Enzo - Luca Dal Monte - E-Book

Enzo E-Book

Luca Dal Monte

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Beschreibung

Enzo Ferrari – Mensch und Mythos Respektiert, geachtet, gefürchtet, verehrt – in Italien war Enzo Ferrari schon zu Lebzeiten eine Mischung aus Nationalheld und Heiliger. Geboren 1898, zeigte er schon früh eine Begeisterung für motorisierte Fahrzeuge. Sein Einstieg in die Welt des Motorsports war jedoch hart erkämpft. Vor allem als Rennfahrer für Alfa Romeo tat er sich hervor und holte mehr als ein Dutzend Siege für die junge Marke. Trotzdem erkannte Enzo, dass seine Fähigkeiten als Fahrer begrenzt waren. Mit dem Einsatz eigener Rennwagen und mit dem Bau von Straßensportwagen formte er Ferrari in der Nachkriegszeit zu der Weltmarke, die wir heute kennen. Von sich, seinen Mechanikern und Fahrern verlangte er stets absolute Hingabe und stand als Patriarch absolut im Mittelpunkt des Unternehmens. Mit seinem Namen verbindet man glorreiche Siege im Motorsport wie auch bildschöne Sportwagen mit überragender Leistung. Auf mitreißende Weise zeichnet Luca Dal Monte das Leben einer der prägendsten Figuren des 20. Jahrhunderts nach. • Faszinierende Lebensgeschichte von Enzo Ferrari • Entwicklung und Gründung einer weltbekannten Automarke • Luca Dal Monte wirft einen bewegenden Blick hinter die Saga eines Mannes und seiner Marke

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Seitenzahl: 1069

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Luca Dal Monte

Enzo

Das Leben des Ferrari-Gründers

DELIUS KLASING VERLAG

Für Lodovica und Nicolò

INHALT

Modena

Der Zündfunke

Ein Traum wird wahr

Erste Liebe

Laura

Sieg!

Der Champion

Lyon

Exil

Die Rückkehr

Die Scuderia

Erfolg

Das Cavallino Rampante

Tazio und der Sheriff

Die Moll-Affäre

Kampf gegen die Silberpfeile

Das Ende der Illusionen

Schlechte Gewohnheiten

Der 815

Krieg und Frieden

Der »Ferrari«

Verfolgungsjagd

Revanche

Weltspitze

Hochverrat

Licht und Schatten

Ein ungleiches Paar

Tragödie

Die Kirche vs. Enzo Ferrari

»Ferrarina«

Freispruch

»Meine schrecklichen Freuden«

Der amerikanische Traum

David und Goliath

Turin

Abendliche Schatten

Der große Alte

Zwischenspiel

Der lange, heiße Sommer

Strömender Regen

Das verlorene Paradies

Das letzte Hurra

Der Patriarch

Siebenundzwanzig rot

Michele

Abendrot

Ferrari 90

Der Himmel kann nicht warten

Postskriptum

Anmerkungen

Index

Der Autor

KAPITEL1

Modena

Das exakte Geburtsdatum von Enzo Ferrari ist bis heute umstritten. Laut offizieller Dokumente ist er am 20. Februar 1898 zur Welt gekommen, doch Ferrari behauptete immer, es sei der 18. Februar gewesen – der Tag, an dem ihm seine Mutter bis zu ihrem Tod im Jahr 1965 stets ein Geburtstagstelegramm schickte, das mit den Worten »Deine dich liebende Mutter« schloss.1 In seiner Autobiografie führte er die Diskrepanz von zwei Tagen zwischen seiner Geburt und deren Eintragung auf besonders starke Schneefälle zurück, die seinen Vater daran gehindert hätten, das Standesamt in Modena zu erreichen.2 Diese Version wurde zu Ferraris Lebzeiten von allen akzeptiert.

Wenn man sich allerdings Unterlagen anschaut, werden für diesen Zeitraum nirgends starke Schneefälle in Modena erwähnt. Die Wetteraufzeichnungen der Stadt beschreiben den 18. Februar als »kalt und regnerisch«, erwähnen aber keinen Schnee. Tatsächlich war der Winter 1898 einer der wenigen des 19. Jahrhunderts, in dem in Modena überhaupt kein Schnee fiel.3

Und dann ist da noch die Tatsache, dass Enzos Vater das Standesamt der Stadt niemals erreichte. Die Geburt von Enzo Anselmo Giuseppe Maria Ferrari wurde von der Hebamme Teresa Allegretti angemeldet. Dass die Registrierung erst am frühen Nachmittag des 24. Februar anstatt in den ersten Stunden nach seiner Geburt stattfand, ist die wahrscheinlichste Ursache für den Datierungsfehler.4

Die echte Frage muss also lauten, warum die Registrierung, mangels starker Schneefälle, erst sechs Tage nach Enzos Geburt erfolgte, obwohl die Gesetze eine Eintragung unverzüglich nach der Geburt vorschrieben. Die Antwort findet sich direkt auf der Geburtsurkunde – handschriftlich vom Standesbeamten verfasst und über viele Jahre von allen übersehen. Nachdem er »die Geburt überprüft« hatte, befreite er die Hebamme davon, »mir das Kind wegen seines Gesundheitszustands zu zeigen«.5 Der kleine Enzo wurde erst sechs Tage nach seiner Geburt registriert, weil sein Überleben bis dahin ungewiss war. Zu dieser Zeit starb in Italien jedes vierte Kind vor seinem fünften Geburtstag und der Tod von Neugeborenen in den ersten Stunden oder Tagen nach der Geburt war nicht ungewöhnlich.

Die Geschichte vom schweren Schneefall klingt so, als hätten die liebevollen Eltern sie erfunden, um ihren Sohn vor der nackten Wahrheit zu schützen, warum er seinen Geburtstag am 18. Februar feiert, während in den offiziellen Papieren der 20. Februar steht. Möglicherweise hat Enzo irgendwann die Wahrheit erfahren, doch zu diesem Zeitpunkt war die Geschichte vom Schneefall mit ihren romantischen Verwicklungen und den zwei Geburtsdaten bereits Teil seiner Legende, sodass er es vielleicht einfach vorzog, die Dinge so zu belassen, wie sie waren.

Wenn also im amtlichen Dokument der Zeitpunkt seiner Geburt mit 3 Uhr morgens am Sonntag, dem 20. Februar 1898, angegeben ist, können wir davon ausgehen, dass Enzo Ferrari bereits am Freitag, dem 18. Februar, frühmorgens zur Welt kam.

Enzo wurde unweit seines Elternhauses in der kleinen Kirche Santa Caterina, auf der anderen Seite der Bahngleise, getauft.6 Er erhielt den Namen Enzo Anselmo, doch der zweite Name wird in Italien selten erwähnt und taucht normalerweise nur in offiziellen Papieren auf. Anselmo Chiarli war sein Patenonkel, ein Freund seines Vaters, der zusammen mit seinen Brüdern ein erfolgreiches Weingut in Modena bewirtschaftete.7

Enzos Vater Alfredo war ein Schlosser aus dem benachbarten Städtchen Carpi, wo Enzos Großvater unter der Kolonnade des Portico del Grano mit Blick auf den zentralen Platz eine kleine Drogerie führte.8 Alfredo wurde am 15. Juli 1859 geboren9, in dem Jahr, in dem Modena ins Königreich Italien aufgenommen wurden. Nachdem er eine Lehre in einer Schlosserei in Carpi beendet hatte, heiratete er und zog nach Modena, um in der Gießerei Rizzi bald zum technischen Direktor aufzusteigen. Mit mühsam erspartem Geld eröffnete er einige Jahre vor Enzos Geburt eine eigene Schlosserei.10

Alfredo achtete auf seine Kleidung und trug einen großen Schnurrbart, wie es damals üblich war. Obwohl er viel Aufmerksamkeit in seine Arbeit steckte, lud er seine Familie gern ins Theater ein und fand auch an der Musik Geschmack. In seiner Jugend hatte er Cello gespielt und im Haus gab es ein Klavier.11 »Er pflegte eine gute Kultur«,12 schrieb an seine Geschäftspartner Briefe in klarer, fester Handschrift, mit der er teilweise die Literatur des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts nachahmte. So schrieb er beispielsweise »7mber« statt »September« (»sieben« heißt auf Italienisch »sette«, im römischen Kalender war der September der siebte Monat).13

Bei Enzos Geburt war Alfredo ein wohlhabender mittelständischer Unternehmer, der Brücken und Überdachungen für die Eisenbahn baute. Vierzig Jahre nach der Vereinigung des Königreichs Italien wuchs das staatliche Eisenbahnnetz rapide an und Alfredo Ferrari, ein rastloser Arbeiter und sorgfältiger Verwalter, profitierte davon. Sein Unternehmen beschäftigte je nach Auftragslage zwischen zehn und dreißig Arbeiter.14

Die direkt neben dem Wohnhaus der Familie erbaute Schlosserei war etwa 90 Meter lang und mit einem Wellblechdach geschützt.15 An der Backsteinfassade war ein Schild angebracht: Costruzioni Meccaniche Alfredo Ferrari. Ein paar große Türen führten in einen begrünten Innenhof und zwei Fensterreihen ließen Tageslicht in die ansonsten unbeleuchtete Werkstatt.

Alfredo erledigte alle Aufgaben, die in seinem Unternehmen anfielen: als Manager, Konstrukteur, Buchhalter, Schreibkraft …16 Enzo sollte diese Lektion niemals vergessen: Wichtig ist, »die Dinge zu ordnen [und] über alles sorgfältig Buch zu führen«.17 Für den jungen Enzo war sein Vater ein lebendes Beispiel für Pflichterfüllung und starken Individualismus – vor allem als Geschäftsmann. Alfredo zog es vor, allein und vollständig autonom zu arbeiten statt in Partnerschaften, auch wenn dadurch das Risiko genauso geteilt würde wie der Gewinn. Seine Philosophie wurde durch das geschäftliche Credo unterstrichen, das Enzo erlernte und niemals vergessen würde: Um erfolgreich zu sein, sollte man keinem Partner Rechenschaft ablegen müssen, sondern unabhängig sein. Als er seine eigene Firma gründete, erinnerte sich Enzo daran, was ihn sein Vater gelehrt hatte – in lustiger Abwandlung, aber mit ernsten Absichten: Die Anzahl der Partner in jeder Firma muss immer eine ungerade Zahl sein – und möglichst »weniger als drei«. Damit war genau das gemeint, was sein Vater gemeint hatte: Keine Geschäftspartner!

Seine Mutter Adalgisa war eine geborene Bisbini. Eine wunderschöne Frau mit langem, dunklem Haar und markanten Gesichtszügen. Sie war freundlich und charmant und erweckte auch nach ihrer Hochzeit mit Alfredo Aufmerksamkeit bei anderen Männern.18 Sie wurde am 3. Juni 1872 im Dorf Marano sul Panaro, etwa 20 Kilometer südlich von Modena geboren.19

Adalgisa lehrte Enzo einfache Lebensweisheiten: »Ein Mensch, der gesund ist, ist reich, ohne es zu wissen.«20 Vor allem aber vermittelte sie ihm die festen Grundsätze, niemals aufzugeben, in der Arbeit stets einen Schutz vor den Rückschlägen des Lebens zu finden und im morgigen Tag immer einen neuen Anfang zu sehen.21 Es sollte auch eine schwierige und turbulente Beziehung werden, aber 67 Jahre lang war seine Mutter Enzos wahrer Bezugspunkt.

Das Familienleben war alles andere als harmonisch. Der Altersunterschied von fast dreizehn Jahren zwischen Alfredo und Adalgisa sorgte für ständige Tumulte innerhalb und außerhalb des Hauses. Beide waren mit ausgeprägten und starken Persönlichkeiten gesegnet und sie stritten sich oft und heftig – über nahezu alles und auf theatralische Art und Weise. Enzo gab selbst zu, dass die ständigen Streitigkeiten und unflätigen Ausdrücke einen großen Einfluss auf sein Wesen und seine Persönlichkeit hatten.22

Enzos Bruder Alfredo – genannt »Dino« – war eineinhalb Jahre älter als er. Die beiden Brüder teilten sich einen ungeheizten Schlafraum im zweiten Stock des Hauses neben der Werkstatt. Im Erdgeschoss befand sich ein großer Lagerraum für Werkzeuge und andere wichtige Dinge, darüber die Wohnung mit vier Zimmern. Trotz seiner Lage am Rande einer norditalienischen Stadt mit 50.000 Einwohnern hatte das Grundstück noch immer ein stark ländliches Flair. Hinsichtlich des Grundrisses und der Möblierung war das Haus spartanisch. Der einzige Luxus, den sich Alfredo, abgesehen von seinem geliebten Klavier, leistete, war eine Treppe aus rotem Marmor. Die Erinnerung an die »rosa« Marmortreppe sollte Enzo stets in Erinnerung bleiben.23

Enzo war keineswegs ein »schwieriger Junge«, allerdings bei Weitem nicht so diszipliniert und gehorsam wie sein Bruder. So zeigte er weder Interesse noch Geduld beim sonntäglichen Schulbesuch, den er wie alle Katholiken zur Vorbereitung auf die Sakramente der Erstkommunion und der Firmung leisten musste.

Der alte Pater Morandi, der Enzo im Pfarrhaus der Gemeindekirche Santa Caterina unterrichten sollte, ärgerte sich jedenfalls über dessen mangelnde Aufmerksamkeit.24 Adalgisa war von einer tiefen, aufrichtigen Religiosität beseelt (obwohl in Modena bereits die ersten Anzeichen sozialistischer Skepsis zu spüren waren, die bald die gesamte Region Emilia-Romagna erfassen sollte) und es fiel ihr schwer, Enzo zu nötigen, den Vorbereitungskurs zu beenden, damit er seine Erstkommunion empfangen und gefirmt werden konnte. Am Ende schaffte sie es und Enzo wurde am Pfingstsonntag 1903 von Monsignore Natale Bruni, der seit vier Jahren Bischof von Modena war, zur Erstkommunion und Firmung geführt.25 Die Brüder Enzo (5) und Dino (7) waren am Vortag zur Beichte gegangen – laut Enzo zumindest für ihn das erste und letzte Mal in seinem Leben. In der Gewissheit, nichts befürchten zu müssen, hatte Enzo arglos alle Schwächen gebeichtet, die er als Junge, der zum ersten Mal mit den Geheimnissen der Religion in Berührung kam, für Sünden gehalten hatte. Der Priester legte ihm jedoch eine dermaßen harte Buße auf, dass Enzo in Zukunft kein weiteres Bedürfnis mehr nach Beichte verspürte.26

Jeden Morgen gingen die beiden Brüder zur nahe liegenden Grundschule in der Via Camurri. Die Direktorin war eine alte, kleine, weißhaarige Dame, die Enzo ständig für seine Unaufmerksamkeit tadelte. Sie konnte nicht verstehen, wie zwei Brüder, die fast gleich alt waren und so sehr aneinander hingen, in der Schule dermaßen unterschiedlich sein konnten. Enzo saß gelangweilt an seinem Tisch und warte auf die Glocke, die das Ende des Unterrichts ankündigte. Dick, die riesige Deutsche Dogge, stand dann bereits vor der Schule, um die beiden Brüder abzuholen.27

Unter den vielen Sportarten, die Enzo ausübte, gefiel ihm Leichtathletik am besten, die dank der modernen Olympischen Spiele (seit 1896) in Italien sehr populär geworden war. Dino und Enzo hatten ihr eigenes Sportgelände und sie luden ihre Schulfreunde ein, darauf zu trainieren. Das Haus der Ferraris, das an der Via Camurri zwischen Feldern und Bahnlinie lag, war über einen ca. 180 Meter langen Feldweg erreichbar, der an einem mit Bäumen gesäumten Graben entlangführte. Mithilfe eines Maßbands aus der väterlichen Schlosserei wurde eine Strecke von 100 Metern exakt abgemessen und die Start- und Ziellinie mit Holzpfählen markiert.

Die Ferrari-Brüder hatten sich auf den Feldwegen zum Weingut der Familie Chiarli auch eine private Langstrecke eingerichtet. Dino besiegte seinen kleinen Bruder sowohl auf der Kurz- als auch auf der Langstrecke mit Leichtigkeit.

Enzo war nur in einer einzigen Sportart besser als alle anderen, sogar besser als sein geliebter Bruder. Er war besser als seine Freunde, zu denen auch Peppinoi, der Sohn des Lebensmittelhändlers zählte, ein weiterer Enzo, Sohn des Schulhausmeisters, Luciano, der beste Schüler seiner Klasse, und Carlo, der Sohn des Friseurs: Enzo war Meister im Tontaubenschießen. Nach langem Drängen hatte er seinen Vater davon überzeugen können, ihm ein Flobert-Gewehr zu kaufen, mit dem er auf Tonröhrchen schoss. Mehr Spaß hatten Enzo und Dino allerdings daran, auf Ratten schießen, die den Graben neben ihrem Haus bevölkerten.

Bald erkannte sein Vater, dass Enzos Interesse am Tontaubenschießen ihn dazu bringen könnte, mehr für die Schule zu tun, und er entwarf einen Plan, der Enzo je nach Schulnote eine bestimmte Anzahl von Patronen zusprach. Ohne die freundliche Vermittlung des 14-jährigen Toni, der sowohl als Schlosserlehrling in väterlichen Werkstatt arbeitete als auch die Jungen zu betreuen hatte, wäre Enzos Munitionierung deutlich schmaler ausgefallen.28

Die bei allen möglichen Sportarten gegeneinander kämpfenden Brüder Dino und Enzo verbündeten sich bei einer Aktivität, die aufgrund des zu jener Zeit rudimentären Kommunikationswesens in Mode war: der Taubenzucht. Ihr Vater hatte den beiden die Betreuung seiner Brieftauben übertragen. Während Dino sie trainierte, organisierte der zehnjährige Enzo die Teilnahme der Vögel an Wettbewerben in Modena und Umgebung.29 Im Nachhinein ist es einfach, in dieser organisatorischen Tätigkeit den Keim für Enzos spätere Berufung zu erkennen, die zunächst zur Scuderia Ferrari und später zur Firma führen sollte, die seinen Namen trug.

In Enzos Leben gab es vielleicht nicht genug zu lernen, aber er trieb viel Sport, hatte eine Leidenschaft für das Tontaubenschießen entwickelt und ein wachsendes Interesse am Organisieren. Er liebte auch Musik, genauer gesagt: musikalische Aufführungen. Trotz der Tatsache, dass sein Vater in der Jugend Cello und später zu Hause Klavier spielte, erlernte keiner seiner Söhne jemals ein Instrument. Doch liebten es beide, am Samstagabend mit den Eltern ins Theater zu gehen.

Enzo hatte eine Leidenschaft für Operetten, die traditionell im Teatro Storchi vor der Porta Bologna aufgeführt wurden: Die lustige Witwe, Die Geisha, Eva, Die Dollarprinzessin. In seinem Herzen hoffte er, ein berühmter Tenor zu werden. Mehr als von der Musik war der junge Enzo allerdings von der »extravaganten und törichten Welt« der darstellenden Künste begeistert – und vor allem von den Künstlerinnen.30 Tatsächlich waren es die »Showgirls, die neben den eingängigen Melodien der Grund« für seine Liebe zur Operette darstellten.31 Allerdings beendeten eine »schwache Stimme und mangelndes Talent« seine Karriere, bevor sie überhaupt beginnen konnte.32

Nach dem Theater ging die Familie gern auswärts essen. Oft führte es sie in ein kleines, familiengeführtes Restaurant im hinteren Teil des Lebensmittelgeschäfts Giusti in der Innenstadt von Modena, »wo das Essen köstlich war«.33 Obwohl sein Vater es nie erwähnt hatte, vermutete Enzo, dass die Wahl eines von einem Händler geführten Restaurants für ihn eine sentimentale Entscheidung gewesen war, weil es ihn daran erinnerte, dass er selbst Sohn eines Händlers aus Carpi war.34

Nach allem, was bekannt ist, verlief Enzos Leben im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts recht ruhig. Obwohl er nicht besonders privilegiert war, hatte Enzo sicherlich ein komfortableres Leben als die meisten seiner Zeitgenossen in Modena und dem Rest Italiens. Sein Vater Alfredo arbeitete jeden Tag von Sonnenaufgang bis weit nach Sonnenuntergang, machte aber samstags früher Schluss, um Zeit mit der Familie zu verbringen. Enzo schrieb ein halbes Jahrhundert später: »Es waren glückliche Zeiten, die nie zu enden schienen.«35

KAPITEL2

Der Zündfunke

Im Jahr 1903 florierten die Geschäfte von Alfredo Ferrari und er kaufte sich sein erstes Auto.1 Er wählte ein sehr frühes Einzylindermodell des größten Automobilherstellers der Welt – De Dion-Bouton – aus dem Jahr 1898. Enzo und sein Bruder, beide von der Mutter in identische kurzen Hose samt Hosenträgern, gestreifte Hemden und dünne Jacken gesteckt, saßen neben dem Vater und erlebten gewaltige Gefühlsausbrüche.2 Der De Dion-Bouton von Alfredo Ferrari war das 28. in der Provinz Modena angemeldete Auto und das erste, das der damals fünfjährige Enzo aus der Nähe sah.

Drei Jahre vor Enzos Geburt war am 24. September 1895 in Modena das erste Automobil gesichtet worden3: »Ein automatischer Wagen von Benz« hatte vom 180 Kilometer entfernten Mailand aus seinen Weg in die Stadt gefunden. Vier Modenesi durften damit ins 13 Kilometer westlich gelegene Rubiera fahren. Auch wenn die Fahrt nur eine halbe Stunde dauerte, sollte das Echo darauf den ganzen Herbst und Winter unzählige Gespräche füllen.

Ohne es zu ahnen, dass Modena eines Tages als Stadt des Sportwagens gelten würde, gewöhnten sich die Einwohner nach und nach an diese neuen Verkehrsmittel.

Am 6. September 1908 nahm sein Vater den zehnjährigen Enzo mit zu seinem ersten Autorennen. Dies erzeugte in seinem Herzen einen unauslöschlichen Funken.4 Diese frühe Begeisterung entfachte in ihm ein ewiges Feuer, eine Leidenschaft, der Enzo sein ganzes Leben widmen sollte. Später erinnerte sich Ferrari an ein besonders spannendes Rennen, die Coppa Florio, die in der Umgebung von Bologna auf unbefestigten Straßen unweit der berühmten alten Römerstraße Via Emilia ausgetragen wurde. Dort beobachtete der junge Enzo die eingestaubten Rennwagen von Felice Nazzaro und Vincenzo Lancia, die durch die Landschaft inmitten von Pappelalleen rasten und er begann, davon zu träumen, eines Tages auch seinen Namen auf den Autos zu lesen.

1908 war der italienische Motorsport in sein zweites Jahrzehnt eingetreten, aber es war immer noch ein sehr rauer Sport. Die Straßen waren nicht asphaltiert und die Rennen wurden zumeist über mehrere Stunden ausgetragen – meistens zu viele für die Zuverlässigkeit der Autos und die körperliche Ausdauer der Fahrer. Die bestenfalls abgesperrten Regional- und Provinzstraßen boten keinerlei Sicherheitsvorkehrungen (erst 1922 sollte in Monza die erste permanente Rennstrecke Italiens entstehen). Der Begriff »Rundkurs« wurde nur deshalb verwendet, weil die Fahrer die bis zu 60 Kilometer langen Strecken mehrmals hintereinander durchfahren mussten.

Für die Zuschauer, deren Anzahl von Jahr zu Jahr zunahm, gab es ebenfalls keine Schutzmaßnahmen. Seltsamerweise war es das Fehlen dieser rudimentären Sicherheitsmaßnahmen, die Enzo nach dem ersten Rennbesuch in Erinnerung blieb.

In der schwierigsten Kurve hatten die Organisatoren der Coppa Florio den Randbereich der Straße etwa 25 Zentimeter hoch mit Wasser geflutet. Die Idee war, damit von der Strecke abkommende Autos abzubremsen und so die (vermutlich auf trockenem Boden stehenden) Zuschauer, die sich in 30 bis 40 Meter Entfernung aufhielten, zu schützen. Der zehnjährige Enzo war fasziniert von der »harmlosen Aufregung durch das unerwartete Bespritzen von Zuschauern und Fahrern«.5

Enzo nahm aber auch sportliche Informationen auf. Der Sieger dieses ersten Rennens, das er sah, war Felice Nazzaro, der die 533 Kilometer lange Strecke nach acht Stunden mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 130 km/h beendet hatte. Vincenzo Lancia, der gerade seine eigene Autofabrik begründet hatte, fuhr die schnellste Runde.

1909 hatte Enzo sein zweites Rennen besucht, das ihn endgültig überzeugte. Er musste lediglich die Bahnlinie hinter dem Wohnhaus überqueren und 3,5 Kilometer über die Felder laufen, um die scheinbar endlose Gerade von Navicello zu erreichen, wo ein lokales Rennen mit dem großspurigen Namen Record del Miglio (Meilenrekord) abgehalten wurde.

Lancia und Nazzaro, die besten Fahrer der Coppa Florio von 1908, waren im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bekannte Namen des italienischen Motorsports, doch die Teilnehmer des Record del Miglio waren weit weniger berühmt. Und obwohl Fahrer wie Ceirano, Gioia, Scipioni, Carminati und Da Zara längst vergessen sind, haben sie mit ihrer Teilnahme an diesem besonderen Rennen die Welt des Motorsports indirekt mehr beeinflusst, als sie sich je hätten vorstellen können.

Das Organisationskomitee, die Associazione Modenese Automobilistica (AMA), hatte dreißig Anmeldungen erhalten, die Stadt war in Aufregung, die Begeisterung spürbar. Am Montag, dem 7. Juni 1909, kamen Männer aus Mailand, um die lange Strecke zu walzen, auf der am folgenden Sonntag das Rennen stattfinden sollte. Die ganze Woche über besuchten die Bürger von Modena den Sitz der AMA und die Geschäfte von Stanguellini und Palmieri, um Eintrittskarten für das Rennen zu kaufen. Am Samstag beobachtete die gesamte Stadt die Abnahme der einzelnen Fahrzeuge.

Am Sonntagmorgen begann es ein paar Stunden vor dem Rennen zu regnen. Dies hielt jedoch den aufgeregten Enzo nicht davon ab, das Haus bereits am frühen Morgen zu verlassen, um nach Nonantolo zu laufen und das zweite Autorennen seines Lebens nicht zu verpassen. Etwas später starteten auch Modenas Autobesitzer, um bis zur Streckensperrung um 13 Uhr den Ort des Geschehens zu erreichen. Wer, wie die allermeisten Einwohner der Stadt, kein Auto besaß und nicht, wie Enzo und sein Bruder, zu Fuß gehen wollte, konnte gegen eine moderate Gebühr von einer Lira die Kutschen der Organisatoren nutzen.

Der Regen hörte bald wieder auf und die Straße trocknete rasch wieder, sodass sie teilweise wieder benässt werden musste, um den Staub zu binden.

Das Durchschnittstempo des Siegers lag bei 145 km/h – es schien so, als ob die Fahrt jedes einzelnen Teilnehmers nur einen Wimpernschlag dauern würde. Da Zara legte die Meile bei seinem besten Versuch in 41 Sekunden zurück. Bei Enzo löste das Rennen heftige Emotionen aus, die nur noch von der Intensität der Spannung übertroffen wurden.

Nach diesem Rennen wurde Modena vom Rennsportfieber erfasst. Alle Einwohner erwarteten sehnlich das Rennen von 1910 – noch mehr, als bekannt wurde, dass der berühmte Felice Nazzaro unter den Teilnehmern sein sollte.6 Trotz seiner kurzen Geschichte – bisher nur ein einziges Rennen – war der Record del Miglio mangels anderer internationaler Rennen zu einem der wichtigsten Ereignisse des italienischen Motorsports geworden. Die wichtigsten Tageszeitungen schickten ihre Reporter nach Modena, um über den zweiten Durchgang zu berichten.7

Enzos Aufregung muss riesig gewesen sein: Nazzaro, der größte Rennfahrer Italiens und Sieger des ersten Rennens, das er zwei Jahre zuvor besucht hatte, sollte jetzt erneut vor seinen Augen vorbeirasen. Genauso Vincenzo Lancia, ein anderer großer Name des jungen Sports, den er bereits beim Rennen in Bologna im September 1908 gesehen hatte. Auch wenn er keine Aufzeichnungen darüber hinterlassen hat, kann Enzo den zweiten Durchgang des Record del Miglio nicht verpasst haben. Leider sollte das Rennen von 1910 auch das letzte seiner Art in Nonantolo sein.

Ein Unfall, in den zwei Fahrer und ihre Mechaniker verwickelt waren, beendete eine Veranstaltung, die in kürzester Zeit so viel Begeisterung ausgelöst hatte.

Im folgenden Jahr wurde in Modena ein bescheidener Gleichmäßigkeitslauf ausgerichtet, bei dem nicht der Schnellste gewinnen sollte, sondern derjenige, der einer im Voraus festgelegten Zeit am nächsten kam. Alle fünf Läufe wurden in der Stadt gestartet und beendet, der erste am 23. April 1911 und der letzte am 29. April. 25 Fahrer waren an den Start gegangen, darunter jedoch niemand von nationalem Ruhm. Lediglich Ernesto Ceirano erinnerte die Modenesi an den Record del Miglio.

Während seine Leidenschaft für Autos und Rennen wuchs, fiel es Enzo in der Schule immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er hatte einfach kein Interesse am Lernen. Seine Leistungen in der Grundschule waren schon schlecht, doch am Istituto tecnico, wo er drei Jahre blieb, wurde es noch schlimmer. Für einen Jungen, der verzweifelt seinem Vater nacheifern wollte, doch so sehr er sich auch anstrengte, nicht so sein konnte wie sein Bruder, fühlte sich Schule wie Zeitverschwendung an.

Papà Alfredo und Mamma Adalgisa hatten ihm immer wieder gesagt, wie wichtig ein Studium für das Leben sei, aber es hatte nichts genützt. Sein Vater, mit dem Enzo sich mit zunehmendem Alter immer mehr stritt, drängte ihn unablässig, sein Studium abzuschließen, was Alfredo selbst nie geschafft hatte. Er wollte, dass Enzo Ingenieur wird und zusammen mit seinem Bruder das Familienunternehmen weiterführt. Leider war ausgerechnet Mathematik Enzos schlechtestes Fach. Für Geografie interessierte er sich nur oberflächlich, aber Geschichte mochte er, zudem liebte er es, Aufsätze und Abhandlungen zu schreiben. Obwohl er nie eine spezielle Ausbildung im Schreiben erhalten hatte, meinte er, dass er »gar nicht so schlecht darin« sei.8 Weil er echte Freude an der Literatur hatte, begann Enzo, sich halbprofessionell journalistisch zu betätigen – es sollte die zweite seiner jugendlichen Leidenschaften werden.

Als im Sommer 1914 in weiten Teilen Europas ein Krieg ausbrach, begann der 16-jährige Enzo, der inzwischen die städtische Berufsschule besuchte, nachmittags ein Praktikum bei der konservativer Tageszeitung Provincia di Modena. Die Zeitung war einige Jahre zuvor von Luciano Zuccoli geleitet worden, der mit seiner Doppelkarriere als Schriftsteller und Journalist Enzos Fantasie so sehr angeregt hatte, dass er davon träumte, eines Tages Chefredakteur seiner Lokalzeitung zu werden.

Im letzten Friedensjahr verbrachte Enzo immer mehr Zeit in der Zeitungsredaktion, wo er die Techniken der Berichterstattung erlernen wollte. Er trug keine große Verantwortung, da er kaum mehr als ein Laufbursche war – aber es war ein Anfang. Selbst wenn er die Chance erhielt, eine Geschichte zu schreiben, wurde ihm nie die Ehre zuteil, eine Schlagzeile zu erschaffen.

Im November 1914 erschien sein Name schließlich doch noch – in der Mailänder Sportzeitung La Gazzetta dello Sport. Tatsächlich hatte der junge Enzo es in diesem Monat geschafft, gleich drei Artikel unter seinem Namen zu veröffentlichen. Alle drei waren Berichte über die sonntäglichen Fußballspiele der oberen Liga in Modena. Die erste Geschichte wurde am Montag, dem 2. November, gedruckt, die anderen erscheinen am 16. und 23. November.

Nachdem er sich zunächst hoffnungslos in den Autorennsport und den Nervenkitzel der Geschwindigkeit verliebt hatte und dann Journalismus auf seine Interessenliste gepackt hatte, begann Enzo nun damit, anderen, eher gewöhnlichen Attraktionen seine Aufmerksamkeit zu schenken. Wie sein Freundeskreis hatte er das andere Geschlecht entdeckt. Mit 16 verliebte er sich in eine 14-jährige, doch trotz Enzos Bemühungen wollte das Mädchen nichts von ihm wissen. Wenn er ihr begegnete, schaute sie nicht einmal auf. Sie sprachen nie miteinander. Sämtliche Annäherungsversuche stießen auf Gleichgültigkeit – laut Enzo »die schrecklichste alle Waffen«.9

In einer Sommernacht machte sich Enzo – trotz Mückenplage – erstmals Hoffnungen auf das wahre Leben.10 Es war der Sommer 1915 und Enzo war 17. Er war bei seinem alten Freund Peppino, dem Sohn des Lebensmittelhändlers, der in einem schönen Haus hinter der väterlichen Werkstatt lebte. Die beiden standen an der Stadtgrenze im flackernden Licht einer Gaslaterne und Peppino fragte Enzo, was er später einmal machen wolle. Ferrari gestand ihm, was bis dahin nur seine geheime Leidenschaft war.

Enzo hielt ihm die Seite 9 der seit 1901 in Turin erscheinenden Wochenillustrierten La Stampa Sportiva hin, die dazu beigetragen hatte, die sportlichen Ambitionen von Enzo und Dino zu fördern.

In seiner Hand hatte er die Nummer 26 vom 27. Juni 1915 und etwa in der Mitte war auf dem kleinsten von drei Fotos der in Italien praktisch unbekannte Ralph DePalma zu sehen. Das Magazin berichtete, dass er der Gewinner des diesjährigen Indianapolis 500 sei, einem Autorennen auf einem 2,5 Meilen (ca. 4 km) langen Oval im US-Bundesstaat Indiana.

»Ich werde Rennfahrer«,11 beantwortete Enzo die Frage seines Freundes und zeigte auf das kleine Foto von DePalma, der mit Hemd und Krawatte hinter dem Lenkrad eines Rennwagens zu sehen war. Was Enzo für sich behielt, waren die Gedanken, die hinter seiner Überzeugung standen: »Wenn DePalma das kann, warum sollte ich es nicht können?«12

»Gut«, sagte sein Freund. »Wenn du es schaffst, wird es ein wunderbarer Job sein.«

Es war der Sommer 1915. Italien hatte am 23. Mai Österreich-Ungarn den Krieg erklärt, eine Woche vor DePalmas Sieg in Indianapolis. Das Land wurde von einer starken nationalistischen Leidenschaft erfasst.

Enzo schien es nicht besonders reizvoll zu finden, auf dem Schlachtfeld Ruhm zu erlangen, doch von seinem Bruder konnte dies nicht behauptet werden. Zu Hause gab es bald Diskussionen zwischen Dino und seinem Vater, wobei die Mutter als Friedensstifterin auftrat und verzweifelt versuchte, ihn davon abzuhalten, Soldat zu werden. Doch Dino setzte sich durch und trat in die Armee ein.13

Dank Alfredos drittem Auto, einem aus Turin stammenden Diatto mit Dreiliter-Vierzylinder-Motor wurde Dino dem Korps des Roten Kreuzes zugeteilt. Er pendelte mit dem zum Krankentransporter umgebauten Wagen zwischen der Front und den Lazaretten im Hinterland hin und her.

Enzos Alter (17) schützte ihn vorerst vor der Einberufung zum Militär. Doch wenn der Krieg nicht bald zu Ende gehen würde (damals glaubten nur wenige, dass er länger als ein paar Monate dauern würde), würde er im folgenden Jahr eingezogen werden.

Nachdem er die dritte Klasse im Istituto tecnico nicht abgeschlossen hatte, war seine Schulzeit endgültig vorbei.14 Im Oktober fand er dank der Erfahrungen, die in der Firma seines Vaters gesammelt hatte, einen Job in der Werkstatt der Feuerwehr von Modena. Er wurde als Ausbilder eingestellt, um diejenigen zu unterrichten, die eingezogen worden waren, aber »aufgrund ihres Alters, wenn sie in einer wichtigen Werkstatt beschäftigt waren, vom Militärdienst befreit werden konnten«.15 Jeder Kurs dauerte drei Monate. Danach wurden sie zur Munitionsfabrik in Modena geschickt, einem der zahlreichen Unternehmen, die für die Kriegsproduktion umgerüstet worden waren.

Einen Tag vor dem Jahreswechsel legte sich Alfredo Ferrari mit hohem Fieber ins Bett. Es begann als Bronchitis, entwickelte sich aber rasch zu einer schweren Lungenentzündung.16 Am 2. Januar 1916 verstarb Alfredo mit gerade einmal 56 Jahren.

Durch den Tod seines Vaters verlor Enzo einen wichtigen Bezugspunkt. Ohne Vorwarnung war Alfredo schwer erkrankt und rasch verstorben – etwas mehr als einen Monat vor Enzos 18. Geburtstag.

Der plötzliche Verlust seines Vaters war der erste große Schmerz in Enzo Ferraris Leben – der erste von vielen und vielleicht derjenige, der den Mann formen sollte, der er einmal werden würde. Diese Erinnerungen – nicht nur an seinen Vater, sondern auch an dessen plötzlichen Tod – sollten ihn nie wieder verlassen.

Bevor das Jahr 1916 zu Ende ging, wurde Enzo von einer weiteren Tragödie erschüttert. Am 16. Dezember verstarb sein Bruder Dino in Sondalo (Provinz Sondrio). Nach einem Jahr Krieg hatte er sich ebenfalls eine Lungenentzündung zugezogen, die aufgrund der prekären Lebensumstände der Soldaten auch bei ihm rasch zum Tod führte.17 Dino wurde nur 20 Jahre alt.

In weniger als zwölf Monaten hatte sich Enzos Leben auf den Kopf gestellt. Sein Vater und sein Bruder waren von ihm gegangen. Der plötzliche Tod seines Vaters drohte – unter anderem – das Wohlergehen der Familie Ferrari zu gefährden. Seine Mutter und er konnten nicht von dem kleinen Einkommen leben, das Enzo als Ausbilder für die Waffenproduktion verdiente. Darüber hinaus waren Präzisionsmaschinen aus der Werkstatt seines Vaters von der Armee für die Kriegsproduktion beschlagnahmt worden.

Fünf Monate vor dem Tod seines Bruders hatte Enzo im Juli 1916 seinen lang ersehnten Führerschein erhalten. Es war eine der wenigen Freuden in diesem tragischen Schicksalsjahr. Inmitten von so viel Elend und Ängsten ermöglichte ihm die Fahrlizenz mit der Nummer 1363 wenigstens das Vergnügen, von Zeit zu Zeit am Lenkrad des Scacchi (ebenfalls aus Turin) zu sitzen, den sein Vater gekauft hatte, nachdem Dino mit dem Diatto in den Krieg gezogen war. Vielleicht war dies der Moment, in dem Enzo Ferrari begann, das Auto als Mittel zur Freiheit zu erkennen – nicht nur zur Bewegungsfreiheit, sondern auch zur Freiheit von Unsicherheiten und Lebensängsten.

An einem wunderschönen Sommertag im Jahr 1917 fuhr Enzo mit seinem Scacchi die Berge des Apennin hinauf. Als er im Städtchen Sestola ankam, entschied er, sich zu prüfen und die Fahrzeit bis zum ca. 20 Kilometer entfernt liegenden Dorf Pavullo zu stoppen. Die anspruchsvolle Strecke führt durch endlose enge Kurven mit einigen schnellen Geraden dazwischen – schwierig, aber auch spaßig. Er war 19 Jahre alt und trotz des Krieges und der Verluste von Vater und Bruder war seine Leidenschaft für den Motorsport nicht erloschen. Das Leben konnte immer noch schön sein.

Als er in Pavullo ankam, versammelten sich ein paar Männer und Jungen um das Auto und seinen Fahrer. Enzo sah fast so elegant aus wie ein Chauffeur aus der Stadt, aber nicht wie ein Rennfahrer, wie die Helden seiner Kindheit – Nazzaro und Lancia. Dieser Moment wurde von einem Fotografen festgehalten. Enzo mit der Fliegerbrille auf der Mütze ließ den Stolz erkennen, einer der wenigen glücklichen und talentierten Menschen zu sein, die ein Automobil beherrschten – ein Gerät, das für die meisten immer noch ein Mysterium darstellte. Auf der Rückseite notierte Enzo:

Sestola – Pavullo

Nach dem Überfall

Hinzugefügt sind die Länge der Strecke und die Eigenschaften des »Kurses« sowie die dafür benötigte Zeit. Die Straße war demnach »26 Kilometer und 475 Meter lang mit Steigungen von bis zu 12 Prozent«. Die Fahrzeit notierte er mit »36 Minuten und 12 Sekunden«.18 Als Datum ist Donnerstag, der 19. Juli 1917, angegeben.

Enzo diente weiterhin als Ausbilder in der Feuerwehrschule von Modena. Der Krieg hatte sich festgefahren und schien kein Ende zu nehmen. Dann durchbrachen in der Nacht zum 24. Oktober die Österreicher die Front in der Nähe von Caporetto (heute: Kobarid, Slowenien). Was zu einem anstrengenden Eindämmungskrieg geworden war, wurde plötzlich zu einem Kampf um die Zurückdrängung der Angreifer.

Die Generalmobilmachung erreichte noch nie dagewesene Ausmaße. Alle 1899 geborenen jungen Männer wurden zu den Waffen gerufen. Auch diejenigen, die in den vorangegangenen drei Jahren aus verschiedenen Gründen nicht eingezogen wurden, mussten zur Armee. Außerdem wurden strengere Maßnahmen bei den Musterungen erlassen. Viele, die bisher weit entfernt von der Front in irgendwelchen kriegswichtigen Einrichtungen gearbeitet hatten, wurden zudem in die Kampfgebiete verlegt.

Enzo wurde aufgefordert, seinen Posten aus Ausbilder aufzugeben und der Armee beizutreten. Einzufinden hatte er sich im dritten Regiment der Alpen-Artillerie im Val Brembana nördlich von Bergamo – und damit weit weg von der Front bei Caporetto. Trotz seiner rudimentären Fähigkeiten als Mechaniker und seines (zu dieser Zeit noch seltenen) Führerscheins wurde er als Hufschmied für Maultiere eingesetzt.19 Dies war vielleicht nicht die passendste Beschäftigung entsprechend seiner Fähigkeiten, aber es ersparte ihm das Elend der Schützengräben. Nach einigen Monaten erkrankte er an der spanischen Grippe und aus Angst, er würde wie sein Vater und sein Bruder enden, schaffte er es, sich umgehend in ein Militärkrankenhaus in Brescia einweisen zu lassen. Dank seiner Mutter, die nicht noch ihr letztes Familienmitglied verlieren wollte, kam er bald in ein Krankenhaus in Bologna, unweit von Modena. Zwar war er von den Kämpfen und der psychischen und physischen Zermürbung der Schützengräben verschont geblieben, aber die lange Rekonvaleszenz in zwei Hospitälern hatte ihn tief getroffen. Sein Überleben war lange Zeit nicht sicher, umgeben von hoffnungslosen Fällen verbrachte er »schreckliche Tage« und fürchtete, dass sein Ende nahe war.20

Das Umfeld, in dem Enzo um sein Leben kämpfte, ähnelte dem aus dem Roman In einem anderen Land von Ernest Hemingway, nur fehlte ihm die Poesie und Sinnlichkeit von dessen Prosa. Enzo erinnerte sich später: »Es gab eine schattige Allee, die ich von meinem Fenster aus sehen konnte: Die Menschen und die ganze Welt da draußen schien mir so weit weg und unerreichbar zu sein.«21 So war es tagsüber; nachts hörte er die in den Gängen des Krankenhauses widerhallenden harten Schläge. Vielleicht kannte er die Antwort bereits, traute sich aber lange Zeit nicht nachzufragen, woher diese Geräusche genau kamen. Dann fasste er sich ein Herz. Die Krankenschwester, eine junge Kriegswitwe, die ihn pflegte, gab zunächst nur ausweichende Antworten, doch bald sagte sie ihm die Wahrheit: Was er Nacht für Nacht hörte, war der Klang der Hämmer, mit denen die Holzsärge zusammengenagelt wurden, in denen die an diesem Tag verstorbenen Kameraden beigesetzt werden sollten.22

Erst nach zwei Operationen und einer langen Erholungszeit kehrte Enzo nach Modena zurück. Ein unvergessliches Erlebnis.

KAPITEL3

Ein Traum wird wahr

Der Erste Weltkrieg – la grande guerra – endete in Italien am 4. November 1918.

Seit endlich wieder Frieden herrschte, fand das Automobil rasch viele Liebhaber. Wer vom Krieg profitiert hatte und nun reich war, sehnte sich nach dem neuen Transportmittel. Die Jugend betrachtete es als Symbol der Modernität. Während des Krieges hatten mehr als 100.000 Männer Kontakt zu Pkw, Lkw und Krankenwagen gehabt – als Fahrer, Mechaniker oder Techniker. Sie hatten die Kriegsschauplätze mit tiefer Abscheu vor Gräueltaten, aber auch mit großer Zuneigung zum Automobil verlassen. Auf ihre Art waren sie die Protagonisten des Beginns einer neuen Ära – dem Zeitalter des Verbrennungsmotors. Jetzt suchten alle nach einer Arbeit in Friedenszeiten, die es ihnen ermöglichte, sich weiterhin mit Autos zu beschäftigen. Die Wagemutigsten von ihnen dachten darüber nach, Rennfahrer zu werden.1

Einer von ihnen war Enzo Ferrari.

Im Herbst 1918 war Enzo bereit für einen Neustart. Der Krieg hatte seiner Familie einen hohen Blutzoll abgefordert: Sein Vater und sein Bruder waren tot. Das Familienunternehmen war fast vernichtet. Nur noch seine liebevolle, aber auch vereinnahmende Mutter war ihm geblieben. Es dauerte nicht lange, bis er erkannte, dass trotz seiner Liebe zu ihr und seiner Zuneigung zu Modena seine Zukunft woanders liegen würde.

Ausgerechnet seine Mutter war es, die ihm ein Vorstellungsgespräch mit Diego Soria, dem kaufmännischen Direktor bei Fiat in Turin, ermöglichte.2 Bereits vor dem Krieg hatte Fiat 4.000 Mitarbeiter, nach Kriegsende hatte sich die Belegschaft mehr als vervierfacht.3 Mit etwas Glück würde auch Enzo dort eine Stelle finden.

Um ihn daran zu hindern, Rennfahrer zu werden – Enzo hatte einmal die Absicht geäußert, das Haus der Familie zu verkaufen, um ein Rennauto zu finanzieren –, war seine Mutter zu allem bereit, um ihm den Zugang zu einem Automobilhersteller zu verschaffen. Sie war davon überzeugt, dass Enzo jede Stelle in der Autoindustrie annehmen würde. Enzo nahm die Hilfe seiner Mutter an und setzte sich in den Zug nach Turin, denn er hatte die Hoffnung, eine Stelle als Testfahrer zu bekommen. Seine Intuition sagte ihm, dass dies der erste Schritt zu einer Karriere als Rennfahrer sein würde. Immerhin besaß er einen Führerschein und grundlegendes Wissen über die Technik eines Automobils.

Im November 1918 war der Krieg erst seit wenigen Wochen zu Ende.

In Turin wurde Enzo vom Ingegner (Ingenieur) Diego Soria im Fiat Hauptgebäude in der Corso Dante empfangen. »Voller Hoffnung«4 ging er in das Gespräch. Soria war einer der wichtigsten Führungskräfte bei Fiat. Sein Büro war mit Holzmöbeln und grünen Vorhängen ausgestattet. Der Mann selbst trug kurzes, rotes Haar. Noch ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich Enzo an jedes Detail dieses verhängnisvollen Gesprächs.5

So herzlich das Gespräch auch war, es endete mit einer totalen Enttäuschung. Soria teilte Enzo höflich mit, dass Fiat leider nicht alle Kriegsveteranen einstellen könne.6 Statt Enzo heuerte Fiat tatsächlich Carlo Salamano an, der kurz darauf in den Fiat-Rennstall aufgenommen wurde, was Enzos Intuition bestätigte.7

Enzo hatte ehrlich, wenn auch etwas naiv, gehofft, bei Fiat Arbeit zu finden. Darum ließ ihn die höfliche, aber ablehnende Antwort von Soria verzweifeln. Er hatte kein Geld, keinen Job und nicht vor, nach Modena zurückzukehren. Während er durch den Parco del Valentino am Ufer des Po entlangspazierte, war er so überwältigt, dass er den Schnee von der Parkbank fegte, sich setzte und weinte.8 Obwohl dies in seinem Leben ein seltener Moment echter Verzweiflung war, entschloss er sich, nicht aufzugeben und in der italienischen Automobilmetropole zu bleiben.

Das erste Weihnachtsfest in Friedenszeiten seit vier Jahren verbrachte Enzo in Turin und lebte von seinen immer kleiner werdenden Ersparnissen. Anfang Januar 1919 fand er Arbeit in einer Werkstatt in der Via Ormea in Turin. Ein Mann namens Giovannoni, ein Bekannter von Enzos Vater, der selbst aus Bologna nach Turin gekommen war, hatte hier eine kleine Reparaturwerkstatt eröffnet, in der ein paar Leute die Fahrgestelle kleiner Militärlastwagen so umgestalteten, dass darauf Pkw-Karosserien montiert werden konnten.

Enzos Aufgabe war die Feinabstimmung der umgebauten Fahrgestelle, die er dann persönlich zum Karosseriebauer Carrozzeria Italo Argentina in Mailand bringen musste. Obwohl die Verhältnisse in der Werkstatt in der Via Ormea nicht mit dem Umfeld und der Motivation vergleichbar waren, die Enzo bei Fiat vorgefunden hatte, war er bei Giovannoni glücklich. Von Anfang an hatte er erkannt, dass die »Rolle des Arbeitnehmers alles in allem gar nicht so schlecht« war. Und auch wenn ihm die Kälte, das geringe Wissen und die bescheidene Entlohnung »manchmal körperliche und emotionale Schmerzen« bereiteten, stelle sich Enzo all dem mit Enthusiasmus entgegen, da er erkannte, dass dies die Art von Arbeit war, die er »schon immer machen wollte«.

Enzo verbrachte seine Tage von nun an zwischen Turin und Mailand. Wegen der spanischen Grippe, die in jenen Wintermonaten immer noch täglich 450 Todesopfer forderte, waren in Italien sämtliche Bars und Cafés geschlossen. In Turin waren die beiden Kaffeehäuser, in denen sich vor dem Krieg Automobilenthusiasten getroffen hatten – das Burrello und das Allaria – ebenfalls geschlossen. Nur die Bar del Nord nahe des Bahnhofs Porta Nuova war überfüllt. Hier trafen sich Motorsportfans aus der ganzen Stadt, um ihrer gemeinsamen Leidenschaft zu frönen. Enzo wurde Stammgast. In der Gesellschaft von Vorkriegsrennfahrern und Fliegerassen aus dem Krieg fühlte er sich in seinem Element. Er hatte sogar die Gelegenheit, Felice Nazzaro, den Helden seiner Jugend und Sieger des ersten Rennens, das er sich angeschaut hatte, sowie dessen Bruder Biagio kennenzulernen.9

Die Nachmittage und Abende in der Bar del Nord fesselten und faszinierten Enzo. Aufgrund seiner Leidenschaft und seiner Kompetenz war auch seine Meinung bald gefragt und geschätzt. In den lebhaften Diskussionen schien der Schritt vom umgebauten Fahrgestell zum Rennwagen nur sehr klein zu sein und Enzos Freunde fragten sich bald, wann wieder Motorsportaktivitäten aufgenommen würden. Sein Traum, Rennfahrer zu werden, den er seinem Freund Peppino im ersten Kriegssommer verraten hatte, gewann jetzt, im ersten Winter nach dem Krieg, neue Kraft. Immer, wenn er ein umgebautes Fahrgestell an die Carrozzeria Italo Argentina in Mailand auslieferte, kehrte Enzo dort in die zentral gelegene Bar Vittorio Emanuele ein, wo die Kundschaft aus Sportlern bestand. Einige von ihnen waren vor dem Krieg sogar Rennfahrer gewesen. Eines Tages traf er den ehemaligen Radrennfahrer Ugo Sivocci, dessen Bruder Alfredo immer noch aktiver Radsportler war. Ugo, inzwischen Motorsportler, hatte 1913 bei der Targa Florio den sechsten Platz belegt (Felice Nazzaro hatte gewonnen). Er war jetzt Angestellter von CMN (Costruzioni Meccaniche Nazionali), einer frisch gegründeten, kleinen Autofirma. Unmittelbar nach Kriegsende hatte CMN die Automobilfabrik von De Vecchi übernommen, für die Sivocchi bei der Targa Florio gestartet war. Weil er von Enzos sachkundigem Enthusiasmus begeistert war, sprach Ugo mit seinem Chef, dem jungen Ingenieur Piero Combi, über ihn. Rasch wurde ein Vorstellungsgespräch vereinbart, woraufhin Enzo eine Stelle angeboten wurde.

So verließ Enzo kurz vor Ostern 1919 Turin und zog nach Mailand. Der Lohn war mit fast 400 Lire pro Monat gut und das Doppelte eines normalen Mechanikerlohns. Mit dieser Anstellung nahmen sein »Hungerprobleme« ein Ende.10

Bei CMN wurden Komponenten des Autobauers Isotta Fraschini sowie Dreilitermotoren auf nagelneue Fahrgestelle montiert. Die Vierzylinder-Monoblock-Triebwerke waren die ersten, die Enzo aus der Nähe sah, und so begann seine dauerhafte Leidenschaft für Motoren.11 Combi wollte nicht nur Autos aus Bauteilen anderer Hersteller zusammensetzen, sondern auch eine eigene CMN-Baureihe starten, um die steigende Nachfrage nach Autos zu befriedigen.12

In den ersten Junitagen herrschte im Café große Aufregung – das erste Indianapolis 500 nach Kriegsende war vom französischen Autobauer Peugeot gewonnen worden. Es war einst der Sieg von DePalma in Indianapolis gewesen, der Enzos Interesse an Autorennen geweckt hatte. Nur vier kurze Jahre waren seit dem Sommer 1915 vergangen, als er seinem Freund Peppino das Foto gezeigt hatte.

Zur Enttäuschung aller Stammgäste des Cafés waren in Italien immer noch keine Autorennen geplant; Gleiches galt für den größten Teil des kriegsgebeutelten Europas. Im Sommer wurde bekannt, dass das kleine und vom Krieg verschonte Dänemark das erste Nachkriegsrennen in Europa ausrichten wollte – es war für den 24. August auf der Nordseeinsel Fanø angesetzt. Keine Zeitung hatte darüber berichtet, doch die Kunden des Cafés erfuhren es direkt von Ferdinando Minoia, einem der Stammgäste, der als einziger Italiener zu diesem Rennen eingeladen worden war – und es am Steuer eines 130 PS starken Fiat gewinnen sollte.13

Angestachelt von Minoias Sieg spürte Enzo, der mit Sivocci zusammenarbeitete, »zum ersten Mal frühe Symptome einer kleinen Berufung«14 für den Motorsport. Er kaufte den ersten Rennwagen von CMN zu einem günstigen Preis. Als Sicherheit verpfändete er sein Gehalt für die nächsten Monate. Als sich in Modena die Nachricht verbreite, dass Enzo sein ganzes Geld für ein Rennauto ausgegeben hatte, nannten ihn die Leute »verrückt«, was sich erst nach einigen Jahren ändern sollte. Der CMN 15/20 entwickelte aus einem 2,3-Liter-Vierzylindermotor 36 PS, die immerhin für eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h gut waren.15 Nicht gerade ein Ausbund an Leistung, aber immerhin ein Anfang.

Im September kam die Nachricht, auf die Enzo und seine Cafékollegen gewartet hatten: Das erste Nachkriegsrennen Italiens war für den 5. Oktober angesetzt – als Bergrennen von Parma nach Poggio di Berceto. Alle italienischen Autohersteller, Rennfahrer und angehenden Rennfahrer – auch Enzo – hatten einen persönlichen Brief vom Sekretär des Organisationskomitees enthalten. Weil die kriegsbedingten Einschränkungen noch nicht aufgehoben waren, war es Herstellern weiterhin untersagt, an Rennen teilzunehmen, doch das Verbot galt nicht für einzelne Fahrer, die sich selbst anmeldeten.16

Enzo war verständlicherweise aufgeregt. Sein Traum sollte in Erfüllung gehen. Er war 21 Jahre jung und sollte bald das erste Rennen seines Lebens bestreiten. Was ihm an Erfahrung fehlte, wollte er durch Kenntnisse wettmachen. Parma liegt nur 40 Kilometer von Modena entfernt und die kurvigen Straßen den Apennin hinauf unterschieden sich nicht sonderlich von denen, die südlich von Modena in die Berge führten.

Das Bergrennen Parma – Poggio di Berceto von 1919 war das dritte seit seiner Premiere im Jahr 1913, als es im Rahmen der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des Opernkomponisten Giuseppe Verdi ausgetragen wurde. Italiens Presse bezeichnete die Neuauflage hochtrabend als »automobile Wiedergeburt« der Nation.17 Insgesamt 38 Fahrer meldeten sich an – darunter Enzo. In einem ausführlichen Bericht über das Rennen nannte die größte Sportzeitung Italiens Enzo Ferrari einen Favoriten seiner Klasse – erstaunlich, weil er ja ein Neuling war.18

Am Rennsamstag trainierten die Fahrer bei starkem Regen. Am Sonntagmorgen hatte der Regen aufgehört, aber es war kalt und nebelig. Trotz des Wetters bevölkerten Tausende Fans die 53 Kilometer lange Rennstrecke zwischen Parma und Berceto, um ihre Helden zu bewundern. Die lange Unterbrechung des Motorsports hatte ihren Appetit noch verstärkt. Manche waren Hunderte Kilometer angereist, über 500 Autos parkten ordentlich auf beiden Seiten der Rennstrecke.19

Als erster Fahrer startete Carlo Alberto Conelli um 8:30 Uhr mit seinem Aquila. In der Zwischenzeit hatte im südlichen Teil der Strecke ab Fornovo wieder Regen eingesetzt. Enzo ging um 10:55 Uhr an den Start. Sein CMN in »nicht identifizierbarer Farbgebung« trug auf dem Kühlergrill und den Motorhauben die aufgepinselte Startnummer 22.20

Enzos Leistung war nicht überragend, aber für einen 21-jährigen Amateur bei seinem ersten Renneinsatz durchaus akzeptabel. Neben ihm saß Nino Berreta, ein ihm völlig fremder Zuschauer, der sich freiwillig bereit erklärt hatte, die Beifahrerrolle des »mitfahrenden Mechanikers« zu übernehmen, wie es das Reglement vorsah.21 Enzo fuhr seinen CMN auf den fünften Platz seiner Klasse (bis 3.000 cm3 Hubraum) und wurde Gesamtzwölfter. Nachdem ein Fahrer disqualifiziert worden war, rutschte er jeweils um einen Platz nach vorn.

Das kleine Preisgeld für seinen vierten Platz brachte ihm auch ein wenig den Segen seiner Mutter ein, um seine Rennsportbemühungen fortzusetzen. Gesamtsieger des Rennens war wie vorhergesagt Antonio Ascari im Fiat S 57/14B geworden.

In den Zeitungsberichten des folgenden Tages wurden Enzos Leistungen mit keinem Wort erwähnt. Ignoriert von der Presse, aber offenbar inspiriert von seiner eigenen Leistung und begierig darauf, sein Talent auf höherem Niveau zu testen, nahm Enzo rasch eine Einladung zur Teilnahme an der berühmten Targa Florio an, die für den 23. November geplant war.22

Enzo reiste dazu am Steuer seines Rennwagens nach Sizilien. In der Tasche hatte er gerade einmal 450 Lire. Mit einem weiteren CMN nahm sein Freund und Kollege Ugo Sivocci an der Reise teil, begleitet wurden die beiden von ihren Mechanikern Nino Conti und Ripamonti.

Die vier Männer fuhren auf der Via Emilia nach Rimini, um von dort die Adriaküste entlangzufahren. Ab Pescara überquerten sie den Höhenzug der Abruzzen nach Westen. Als sie auf der Hochebene von Cinquemiglia eines Nachts im Schnee feststeckten, entdeckten sie ein Rudel hungriger Wölfe. Bevor ihnen Ranger mit Schusswaffen und Fackeln zur Hilfe kommen konnten, gab Enzo Schüsse aus seiner stets unter dem Fahrersitz mitgeführten Pistole ab, um die Tiere zu vertreiben.23 Offensichtlich war seine jugendliche Leidenschaft für das Tontaubenschießen gepaart mit einem tief empfundenen Sicherheitsbedürfnis im unruhigen Nachkriegsitalien.

Sie erreichten Neapel gerade noch rechtzeitig, um auf die Fähre Città di Siracusa zu gelangen.24 Nach einer stürmischen Nacht auf See kamen die vier Männer mit ihren zwei Rennwagen in Palermo an, wo die Targa Florio ihr Hauptquartier hatte. Enzo und seine Begleiter wurden in dem eigens für das Rennen errichteten Dorf Floriopolis bei Cerda, etwa 65 Kilometer südöstlich von Palermo, untergebracht.25

Die Targa Florio 1919 war die zehnte Ausgabe des erstmals 1906 ausgetragenen Langstreckenrennens. Weil sie sowohl für die Fahrer wie auch die Autos viele Herausforderungen bereithielt, hatte sie sich schnell einen Namen gemacht. Lange bevor die heute berühmte Milli Miglia ins Leben gerufen wurde, hatte die Targa Florio einen in Italien einzigartigen Status erreicht. Die schillernde Persönlichkeit des Organisators Vincenzo Florio sorgte zudem dafür, dass die besten Fahrer mit den stärksten Rennwagen begeistert daran teilnahmen.

Am Morgen vor dem Renntag fuhr Enzo erstmals mit seinem CMN auf den schwierigen Kurs in Sizilien. Allerdings wurde sein einziger Trainingstag nach der Hälfte der ersten Runde abrupt abgebrochen, weil ein heftiger Regenschauer einsetzte.

Der Herbst kann in Sizilien warm und sonnig sein, aber dieses Jahr war er kalt und nass. Die Vorhersage für Sonntag versprach noch mehr Regen.26 Samstagnacht störte ein anhaltendes Gewitter den Schlaf aller Fahrer. An der Küste regnete es und in den Bergen fiel Schnee. Als der Sonntagmorgen anbrach, wehte ein starker Wind vom Meer her. Als Enzo erwachte, wurde er von dunklen Wolken und aufgeweichten Straßen begrüßt. Sivocci, der hier bereits gefahren war, wusste, dass die Fahrer auf den Straßen der Madonie-Berge Regen, Nebel und Schlamm ausgesetzt sein würden.27

Dennoch stellte Enzo seinen Wagen voller Vorfreude ein paar Minuten vor 8 Uhr in der Nähe der Startlinie auf. Um 7:59 Uhr sah er den Indy-Sieger André Boillot mit seinem Peugeot losfahren. Er musste an Ralph DePalma denken – und an das Bild in der Zeitschrift, das ihn davon träumen ließ, Rennfahrer zu werden. Er hatte jedoch keine Zeit, sich länger mit diesen Gedanken zu beschäftigen, denn drei Minuten später war er an der Reihe. Um 8:02 Uhr startete Enzo mit seinem Mechaniker Nino Conti zum zweiten Rennen seiner Karriere – der berühmt-berüchtigten Targa Florio.28

Vorbeirasend an uralten Zitronen- und Orangenbäumen sowie eleganten Damen, die beide Seiten der schlammigen Geraden von Cerda säumten, hatte Enzo eine monumentale Aufgabe vor sich. Sein erstes und einziges Rennen war über 53 Kilometer gegangen. Hier musste er einen bedrohlichen Kurs von 107 Kilometer viermal umrunden, sodass eine Gesamtstrecke von fast 430 Kilometer zu absolvieren war. Während das Bergrennen Parma – Poggio di Berceto noch ein anmutiger Anstieg war, barg bei der Targa Florio jede Kurve, jede Gerade, jede Bodenwelle, jede Steigung und jede Abfahrt bösartige Fallen für die Fahrer.

Enzo bekam auch bald Probleme. Nach wenigen Kilometern hatte sich sein Benzintank gelockert. Nervös behielt er ihn im Auge, bis er keine andere Wahl mehr hatte und anhalten musste. Mithilfe seines Mechanikers und eines Seils sicherte er den Tank an der Karosserie. Während dieser Arbeit vergingen 40 wertvolle Minuten und als Enzo das erste Mal über die Ziellinie fuhr, hatte seine Runde 3 Stunden, 4 Minuten und 50 Sekunden gedauert29 – was wenig überraschend den 16. (und letzten) Platz bedeutete. Fest entschlossen, zumindest einen Teil der verlorenen Zeit wieder aufzuholen, beendete er die zweite Runde nach 2 Stunden, 18 Minuten und 34 Sekunden – und damit in der achtbesten Zeit. Trotz aller Bemühungen lag er nach der Hälfte des Rennens immer noch auf dem letzten Platz.30

Trotz des immer schlechter werdenden Wetters und den damit einhergehenden Verschlechterungen der Streckenverhältnisse wurde Enzo in der dritten Runde schneller. Wäre nicht das Problem mit dem Tank in der ersten Runde gewesen, hätte Enzo an diesem Tag direkt hinter den besten Fahrern gelegen. Doch wegen der 40-minütigen Panne war er jetzt in Gefahr – er musste sein Rennen innerhalb des Zehn-Stunden-Limits beenden, um nicht aus der Endwertung ausgeschlossen zu werden.31 Also fuhr er trotz der Gefahr, hinter der nächsten Kurve in einem reißenden Fluss zu landen, mit vollem Risiko weiter. Doch alles war umsonst. Als er schließlich im Ziel ankam, war der Ort verlassen und alle waren bereits nach Palermo zurückgekehrt. Lediglich ein Carabiniere mit einer großen Uhr wartete auf ihn und notierte pflichtbewusst die Ankunftszeit, wobei er sie auf die nächste Minute aufrundete.32 Das Zeitlimit war abgelaufen und alle Offiziellen einschließlich der Zeitnehmer hatten den letzten Zug zurück in die Stadt genommen, sodass nur der Uniformierte auf die Nachzügler wartete – und Enzo war immerhin der erste von ihnen.

Auch alle Zeitungsleute hatten sich nach Palermo begeben, um ihre Berichte an die Redaktionen in ganz Italien zu senden – folglich war in den Zeitungen wieder nichts über Enzos Leistungen zu lesen. Stattdessen drehte sich alles um den Sieger André Boillot, der das Rennen mit 7 Stunden, 51 Minuten und einer Sekunde beendet hatte.33 Der Rest der Berichterstattung galt dem Unfall, der für Antonio Ascari das Rennen beendet hatte, sowie dem Tod eines Zuschauers, der genau in dem Moment die Zielgerade überquerte, als Boillots Peugeot heranschoss. Der Tod des Zuschauers beeindruckte Enzo, denn es war »das erste Mal, [dass er] die Gegenwart des Todes auf der Rennstrecke« verspürte.34

Weil der 21-jährige unbekannte Amateur aus Modena seinen Namen nicht in der offiziellen Wertung fand, beschwerte er sich am folgenden Tag beim Organisator Vincenco Florio. Der selbstbewusste und charmante 36-jährige Gentleman hörte Enzo höflich zu und fragte dann spöttisch, warum er sich beschwere: Enzo sei schmählich spät angekommen, habe nichts riskiert (!) und jetzt würde er, Don Vincenco Florio ihn mit einem neunten Platz in der Gesamtwertung und dem dritten Platz in seiner Klasse beglücken.35

Enzo ließ sich von Florios unwiderstehlichem Charme leicht überzeugen und war rasch besänftigt. Für ihn war die Aufnahme in die offizielle Wertung (die auch ein kleines Preisgeld bedeutete) ein »kleiner Erfolg«36 und der Beginn einer langen Freundschaft mit einem der Pioniere des italienischen Motorsports.

Noch vor Jahresende sollte Enzo seinen Namen erstmals in der Zeitung finden. Am Montag, dem 8. Dezember 1919, berichtet das Sportmagazin Paese Sportivo samt Foto über seine beiden ersten Rennerfolge. Die Überschrift lautete: »Der jüngste Überlebende der Targa Florio«. Enzo war noch keine 22 und hatte sein Talent in einem Rennen bewiesen, das als anspruchsvoll und gefährlich galt.

Das Profil von Enzo war kurz, aber schmeichelhaft umschrieben: »Er ist ein junger Mann aus Modena, der eine glänzende Karriere im Motorsport vor sich hat«, prophezeite die Zeitschrift. »Der 1898 geborene, große und kräftige, kühne und selbstsichere Fahrer Ferrari, der vom Pech verfolgt war, hat sowohl die Targa Florio als auch das Bergrennen Parma – Poggio di Berceto erfolgreich bestritten.«37 Geschmeichelt von dieser medialen Aufmerksamkeit und zufrieden mit seiner Leistung in so kurzer Zeit, begann Enzo, sich nach einem leistungsfähigeren und zuverlässigeren Auto als seinem CMN umzusehen. Bald erregte der exotische und irgendwie aristokratisch klingende Name einer ebenfalls in Mailand ansässigen Firma seine Aufmerksamkeit: Isotta Fraschini (IF).

Enzo erfuhr, dass sich drei der sechs von Isotta Fraschini vor dem Krieg produzierten Grand-Prix-Wagen immer noch in Italien befanden. Die drei anderen waren in die USA gegangen und relativ erfolglos in Indianapolis eingesetzt worden. Rasch kam er zu dem Schluss, dass ein solches Auto die Karriere eines immer noch jungen Rennfahrers beschleunigen könne. Ein Wagen mit einem 7-Liter-Motor, der 100 PS produziert und eine Höchstgeschwindigkeit von über 145 km/h erreicht, könnte ihm zu mehr Anerkennung und Ruhm verhelfen.

Ohne nennenswertes Barvermögen und nur mit seinem alten CMN 15/20 zum Eintauschen machte sich Enzo auf den Weg zum Hersteller, um sich den Isotta Fraschini 100/110 IM Corsa in Cliente-Konfiguration anzuschauen (»Cliente« stand für »Kundenfahrzeug«, es gab auch vom Hersteller eingesetzte »Werksrennwagen«). Der Wagen war wirklich kraftvoll, aber auch schon sieben Jahre alt (weil 1913 gebaut). Enzo wusste, dass viele Autobauer bald neue Rennwagen vorstellen würden und alle Vorkriegswagen damit obsolet sein würden. Sein Freund Guglielmo Carraroli unterstützte ihn finanziell38, denn er wollte Enzos Rennmechaniker werden. Enzo setzte seinen ganzen Charme ein und nach einigen Verhandlungen hatte er den IF-Mitarbeiter davon überzeugt, dass dieses Auto bald keinen potenziellen Käufer mehr finden würde, sodass sie im Wesentlichen ihre Autos tauschten.39

Für Enzo war es ein großer persönlicher Sieg. Natürlich darf man nicht vergessen, dass die Beziehung zwischen Isotta Fraschini und CMN schon lange eng war und dass Enzo für IF-Führungskräften, mit denen er verhandelte, kein Unbekannter war.

Nachdem er ohne den Segen seiner Mutter das neue Auto gekauft hatte (sie hielt ihm dies im Laufe ihres langen Lebens immer wieder vor)40, konnte er gerade noch die 150 Lire Startgebühr für das am 30. Mai stattfindende Bergrennen Parma – Poggio di Berceto zusammenbringen, mit dem er die Saison 1920 beginnen wollte. Neben einem neuen Wagen hatte Enzo mit Carraroli auch einen neuen Rennmechaniker, dem sogar das halbe Auto gehörte.41

Giuseppe Campari gewann das Rennen mit vier Sekunden Vorsprung vor dem Grafen Giulio Masetti. Enzo war 2 Minuten und 21 Sekunden langsamer als Campari, aber immerhin zehn Minuten schneller als ein Jahr zuvor. Er fuhr die drittschnellste Zeit des Tages und die zweitschnellste in seiner Klasse.42 Es war seine erste Podiumsplatzierung. Am Steuer eines konkurrenzfähigen Autos und trotz Problemen mit den Reifen im zweiten Abschnitt des Rennens hatte Enzo gezeigt, dass er zu den Spitzenfahrern gehören konnte.

Seltsamerweise war Enzo nach dem Rennen der Einzige, der mit seiner Leistung nicht zufrieden war. Vielleicht spürte er, dass er besser hätte sein können, stieg aus dem Auto und weinte.43 Natürlich war die Presse vor allem von Camparis erstem Platz angetan, doch auch Enzos dritter Platz wurde aufmerksam zur Kenntnis genommen: »Tapfer und unglücklich« sei er gewesen, stand am folgenden Tag in der Zeitung.44

Nach dem Abklingen der Emotionen war auch Enzo von seiner großartigen Leistung elektrisiert und meldete sich für das nächste Rennen auf dem Circuito del Mugello, das für den 13. Juni angesetzt war. Die Nenngebühr war enorm, aber ein Teil der 500 Lire sollte einem guten Zweck dienen – einen Fond für den Wiederaufbau der Dörfer im Mugello, die im Jahr zuvor unter einem schweren Erdbeben gelitten hatten. Auch das hohe Preisgeld von 50.000 Lire, das unter den vier besten Fahrern aufgeteilt werden sollte, lockte.45

Es sollte nach 1914 das zweite Rennen vor den Toren Florenz’ werden, allerdings in einem anderen Format. Die Renndistanz betrug fast 320 Kilometer und es wurden vier jeweils 64 Kilometer lange Runden gefahren. Nach seinem Rennen bei Parma gehörte Enzo zu den Favoriten. Nach Angaben der Presse war er einer von fünf Fahrern, die für den großen Preis infrage kamen. Die anderen vier waren Giuseppe Campari, Guido Meregalli, Gastone Brilli-Peri und ein gewisser Osella.46

Der erste Fahrer startete um 7:04 Uhr, Ascari fuhr um 7:29 Uhr los, Brilli-Peri um 7:56 Uhr und Enzo um 8:02 Uhr. Von den 30 angemeldeten Fahrern waren 24 am Start angetreten. Nur fünf beendeten das Rennen. Die schwierige Strecke hatte ihren Tribut gefordert. Die meisten Fahrer waren mit technischen Problemen liegen geblieben. Es gab aber auch mehrere Unfälle, so mussten Ascari und sein Mechaniker ins Krankenhaus gebracht werden.47

Mit seinem Freund Guglielmo Carraroli an seiner Seite fuhr Enzo ein »wunderschönes und sehr ruhiges« Rennen, aber auch er schaffte es nicht bis ins Ziel. Am Ende der vierten Runde lag er an dritter Position, aber eine durchgebrannte Sicherung sorgte dafür, dass sein letzter Angriff auf Masetti und Campari nicht stattfinden konnte. Seine erste Reaktion war Wut und Frustration und ihm stiegen wieder die Tränen in die Augen.48 Dann nutzte der die Gelegenheit, stellte sein Auto an den Straßenrand und sah sich den Rest des Rennens an, dabei diskutierte er freundlich mit anderen Zuschauern, die sich um ihn geschart hatte.49 Weil der Führende Masetti mit einem geplatzten Reifen von der Strecke abkam, wurde erneut Campari zum Sieger erklärt.50

Bereits eine Woche später war in der Toskana ein weiteres Rennen angesetzt und Enzo blieb gleich in der Gegend, um sich besser darauf vorbereiten zu können. Die Coppa della Consuma war eine der ältesten Rennveranstaltungen Italiens und mit einer Streckenlänge von nur 16 Kilometer auch eine der kürzesten.

Als Enzo am Sonntag, dem 20. Juni, an den Start ging, hatte bereits Regen eingesetzt. Wie schon vor einer Woche war Graf Masetti beeindruckend schnell – so schnell, dass er den 1904 von Vincenzo Lancia aufgestellten Streckenrekord einstellte. Doch während er bereits als Sieger bejubelt wurde, konnte ihn Marquis Niccolini um vier Sekunden unterbieten. Jetzt hätten nur noch Campari und Enzo Niccolini den Sieg nehmen können. Doch während Regen auf den letzten Kilometern Campari einen Strich durch die Rechnung machte, warteten im Ziel die Zuschauer und die Rennleitung vergeblich auf das Auftauchen von Enzo. Ein Reifenschaden hatte ihn am ersten Teil des Anstiegs zu einem Radwechsel gezwungen, anschließend musste er aufgrund eines Motorschadens das Rennen ganz aufgeben.51

Die ersten Rennen der Saison 1920 hatten Enzo zwei Lektionen gelehrt: Am Steuer eines ordentlichen Autos war er fast genauso schnell wie die Besten der Besten. Doch so leistungsfähig der Isotta Fraschini zweifellos war, so unzuverlässig war er auch. Enzo war inzwischen davon überzeugt, dass er eine Zukunft im Rennsport haben könnte, aber er würde auch nie vergessen: Auch der beste Fahrer hat keine Chance auf den Sieg, wenn er nicht am Steuer des besten Autos sitzt.

Und es dauerte nicht lange, bis Enzo Ferrari anerkannte, dass die derzeit besten Autos bei Alfa Romeo in Mailand hergestellt wurden.