4,99 €
Willkommen im Jahr 2382: Alles Eis auf der Welt ist geschmolzen, der Meeresspiegel um 66 Meter gestiegen. Während das schwülheiße Wetter die Menschen nach Dortmund an die Nordsee treibt, schützt die Robotarmee Deutschlands Grenzen in den Alpen vor Klimaflüchtlingen. Probleme bereitet eine militante Umweltbewegung namens "Edraufstand". Man sagt, diese Leute tragen manipulieerte KIs und schrecken nicht vor Anschlägen zurück.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2025
Johannes Anders
Erdaufstand
Saphir im Stahl
Neue Erde Nr. 1
Johannes Anders - Erdaufstand
e-book Nr: 306
Erste Auflage 01.08.2025
© Saphir im Stahl
Verlag Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.saphir-im-stahl.de
Titelbild: Thomas Budach
Vertrieb: neobooks
Johannes Anders
Neue Erde Nr. 1
Erdaufstand
Saphir im Stahl
Die neue KI
Pascals Wette
Sei Kerstin!
Das Wasser über Berlin
Der Glückliche
Bodyguards
Ein Gewissensfall
Spurensuche
Eine Reise nach Rom
Dossier Neue Erde
Die neue KI
Dortmund 2382, zur Zeit des Erdaufstands …
„Gehen wir hoch?“
„Wenn du willst.“
Samanta steckte sich die Thermoskanne in die Seitentasche der Hose, stürmte aus dem Container, umklammerte den Metallgriff und erklomm die Außenleiter, den Blick fest auf das Ziel gerichtet – das 50. Stockwerk.
„Warum gibt es ausgerechnet 50 Stockwerke?“, fragte sie sich, während ihre Füße auf die Metallstufen donnerten und die Leiter unter ihrem Gewicht vibrierte.
Oben standen eingeklappte Sonnenschirme; die Sonne stand schon so tief, dass sie nicht mehr benötigt wurden. Ein warmer Windstoß ließ sie leicht schwanken. Samanta sah sich um. Außer ihr war niemand da. Kerstin brauchte noch einen Moment, was nicht verwunderlich war, denn sie hatte ein paar Kilos mehr zu stemmen als Samanta.
Sie setzte sich auf einen weißen Plastikstuhl, der unter ihr knarzte, und tippte auf ihren Armcomputer, um leise Musik spielen zu lassen. Dann ließ sie ihren Blick über die Containersiedlung wandern. Als man Samanta vor sechs Jahren hier untergebracht hatte, sah es aus, als hätte man die Container hastig übereinandergestapelt, wie es gerade passte. Mittlerweile hatte sich alles etabliert. Bewohner hatten Wäscheleinen zwischen Containern gespannt, viele waren mit Graffiti verziert worden und manchmal tauchten verzogene Teenager aus der Innenstadt auf, um sich hier in ein illegales Szenecafé zu setzen. Sie zogen ihre KIs vorher ab, als würden sie ihnen von den Flüchtlingen gestohlen werden oder als wäre es ihnen peinlich, so etwas Teures zu besitzen. Manche freundeten sich mit Bewohnern an; sie wollten lieber in einem Container leben als bei ihren spießigen Eltern. Wahrscheinlich gehörte Kerstin zu dieser Sorte, als sie sie vor ein paar Jahren kennengelernt hatte.
Die Leiter vibrierte erneut, als Kerstins rötliche Locken an der Dachkante auftauchten. Sie hatte ihr Haar zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt und trug eine lässige, braune Lederjacke. Kurzatmig erklomm sie die letzten Stufen, schwang sich auf das Dach und wischte sich Schweiß von der Stirn.
Neidvoll betrachtete Samanta die tropfenförmige KI über Kerstins linker Augenbraue. Sie streckte die Beine aus und trank einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne. Der Kaffeegeschmack breitete sich warm in ihrem Mund aus. „Hast du eine Idee, warum es ausgerechnet 50 Stockwerke gibt?“, fragte sie.
„Jemand glaubte wohl, das sei eine gerade Zahl“, vermutete Kerstin. Sie nahm ihren Rucksack ab und ließ sich auf dem Stuhl neben Samanta nieder. „Du hast dir links die Haare kurz geschnitten“, bemerkte sie.
Samanta lächelte und griff sich an den Kopf, wobei die schweren Ohrringe ihr Handgelenk streiften. Leider sah das Ergebnis ihrer Bemühungen zerzaust aus. Sie wäre lieber zu einem Friseur gegangen, wenn die nicht so teuer gewesen wären.
Sie schenkte einen Schluck Kaffee in den Deckel der Thermoskanne und reichte ihn ihrer Freundin. Die stellte den Deckel auf dem Boden ab und zog zwei Teller aus ihrem Rucksack. Samanta bekam große Augen, als sie zwei Tortenstücke und zwei Gabeln darauflegte.
„Schwarzwälder Kirsch“, erklärte Kerstin, während sie den Teller mit dem größeren Kuchenstück Samanta reichte.
Samanta starrte den Kuchen an, als wäre er ein Juwel. Der Duft von Kirschen und Schokolade stieg ihr in die Nase.
„Iss schon!“, forderte Kerstin sie auf.
Samanta teilte mit der Gabel Krümel ab und ließ sie sich auf der Zunge zergehen, um nichts von dem Genuss zu verpassen. Die Kirschen schmeckten saftig und süß. „Der ist superlecker!“, sagte sie.
Kerstin lächelte.
„Wäre für mich zu teuer gewesen“, fügte Samanta hinzu, als sie den Teller und die Gabel zurückgab. „Ich habe nur das Trockenpulver aus Erbsenprotein.“
„Weiß ich doch. Deshalb habe ich ihn mitgebracht.“
Samanta nahm noch einen Schluck von dem Kaffee, den sie tags zuvor beim Discounter geklaut hatte, um Kerstin zu beeindrucken. Wahrscheinlich konnte Kerstin sich das denken. Aber sie sagte nichts dazu.
„Ich muss nachher ans Meer“, erklärte Samanta.
„So spät?“
„Heute war ich noch nicht.“
„Gehst du jeden Tag? Bei jedem Wetter?“
„Ja, das Wetter ist mir egal.“
„Und warum? Hast du einen Grund dafür?“
Samanta überlegte, ob sie Kerstin den Grund verraten wollte. Sie kannten sich ein knappes Jahr. Da konnte man Geheimnisse teilen. Andererseits hatte Kerstin ihr nichts über die Gruppe verraten, mit der sie sich regelmäßig traf. Es gab nur mysteriöse Andeutungen.
Kerstin sah sie erwartungsvoll an. Was hatte sie gefragt? Ob es einen Grund dafür gab, dass Samanta regelmäßig ans Meer ging?
„Vielleicht“, antwortete sie.
„Du musst es mir nicht sagen. Wo gehst du denn hin? Nach Gahmen?“
Samanta lächelte melancholisch. Nach Gahmen, wo sie den Sandstrand aufgeschüttet hatten, wo die Reichen in vornehmen Hotels Cocktails schlürften und die Armen am Strand klauten, was sie bekommen konnten, da zog es sie überhaupt nicht hin.
„Nein, ich habe meine private Stelle“, sagte sie.
„Nimmst du mich mal mit?“
Samanta überlegte. Eigentlich war das ihr geheimer Rückzugsort. Aber wenn sie jemanden dahin mitnehmen würde, dann Kerstin.
*
Samanta beobachtete das Meer, verfolgte die Konturen des Horizonts und sah die Wellen an den Strand rollen. Das Wasser spielte mit ihren Füßen, spülte kleine Steine zwischen ihre Zehen. Salzgeruch umhüllte sie, während der Wind ihr eine hellbraune Haarsträhne ins Gesicht blies. Über ihr durchschnitt der Schrei einer Möwe die Stille und vermischte sich mit dem Rauschen der Brandung.
Sie warf einen Blick zur Seite. Kerstin saß neben ihr und sah auf das Meer hinaus. Ihr volles Haar hatte sie nach hinten geworfen, die Beine angezogen, die Ellbogen auf die nackten Knie gestützt und den Kopf auf die gefalteten Hände gebettet.
„Ich habe immer diese Albträume“, sagte Samanta.
„Was für Albträume?“ Kerstin sah sie nicht an, sondern schaute weiter auf das Meer hinaus.
„Vom Untergang Hannovers.“
„Erzähl sie mir!“
„Willst du nicht hören.“
„Doch.“
„Die sind nicht schön.“
„Mach schon!“
„Na gut, wenn du darauf bestehst: Es ist Nacht. Die Flut steigt die Häuserfassaden empor. Schreie und das Heulen des Sturms vermischen sich zu einem finsteren Dialog. Eine Rettungsdrohne kreist über dem Bild des Schreckens, ihre Scheinwerfer suchen wie Finger nach Überlebenden, meine Eltern und meine Schwester tauchen in dem Lichtkegel auf. Das Wasser steht ihnen bis zum Hals und sie klammern sich an eine Dachrinne. Mein Vater hält meine Schwester, meine Mutter streckt mir einen Arm entgegen und sieht mir direkt in die Augen. Sie ruft, aber der Lärm übertönt alles. Die Gesichter der Rettungssanitäter in der Drohne verzerren sich vor Schreck, als eine Sturmböe ihr Fluggerät gegen ein Hochhaus schmettert. Brennende Trümmer regnen hinab, verlöschen in den Fluten und lassen alles in einer nassen Dunkelheit zurück.“
Kerstin schwieg einen Moment.
„Sehr beklemmend“, sagte sie dann. „Ist es denn so gewesen wie im Traum?“
„So ähnlich. Meine Mutter konnte mich nicht festhalten, ich wurde weggespült. Und dann sind sie gestorben und nicht ich. Deswegen komme ich oft hierher. Da draußen hinter den Wellen … da ist Hannover.“
Kerstin starrte reglos auf das Meer hinaus und reagierte nicht.
„Tut mir leid für dich“, sagte sie schließlich.
„Es braucht dir nicht leidzutun. Ich bin kein Opfer. Es mag seltsam klingen, ich fühle mich eher schuldig.“
Kerstins Kopf ruckte zu ihr herum.
„Ich … ich weiß nicht, warum das so ist“, erläuterte Samanta. „Ich sollte bei meiner Familie sein. Ich hätte bei ihnen sein sollen, als sie starben.“
„Du hättest ihnen nicht helfen können. Du wärst mit ihnen untergegangen.“
„Vielleicht wäre das besser gewesen.“
„Das darfst du nicht sagen,“ Kerstins Stimme war scharf. „Du warst ein Kind und konntest nichts tun. Außerdem gibt es keine moralische Verpflichtung, mit der Familie sterben zu müssen.“
„Und trotzdem fühlt es sich so an. Vielleicht bin ich nicht normal.“ Samantas Stimme war ein Flüstern.
„Wer ist das schon?“ Kerstin hob ihren Kopf aus dem Handbett, streckte sich und legte sich auf ihr Handtuch. Die Erde hatte sich weitergedreht und die tiefer stehende Sonne tauchte den Strand und Kerstins Körper in Abendlicht.
„Ich wünsche mir …“ Samanta wischte sich die salzklammen Strähnen vor den Augen weg. „Manchmal wünsche ich mir, dass Hannover wieder aus dem Meer auftaucht. Bei ruhiger See liegt es nicht tief. Da schauen die Spitzen vieler Gebäude aus den Wellen hervor. Der Meeresspiegel müsste nur um zehn Meter sinken. Glaubst du, dass das machbar wäre?“
Kerstin stieß die Luft aus. „Dazu müsste sich wieder Eis an den Polen bilden. Das werden wir nicht erleben. Nicht mit dieser Regierung. Wie oft hat uns Kanzler Eisen den Kipppunkttag versprochen und sein Versprechen später kassiert?“
„Dann müssen wir ihm Druck machen!“
„Warum ist dir Hannover so wichtig? Nach sechs Jahren ist dort alles vermodert und verrottet.“
„Ich möchte meine Familie beerdigen. Vielleicht möchte ich die Vergangenheit begraben, um endlich mein Leben zu beginnen. Vielleicht bin ich verrückt …?“
„Verrückt sind wir alle.“
„Aber ich muss etwas tun. Den ganzen Tag renne ich herum und grüble. Ich halte das nicht mehr aus.“
„Ich dachte, du schreibst einen Roman über dein Leben im Container?“
„Ich habe aufgehört.“
„Warum denn? Der Anfang war doch sehr gut?“
„Die Leute wollen lieber spannende Thriller von KIs. Wer liest schon noch Bücher von einem Menschen?“
„Ich.“
„Das ist lieb von dir, Kerstin, aber ich brauche eine Aufgabe.“
„Hast du dich nicht um einen Job beworben?“
„Ich bekomme nur Absagen.“
„Warum denn nur?“
„Die Flüchtlingsschule ist nicht sehr angesehen.“
„Hm. Ja. Die wenigen Jobs bekommen meist Eliteschüler.“
„Du hast doch mal erzählt, dass du dich mit Leuten triffst, die etwas bewegen wollen.“
Kerstin wurde einsilbig. „Hab ich?“
„Kann ich da mitmachen?“
„Du weißt nicht einmal, worum es bei der Gruppe geht!“
„Ich kann es mir denken.“
„Kannst du nicht.“
„Dann sag es mir! Außerdem bin ich sicher, dass du bei …“
Kerstin hielt sich den Finger vor den Mund.
„Keine Namen nennen!“
„Warum? Hier am Strand werden wir nicht abgehört!“
Kerstin deutete auf Samantas Armcomputer. Samanta erschrak. Stand es wirklich so schlimm um Deutschland? Es hieß, dass kein Wort jemals verloren ging, aber wer sollte sich denn für die unwichtigen Äußerungen eines harmlosen Waisenkindes interessieren?
Kerstin sah grübelnd aufs Meer hinaus. Einige Minuten lang wirkte sie abwesend.
„Was ist?“, fragte Samanta. „Bist du beleidigt?“
„Nein. Ich rede mit den anderen. Wir diskutieren, ob wir dich aufnehmen können.“
„Wie denn? Wie machst du das?“
Kerstin tippte auf ihre KI. „Eine virtuelle Konferenz“, erläuterte sie.
„Und?“
„Es wird sich heute nicht klären lassen. Treffen wir uns in ein paar Tagen wieder hier, dann weiß ich mehr!“
*
Samanta hatte auch den Putzjob nicht bekommen, um den sie sich beworben hatte. Menschen, die sich keinen Reinigungsroboter leisten konnten, stellten auch keine Menschen ein. Umso mehr fieberte sie dem Treffen mit Kerstin entgegen. Sie war sich sicher, dass Kerstins geheimnisvolle Gruppe zur Erdaufstand-Bewegung gehörte, die sich dafür einsetzte, die Kriege einzustellen, den Ausgleich mit den Klimaflüchtlingen zu suchen und alle Kräfte in die Dekarbonisierung zu stecken, damit die versunkenen Städte wieder auftauchten. Städte wie Hannover …
Endlich saßen sie wieder am Ufer. Noch brannte die Sonne auf sie herab, aber ferne Wolken deuteten das Ende der Trockenzeit an.
„Du bist dabei“, sagte Kerstin.
Samanta fiel ein Stein vom Herzen.
„Glückswelle!“, jubelte sie und deutete mit verschränkten Händen eine Welle an. „Verrätst du mir jetzt, wie eure Gruppe heißt?“
„Noch nicht. Vorher bekommst du ein Geschenk.“
„Ein Geschenk? Was ist es?“
„Eine KI.“
Samantas Augen weiteten sich. Sie sprang auf. „Eine richtige KI? Mit einer Persönlichkeit? Nicht so ein Billigteil, mit dem man gerade mal ins Netz kommt?“ Sie deutete auf ihren Armcomputer.
„Nein, eine richtige KI. Gib mir bitte deinen Armcomputer!“
„Was hast du damit vor?“, Samanta öffnete das Armband und reichte Kerstin das Gerät. Die hob einen Stein.
„Du willst ihn zerstören? - Aber man kann ihn doch verkaufen! Dann hätte ich etwas Geld!“
Kerstin zertrümmerte den Armcomputer zwischen zwei Steinen und warf die Reste in hohem Bogen ins Meer.
„Er wusste zu viel“, sagte sie.
„Aber …“
„Vergiss ihn, er war bloß eine Wanze. Der deutsche Staat will alles über seine Bürger wissen. Von mir bekommst du nicht nur eine KI mit Persönlichkeit“, Kerstin zwinkerte ihr zu, „sondern eine mit loyaler Persönlichkeit, wenn du verstehst, was ich meine. Das ist Voraussetzung, um bei uns mitzumachen.“
Samanta verstand, was sie meinte. Kerstins Gruppe hatte die KI gehackt, damit der Staat nicht mithörte.
„Das ist genial! Was ist es denn für eine?“
„Sie heißt Jürgen und ist der Persönlichkeit eines Menschen nachempfunden, der vor über 400 Jahren lebte.“ Kerstin griff in ihren Rucksack, holte eine kleine grüne Schachtel heraus und reichte sie Samanta.
„Was ist das Besondere an Jürgen?“
„Irgendetwas mit Dosenpfand stand in der Beschreibung.“
„Wie bitte?“
Kerstin zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Wir sind da preiswert drangekommen. Wichtig ist, dass er zu uns steht.“
Samanta begutachtete die Schachtel, drehte sie mehrmals um und schob sie in ihren Händen hin und her.
„Darf ich?“
„Ja. Mach ruhig auf!“
Sie hob den Deckel. In einem Polster lag die KI. Sie war geschwungen wie ein Tropfen und würde gut über Samantas linke Augenbraue passen. Langsam nahm sie sie heraus und drückte sie sich an die Stirn. Mit einem saugenden Geräusch setzte die KI sich fest. Kurz darauf spürte sie den ersten Kontakt, als das neuronale Netz der KI sich mit dem ihres Gehirns zu koppeln versuchte.
„Lass es zu, dann geht es schneller“, riet ihr Kerstin.
„Ja, mache ich …“
„Hallo“, sagte eine männliche Stimme in ihren Gedanken. „Ich bin Jürgen. Danke, dass du dich für mich entschieden hast. Es dauert einige Minuten, bis ich mich mit dir vertraut gemacht habe, dann stehen dir alle Funktionen zur Verfügung.“
„Hast du auch einen Jürgen, Kerstin?“
„Nein. Meine Eltern sind reich, deshalb durfte ich mir etwas Teures wünschen.“
„Und was hast du dir gewünscht?“
Kerstin kicherte. „Willst du meine KI sehen?“
„Wenn das geht?“
„Jetzt schon. Jürgen kann über ein lokales Netz Kontakt zu meiner KI aufbauen und ein Bild von ihr in dein Gesichtsfeld einblenden. Du musst es ihm nur erlauben.“
„Ich habe es erlaubt. - Huch!“ Samanta fuhr erschrocken zurück, als plötzlich eine zweite Kerstin vor ihr saß.
„Entschuldige!“, meldete sich Jürgen. „Ich kann die Einblendungen gedimmt oder mit einem Flimmern auftauchen lassen, damit du nicht erschrickst.“
„Mach das. Aber etwas ist schiefgegangen! Ich sehe Kerstin doppelt!“
„Das Zweite bin nicht ich, das ist Mini-Me“, erklärte Kerstin. „Meine KI spiegelt mich. Ich brauche keine fremde Persönlichkeit, ich regele lieber alles mit mir selbst.“
„Bemerkenswert. Ist deine KI genauso sicher wie die anderen?“
„Na, klar. Ich werde mich doch nicht selbst verraten!“
„Soll ich mich ebenfalls einblenden?“, erkundigte sich Jürgen.
„Ja, mach mal!“
Die Kontur eines Menschen flimmerte auf und dann saß ein junger Mann mit struppigen, dunkelblonden Haaren und Schnauzbart vor Samanta. Er trug ein helles Cord-Jackett und darunter ein buntes Hemd. „Ich habe ein Aussehen aus meiner Jugend angenommen“, erklärte er. „Ich dachte, so passen wir am besten zusammen.“
„Und, gefällt dir dein Jürgen?“, erkundigte sich Kerstin.
„Ja, der ist knuffig, trotz seiner altertümlichen Kleidung.“
„Und sonst? Du hast ja keine Erfahrung mit KIs?“
„Ich bin total begeistert über diese Einblendungen. Mein Armcomputer konnte Hologramme projizieren, aber das hier ist völlig anders. Geht das direkt in meine Gedanken?“
„Ich bin kein Technikfreak. Soweit ich weiß, wandeln menschliche Augen Licht in elektrische Signale um. Die KI fügt den Signalen Einblendungen hinzu und dann geht das an dein Gehirn. Dein Gehirn kann also keinen Unterschied erkennen.“
„Er sieht so echt aus! Stimmt es, dass man die Einblendungen anfassen kann?“
„Kannst du. Die KI modifiziert auch die Berührungsinformationen deiner Haut.“
„Komm her, Jürgen! Lass dich knuddeln!“
Jürgen stand auf und ließ sich von Samanta umarmen. Es fühlte sich total echt an, obwohl er nicht wirklich da war.
„Das ist so genial!“, freute sie sich.
„Früher brauchte man dazu Implantate“, erklärte Jürgen.
„Wann war denn früher?“
„Als ich gelebt habe. Es gab Implantate, um Blinden das Sehen zu ermöglichen und Gelähmten das Steuern von Geräten.“
„Und was haben die Menschen gemacht, bevor es Implantate gab?“
„Da haben sie auf kleine Geräte mit Bildschirmen gestarrt. Ständig sind sie damit herumgelaufen.“
„Wirklich?“
„Ja. Selbst in Cafés haben sie nicht miteinander geredet, sondern auf ihre Bildschirme gestarrt.“
Samanta verdrehte die Augen. „Du willst mich verarschen, oder?“
„Keineswegs! Es kam sogar zu Unfällen, wenn sie im Verkehr nur auf ihre Geräte starrten.“
Samanta sah Kerstin fragend an.
Kerstin zuckte die Schultern und deutete auf Mini-Me.
„Er hat recht“, bestätigte Kerstins KI. „Ich habe Informationen darüber im Netz gefunden.“
„Kaum zu glauben!“ Samanta schüttelte den Kopf.
Die Sonne war tiefer gesunken und näherte sich den Wellen. Samanta, Kerstin, Jürgen und Mini-Me warfen lange Schatten auf den Strand.
„Was machen wir nun?“, fragte Samanta.
„Brechen wir auf“, schlug Kerstin vor.
„Nein, ich wollte fragen, was deine Gruppe vorhat! Ihr plant doch Aktionen, bei denen ich mitmachen kann, oder?“
Kerstin schaute sich um, als ob sie sicherstellen wollte, dass niemand in der Nähe war. „Was wir planen, ist nicht ungefährlich. Das ist noch zu früh für dich. Gewöhne dich erst einmal ein! Ich komme übermorgen zu dir in die Containersiedlung und erkläre dir ein paar Sachen.“
*
Ein gewaltiger Baum brach durch die Versiegelung der Erde und reckte seine Äste dem bleichen Mond entgegen. Seine massiven Wurzeln wanden sich wie riesige Schlangen durch den Asphalt, seine Ranken rissen Metallstrukturen auseinander, sprengen Fassaden und brachten Hochhäuser ins Wanken. Grüne Energielinien pulsieren entlang seines Stammes und warfen Schatten auf die gebrochenen Skelette der Betongebäude. Rauchschwaden stiegen aus verkohlten Fahrzeugen auf. Mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen beobachtete Samanta den Baum, der nicht nur wuchs, sondern wucherte, sich ausbreitete, Besitz ergriff, während der Wind Fetzen aus Ruß und Blättern um sie wirbelte. Die Stadt starb – oder wurde neu geboren. Die Erde erhob sich gegen ihre Herren. Der Aufstand hatte begonnen.
Die schwache Deckenleuchte tauchte den Container in Dämmerlicht, während das Trommeln der heißen Tropfen an die Blechwände für gedämpfte Stimmung sorgte. Bei Temperaturen um die 35 Grad war es kaum auszuhalten. Die Luft ließ sich schwer atmen und die Feuchtigkeit legte sich wie ein feiner, heißer Nebel auf Samantas Haut. Sie verscheuchte die Erinnerung an den Traum, den sie letzte Nacht gehabt hatte, warf einen Blick in den Spiegel und zog die Ohrringe an. Das ärmellose Oberteil brachte die Tattoos auf ihrem rechten Oberarm gut zur Geltung. Aber es klebte an ihrem Körper.
„Ich brauche einen Kaffee, bevor Kerstin kommt“, sagte sie.
„Du möchtest einen Kaffee“, präzisierte Jürgen.
„Recht haben ist schön, aber man hat wenig Freunde.“
„Ist das so?“
„Du bist anstrengend, Jürgen!“
Wenigstens fühlte sie sich nicht mehr einsam, seit sie ihn hatte. Sie suchte in einer Schublade nach der Tüte Kaffee, die sie beim Discounter gestohlen hatte.
„War das nötig?“, fragte Jürgen.
„Was?
„Den Kaffee zu klauen?“
„Moral muss man sich leisten können.“
„Was für eine billige Ausrede!“
Samanta zuckte die Schultern. „Teure Ausreden kann ich mir auch nicht leisten.“ Sie schaltete den Wasserkocher ein und schüttete Kaffee in ein Glas. Dann seufzte sie. „Kannst du mir nicht eine Kaffeemaschine einblenden?“
„Das kann ich, aber da kommt dann kein Kaffee heraus.“
„Kaffee kannst du nicht einblenden?“
„Doch, schon, aber der ist dann nicht wirklich da.“
„Aber den Kaffeegeschmack kannst du mir doch einblenden?“
„Sicher, aber du hast dann nicht wirklich Kaffee getrunken.“
„Ist das nicht egal, wenn es sich so anfühlt?“
„Du kannst dich entscheiden, in einer Fantasiewelt zu leben. Ich kann dir vorgaukeln, dass dein Container größer ist als sechsmal zweieinhalb Meter. Sogar, dass du in einer Villa lebst. Und wenn du nach zwei Schritten gegen die Wand läufst, kann ich dir den Schmerz ausblenden. Aber die gebrochene Nase hast du dann trotzdem, und irgendwann wird es deinem Körper furchtbar gehen, wenn du ihn nicht mehr wahrnimmst. Willst du das?“
Samanta seufzte erneut, goss das Wasser über den Kaffee und starrte auf die dampfende Flüssigkeit. Wohlgeruch stieg ihr in die Nase.
„Nein, das will ich nicht.“
Die dunkelbraunen Krümel wirbelten durch das Glas.