartz:www.gesa-schwartz.de

Gesa Schwartz auf Facebook:https://www.facebook.com/GesaSchwartz

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Dieser verfluchte Regen!

Ophelia Nachtgesang schaute aus dem Fenster in die Finsternis und machte ein Gesicht, das selbst für eine Dunkle Fee außerordentlich düster aussah. Normalerweise hatte sie nichts gegen den Regen. Jedenfalls nicht, solange er ihr vom Leib blieb. Doch heute Nacht musste sie vor die Tür. Und als Dunkle Fee brauchte sie nicht vieles zu fürchten, aber die fiesen kleinen Regentropfen brannten auf ihrer Haut wie glühende Nadeln. Sie schüttelte sich, als sie nur daran dachte.

»He« sagte sie zu ihrem Spiegelbild, das sie wütend anstarrte. »Was nützen dir all deine magischen Kräfte, wenn du dich vor dem Regen verstecken musst? Kannst du ihn nicht erschrecken, damit er verschwindet? Gruselig genug siehst du heute schließlich aus!«

Womit sie vollkommen recht hatte. Ihr langes weißes Haar fiel über ihr ebenfalls weißes Kleid bis auf ihre Hüfte hinab. Ihre Haut ließ ein feines Geflecht dunkler Adern durchschimmern. Und ihre Augen glühten so rot wie das herrlichste Höllenfeuer. Allerdings kümmerte den Regen das herzlich wenig, das wusste sie, und ihr Spiegelbild presste statt einer Antwort bloß die Lippen zusammen.

»War ja klar, dass du mich hängen lässt«, murmelte Ophelia. »Was erwarte ich auch anderes von dir?«

Ihr Spiegelbild streckte ihr die Zunge heraus und Ophelia drehte sich um. So weit war es gekommen: Sie redete mit ihrem Spiegelbild, weil sie Angst vor dem Regen hatte! Das durfte sie niemandem erzählen. Immerhin war es allgemein bekannt, dass Spiegelbilder nur Blödsinn im Kopf hatten und viel lieber in der Spiegelwelt herumgeisterten, statt unzufriedene Feen zu spiegeln. Außerdem musste Ophelia nun einmal hinaus in den Regen, ob sie wollte oder nicht. Da gab es nichts dran zu rütteln. Wenn sie Pech hatte – und davon hatte sie für gewöhnlich jede Menge –, war der Regen in dieser Nacht noch ihr kleinstes Problem.

Sie warf einen Blick auf die Ascheflocken, die sich mitten im Zimmer zusammengekrümelt hatten. Vor nicht allzu langer Zeit waren sie in Form eines rabenschwarzen Briefumschlags zu Ophelias Eiche geflattert. (Als Dunkle Fee in Ausbildung wohnte sie standesgemäß in diesem alten Baum, wobei er innen viel größer war, als man es von außen gedacht hätte. Zwar zog es gewaltig durch die dünnen Fenster. Doch es gab genug Platz für alles, was Ophelia brauchte, und außerdem noch für Hedwig und Konstantin, zwei Spinnen, die so etwas wie Haustiere für Ophelia geworden waren – nur in der Dunkelfeevariante). Kaum hatte Ophelia nun also die Tür geöffnet, hatte sich der Umschlag entfaltet und einen Brief präsentiert, ebenfalls schwarz und mit glühenden Buchstaben bedeckt, die Ophelia auch jetzt noch einen Schauer über den Rücken schickten. Und das hatte in dem Brief gestanden:

Ophelia knirschte beim Gedanken an das unterstrichene Pünktlich! mit den Zähnen. Sie wusste genau, dass Dorothy dafür verantwortlich war, die unerträgliche Assistentin von Demetrius. Aber sein Name genügte, um Ophelias Zorn in Luft aufzulösen und ihr stattdessen ein Musterbeispiel von einem Kloß im Hals zu bescheren. Demetrius war nicht nur einer der mächtigsten Fae, die die Anderwelt je gesehen hatte. Er war außerdem der Leiter des Schwarzen Zirkels. Das war der Bund der ältesten und stärksten Dunkelfeen. Gemeinsam mit dem Rat des Lichts, dem Zusammenschluss der Hellen Feen, sorgte er dafür, dass sich jedes Anderwesen an die Spielregeln hielt.

Davon gab es jede Menge, und die meisten waren auch nötig, um das Zusammenleben mit den Menschen nicht zu gefährden. Denn die meisten Menschen hatten keine Ahnung davon, dass es Kreaturen wie Feen überhaupt gab. Die Anderwelt war durch einen magischen Schleier von der Menschenwelt getrennt. Und wenn man die Menschen kannte, brauchte man nicht lange zu überlegen, um zu begreifen, dass das auch besser so war. Immerhin neigten die Menschen dazu, ihre Nasen in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen, und jede Menge Unheil anzurichten. Jedenfalls hatte Demetrius den Schwarzen Zirkel fest im Griff, genauso wie all die Delinquenten, die seine Regeln auf die eine oder andere Art missachtet hatten. Damit war Demetrius zweifelsohne derjenige, der Ophelia schon viel zu oft die Leviten gelesen hatte, wenn sie in der Dunkelheit versagt hatte. Was häufig vorkam. Zu häufig möglicherweise.

»Blödsinn«, murmelte Ophelia und schluckte den Kloß im Hals hinunter. Sie versuchte sich einzureden, dass sie schon oft in derselben Lage gewesen war. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Das, was zuletzt in der Dunkelheit passiert war, würde Folgen haben. Ernste Folgen.

Sie schaute zu den Ascheflocken hinüber. Der Brief hatte sich selbst verbrannt, kaum dass sie ihn gelesen hatte. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, doch es nützte alles nichts. Wenn Demetrius ihr dasselbe Schicksal wie dem Brief angedacht hatte, konnte sie es sowieso nicht ändern. Dann wollte sie sich wenigstens nicht wie ein Feigling verstecken. Denn sie mochte vieles sein, aber feige, nein, das war Ophelia nicht.

Wenn man vom Regen absah.

Nach einem letzten Blick aus dem Fenster schlüpfte Ophelia in ihren Mantel, zog sich die Kapuze über den Kopf und stieg in ihre roten Gummistiefel. Sie konnte sich die Gesichter der ehrwürdigen Feen im Schwarzen Zirkel lebhaft vorstellen, wenn sie in diesem Aufzug dort erschien. Normalerweise trugen Feen keine Gummistiefel, und Dunkle Feen schon gar nicht. Die schwebten hoheitsvoll und geheimnisumwoben durch die Nacht und sprühten nur so vor Düsternis und Schönheit. Doch Ophelia war noch neu im Geschäft. Sie hatte zwar das typische schwarze Blut der Dunklen Feen und verfügte auch über gar nicht mal so geringe magische Kräfte. Aber sie war noch jung. Ihre Magie war gerade erst zu voller Stärke erwacht und Ophelia musste nun lernen, wie sie sie nutzen konnte, was ihr eher schlecht als recht gelang. Gegen den Regen konnte sie sich noch nicht verteidigen, was nicht ungewöhnlich war: Viele neu erwachte Feen hatten anfangs mit den Elementen oder ihren Erscheinungsformen zu kämpfen, weil sie noch nicht im Einklang mit ihrer Magie waren. Aber Ophelia arbeitete daran, das zu ändern. Bis dahin mussten so kleine Hilfsmittel wie Mäntel und Gummistiefel einfach drin sein. Und selbst wenn nicht – sie konnte es keinesfalls ertragen, barfuß durch die Pfützen zu laufen, die auf dem Weg zum Schwarzen Zirkel auf sie warteten. Kei. Nes. Falls.

Sie schaute auf das Bild ihres Großvaters, das neben ihrer Tür hing. Mit mürrischer Miene erwiderte er ihren Blick. Ophelia konnte gut verstehen, warum die meisten Leute gewaltigen Respekt vor ihm hatten. Nicht nur, weil er einmal zu den stärksten Magiern der Fae gehört hatte. Sondern weil er alles und jeden in Grund und Boden starren konnte. Ophelia erinnerte sich genau daran, wie sie damals nach dem Tod ihrer Eltern mit ihrem Bruder Mino zu ihm in die Highlands gezogen war. An seine raue Art, seine grollende Stimme. Und an seinen sanften Blick, wenn er Mino oder sie angesehen hatte. Und dann, als Mino gestorben war, hatte er um seinen Enkel geweint, etwas, das kein anständiger Fae jemals tat, schon gar kein alter Krieger, wie er es war.

Ophelia strich sacht über das Bild. Es war ihm schwergefallen, sie mit dem Erwachen ihrer Magie nach Dùn Èideann ziehen zu lassen, um ihre Ausbildung an der legendären Akademie der Feen zu beginnen. Die Menschen nannten diese Stadt inzwischen Edinburgh, doch sie hatten keine Ahnung davon, was sie wirklich war: das Zentrum der magischen Macht der Fae. Und Ophelia war nun ein Teil davon. Sie erwiderte den Blick ihres Großvaters fest. Sie würde ihn stolz machen.

Ophelia steckte den Kopf aus der Tür und der Regen tat rein gar nichts dafür, dass sie ihn lieber mochte als bisher. Im Gegenteil. Er prasselte nur so auf sie nieder, als sie über die Wiese hastete. Dabei machte sie von ihrer Fähigkeit zu schweben Gebrauch, musste sich aber immer wieder abstoßen, um schneller voranzukommen. Und jedes verfluchte Mal tauchte sie versehentlich mit dem Fuß in eine Pfütze, die tief genug war, um ordentlich Wasser in ihre Stiefel schwappen zu lassen.

Die Akademie thronte in spöttischer Erhabenheit hoch über ihr auf dem Vulkanfelsen. Für die Menschen stand dort oben das Schloss von Edinburgh, doch Ophelia sah die Akademie in all ihrer Pracht: die Türmchen, Erker und Zinnen, in denen sie in den letzten Monaten ausgebildet worden war. Ein Ort des Wissens. Und der bitteren Niederlagen.

»Du bist spät dran«, krächzte es neben ihr.

Vor Schreck landete Ophelia mit beiden Füßen in einer Pfütze. Das Wasser spritzte an ihr hoch und durchnässte den Saum ihres Kleides. Ärgerlich schaute Ophelia zu dem Raben hinüber, der auf dem untersten Ast einer Birke saß. Er hatte den Kopf schiefgelegt und sah außerordentlich vergnügt aus.

»Tiberius«, sagte Ophelia. »Ich habe jetzt keine Zeit.« Damit setzte sie ihren Weg fort.

Der Rabe flog ihr nach und landete mit leisem Krächzen auf ihrer Schulter. »Mein Reden. Du kommst zu spät, wenn du dich nicht beeilst. Aber das tust du ja, wie ich sehe. Du bist ganz schön flott unterwegs.«

»Ich wäre noch viel schneller, wenn nicht ein dicker Rabe auf meiner Schulter sitzen würde.«

Tiberius zog beleidigt den Kopf ein. »Ich bin nicht dick. Mein Gefieder ist nur außergewöhnlich voluminös. Außerdem dachte ich, du könntest seelischen Beistand gebrauchen.«

»Lass mich bloß mit Seelenkram in Ruhe«, murrte Ophelia. »Davon kann ich mir gleich noch genug anhören.«

»Oh ja«, meinte Tiberius. »Seelen sind das Lieblingsthema des Schwarzen Zirkels. Was kein Wunder ist. Immerhin beschäftigt ihr Dunkelfeen euch mit kaum etwas anderem.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Ophelia. »Aber es ist nun mal unsere Aufgabe, die Seelen Verstorbener in die Totenwelt zu führen.«

»Eine sehr ehrenwerte Aufgabe im Übrigen. Ich bin ein Rabe, ich bin in vielen Welten zu Hause. Ich weiß, wovon ich rede.«

Ophelia seufzte. »Noch viel ehrenwerter wird die Aufgabe, wenn man sie auch erfüllt. Bisher habe ich das nicht besonders gut hinbekommen, wie du weißt.«

Das wusste Tiberius in der Tat. Er war ihr Freund und bestens über all ihre Fehltritte informiert. Aber sie störten ihn überhaupt nicht. Kurz nach ihrer Ankunft in der Stadt hatte sie ihm im Kampf gegen ein paar Krähen beigestanden, und seitdem war er der festen Überzeugung, dass sie eine Heldin war. Es war sinnlos, ihn von dieser Ansicht abbringen zu wollen, denn es gab niemanden mit einem größeren Dickschädel. Hatte Tiberius einmal eine Meinung zu etwas, war sie in Stein gemeißelt. Er war eben ein Rabe.

»Es ist noch kein Seelenführer vom Himmel gefallen«, krächzte er jetzt. »Das kannst du dem edlen Schwarzzirkel gern von mir ausrichten.«

Ophelia lächelte, und das lag nicht nur an Tiberius’ kämpferischem Ton. Denn jetzt hatten sie die Wiese hinter sich gelassen und vor ihnen lag die Stadt mit ihren verwinkelten Gassen und all ihren Geheimnissen. Ophelia spürte dasselbe Kribbeln, das sie vom ersten Moment an bei diesem Anblick überkommen hatte: dieses Gefühl, stets nur einen winzigen Schritt von einem fantastischen Abenteuer entfernt zu sein.

Sie wechselte mit Tiberius einen Blick, denn sie wusste, dass er genauso empfand. Und sie spürte noch einmal den Entschluss, den sie bei ihrer Ankunft in dieser Stadt gefasst hatte: Sie würde sich nicht unterkriegen lassen – von nichts und niemandem.

Tiberius rieb sanft seinen Kopf an ihrer Wange zum Zeichen, dass er ihre Gedanken erraten hatte. Und mit einem einzigen Schritt tauchte Ophelia in das Gassengewirr der Stadt ein.

Ophelia lief durch die schmalen Gassen und holte tief Luft. Sie liebte den Geruch dieser Stadt, der ihr sofort in Erinnerung rief, woher Dùn Èideann ihren Spitznamen hatte: Auld Reekie, die Alte Verräucherte, wie die Menschen sie nannten. Natürlich hatten diese nicht den blassesten Schimmer, dass dieser Kosename eigentlich von den Anderwesen stammte. Genau genommen von den Kobolden, die in ferner Vergangenheit verbotenerweise Schnapsbrennereien in vielen Häusern der Stadt betrieben hatten, was zu einem immerwährenden Rauch über den Dächern geführt hatte. Irgendwann hatten die herrschenden Feen dem ein Ende gesetzt. Aber Ophelia konnte den Duft noch immer riechen, und er hellte ihre Stimmung ebenso auf wie die Atmosphäre, die in diesen Gassen herrschte.

Schon für Menschen mussten die uralten Häuser, die kopfsteingepflasterten Straßen und die verwinkelten Hinterhöfe verzaubert wirken. Doch Ophelia nahm nicht nur die Gebäude der Menschen wahr, die größtenteils so eng beisammenstanden, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden der schmalen Straßen erreichte. Sondern sie sah auch all die verborgenen Gässchen, Portale und Häuser, die die Stadt in ein magisches Refugium verwandelten. Und das galt nicht nur für ihre oberirdischen Gefilde. Denn das wahre Gesicht der Anderwelt offenbarte sich erst unter den Straßen der Stadt.

Zügig schwebte Ophelia mit Tiberius durch ein schmiedeeisernes Tor, hinter dem scheinbar ein verlassener Hinterhof lag. Aber kaum dass sie das Tor passiert hatten, führten breite Stufen in die Tiefe, unter dem Fundament der Häuser hindurch. Ophelia eilte sie hinab, erleichtert, dem Regen zu entkommen. Sie streifte ihre Kapuze zurück. Und da breitete sich die Vergessene Gasse vor ihr aus – die unterirdische Hauptstraße der anderweltlichen Innenstadt, die besonders nachts zu buntem Leben erwachte.

Die Gasse wurde zu beiden Seiten von den vielgestaltigsten Häusern gesäumt. Bunte Holzhäuschen reihten sich an rußgeschwärzte Gebäude, diese wiederum an Türme mit Gittern vor den Fenstern. Früher hatten Menschen in diesen Wohnungen gelebt. Doch dann war die Stadt größer geworden und viele Gassen waren mitsamt ihrer Häuser als Fundamente für darüberliegende Gebäude verwendet worden. Seitdem lagen diese Häuser unter Tage. Und als die Menschen sich aus ihnen zurückgezogen hatten, übernahmen die Anderwesen sie und schufen ein gewaltiges Labyrinth von Straßen im Untergrund, dessen Mittelpunkt seit jeher die Vergessene Gasse war.

Hier lebten Alchemisten und Magier, es gab anderweltliche Pubs und Geschäfte, und hin und wieder steckte ein altes Gnomenweibchen neugierig den Kopf aus dem Fenster. Selbst Wäsche hing zum Trocknen zwischen den Gebäuden, fast genauso wie in den Straßen der Menschen. Nur dass es hier unten keinen Himmel gab, jedenfalls keinen, über den Sonne und Mond zogen. Stattdessen flirrten Schwärme von Irrlichtern darüber hinweg. Es war eben der Himmel der Unterwelt.

Ophelia liebte diesen Trubel und hätte am liebsten stundenlang in den zahlreichen Trödelgeschäften gestöbert. Aber sie tat es nur selten und auch dann nur heimlich, denn eine anständige Dunkle Fee hatte für Müßiggang und Klimbim nichts übrig. Deshalb – und weil sie außerdem viel zu oft viel zu spät dran war – bewegte sie sich meistens im Eiltempo durch die Vergessene Gasse.

So auch jetzt. Mit Tiberius auf der Schulter wich sie rasch den Anderwesen aus, die ihr in bunter Vielfalt entgegenkamen. Kobolde. Hexen. Geister. Und natürlich Feen. Helle, Dunkle und alle dazwischen. Sie hatte gerade den größten Trubel hinter sich gelassen, als eine Gestalt am Ende der Gasse ihre Aufmerksamkeit bannte.

Es war ein Dunkler Fae, hochgewachsen, das ebenholzfarbene Haar zurückgebunden. Er trug einen schwarzen Gehrock. Sein Gesicht war ebenmäßig und blass und seine Augen waren rot wie angefachte Kohlen. Obwohl er sich mitten in der Menge befand, sah Ophelia nichts anderes mehr als ihn – auch nicht den koboldschen Tuchhändler, der vor seinem Laden stand und ihr nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Sie lief mitten in ihn hinein.

»Sapperlot, diese Jugend!« Der Händler warf seine Ärmchen in die Luft. Naturgemäß war er als Kobold ziemlich klein. Er reichte Ophelia gerade einmal bis zur Brust. Doch das bedeutete nicht, dass man ihn einfach übersehen durfte, wie er nun lautstark verkündete.

»Es tut mir leid«, flüsterte Ophelia. »Wirklich!«

Sie wollte noch mehr sagen, wurde aber von einer Horde herandrängender Hexen weitergeschoben. In einem der Zauberläden gab es Besen zum Sonderpreis und die Hexen waren zu allem bereit.

Ophelia rettete sich an den Rand der Gasse und stellte erleichtert fest, dass der Dunkle Fae nichts von ihrem Zusammenstoß mitbekommen hatte.

»Du benimmst dich unmöglich«, stellte Tiberius fest. »Bist du ein verliebtes Menschenmädchen?«

Ophelia schnaubte. »Blödsinn. Aber Arion ist der mächtigste Lehrmeister der Stadt. Er hat Mino die unglaublichsten Dinge beigebracht. Er wird garantiert auch gleich im Schwarzen Zirkel sitzen und zusehen, wie ich für mein Versagen getadelt werde. Aber wenn er mich ausbilden würde wie Mino …«

»… dann könnte ich kein Wort mehr mit dir reden, weil ich mich nicht mehr in seine Nähe begebe«, unterbrach Tiberius sie. »Arion mag mächtig sein, aber er ist auch ein Mistkerl. Ich kenne niemanden, der arroganter ist als er.«

»Das sagst du nur wegen der Sache mit dem Tintenfass. Warum versuchst du auch, heimlich durch sein Fenster zu gucken? Du weißt doch, dass kein Magier Fremde in sein Haus lässt.«

»Aber ich wollte ja nur schnell mal einen Blick hineinwerfen«, erwiderte Tiberius mit einem Anflug von Verlegenheit. »Wie sollte ich ahnen, dass das solche Konsequenzen haben würde?«

»Vielleicht weil du uns Feen schon eine ganze Weile kennst?«, fragte Ophelia zurück. »Das Haus eines Magiers ist wie ein offenes Buch für alle, die seine Geheimnisse herausfinden wollen. Und Geheimnisse sind das Kostbarste, das ein Zauberer hat. Sie sind die Basis aller Magie.«

»Du klingst wie eins deiner staubigen Bücher aus der Akademie.« Tiberius nieste wie zur Veranschaulichung. »Ich werde nie verstehen, was du an den alten Schinken so faszinierend findest.«

»Bücher sind Magie, so einfach ist das«, stellte Ophelia fest. »Genauso wie das Haus eines Zauberers. Ich habe dir doch erzählt, dass mein Großvater nur seine engsten Vertrauten ins Haus lässt. Und selbst die dürfen nur bis ins Vorzimmer. So machen es alle Magier, und Arion ist da keine Ausnahme. Es war also ziemlich klar, dass du bei deinem Spähversuch auf der Nase landest.«

»Auf dem Schnabel meinst du wohl. Und von Landung kann keine Rede sein. Ich bin kopfüber ins Tintenfass gefallen, hast du das vergessen?«

Ophelia musste lachen. »Du bist in Arions Falle getappt, würde ich sagen. Und er ist nicht gleich arrogant, nur weil er dir nicht das Gefieder trockengeföhnt hat. Sei lieber froh, dass er dir für deine Neugier keinen härteren Denkzettel verpasst hat. Ich kenne einige Magier, die dich dafür lebendig geröstet hätten. Meinen Großvater eingeschlossen.«

Tiberius schluckte. »Dabei hatte ich ja gar nichts Böses vor. Ich wollte mir Arions Palast einfach mal von innen ansehen.«

»Verständlich«, gab Ophelia zu. »Er sieht schon von außen beeindruckend aus. Und die Lage auf dem Hügel der Meister ist fantastisch.«

Der Hügel der Meister erhob sich mitten in der Stadt. Die Menschen nannten ihn Calton Hill. Allerdings standen dort oben nicht nur jede Menge historische Monumente, sondern auch die Paläste der mächtigsten Feen der Stadt.

»Ich mag deine Eiche ja sehr«, meinte Tiberius, »aber ich hätte auch nichts dagegen, wenn du eines Tages dorthin umziehen würdest.«

»Das dauert noch eine Weile«, sagte Ophelia. »Erst muss ich mich bewähren, bevor ich bei einem Meister in die Lehre gehen darf. Und das heißt, dass ich in der Heulenden Eiche wohnen und in der Akademie jede Menge Lektionen über die Geschichte der Feen über mich ergehen lassen muss. Und noch viel mehr.«

Tiberius duckte sich, als ein Schwarm Irrlichter aus einem Hexenladen stob und dicht über ihn hinwegjagte. »Regelmäßige Ausflüge in die Dunkelheit«, begann er. »Seelentransporte durch selbige. Gesangsstunden. Auswendiglernen allerlei merkwürdiger Lieder. Kampfkunst für den Fall, dass eine Seele frech wird. Und anstandsloses Betragen. Habe ich was vergessen?«

»Ja«, murmelte Ophelia. »Überleben.«

Als Dunkle Fee hatte sie ein ausgezeichnetes Gehör. Sie hatte den Schall der oberirdischen Kirchturmglocken gefühlt, noch bevor er nun durch die Unterwelt hallte und die dreizehnte Stunde anzeigte, wie die Feen sie nannten: die Stunde nach Mitternacht, in der das Leben der Anderwelt besonders ausgelassen tobte.

Ophelia beschleunigte ihre Schritte. Sie schwebte an zwei Geistern vorbei – Geister hassten es, wenn man mitten durch sie hindurchglitt, und rächten sich gern mit schrecklichem Geheul – und bog in einsame Seitenstraßen ab. Der letzte Glockenschlag war noch nicht verklungen, als sie vor einem finsteren Gebäude stehen blieb.

Es sah aus wie ein kleines Schloss. Ein ziemlich düsteres allerdings, denn es war pechschwarz. Erker und Balkone zierten die Fassade, spitze Türmchen bohrten sich in den steinernen Himmel und rot erleuchtete Fenster starrten zu Ophelia herab. Sie zog die Schultern an. Eigentlich war das Gebäude ganz nach ihrem Geschmack. Als Dunkle Fee hatte sie einen Hang zu allem, was düster, zwielichtig und unheimlich war. Sie mochte auch nächtliche Friedhöfe, verlassene Ruinen und Nebel, der geisterhaft über die Hügel vor der Stadt strich. Ja, sie hatte sogar eine Schwäche für kopflose Reiter. Doch dieses Haus war etwas anderes. Es war der Sitz des Schwarzen Zirkels, und für Ophelia in etwa so einladend wie die Burg von Graf Dracula für einen Menschen.

Tiberius zog den Kopf zwischen die Flügel. »Lass dich nicht einschüchtern. Es mag in der Dunkelheit zuletzt nicht so gut für dich gelaufen sein. Aber du hast es ja nicht absichtlich so weit kommen lassen.«

»Das ist dem Schwarzen Zirkel ziemlich egal«, sagte Ophelia missmutig. »Was in der Dunkelheit vorgefallen ist, darf einfach nicht passieren. Und wenn doch, folgen Konsequenzen. Welche genau werde ich gleich erfahren. Wenn ich es schaffe, durch das Portal zu gehen.«

Schweigend starrten sie auf das Eingangsportal. Es sah aus wie ein gefräßiges Maul, das bevorzugt unfähige Dunkelfeen verspeiste.

»Sehr einladend«, murmelte Tiberius. »Mir fallen spontan so ungefähr fünftausendzweihundertundneunzehn Dinge ein, die ich lieber täte, als da durchzugehen.«

»Mir auch«, erwiderte Ophelia.

Tiberius blickte sie von der Seite an. »Und wenn du verduftest und ein geruhsames Dunkelfeenleben führst?«

Ophelia musste grinsen. »Wie soll das denn aussehen?«

»Keine Ahnung«, gab Tiberius zu. »Stressfrei vor allem und ohne irgendwelche unheimlichen Zirkel und nervigen Ausbildungen.«

»Du hast ja auch nicht aufgehört, das Fliegen zu üben, nur weil du ungefähr dreitausend Mal auf dem Schnabel gelandet bist.«

»Viertausend«, murmelte Tiberius. »Mindestens.«

»Und jetzt stell dir vor, du hättest einfach aufgegeben. Stell dir vor, du wärst ein Rabe, der nicht fliegen kann. Würde dir das etwa gefallen?«

»Nicht sonderlich«, gab Tiberius zu. »Dann würden mir die Krähen nur noch auf dem Schnabel herumtanzen. Sie behaupten ja jetzt schon, dass ich ein lausiger Rabenvogel wäre, weil ich angeblich nichts vom Stehlen verstehe und auch nicht gerade zu den Superkriegern meines Volkes gehöre. Dabei sage ich: Die Motivation muss stimmen, das ist alles. Aber ein Rabe, der nicht fliegen kann, ist kein richtiger Rabe.«

»Genau so geht es mir auch«, meinte Ophelia. »Ich bin eine Dunkle Fee, ich will tun, was Dunkle Feen tun. Ich will die Seelen durch die Dunkelheit führen, ich will die schönsten Lieder singen, die die Welt je gehört hat, ich will mächtige Magie wirken, so wie alle Fae meiner Familie. Und ich will in den Schwarzen Zirkel aufgenommen werden und Zugang zu den geheimsten Bereichen der Anderwelt bekommen.«

»Du meinst die Bibliothek der Finsternis?«, fragte der Rabe gelangweilt. »Noch mehr staubige Bücher, wie toll.«

»In ihnen stehen die mächtigsten Zauberformeln aller Zeiten«, sagte Ophelia begeistert. »Mino hat mir davon erzählt, die Bibliothek soll ein magischer Ort sein voller Geheimnisse. Stell dir nur mal vor, dass der ganze Berg unter der Akademie gefüllt ist mit Büchern!«

»Ich stelle es mir vor«, erwiderte Tiberius. »Nur verstehe ich nicht, was an einem Haufen Papier so großartig sein soll. Auch wenn es ein sehr großer Haufen ist.«

Ophelia verdrehte die Augen. »Dort kann man lernen, dunkle Zauber zu wirken, die stärksten Zauber überhaupt. Und man kann noch viel mehr über die Anderwelt erfahren. Mino hat immer gesagt: Es gibt so viele Grenzen und so viel Wissen und Abenteuer dahinter! Ich will das alles kennenlernen, so wie alle Nachtgesangs. Offenbar brauche ich ein bisschen länger als der Rest meiner Familie. Aber mein Großvater hat mir beigebracht, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss. Und das hier ist mein Weg. Auch wenn er nicht einfach ist.«

Mit neu entfachter Entschlossenheit fixierte sie das Portal des Schwarzen Zirkels und konnte spüren, wie die dreizehnte Stunde immer weiter fortschritt. Sie musste sich jetzt in Bewegung setzen, wenn sie Dorothy nicht die Genugtuung ihres Lebens verschaffen wollte.

»Und ich sag dir was«, meinte Tiberius mit demselben kämpferischen Unterton, mit dem er gegen jeden in die Schlacht gezogen wäre, der Ophelia herausforderte: »Wenn du das wirklich willst, dann wirst du es auch schaffen. Vertrau mir. Immerhin bin ich ein Rabe.«

Ophelia lächelte. »Und es gibt niemanden …«, fing sie an.

»… der klüger ist als ein Rabe«, vollendete Tiberius ihren Satz. »Jedenfalls nicht, wenn ich dieser Rabe bin.« Er hüpfte auf einen Mauervorsprung. »Soll ich hier auf dich warten?«

Ophelia winkte ab. »Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird. Und ich will nicht riskieren, dass du dich wieder mit den Steintrollen in die Haare kriegst, weil du auf ihren Felsen herumspazierst und sie zerkratzt.«

Tiberius beäugte den Stein unter sich. »Na gut«, krächzte er. »Aber sollte Demetrius dich zu Asche verbrennen, wird er mich kennenlernen. Ich picke ihm ins Auge und blende ihn. Und ich mache ihm einen riesigen Rabenhaufen mitten auf den Kopf. Dagegen kann selbst er nichts tun. Auch wenn du zugegebenermaßen nicht mehr viel davon hättest, so zu Ascheflocken zerbröselt.«

»Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt.« Ophelia nickte ihm zu und setzte sich in Bewegung.

Als sie das Portal erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um. »Tiberius«, rief sie und lächelte. »Danke.«

Tiberius neigte den Kopf. Ein warmer Glanz schimmerte in seinen Augen. »Jederzeit, Heldin Ophelia!« Er warf dem Sitz des Schwarzen Zirkels noch einen Blick zu, der fast genauso düster war wie das Gebäude selbst. Dann breitete er die Flügel aus und flog davon.

Ophelia musste die Klinke nicht berühren, um die Tür zu öffnen. Stattdessen hielt sie einfach die Hand in gebührendem Abstand darüber. Trotzdem spürte sie die Kälte des Silbers. Die Tür schob sich einen Spaltbreit auf, und Ophelia ging in das rote Licht hinein – Schritt für Schritt ihrem Schicksal entgegen.

»Ophelia Nachtgesang!«

Ihr eigener Name brauste Ophelia in einer Lautstärke entgegen, dass sie instinktiv die Schultern hochzog. Sie hatte noch nicht einmal die Vorhalle mit der riesigen Marmortreppe durchquert, als auf dem obersten Absatz eine Gestalt auftauchte: spindeldürr, die aschegrauen Haare in seltsamen Spiralen hochgedreht und in ein Kostüm gekleidet, das mehr an eine Zwangsjacke erinnerte als an ein auch nur einigermaßen bequemes Outfit. Aber bequem war ein Begriff, den die Trägerin dieses Kleidungsstücks ohnehin nicht kannte, oder jedenfalls billigte sie ihn nicht. Das konnte man sehen, sobald man Dorothy ins Gesicht schaute: dieses kantige, unzufriedene Gesicht mit den stechenden hellroten Augen.

»Ophelia Nachtgesang«, polterte ihre Stimme über jede einzelne Stufe nach unten und schlug Ophelia wie ein lebendiger Vorwurf ins Gesicht. »Du. Bist. Zu. Spät!«

Ophelia beeilte sich, die Treppe hinaufzukommen. Sie wusste, dass es nichts brachte, mit Dorothy zu diskutieren. Aber sie konnte es einfach nicht lassen. »Gar nicht wahr«, gab sie zurück. »Im Brief stand dreizehnte Stunde, und die haben wir doch noch. Oder etwa nicht?« Sie schaute direkt in Dorothys kaltglühende Augen.

»Es ist eine Sache des Respekts, pünktlich zu erscheinen«, sagte die in abfälligem Ton. »Umso mehr nach deinem Vergehen. Aber Anstand und Wohlerzogenheit habe ich bei dir von Anfang an vergebens gesucht – wie man an deiner Kleidung sieht. Es ist wirklich ein Jammer!«

Ophelia hätte mindestens ein Dutzend Dinge aufzählen können, die ein Jammer waren. Dorothys Frisur zum Beispiel. Ihre Stimme. Oder ihr Geschrei, wenn Ophelia sie just in diesem Moment und natürlich ganz aus Versehen die Treppe hinuntergeschubst hätte. Für eine Dunkle Fee war das zwar nicht besonders gefährlich – aber schon der Gedanke an Dorothys fassungsloses Gesicht hellte Ophelias Stimmung auf. Allerdings verkniff sie sich jeden weiteren Kommentar. »Wir sollten gehen«, sagte sie nur. »Oder soll ich Demetrius erzählen, dass ich zu spät komme, weil du unbedingt mit mir plaudern wolltest?«

Dorothy kniff die Lippen noch eine Spur fester zusammen. Dann rauschte sie in zackigen Bewegungen davon.

Ophelia musste zusehen, dass sie hinterherkam. Schließlich blieb Dorothy vor einer großen schwarzen Tür stehen. Sie war mit der Gestalt einer Dunklen Fee verziert, die langen Haare im Wind wehend, den Blick fest auf den Betrachter gerichtet.

Wie immer hielt Ophelia bei ihrem Anblick den Atem an. Es war Morgana, die mächtigste Fee aller Zeiten. Sie hatte vor langer Zeit gelebt, zur Ära der Ersten Feen, und noch immer war sie das Vorbild für jede Dunkle Fee. Selbst für Dorothy offenbar, die jetzt bewundernd zu ihr aufsah. Dann schien sie sich daran zu erinnern, dass sie nicht allein war, und beugte sich zu Ophelia herab.

»Morgana würde sich für dich schämen«, raunte sie ihr zu. »Mir war gleich klar, dass du es zu nichts bringen wirst. Deine berühmte Familie ist Vergangenheit. Du bist nichts als ein Nordlicht aus den Hügeln, und was will man da schon erwarten? Ich wusste, dass du nie eine richtige Dunkle Fee sein würdest. Du hast dich von Anfang an viel zu leicht ablenken lassen. Du missachtest immer wieder die Regeln. Und du hast keine Ahnung, was der Tod bedeutet, was in unserem Geschäft nun wirklich eine Schande ist. Ich ging fest davon aus, dass du früher oder später wie Philippa enden würdest, diese verrückte alte Todeskrähe.«

Ophelia wäre Dorothy für ihr dämliches Grinsen am liebsten ins Gesicht gesprungen. Die verrückte Philippa war das beste Beispiel dafür, wie Ophelia nicht enden wollte. Niemand wollte so enden wie sie. Philippa hauste am Fluss in einem verfaulten Baum, sie war nicht ganz richtig im Kopf und hatte gerade einmal genug Kraft, um Vögel und andere kleine Tiere ins Totenreich zu bringen. Wenn Ophelia ihr zufällig in der Stadt begegnete, strengte sie sich hinterher in der Akademie immer besonders an. Unter den Schülern gab es keine größere Beleidigung, als mit Philippa verglichen zu werden.

»Ja«, sagte Dorothy lang gezogen. »Ich dachte wirklich, du würdest mal werden wie sie. Aber da habe ich das Ausmaß deines Versagens auch noch nicht vorausgeahnt. Jetzt würde ich eine ganz andere Zukunftsprognose für dich erstellen. Um genau zu sein bin ich sehr zuversichtlich, dass wir uns gerade zum allerletzten Mal unterhalten haben.«

Ophelia wurde eiskalt bei diesen Worten, doch sie ließ sich nichts anmerken. »Das wäre schön«, meinte sie. »Aber wie ich mich kenne, habe ich nicht so viel Glück.«

Dorothy schnaubte. Sie hätte Ophelia gern noch weiter eingeschüchtert, das sah man ihr an, und auch, wie wütend sie war, dass dieses Nordlicht von einer Dunkelfee stattdessen frech zu ihr heraufgrinste. Mit eisiger Miene klopfte sie drei Mal an die Tür und beobachtete, wie Ophelia eintrat. Lautlos schlug die Tür zwischen ihnen zu.

Ophelia war erleichtert, Dorothy entkommen zu sein. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an. Genau genommen exakt bis zum Anblick von Demetrius.

Der Herrscher des Schwarzen Zirkels schwebte in der Mitte des Raumes mehrere Handbreit über dem Boden. Er hielt die Augen geschlossen. Sein nachtdunkles Gewand flatterte wie in einem Sturm, obwohl sich kein Lüftchen regte, und schien mit den Schatten zu verschwimmen. Er hatte die Arme ausgebreitet, sein Gesicht zeigte einen Ausdruck stiller Anspannung. Lichtfäden züngelten aus seinen Fingern und verschwanden in den schwarzen Spiegeln, die an den Wänden standen.

Ophelia wagte nicht, sich zu rühren. Diese Spiegel waren Portale. Portale zu anderen Fae und Orten … und in andere Welten.

Ophelia wusste, dass Demetrius ihre Anwesenheit längst bemerkt hatte. Sie konnte es spüren. Seine Aufmerksamkeit fühlte sich an wie ein Regenschauer, nur dass sie nicht heiß war, sondern eiskalt. Aber jetzt konzentrierte er sich auf die Spiegel.

Kurz meinte Ophelia, in einem davon einen dornenumrankten Torbogen erkennen zu können, in blaues Licht getaucht. Demetrius streckte die Hand nach dem Spiegel aus. Prompt wurde das Bild darin vergrößert und zeigte einige Dornen an der rechten Seite des Torbogens. Gleich darauf wurde der Spiegel schwarz. Ophelia fragte sich wie schon so oft, was Demetrius wohl in diesen Spiegeln sehen konnte. Die Vergangenheit, die Gegenwart? Vielleicht sogar die Zukunft? Wie eine Antwort auf ihre Fragen glitt etwas wie Sorge über sein Gesicht. Was konnte einem mächtigen Fae wie Demetrius Sorgen bereiten?

Er ließ die Arme sinken und schwebte zu Boden. Sein Zauber erlosch in prasselnden Funken, kurz wirkte er wie eine Statue aus Nacht und Sternenlicht. Wie jedes Mal, wenn sie ihm begegnete, fiel Ophelia auch jetzt auf, wie alterslos er aussah. Sein halblanges Haar war silbern, sein Körper der eines Kriegers. Dass er tatsächlich einer war, zeigten die feinen Narben in seinem Gesicht, an seinem Hals und an den Händen. Er hatte schon viele Zauber gefangen, und das beeindruckte Ophelia tief. Mitten in ihre Bewunderung hinein öffnete Demetrius die Augen.

Sie waren nicht rot wie bei den meisten anderen Dunkelfeen, sondern von einem hellen, klaren Blau. In ihnen wohnte die Kälte, die Ophelia in jeder Faser ihres Körpers spüren konnte, und ihr Mund wurde vor Ehrfurcht staubtrocken. Manchmal hatte sie einen tanzenden Funken in diesen Augen bemerkt, der verriet, dass Demetrius nicht nur aus Eis und Magie bestand. Doch jetzt war davon nichts zu sehen. Ophelia musste all ihre Kraft aufwenden, um nicht zu zittern.

»Ophelia Nachtgesang«, sagte Demetrius streng. Seine Stimme klang wie ein grollendes Ungeheuer, das nur mühsam im Zaum gehalten wurde. »Komm näher.«

Ophelia hatte eigentlich vorgehabt, so ehrenvoll wie möglich auf ihn zuzuschweben. Aber jetzt war sie viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Zittern unter Kontrolle zu halten. Plump wie ein Mensch tapste sie über die Runen, die den Boden bedeckten und uralte Zauber bargen. Mit gesenktem Kopf blieb sie vor Demetrius stehen.

»Es ist noch nicht lange her, seit du zuletzt hier warst«, meinte er. »Ich hatte die Hoffnung, dich nicht so bald wiederzusehen.«

Es war merkwürdig, einen mächtigen Fae wie Demetrius von etwas wie Hoffnung reden zu hören. Normalerweise gaben die Dunklen Feen sich mit allzu menschlichen Regungen nicht ab, und dass Demetrius es ausnahmsweise doch tat, drückte noch schwerer auf Ophelias Stimmung. Sie hatte ihn enttäuscht. Konnte es etwas Schlimmeres geben? Wie eine Antwort tauchten die Ascheflocken vor ihrem geistigen Auge auf.

»Ich auch«, sagte sie schnell, um dieses Bild loszuwerden. »Ich meine, ich hatte auch gehofft, dass ich nicht so schnell wieder …« Sie verstummte, denn sie kam sich vor wie ein dummes kleines Mädchen.

Demetrius schwieg und brachte sie so dazu, ihn anzusehen. »Ich weiß«, erwiderte er dann, und ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Du erinnerst mich an deinen Vater. Dieselben wachsamen Augen. Und das Lächeln hast du von deiner Mutter. Ich kämpfte Seite an Seite mit ihnen im Krieg der Feen. Ihr Verlust sitzt noch immer tief. Und nicht nur ihrer.« Er schwieg und Ophelia wusste, dass er an Mino dachte, ihren Bruder. Auch er hatte einst auf diesen Runen gestanden. Und vielleicht hatte Demetrius genau dieselben Worte zu ihm gesagt.

»Ich weiß, dass die Vorkommnisse in der Dunkelheit nicht deine Absicht waren«, fuhr Demetrius fort. »Leider ändert das nicht das Geringste. Die Folgen dieser Ereignisse waren schwerwiegend. In wenigen Augenblicken werden alle Vorstände des Zirkels anwesend sein. Dann werden sie entscheiden, was mit dir geschieht. Doch nicht sie allein.«

Ophelia hob die Brauen. Wovon sprach Demetrius? Würde der Schwarze Zirkel einen Troll hervorzaubern, der sich aussuchen konnte, welches Bein von ihr er zuerst verspeisen wollte?

»Ein Troll ist schwer zu bändigen«, meinte Demetrius und machte so deutlich, dass er wieder einmal Ophelias Gedanken gelesen hatte. »Es wäre also unklug, ein solches Exemplar hierher zu holen. Nein. Diejenige, die mitentscheiden wird, was mit dir passiert … bist du selbst.«

»Ich?«, fragte Ophelia kaum hörbar.

Demetrius nickte. »Und dazu lass mich dir einen Rat geben. Auch ich war einmal jung, so jung wie du jetzt. Und auch ich stand immer wieder vor Entscheidungen, die all mein weiteres Handeln bestimmt haben. Heute kann ich sagen: Die besten Entscheidungen waren die, die ich trotz meiner Angst getroffen habe. Damit meine ich nicht die Angst, die vor offensichtlicher Gefahr warnt, sondern die Angst, die tief im Inneren lauert und jeden Gedanken lähmt und jedes Gefühl, und die beides verwandelt, bis man sich selbst fremd geworden ist. Es erfordert Mut, diese Angst nicht zu beachten und auf das zu hören, was wirklich wichtig ist. Dein Großvater hatte diesen Mut ebenso wie deine Eltern und Mino. Wenn du heute deine Entscheidung triffst, denke an meine Worte.« Und leise fügte er hinzu: »Es mag mehr davon abhängen, als selbst ich begreifen kann.«

Ophelia verstand nicht, was er mit diesem letzten Satz ausdrücken wollte, und als sie ihn ansah, war sie nicht einmal mehr sicher, ob er ihn wirklich ausgesprochen hatte. Dafür hatte sie aber alles, was er davor gesagt hatte, klar und deutlich gehört. Sie nickte. »Ich werde daran denken«, versprach sie. »Nur nicht, wenn ich zu Asche verbrannt werde. Denn Asche kann nicht denken, soviel ich weiß.«

Für einen Wimpernschlag glomm er auf, der tanzende Funke in Demetrius’ Augen. Dann nickte er. »Die anderen sind eingetroffen«, raunte er. »Der Schwarze Zirkel kann beginnen.«

Demetrius hob die Hand und ließ einen Lichtfunken zu Boden fallen. Er schlug donnernd auf. Gleißende Adern zogen durch die Runen auf die Spiegel zu, knisterten darüber hinweg und machten sechs Feen sichtbar, drei weibliche und drei männliche. Ophelia kannte sie alle.

Amira, deren Stimme schöner war als alles, was Ophelia bisher gehört hatte. Elaine, die im größten See der Stadt lebte und jedes Gewässer leuchten lassen konnte. Nika, die älter war als die meisten anderen Feen und mehr wusste als die weisesten Bücher. Dann Silenos mit den Haaren aus Schnee, der jedes seiner Worte in einen Orkan verwandeln konnte. Cosmo, der aussah wie ein Kind und doch fast so alt war wie Nika. Und Arion, der selbst die dunkelsten Zauber in traumschönen Gesang kleiden konnte und mit seiner magischen Kraft jeden in den Bann schlug. Ophelia schluckte. Arion wirkte genauso erhaben wie vorhin in der Vergessenen Gasse.

»Der Schwarze Zirkel ist eröffnet«, verkündete Demetrius. Er war an den Rand getreten und verharrte zwischen den Spiegeln von Arion und Amira. »Ophelia Nachtgesang ist unserem Ruf gefolgt. Tritt vor.«

War Ophelia sich gerade noch wie ein tapsender Mensch vorgekommen, fühlte sie sich jetzt wie ein betrunkener Rabe. Sie stolperte vorwärts und blieb auf der Rune in der Mitte des Raumes stehen.

»Nachtgesang«, murmelte Silenos und musterte Ophelia von Kopf bis Fuß. »Es erstaunt mich, dich schon wieder hier zu sehen. Du entstammst einer ehrwürdigen Familie. Dein Großvater war einst ein mächtiger Magier, ehe er sich zur Ruhe setzte. Deine Eltern kämpften im Krieg der Feen – diesem düsteren Ereignis, das beinahe den Schleier zwischen den Welten niedergerissen hätte. Viele Feen stellten sich damals gegen Demetrius und den Schutz dieser Grenze, doch deine Eltern gehörten zu seinen tapfersten Kriegern und gaben ihr Leben für unser aller Sicherheit. Sie waren Helden.«

Ophelia nickte. »Und ich will so stark werden wie sie. So stark wie alle Nachtgesangs.«

»Wie fast alle, meinst du wohl«, warf Cosmo ein. »Dein Bruder Mino war ein begabter junger Magier. Er lernte schnell und unter Arions Anleitung machte er dem Namen Nachtgesang zunächst alle Ehre. Und doch ist er am Ende in die Dunkelheit gefallen.«

Ophelia schluckte. So nannte man es, wenn man in der Dunkelheit verloren ging, weil man in all der Finsternis den Verstand verlor, und schließlich mit dem Leben dafür bezahlte.

»Ja«, unterbrach Elaine ihre Gedanken. »Mino war nicht so ein großer Krieger, wie alle dachten. Als der unheilvolle Adámas heimtückisch nach dem Schleier zwischen den Welten griff, wurden große Hoffnungen in Mino gesetzt. Und tatsächlich spürte er Adámas in der Dunkelheit auf und stellte sich ihm zum Kampf. Aber er versagte. Wäre Arion nicht gewesen …«

»Mino hat tapfer gekämpft«, ergriff Arion das Wort. Seine Stimme legte sich sanft um Ophelias Schultern und linderte die Anspannung, in die die anderen sie versetzt hatten. »Adámas war zu mächtig. Nicht grundlos wird er der Herr derDunkelheit genannt. Selbst mir ist es nur knapp gelungen, ihn in die Flucht zu schlagen, und ich bin ein ausgebildeter Krieger. Mino hat alles getan, was in seiner Macht stand, um Adámas zu besiegen.«

Cosmo stieß die Luft aus. »Nicht sonderlich erfolgreich jedenfalls. Hätten wir uns auf ihn allein verlassen, würde unsere Welt heute ganz anders aussehen.«

Sein Blick brannte sich in Ophelias Fleisch. Aber wie immer, wenn sie an Mino dachte, hörte sie seine Stimme in ihren Gedanken: diese dunkle, melodische Stimme, die die herrlichsten Töne hervorbringen konnte und sie immer getröstet hatte, ganz gleich, wie traurig sie gewesen war. Und auch wenn Mino nicht mehr da war – diese Kraft hatte seine Stimme selbst in ihrer Erinnerung immer noch.

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