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Rebecca Stott

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Beschreibung

Als Rebecca Stotts Vater im Sterben liegt, bittet er seine Tochter darum, ihm beim Verfassen seiner Erinnerungen zu helfen: schon seit Jahren kämpft er damit, die Geschichte seiner Familie festzuhalten, die seit Generationen Mitglied einer fundamentalistischen christlichen Sekte ist. Doch zu schmerzhaft sind die Erinnerungen. In diesem beeindruckenden Memoir versucht die Autorin zu ergründen, warum intelligente leidenschaftliche Menschen in den Sog einer fundamentalistischen Religion geraten können, und welche schwerwiegenden Folgen dies hat. Ihre eigene Kindheit im Brighton der 60er und 70er Jahre war geprägt durch das eiserne Korsett der Regeln ihrer Gemeinde und so weit entfernt vom liberalen Geist dieser Zeit, wie nur irgend möglich. Stotts Familie ist es dennoch gelungen, mit der Sekte zu brechen.

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Zum Buch

Als Rebecca Stotts Vater im Sterben liegt, bittet er seine Tochter darum, ihm beim Verfassen seiner Erinnerungen zu helfen: schon seit Jahren kämpft er damit, die Geschichte seiner Familie festzuhalten, die seit Generationen Mitglied einer fundamentalistischen christlichen Sekte ist. Doch zu schmerzhaft sind die Erinnerungen.

Die Tochter versucht zu ergründen, warum intelligente leidenschaftliche Menschen in den Sog einer fundamentalistischen Religion geraten können. Ihre Kindheit im Brighton der Swinging Sixties und der liberalen siebziger Jahre war geprägt durch ein einsernes Korsett von Regeln und Stufen. Stotts Familie ist es dennoch gelungen, mit der Sekte zu brechen. Rebecca Stoots Weg war nicht einfach, doch heute ist sie preisgekrönte Schriftstellerin und Universitätsdozentin.

Zur Autorin

REBECCA STOTT, Jahrgang 1964, wurde in Cambridge geboren und ist in Brighton aufgewachsen. Stott ist Autorin mehrerer erfolgreicher Romane und erzählender Sachbücher, arbeitet als Journalistin und unterrichtet an der University of East Anglia englische Literatur und Creative Writing. Für »Erlöst« wurde sie mit dem renommierten Costa Biography Award ausgezeichnet.

Rebecca Stott

ERLÖST

Mein Weg aus der Sekte

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »In the Days of Rain« bei 4th Estate, an imprint of HarperCollins Publishers, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 by Rebecca Stott

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile München

Covermotiv: © Shutterstock/Slavko Sereda

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22253-6V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Rückblick

1

Vor seinem Tod verbrachte mein Vater sechs Wochen in einer abgelegenen Windmühle aus dem achtzehnten Jahrhundert in den Marschen East Anglias. Sie war einmal gebaut worden, um mithilfe von Windkraft das Land zu entwässern, doch als mein Vater und meine Stiefmutter sie kauften, waren Flügel, Wellen und Räder längst nicht mehr da. Ein früherer Besitzer hatte die gesamte rostige Maschinerie entfernt, dafür eine zusätzliche Decke eingezogen, dem Ganzen damit ein paar weitere, niedrige Zimmer hinzugefügt und die Mühle außen in einem staubigen Rosa gestrichen. Aus der Entfernung und mit der abblätternden Farbe sah die Mühle wie eine aufs Flussufer geschwemmte Kirche aus. Als ein benachbarter Bauer die schwarzen Felder ringsum mit Plastik bedeckte, das sich bei bestimmtem Lichteinfall in eine Wasserflut zu verwandeln schien, kam mir das Haus wie ein Schiff vor, eine Arche, die von ihrem Liegeplatz abgetrieben war.

Die Mühle lag so fern von jeder Zivilisation, dass sie in keinem GPS-System verzeichnet war: Die Bestatter brauchten vier Stunden, um uns zu finden.

Nach dem Einzug vor sechs Jahren hatte mein Vater aus der Mühle eine Art heidnische Kultstätte gemacht, mit Passagen aus Eliots Vier Quartetten und Yeats letzten Gedichten auf der runden, fast zwei Meter dicken Außenmauer, mit Eulenfedern und keltischen Symbolen. Er klebte Gedichtzeilen auf den Putz, und wenn das Papier sich durch die Feuchtigkeit an den Seiten hochrollte, schlug er riesige Nägel hinein, die den Putz aufplatzen ließen.

Sie hatten die Mühle aus einer Laune heraus ein Jahr nach ihrer Hochzeit gekauft. Beide wollten sie auf dem flachen Land wohnen, erklärte er mir, und beide liebten den weiten Himmel.

»Sie liegt im Marschland, am Ufer eines Flusses«, sagte er, als er anrief, um mir zu erzählen, dass sie ihr perfektes Haus gefunden hätten. »Über den haben die Römer Baumaterialien verschifft, im Krieg hat ein Bauer nur ein paar Felder weiter einen römischen Silberteller-Schatz voller Tritons und anderer Meeresgötter aus dem Boden gepflügt, und die örtlichen Baptisten taufen hier ihre Gemeindemitglieder. Und es gibt einen Anleger, was heißt, dass wir ein Boot kaufen können.«

Aber ihr habt kein Geld, murmelte ich für mich. Wie wollt ihr euch da ein Boot kaufen?

Sie fuhren mich hin, damit ich mir ihre Mühle ansehen konnte. Wir kletterten durch Brennnesseln und linsten durch mit Spinnweben bedeckte Fenster. Die Mühle war schön, hatte aber auch etwas Gespenstisches, Beunruhigendes. Dieser riesige Himmel. Diese schwarze Erde. Amerikanische Bomber flogen über das Land, es war die Einflugschneise zu ihrer Airbase in Mildenhall. Falken schwebten über den Flussufern oder ließen hoch oben von Hochspannungsleitungen den Blick über die Felder gleiten.

Vier Monate später hatte meine Stiefmutter das kleine, runde, lange vernachlässigte Stück Ufergelände in einen erwachenden Garten verwandelt. Mein Vater schlug die Nesseln weg und lieh sich beim benachbarten Bauern einen Pflug, den er innerhalb von ein paar Stunden ruinierte. Der Bauer besserte die übelsten Stellen der Zufahrtsstraße aus, und mein Vater pflanzte Hecken und engagierte ein paar junge Burschen aus der Nähe dafür, einen Rasen anzulegen. Ganz ans Ende des Grundstücks pflanzte er ein kleines Birkenwäldchen, als Geburtstagsgeschenk für meine Stiefmutter. Die weißen Stämme leuchteten großartig hell vor dem schwarzen Marschland, besonders in der Dämmerung.

»Er hat schon immer Birken geliebt«, sagte sie zu mir. »Ich persönlich mag lieber Weiden.«

Mein Vater schien in einem anderen Maßstab gebaut als der Rest von uns. 2007, im Jahr seines Todes, war er achtundsechzig, ein Meter dreiundneunzig groß und wog einhundertsiebenundzwanzig Kilo. Sein langes schneeweißes Haar und sein ebenso weißer Bart ließen ihn wie einen Propheten aus dem Alten Testament aussehen, allein die Militärjacke, die er seit einiger Zeit trug, störte das Bild. Er hatte sie in einem Army-und-Navy-Outlet gekauft, um für die Rolle des Marcus Antonius in Shakespeares Antonius und Cleopatra vorzusprechen, und trug sie jetzt die ganze Zeit. Er sah sich als einen alternden Antonius, für mich war er Sir Andrew Aguecheek, manchmal auch ein Falstaff und gelegentlich ein Lear. In unserer Jugend nannten wir ihn Roger, später Rodge oder Dodge, oder auch The Big Man, niemals jedoch Dad. Er war kein Dad, wenigstens nicht so, wie die meisten Leute den Ausdruck verstanden. Für gewöhnlich redete ich von ihm als »meinem Vater« – Roger schien mir ein absurder Name für einen Mann seiner Ausmaße.

Sein Kopf war doppelt so groß wie meiner. Als er noch das Geld dafür hatte, kaufte er seine Kleidung in einem Geschäft namens High and Mighty, aber jetzt war er arm, und der Großteil seiner Sachen kam aus Wohltätigkeitsläden. Wenn sich ein Saum an seiner Hose löste, tackerte er ihn wieder fest. Das gehe weit schneller und sei effizienter, als lange herumzunähen, sagte er, als ich ihn fragte, was er mit dem Tacker in der einen und dem Wäschekorb in der anderen Hand mache. Meine Stiefmutter warf mir einen Blick zu, der besagte, ich solle meine Zunge im Zaum halten. Als er seine Brille zerbrach, klebte er die Bügel mit Klebestreifen wieder an. Auch da hatte sie diesen Blick für mich.

Er hatte ein Gebiss, eine Teilprothese, die einige seiner Backenzähne ersetzte und die er, wenn er schnell sprach oder Gedichte rezitierte, mitunter herausnahm. Er legte sie auf den Tisch, manchmal sogar in Restaurants oder Pubs, und er rülpste auch, zu Hause ebenso wie in der Öffentlichkeit, seine Rülpser waren laut und lang wie ein Donnergrollen. Ich denke, er tat es aus Trotz gegen alle guten Sitten und auch, weil es uns zum Lachen brachte. Meine Brüder, und später mein Sohn, wetteiferten darum, wer ihn am besten nachmachen konnte. Es wurde eine Art Stammesaktivität.

In jenem letzten Winter, in dem er immer schwächer, giftiger und reizbarer wurde – seine Bauchspeicheldrüse war bereits einem unentdeckten Krebs erlegen –, wanderte er, dieser riesige hinkende Kerl, jeden Tag stundenlang am River Lark entlang, folgte dem Flusslauf durch die Marschen, trug seine Kopfhörer und lauschte zum soundsovielten Mal Joyces Ulysses. Er und meine Stiefmutter hatten Hunderte Blumen, Schachblumen und Papageien-Tulpen, am Pfad zur Mühlentür und entlang des Flussufers gepflanzt, die im Februar ihre Triebe aus dem Boden schickten.

Es war am Valentinstag, in einem Krankenhaus in Bury St Edmunds, dass die Ärzte schließlich von »Krebs« sprachen, nach etlichen Wochen voller Euphemismen, beginnend mit einer »Entzündung«, dann einer »Blockierung«, einem »Knoten« und am Ende dem »Tumor«.

»Sieht so aus, als bekämst du die schlechten Nachrichten hier nach und nach mit einem Tropf«, sagte mein Vater. »Das Ding ist genau drei mal sechs Zentimeter groß«, fügte er noch hinzu und gab damit seiner Zahlenbesessenheit nach, mit dem Finger dem Schatten auf dem Ultraschallausdruck nachfahrend. »Sie wissen nicht, wie lange ich noch habe, und sie haben einen psychologischen Betreuer für mich. Das klingt nicht gut, oder?«

Er müsse seine Erinnerungen jetzt endlich fertigstellen, sagte er, als er wieder zu Hause war und aufgehört hatte, zu fluchen, zu toben und Tisch und Wände mit der Faust zu bearbeiten. Er machte sich Gedanken darüber, was es hieß, seine Angelegenheiten zu regeln. Er brauche meine Hilfe, sagte er schließlich, um seine teilweise fiktionalisierte Autobiografie zu beenden. Mir sank das Herz.

Acht Jahre zuvor hatte er damit angefangen, kurz bevor er meine Stiefmutter kennenlernte. Eingedenk des Wellblechraumes, in dem er als Kind zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern fünf-, sechsmal die Woche gebetet hatte, nannte er seine Erinnerungen Der eiserne Raum. Die ersten drei Jahre redete er ständig von seinem Buch. Jede Stunde, die er von seiner Arbeit als freiberuflicher Korrektor abzweigen konnte, verbachte er damit – zehn Schritte zurück, um noch mal neu anzusetzen, dann einen weiter vor. Er hatte mir unzählige Entwürfe geschickt, die sich alle nur leicht von den vorherigen unterschieden. Mit der Zeit graute mir vor seinen E-Mails in meiner In-Box.

»Ich sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr«, flehte ich ihn an. »Lass es mich lesen, wenn du fertig bist. Dann habe ich einen frischen Blick darauf.«

Ich war erleichtert, als keine E-Mails mehr kamen – als die Mühle ihn auf Trab hielt, der Garten, der kaputte Pflug und die Frage, wo er die Birken pflanzen sollte.

Es sei in den 1960ern stecken geblieben, sagte er, da sei er nicht weitergekommen. Ich rechnete. Damit fehlten neunundvierzig Jahre. Wie lange würde er – oder ich – brauchen, um den Rest aufzuarbeiten?

»Das Nazi-Jahrzehnt«, fügte er hinzu, als wäre das eine Erklärung, und ich nickte und sagte mir, dass das Morphium seine Gedanken durcheinanderbrachte. Alles nach 1960 sei zu einem Dickicht verwachsen, flüsterte er, mit Tränen und Kraftausdrücken durchsetzt, während er die wahrscheinlich dritte Flasche Wein an diesem Nachmittag entkorkte. Aber er bringe das an sein Ende, sagte er. Das müsse er. Er werde den Tod dieses verdammte Schachspiel nicht gewinnen lassen. Mit seiner mächtigen Faust schlug er auf die Lehne seines Sessels. Noch war es nicht so weit. Er machte eine Geste zum Fernseher hin, zu einem Gerät mit einem zweiundvierzig Zoll großen Flachbildschirm, dem einzig wirklich modernen Gegenstand im kühlen, feuchten Inneren der runden Mühlenmauern, auf dem eine Szene aus Ingmar Bergmans Film Das siebente Siegel zu sehen war: Zwei Männer in mittelalterlichen Aufzügen saßen vorm aufgewühlten Meer und spielten Schach.

»Solange der Ritter das Schachspiel nicht verliert«, sagte mein Vater, »kann ihn der Tod nicht holen.«

Er werde sich verdammt alle achtundfünfzig Bergman-Filme noch einmal ansehen, erklärte er mir.

Ich hätte nie gedacht, dass er in den letzten ihm verbleibenden Tagen ausgerechnet Bergman-Filme würde sehen wollen. Ich konnte mich an nur sieben von ihnen erinnern. Als ich sechzehn war, hatte ich sie mir zusammen mit meinem Vater angesehen. Kurz vor der mittleren Reife überredete er mich, die Schule dafür zu schwänzen, für Wilde Erdbeeren, Herbstsonate, Schreie und Flüstern, Das siebente Siegel, Licht im Winter, Das Schweigen und Wie in einem Spiegel. Er kaufte Rotwein, große Laibe frisches, warmes Brot, dicke Scheiben Schinken und ein Glas seines liebsten körnigen englischen Senfs, und wir hockten uns in der verstaubten Wohnung, in der er seit seiner Scheidung hauste, zwischen unbezahlten Rechnungen, überall herumliegenden Dokumenten, Unterlagen und Gedichten auf den Boden und sahen uns die Filme an, einen nach dem anderen. Hinterher ging ich zurück in die Schule oder ins Haus meiner Mutter, leicht angetrunken und schwindelig.

An dem Tag, als er mir auf seinem Fernseher das Standbild vom Tod am Schachbrett zeigte, begann ich eine Liste. Ingmar Bergman: 58, schrieb ich oben auf eine Seite in meinem Notizbuch und wollte die Filme online bestellen. Ich hatte völlig vergessen, dass mein Vater mehr als vierzig von ihnen in einem Schrank in der Mühle stehen hatte. Seit er sich mit achtzehn in eine hintere Reihe des Kinos geschlichen hatte, um Wilde Erdbeeren zu sehen, hatte er sie gesammelt.

Achtundfünfzig. Wie viele Filme konnte man an einem Tag sehen?

Mein jüngerer Bruder, der eine berufliche Auszeit genommen hatte und durch Neuseeland reiste, kam nach Hause geflogen und zog in die Mühle. Ich blieb ebenfalls dort, so oft es ging, fuhr jeden zweiten Tag von Cambridge hinauf, hinterließ Nachrichten für meinen Ex-Mann und die Babysitter, machte nebenher meinen Job und diskutierte mit meinen Verlegern über eine Telefonleitung und eine Internetverbindung, die kaum funktionierte. Meine Schwester kam aus Frankreich, und meine beiden anderen Brüder besuchten meinen Vater, so oft es ihre Jobs und ihre noch jungen Familien erlaubten. Zu fünft versammelten wir uns um ihn und wappneten uns für das Kommende. Meine Stiefmutter bestellte Lebensmittel und immer noch mehr Wein und ließ die Heizung rund um die Uhr laufen.

Im düsteren Licht des Mühlenturms sahen wir Ende Februar und im März gemeinsam Bergman-Filme, unterbrochen von langen Stunden Kricket – die Weltmeisterschaft hatte gerade angefangen. Wir hörten Mozart, tranken Wein, kochten und aßen zusammen an einem Tisch mit Platz für fünfzehn Personen, nur eine Armlänge von Vaters Ruhesessel entfernt, der jetzt durchgängig in Liegeposition war. Es schneite. Mein Sohn und ich fuhren im Finstern über unbefestigte Marschwege, um von den Köchen des White Pheasant Pub in Fordham eine extra für meinen Vater zubereitete Gressingham-Ente in Warmhaltebehältern zu holen, aber so sehr er sie wollte, es fehlte der Appetit. Während der ersten Woche arbeitete er täglich ein paar Stunden an seinem Buch, dicke Kissen im Rücken, doch als die Krankenschwester die täglichen Morphiumdosen erhöhte, wurde er zu müde, um noch schreiben zu können.

Dann kam der Tag, an dem er mir – mit Tränen in den Augen – sagte, er glaube nicht, dass er seine Erinnerungen tatsächlich fertigstellen könne. Er war wieder im Dickicht der Sechziger gelandet, und er ertrug es nicht: das Durcheinander, die Grausamkeit, den Wahnsinn des Ganzen. Und selbst wenn er jene Jahre beschreiben könnte, flüsterte er mir zu, als würde uns jemand belauschen, wäre er sicher nicht in der Lage, die so große Lücke zu schließen und von 1960 bis heute zu kommen, zu dem hier.

»Shandys Dilemma«, sagte ich, und er lächelte düster. Jahrzehntelang hatte er mich überredet, seine Lieblingsbücher zu lesen. Viele der Autoren waren auch zu meinen Hausgöttern geworden, und so war zwischen uns ein ganzes Netz aus Anspielungen und literarischen Bezügen gewachsen. Wir hatten beide Lawrence Sterns verrückte fiktionale Erinnerung aus dem achtzehnten Jahrhundert Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman gelesen, doch jetzt, da er nur noch wenige Wochen zu leben hatte, kamen mir die Ähnlichkeiten zwischen Tristram Shandy und Vaters eigenen unvollendeten Erinnerungen tragisch und lächerlich zugleich vor.

Der arme Tristram stellt fest, dass er schon vor seiner Geburt mehrere Hundert Seiten geschrieben hat. Überzeugt, dass die Seltsamkeiten seiner Persönlichkeit aus dem Umstand herrühren, dass sein Vater bei der Zeugung von seiner Mutter unterbrochen wurde, die wissen wollte, ob er vergessen habe, die Uhr aufzuziehen, muss Tristram das mit der Uhr erklären, und um das zu können, muss er das mit Onkel Toby erklären, dem Bruder seines Vaters … und während er all das noch zu tun versucht und es immer mehr Seiten werden, klopft es an der Tür, und der Tod steht auf der Schwelle – mit seinem Umhang, der Sense und allem. Tristram springt aus dem Fenster und galoppiert hinüber nach Dover, um ein Boot nach Calais zu nehmen. Der Tod nimmt die Verfolgung auf.

Ich fuhr mit dem Bus in die Stadt, um ein tragbares Bandgerät zu kaufen.

»Es könnte leichter sein«, sagte ich, als er in einem weiteren Kricketspiel versank, »wenn ich dir Fragen stelle. Das macht dich nicht so müde, und ich schreibe deine Antworten später ab. Wir machen immer mal wieder zwischendurch was, wenn dir danach ist.«

Ich hatte ein schwarzes Tonbandgerät gekauft. Draußen in der Mühle war innerhalb von Stunden alles mit Staub bedeckt, und ich musste das Gerät ständig säubern. Der Staub ließ mir keine Ruhe. Er war mir nie so aufgefallen. Der Staub nicht und auch nicht die Fruchtfliegen, selbst jetzt im März. Das Haus war voll von ihnen. Mein Vater führte eine Strichliste dazu, wie viele er in seinem Weinglas fand. Die Fruchtfliegenstatistik gesellte sich zu all den anderen Berechnungen in seinen Notizbüchern: täglichen Kaloriensummen, seinen Gewinnen und Verlusten beim Glücksspiel, den verzehrten Broteinheiten und den Kricket-Ergebnissen. Meine Stiefmutter legte einfach einen alten Bierdeckel auf ihr Glas. Sie mochte Wein nicht sonderlich.

Aber so leicht es gewesen war, an jenem Tag im Kaufhaus ein Tonbandgerät auszusuchen, war ich doch nicht auf die Frage der Bänder selbst vorbereitet gewesen: Jedes einzelne hatte eine Laufzeit von acht Stunden, und es gab sie in Packungen von jeweils vier, acht oder zwölf. Wie lange hatte er noch? Wie weit würde er kommen? Volle zwanzig Minuten stand ich vor dem Regal und stellte Berechnungen an. Am Ende nahm ich drei Zwölferpacks: sechsunddreißig Bänder. Das waren 288 Stunden oder 17.280 Minuten.

Heute liegen zwei Bänder in der Schublade in meinem Arbeitszimmer, neben dem alten Tonbandgerät. Eines ist voll, das andere nur zum Teil. Die unbenutzten habe ich weggegeben. Mein Vater hat es von 1960 bis 1966 geschafft, bis zwei Jahre nach meiner Geburt. Er hatte nicht mehr die Zeit. Wie Tristram Shandy, wie der Ritter in Das siebente Siegel konnte er seine Geschichte nicht mehr zu Ende erzählen, bis der Tod ins Haus kam.

Und was er mir zu erzählen hatte, war weit schlimmer, als ich es mir hätte vorstellen können. Kein Wunder, dass er in den Jahren stecken geblieben war.

Zu Anfang der Aufnahmen stellte ich mir meinen Vater und mich gemeinsam im Dickicht jener Jahre vor, mit Sensen, Sicheln, Fackeln und schützender Rüstung, und am Ende erklimmen wir siegreich die Burgmauern. Dass wir tun würden, was immer nötig wäre, um uns durch die Dornen zu schneiden, den Drachen zu erlegen und die Prinzessin zu retten. Gemeinsam. Aber wir schafften es nicht.

Tag für Tag wurde er ruhiger. Sein Liegesessel blieb in der Horizontalen, und seine morphiumbedingten Schlafzeiten wurden länger. Ich schob das Bandgerät und die Bänder hinten in den Schrank, in dem seine verstaubte Filmsammlung und der Vorrat an spanischem Roten stand.

In der vierten seiner letzten sechs Wochen öffnete mein Vater, der jetzt ganz oben im Mühlenturm lag, die Augen und rief meinen Bruder und mich, seine Testamentsvollstrecker, zu sich. Er hatte mich bereits instruiert, was seinen Grabstein, seine Beerdigung und seine umfassenden Schulden betraf. Er gab sich große Mühe, seine Morphiumträume zu verlassen und an die Oberfläche zu kommen, die Augen geöffnet zu halten und sich aufzusetzen. Wir rückten näher an ihn heran.

»Das ist sehr wichtig«, betonte er, hob einen Arm vom Bett und fuhr mit dem Finger in die Luft, wozu er all seine Kraft aufwandte. Bart und Haare waren wild zerzaust und die gelblichen Augen blutunterlaufen.

»Ihr dürft keinen von den Dreckskerlen allein bei mir lassen, wenn ich schlafe. Versteht ihr? Ihr wisst, wie sie sind. Sie werden es ausnutzen. Sie sind wie Geier.«

Aus seinen fünfzehn Jahren als lehrender predigender Bruder der Exclusive Brethren, der »Exklusiven Brüder«, wusste er nur zu gut, dass die entfernteren Familienmitglieder, die aufgrund seines nahenden Endes jetzt jeden Tag zu Besuch kamen, für ihn beten wollten, damit er den Weg zurück zu Gott fand. Wovon er nichts wissen wollte.

Pflichtgemäß warnten wir seine Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten, die mit ihren Bibeln und Gesangbüchern kamen. Aber wie sagt man einem Christen, dass er nicht beten soll? Was sonst sollten sie tun? Den Sterbenden den Qualen des Höllenfeuers überlassen?

Wir baten sie, seine Wünsche zu respektieren. Sie fühlten sich verletzt und schienen ratlos. Sie kamen von weither. Viele hatten sich verirrt, als ihr Navigationssystem ihnen sagte, sie sollten umdrehen und zurück auf die nächste Straße fahren. Sie tranken Tee, studierten die seltsame heidnische Mühlengrotte und ihre vielen Götzenbilder. Ich beobachtete eine entfernte Cousine, wie sie mit dem Blick über die Zeilen aus Eliots Vier Quartette fuhr, die über der Tür klebten.

Er hatte recht mit seiner Warnung, wachsam zu sein. Trotz unserer Bitten kam es zu zwei, drei Vorfällen, als wir in unserer Aufmerksamkeit nachließen. Einmal sah ich eine seiner Cousinen, eine nette ältere Frau, mit den Lippen nahe an seinem Ohr, während er selbst noch schlafend den Raum beherrschte. Wie ein umgestürzter Baum lag er da, sein eigenes übergroßes, verstaubtes, vergilbendes Grabmal. Sie flüsterte ihm Dinge ein.

»Entschuldige«, sagte mein Bruder zu ihr, mit einem nervösen Blick in meine Richtung. Die Verlegenheit war ihm anzumerken. »Bitte, tu das nicht.«

Wahrscheinlich hatten wir unser Versprechen bereits gebrochen.

Danach ließen wir ihn nie wieder mit Besuchern allein. Einmal, als ich mich über ihn beugte, flatterten seine Augen auf, und er sagte, dass ich so schön sei. Ein anderes Mal wachte er auf und flehte mich an, meiner Stiefmutter nichts über die Höhe seiner Spielschulden zu sagen. Am Abend vor der Tag-und-Nacht-Gleiche verließ ich das Haus seit Wochen zum ersten Mal. Ich war zu einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle an der University of East Anglia eingeladen worden, auf die ich mich Monate zuvor beworben hatte. Die Krankenschwester nahm mich beiseite.

»Ich bin mir sicher, er würde wollen, dass Sie das wahrnehmen«, sagte sie. »Er würde wollen, dass Sie die Stelle bekommen.«

Aus einem Gebäude auf dem Campus in Norfolk, umgeben von üppig grünen Hügeln voller Kaninchen, rief ich alle zwei Stunden meinen Bruder an. Minuten vor meinem Gespräch stand ich in der leeren Toilette, versuchte mein geschwollenes Gesicht zu schminken und redete im Spiegel mit meinem Vater.

»Du warst nie selbstherrlich genug«, hörte ich ihn sagen, wie er es schon so oft gesagt hatte. »Sei selbstherrlich, nagle sie fest.«

Als ich spätabends nach Hause kam, sagte mein Bruder, mein Vater lebe noch, die Schwester habe jedoch gesagt, dass er die Nacht wahrscheinlich nicht durchstehen werde. Ich übernahm die Nachtwache. Keiner widersprach, alle waren erschöpft. Der Atem meines Vaters rasselte, hielt inne, rasselte, er rang um Luft, und es fing von vorn an.

»Bring ihn dazu, dass er loslässt«, flüsterte mein Bruder, nachdem meine Stiefmutter den Raum verlassen hatte. »Auf dich hört er.« Er half mir das Sofa heranzuziehen, damit ich mich neben meinen Vater legen konnte, und dann ging auch er, und die Lichter im Haus erloschen.

Der Wind zerrte an den Fenstern. Es schneite wieder. In der Dunkelheit beruhigte ich meinen Atem und glich ihn dem meines Vaters an, hielt inne, wenn seiner aussetzte, und erzählte ihm von meinem Vorstellungsgespräch. Ich sagte, ich sei selbstherrlich gewesen und hätte mich gut präsentiert, und dann, er könne jetzt loslassen – und wünschte sofort, ich hätte es nicht gesagt.

Mein Handy klingelte. Es war ein alter Freund, von dem ich seit Jahren nichts gehört hatte. Er sei auf dem Nachhauseweg vom Pub, sagte er, durch den Schnee entlang eines Flussufers in den südlichen Marschen. Er wollte wissen, ob es mir gut ging. Überrascht von meinem Schluchzen und dem schweren Atem meines Vaters, blieb er am Telefon und erzählte, was ihm in den Kopf kam, bis die ersten Vögel zu singen begannen und ich endlich einschlief.

Als der Vizekanzler der Universität früh am nächsten Morgen anrief, um mir die Stelle anzubieten, fragte ich ihn, ob ich mir ein paar Tage Zeit für meine Antwort nehmen dürfe. Mein Vater stehe kurz davor zu sterben, sagte ich. Kurz davor zu sterben, schien mir ein seltsamer Ausdruck. Ich wollte ihm erklären, wie seltsam es war, dem Tod dabei zuzusehen, wie er Besitz von einem Menschen ergriff, und dass mich der Körper meines Vaters und die schwarz werdenden Ränder seiner Fingernägel an die Farbe und Textur einer gefällten Eiche erinnerten, die ich einmal draußen im Marschland gesehen hatte. Stattdessen sagte ich nur: Danke. Und, dass ich mich, natürlich, sehr freue. Ich würde mich bei ihm melden. Ich müsse nur erst auf diesen einen Tag warten. Nehmen Sie sich Zeit, sagte er. So viel Sie brauchen.

Am späten Nachmittag spielten mein Bruder und ich Chopin. Gegen fünf begann es zu dämmern. Meine Stiefmutter und meine Schwester fuhren zum etwa zehn Kilometer entfernten Laden Milch kaufen. Das Telefon klingelte. Ich ging durch den Hauptraum ins Wohnzimmer hinüber, um den Anruf anzunehmen. Es war ein alter Freund meines Vaters, der sich nach seinem Zustand erkundigte.

Im Zwielicht über den Feldern konnte ich in der Ferne eine Bewegung sehen, ein aufblitzendes Weiß vorm Dunkel der Bäume. Es war eine Schleiereule, die tief durch die Dämmerung flog, dem Lauf des Flusses folgte und direkt auf die Mühle zuhielt, direkt auf uns. Ich ging den langen Korridor zu meinem rasselnd atmenden Vater hinunter. Mein Bruder saß bei ihm und las Zeitung.

»Er kommt«, sagte ich.

Ich habe keine Ahnung, wen ich damit meinte. Mein Bruder legte die Zeitung zur Seite, ich öffnete das Fenster, und wir beide nahmen eine knotige Hand meines Vaters – gerade, als die Eule an der Tür der Mühle vorbeiflog und mein Vater seinen letzten Atemzug tat: Als meine Stiefmutter mit der Milch hereinkam und sich ein großer Schwarm Krähen, Kiebitze und Amseln in langen Reihen auf den Stromkabeln niederließ. Zwanzig Minuten lang kreiste die Eule ums Haus und verschwand schließlich.

Abendliches Zwielicht zur Tag-und-Nacht-Gleiche, mit einer Eule am Fluss. Als hätte mein Vater es so herbeibeschworen.

2

Niemand würde denken, dass ich in einem christlich-fundamentalistischen Kult großgezogen wurde und mein Vater und Großvater predigende Mitglieder in einer der zurückgezogensten und rigorosesten protestantischen Sekten der britischen Geschichte waren. Es war immer mein Fehler, wenn das Thema zur Sprache kam. Vielleicht hatte ich nicht aufgepasst, war es leid geworden, immer aufpassen zu müssen, und hatte eine Geschichte aus meiner Kindheit erzählt. Und wenn es dann mal Thema war, war nur schwer wieder davon wegzukommen. Die Leute waren interessiert und stellten Fragen, und ich hatte nie gelernt, das alles zu umschiffen.

Du kannst es nicht bei ein paar Bruchstücken belassen, sagte ich mir dann, und wenn ich erst mal anfing, gab eins das andere, wie die Masche eines Schals die nächste löst. Es war wie eine Geschichte ohne Anfang, Mitte oder Ende. Am besten sagst du gar nichts. Am besten hältst du den Mund.

Ganz gleich, wie oft ich es zu erklären versuchte, in Teilen oder komplett, am Ende war ich verwirrt und ratlos und hatte das Gefühl, etwas ausgelassen oder vergessen zu haben. Eine Moral oder Pointe.

»Ich bin in einem Kult aufgewachsen«, sagte ich und zuckte auch schon zurück, weil sich das so melodramatisch anhörte. Waren die Brethren, war die Brüderbewegung ein Kult? Ich wusste es nicht. Worin bestand der Unterschied zwischen einer Sekte und einem Kult? Gab es einen Punkt, an dem aus einer Sekte ein Kult wurde?

»Wir trugen Kopftücher«, sagte ich. »Wir durften uns das Haar nicht schneiden. Fernsehen, Zeitungen, Radio, Kino, Ferien, Haustiere, Armbanduhren, das war alles verboten.«

Die Liste der Verbote schien endlos, und ich sah, wie die Augen der Leute immer größer wurden. Sie sahen mich misstrauisch, verwundert an und hatten Fragen über Fragen, und ich dachte: O nein, nicht schon wieder.

»Wir durften nicht mit den anderen Kindern in der Schule sprechen«, sagte ich. »Uns war erklärt worden, dass alle außerhalb der Brüderbewegung Teil der Armee des Satans waren und uns vom rechten Weg abbringen wollten. Sie nannten sie ›weltlich‹, die ›Weltlichen‹. Und wenn du nicht genau das getan hast, was sie wollten, wurdest du hinausgeworfen. Dann durfte deine Familie nie wieder mit dir sprechen. Einige begingen Selbstmord. Einige verloren den Verstand. Ja, das war in Brighton. Ja, in den Sechzigern. Ja, während der Flower-Power-Zeit. Am Stadtrand. Während der sexuellen Revolution. Ja. Es ist kaum zu erklären.«

»Du bist bei den Plymouth Brethren aufgewachsen?«, fragten die Leute. Von denen hatten sie gehört. Einige hatten vielleicht sogar Edmund Gosses wunderbares Erinnerungsbuch Vater und Sohn über seine Kindheit und Jugend in einer Brüderversammlung im neunzehnten Jahrhundert gelesen, und ich hörte mich darauf mit einer Art Überlegenheit antworten: »Wir waren keine Plymouth Brethren, wir waren Exclusive Brethren.«

»Meine Leute waren Hardliner«, sagte ich. »Edmund Gosse gehörte zu den Offenen Brüdern. Das war gar nichts. Das waren praktisch Baptisten, mit Kanzeln, Priestern und Erwachsenentaufen. Die durften mit weltlichen Menschen reden, sogar mit ihnen zusammen essen.«

Meine Leute? Hatte ich gerade wirklich »meine Leute« gesagt?

Aber selbst, wenn das Thema nicht aufkam, meldete sich meine Brethren-Kindheit wie Banquos Geist in Macbeth beim Essen zu Wort und weigerte sich, im Dunkel zu verschwinden. An der Uni, gegenüber neuen Freunden und Vertrauten konnte ich nicht wirklich erklären, wie ich als Teenager schon Mutter geworden war, warum ich jahrelang Bücher geklaut hatte, warum ich so leichtsinnig, ungeduldig und voller Angst vor der Dunkelheit war und unbedingt Menschen retten wollte – das ging nicht, ohne die Brethren zu erklären, den Gott, den sie für uns hatten, und die »Entrückung«, die dereinst kommen sollte.

Und über die Brethren konnte ich nicht wirklich reden, ohne dabei auf meinen Vater zu kommen, wie er gepredigt hatte und dann, nachdem er die Sekte verlassen hatte, dem Roulette verfallen war und nicht mehr an Gott geglaubt hatte. Ich musste erzählen, dass er wegen Veruntreuung und Betrug im Gefängnis gelandet war und am Ende Filme für die BBC gemacht hatte. Und dass er auf seinem Totenbett von den Sechzigern als einem »Nazi-Jahrzehnt« geredet hatte und wir ihm hatten versprechen müssen, niemanden über seinem schlafenden Körper beten zu lassen.

Und ich konnte nie wirklich die Geschichte meines Vaters erzählen, ohne auch auf die meines Großvaters zu kommen: Wie der schottische Schiffsausrüster, der nach Süden gezogen war, um die Hotels von Brighton mit Lebensmitteln zu versorgen, am Ende eines der führenden Mitglieder der Brüderbewegung geworden und einer der Treuhänder des Verlags gewesen war, der ihre Lehren und Predigten gedruckt hatte.

Und um die Brethren-Frauen zu erklären, musste ich die Geschichte meiner Urgroßmutter erzählen, die von ihrem Brethren-Mann für vierzig Jahre in ein Asyl in Australien verbannt worden war, nicht nur wegen ihrer Epilepsie, sondern weil sie für eigensinnig gehalten wurde. Eigensinn ist Brethren-Frauen nicht erlaubt, sagte ich, und dabei wurde mir bewusst, dass ich nicht wirklich wusste, was für eine Art von Eigensinn es bei ihr gewesen war.

Meine Familie, sagte ich, war hundert Jahre lang in der Brüderbewegung verfangen – und mir wurde bewusst, dass ich den gleichen altmodischen Ausdruck wie meine Mutter benutzte: in etwas verfangen sein.

»Aber natürlich waren wir damals«, sagte sie, wenn sie an die Rationierungen oder die Luftangriffe erinnerte, »in der Brüderbewegung verfangen.«

Meine Familie gehörte den Brethren nicht an, sie war in der Bewegung verfangen. Wie sich ein Mantel in einem Dornengestrüpp verfängt. In einem Skandal verfangen. In den Armen des Herrn. Wie immer sie es ausdrückte, es bedeutete, dass es keine Wahl gegeben hatte und man nicht von ihnen loskam.

Und ich war wieder fünf Jahre alt, saß in der Versammlung und lauschte der Predigt meines Großvaters über die Entrückung. Der Herr Jesus werde uns mitten in der Nacht mit sich in die Luft hinauf nehmen, sagte er. In seinen Armen würden wir verfangen sein. Die für gewöhnlich harsche schottische Predigerstimme meines Großvaters wurde sanft, wenn er über die Entrückung sprach. Und ich saß auf meinem Stuhl im Versammlungsraum, ließ die Beine baumeln und fragte mich, wie der Herr Jesus uns alle gleichzeitig hochheben sollte – es gab einige ziemlich dicke und verschwitzte Leute in unserer Versammlung. Der Herr Jesus musste schon ein Riese sein, um allein meinen Vater hochzuheben. Ich hatte das noch nie jemanden tun sehen.

Nachdem wir dem Kult den Rücken gekehrt hatten, versuchte mein Vater die Brethren manchmal Menschen zu erklären, die noch nie von ihnen gehört hatten. Obwohl er ein Mann war, der sonst jede Gelegenheit ergriff, das Wort zu führen, schienen seine Augen ganz glasig zu werden, wenn es um die Brethren ging, ganz so, als langweilte es ihn oder als müsste er etwas von einem Manuskript ablesen. Und was den Versuch anging, einen erklärenden Abschnitt über die Exclusive Brethren in seine Erinnerungen aufzunehmen, so beklagte er sich, dass dabei immer nur eine unbeholfene kommentarartige Geschwulst herauskam. Und meine Mutter? Die weigerte sich strikt, darüber zu reden. Am besten zieht man einen Strich darunter, sagte sie. Es hat keinen Sinn, sich da wieder hineinzuversenken. Das tut nicht gut.

3

Nach der Totenwache und der Beerdigung, nach den Trauerreden und dem Feuer, in dem wir seinen Sessel verbrannten, trauten mein Bruder und ich uns ins Arbeitszimmer meines Vaters, in dem sich Papiere und Unterlagen türmten. Das alles müsse durchgesehen und weggeschafft werden, sagte meine Stiefmutter, wenn die Mühle verkauft werden sollte. Wir retteten, was uns wichtig schien von den Stapeln unbezahlter Rechnungen, Quittungen, Fotos und Anleitungen für längst nicht mehr existierende Geräte.

Um sein Buch beenden zu können, sagte ich zu meinem Bruder, bräuchte ich alles, was irgendwie so aussah, als habe es mit den Brethren zu tun. So packten wir Briefe, Tagebücher und vergilbte Dokumente in Kartons, ohne sie genauer in Augenschein zu nehmen. Mein Bruder und mein Sohn halfen mir, sechs Kisten in den dritten Stock meines Hauses in Cambridge zu tragen und sie in die staubige Düsternis unter meinem viktorianischen Eisenbett zu schieben. Ich werde mich später darum kümmern, sagte ich mir. Wenn ich bereit dafür bin. Wenn ich die Zeit habe.

Einen Monat nach der Beerdigung rief meine Stiefmutter an, um mir zu sagen, dass sie wegen ihrer Magenkrämpfe beim Arzt gewesen sei. Nach verschiedenen Tests hätte man Darmkrebs diagnostiziert. Sie komme zurecht, sagte sie. Sie habe Verwandtschaft in der Nähe. Natürlich müsse sie eine Chemo machen, aber es seien genug Leute da, um sie von der Mühle zu den Behandlungen zu fahren, Freunde würden mit der Arbeit im Garten helfen. Ich müsse nicht kommen. Sie brauche im Moment nichts, von uns allen nicht, werde sich aber melden, wenn sich das ändere.

Wie konnten zwei frisch Verheiratete, die im Spätsommer ihres Lebens einen Garten an einem Fluss anlegten, beide bösartige Tumore in sich haben? Er an der Bauchspeicheldrüse, sie am Darm? Erklärte sein Krebs sein galliges Verhalten, seine Tiraden und Ausbrüche – die Art, wie er in den letzten Jahren angefangen hatte, mit ihr zu reden? Seine Klagen darüber, dass sie sich weigerte, mit ihm dazusitzen und sich Shakespeare anzusehen?

»Vielleicht mag sie Shakespeare einfach nicht«, hatte ich gesagt. »Das ist kein Verbrechen.«

»Midsomer Murders«, sagte er. »Den verdammten Inspector Barnaby, den sieht sie sich an. Das ist der Grad des Banausentums, über den wir hier reden.«

Auch ich würde mir Inspector Barnaby ansehen, dachte ich, wenn die Alternative darin bestünde, mir zum vierzehnten Mal deinen Vortrag über Wilson Knight und die späten Stücke Shakespeares anhören zu müssen.

Ich wollte meiner Stiefmutter helfen. Wir alle wollten das. Aber obwohl ich alle paar Wochen hochfuhr, graute mir vor dem Anblick der Mühle. Puddleglum, das kleine gebrauchte Kajütboot, das mein Vater und ich zusammen gekauft hatten, lag unter einer Weide am Flussufer vertäut und war mit Schimmel und Blättern bedeckt. Das Gras trieb Samen aus, und die Birken welkten in der Sonne. Der Scheiterhaufen für den Sessel meines Vaters hatte einen Brandkreis mit verkohltem Holz auf dem Rasen hinterlassen. Jemand musste die Reste zusammenharken und die Stelle neu einsäen.

Meine Stiefmutter hatte nicht nur mit der Chemo, sondern auch mit der Bank zu kämpfen, nachdem mein Vater sie so gut wie mittellos zurückgelassen hatte. Eine Woche nach der Beerdigung hatte ich einen Kontoauszug von seinem Computer ausgedruckt. In seinen letzten Tagen noch hatte er zahllose Online-Wetten abgeschlossen, meist mitten in der Nacht, wenn wir alle schon schliefen. Ein großer Gewinn, wird er sich gesagt haben. Mit nur einem großen Gewinn würde er meiner Stiefmutter genug hinterlassen können, um alle Schulden zu bezahlen.

Ich zählte die Wetten zusammen. Er hatte noch mal Tausende Pfund ausgegeben und dabei Geld von einer Kreditkarte zur anderen verschoben. Es war nicht mal sein Geld gewesen, sondern der Rest einer kleinen Erbschaft meiner Stiefmutter.

Als meine Stiefmutter im Krankenhaus lag und ihre Verwandten im Sommerurlaub waren, wollte ich einen Nachmittag in die Mühle, den Rasen mähen und die Birken wässern, wie ich ihr sagte. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.

Langsam fuhr ich die lange Straße hinauf, die in einen unbefestigten Weg überging und dem Flusslauf folgte, kohleschwarze Marschfelder in der einen Richtung, wogendes Getreide in der anderen. Ich parkte den Wagen und schloss die Mühle mit dem Schlüssel auf, den sie unter einem Stein bei der Hintertür aufbewahrte. Der Rasenmäher stand im Schuppen, die Klingen voll mit angebackenem, trockenem Gras.

Der Lärm des Mähers war eine unverschämte Zumutung und zerriss Ruhe und Vogelgezwitscher, aber der Geruch und die Streifen geschnittenen Grases gaben mir das Gefühl, die heranrückende Wildnis etwas zurückdrängen und die Ordnung wiederherstellen zu können, wenigstens für den Moment.

Irgendwann in der Hitze des Tages, umgeben vom Geruch des Grases und dem Lärm des Mähers, geriet ich in ein Stück Blumenbeet, und am Rand meines Sichtfeldes stieg eine schwarze Wolke auf, die tief und nahe summte, rauchschwarz vor dem Weiß der Birkenstämme. Der erste schneidende, giftige Stich brach meine Konzentration. Der zweite sorgte dafür, dass ich den Griff des Mähers losließ, und schon rannte ich schreiend durch den leeren Garten, riss mir die Kleider vom Leib und flüchtete mich ins Wohnzimmer, zitternd vor Schmerz und voller Wut. Im Spiegel untersuchte ich meinen Körper. Ich zählte einundzwanzig Stiche, anschwellende heiße Erhebungen auf Armen, Nacken und Händen. In der dunklen Erde des Gartens war ich über ein Wespennest gefahren im Zwielicht dieses traurigen Nachmittags.

Kann ein Toter Wespen heraufbeschwören? Kann eine Eule im Dämmerlicht die Seele eines Menschen holen? Da draußen in dieser heidnischen Marschlandschaft, die römische Silberteller ausspuckte, schien alles möglich. Wie in Alan Garners Eulenzauber waren auch unter den Dachtraufen der Mühle unerklärliche Markierungen zu erkennen, dazu Erscheinungen überall.

»Lass mich in Ruhe«, sagte ich in die Leere hinein. »Lass mich in Ru-he! Ich beende dein Buch, wenn ich so weit bin. Du kannst mich nicht dazu zwingen.«

Der Inhalt jener sechs Kartons unter meinem Bett ließ mich an Chaos denken, das Verstreuen des Körpers meines Vaters nach dessen Tod, an die sandige Asche, die wir in den Fluss bei der Mühle geworfen hatten, das Durcheinander seines Lebens, die Unmöglichkeit, die Brethren-Geschichte zu erzählen, und an meine eigene Trauer. Sie blieben dort unten, die Kisten, unter meinem Bett, mit Klebeband verschlossen.

Es gab so viel anderes zu tun. Ich hatte einen neuen Job, zu dem ich pendeln musste, Teenager, für die es zu kochen galt, Hausaufgaben, die zu beaufsichtigen waren. Ich musste Veranstaltungen vorbereiten und die Raten fürs Haus bezahlen. Erst in zwei Jahren würden keine Briefe von Schuldeneintreibern und Kreditkartenfirmen und auch keine Vorladungen mehr kommen – bis dahin verschickte ich Kopien der Sterbeurkunde mit einem Begleitbrief, in dem stand, dass er mittellos gestorben sei und seine Schulden und Rechnungen nicht würden beglichen werden können. Dann war auch die Mühle verkauft und meine Stiefmutter nach Australien gezogen, um näher bei ihrer Familie zu sein.

Was hatte ich ihm eigentlich versprochen, begann ich zu überlegen. Wenn ich sein Buch beenden wollte, musste ich beschreiben, was in den Sechzigern geschehen war, in jenen zehn Jahren, vor denen er so zurückgescheut war. Niemand würde den Leichtsinn seines Verhaltens verstehen, ohne die Ereignisse während dieser Zeit zu kennen. Ich wollte mich aber genauso wenig in sie vertiefen wie er. Keiner in der Familie wollte das. Manchmal sprachen die Cousinen, Cousins und Verwandten meines Vaters von jenen Jahren, in denen wir »in der Brüderbewegung verfangen waren«, »in den Jims lebten« oder »unter dem System«. Die meisten schienen sich zu schämen, dass sie es nicht durchschaut hatten, einige waren immer noch wütend und fühlten sich betrogen. Eigentlich wollten mir alle, mit denen ich darüber sprach, sagen, dass sie sich schon früher davon hätten befreien sollen. Aber wir haben es nicht, sagten sie. Niemand hat begriffen, wie schlimm es werden würde. Dann wechselten sie das Thema. Am besten verharrt man nicht in der Vergangenheit. Konzentrieren wir uns auf die Zukunft.

Und selbst, wenn ich es schaffte, das Buch zu schreiben, die Brethren blieben reich und mächtig. Sie griffen alle an, die sie kritisierten. Sie beauftragten Anwälte. Als ich vor längerer Zeit für ein Sonntags-Magazin einen Artikel darüber geschrieben hatte, wie es gewesen war, bei den Brethren aufzuwachsen, hatte mich ein leitender Bruder wissen lassen, dass sie für mich beteten. Was bedeutete, dass sie wussten, wo ich wohnte. Ich war seitdem umgezogen, aber ich wusste, sie würden mich finden, wenn sie wollten, wo immer ich auch wäre. Und was würde meine Familie sagen, wenn ich anfing, die notwendigen Fragen zu stellen? Zudem müsste ich einen Weg finden, nicht über meine Mutter zu schreiben, sie gleichsam zu umschiffen, da sie es nicht wollen würde, dass ich sie an irgendetwas von alldem erinnerte.

Und wenn ich die Geschichte meines Vaters beenden wollte, musste ich auch über das Mädchen schreiben, das ich bei den Brethren gewesen war, weil wir beide in diesem Dickicht gelebt und seine grausamen Nachwirkungen hatten durchstehen müssen. Ich musste mich an die Tage zurückerinnern, an denen ich aufgepasst hatte, ob ich die Hufe Satans auf dem Pflaster Brightons hören konnte, Abkommen mit dem Herrn geschlossen und Corned Beef und Kondensmilch für die Zeit der Drangsal gehortet hatte. Aber ich wollte an dieses Brethren-Mädchen in seiner roten Strickjacke mit den Messingknöpfen, dem Kopftuch und der Bibel im Arm nicht mehr erinnert werden. Ich hatte einen Schlussstrich gezogen. Meine Mutter hatte recht. Vielleicht ließ ich das alles am besten hinter mir.

4

Vier Jahre nach dem Tod meines Vaters gewann ich einen einmonatigen Schreibaufenthalt in einer Burg aus dem fünfzehnten Jahrhundert südlich von Edinburgh. Ich sollte eigentlich an einem Roman arbeiten, der im London des neunzehnten Jahrhunderts spielte, doch nach einer Woche am Schreibtisch mit Blick auf die Burganlage löschte ich, was ich geschrieben hatte – es war nicht viel. Jeder einzelne Absatz kam mir leer und hohl vor, jeder einzelne Satz schien sich gegen mich zu wenden.

In der Abenddämmerung ging ich spazieren, durch das Farnkraut und die umgestürzten, modernden Bäume hinunter zum torfroten Fluss und wieder hinauf zu den gepflegten Rasenflächen und Blumenbeeten, und dann noch einmal, und mit einem Mal hörte ich meinen Vater Teile der Offenbarung und Ezechiels rezitieren, dazu Yeats Die wilden Schwäne von Coole, und wieder lamentierte er über das Dickicht. Seine Stimme hallte durch den Ost- und den Westflügel des Schlosses, durch die Wälder und den Wind. Das waren Trauer-Halluzinationen, sagte ich mir, da meldeten sich meine Nerven. Was nichts Ungewöhnliches war, nichts, weswegen ich mir Sorgen machen müsste.

In der letzten Woche dann ging ich mit den anderen vier Schriftstellern im abendlichen Dämmerlicht im Fluss schwimmen, der sich eiskalt, breit und rotbraun über Fels und Kiesel durch die Wälder der Burg wand. Anschließend hüllten wir uns in unsere Handtücher und Bademäntel und folgten einem Pfad die steile Uferböschung hinauf in den dunkler werdenden Wald. Ich richtete den Blick auf die Füße des Dichters vor mir, die auf meiner Kopfhöhe waren und sich in Blätter und Farn drückten. Als der Dichter kurz stolperte und einer seiner Füße zur Seite wegrutschte, sah ich, zumindest dachte ich das, wie sich Rauch aus dem Loch in der Erde erhob, in das er hineingetreten war.

Ich fühlte Kratzen und Rascheln in meinem Haar. Und die ersten Stiche. Den Dichter hinter mir, er trug einen roten Bademantel, traf es ebenfalls. Wir rannten durch den Wald zurück zur Burg, stolperten in der Dunkelheit durchs Unterholz, schüttelten die Haare und rissen uns die Bademäntel vom Leib, bis wir uns sicher waren, wir hätten sie abgehängt.

Beim Abendessen sagten wir uns, dass wir noch mal Glück gehabt hatten. War es Zitronensaft oder Eis, fragte jemand, womit man Wespenstiche behandelte? Jemand gab mir ein Glas Whisky, und ich ging früh zu Bett. Der Whisky muss mir zu Kopf gestiegen sein, dachte ich, denn ich hörte Stimmen, die nicht da waren.

Um drei Uhr morgens wachte ich auf, das Blut pochte mir wild in den Ohren, und hinter meinen Lidern wurde ein fulminantes Feuerwerk abgebrannt. Ich schleppte mich hinüber zum Spiegel und zog ein Auge auf. Mein Gesicht und mein Hals waren derart angeschwollen, dass die Haut spannte und glänzte und ich schockiert zurückwich. Ich hatte Schwierigkeiten zu atmen.

Zwei Tage später war alles vorbei – die frühmorgendliche Fahrt im Auto des Direktors durch die Finsternis in die Notaufnahme, die Steroide, die Antihistaminika in Dosen hoch genug, um einen Elefanten zu Boden zu strecken, die vierundzwanzig Stunden, die ich halb im Koma lag, es war überstanden. Der Arzt hatte die harten Knoten auf meinem Kopf und im Nacken gezählt. Es waren fünfundzwanzig Stiche. Genug, um jemanden mit einer Allergie zu töten, und fast genug für jemanden, der bereits in einem leeren Garten gestochen worden war, als sich ein rauchiger Schwarm wie ein Geist aus einem Erdloch erhoben hatte.

Umgebracht haben sie mich nicht, dachte ich, aber doch ein Zeichen gesetzt.

Ein paar Jahre zuvor hatte mir bei einer Dinnerparty in Cambridge ein Mann in einem türkis-rosafarbenen Hemd gegenüber gesessen, der sich als Schamanismus-Experte entpuppte. Ich hatte ihn mit Fragen gequält und war nicht die Einzige, die die gewohnten Regeln einer gepflegten Dinner-Unterhaltung missachtete. Kaum jemand wollte über etwas anderes reden.

Fünfzehn Sommer habe er in der russischen Steppe bei einem Stamm mit Schamanen verbracht, erzählte uns der Mann, und studiert, wie sie die Toten überredeten, nach unten zu weichen.

»Nach unten«, sagte ich. »Was heißt das?« Für mich hatte der Tod immer bedeutet, nach oben aufzufahren, ins Jenseits, in die Lüfte erhoben zu werden, in die Arme Jesu. Wieder stand mir die Unmöglichkeit vor Augen, dass mein Vater mit seinem Gewicht in die Höhe aufstieg, überhaupt irgendwie nach oben. Selbst die Asche im blutroten Plastikgefäß des Krematoriums war so schwer gewesen.

Der Schamanismus-Experte erklärte uns, dass die Trauernden bei den Sora, einem alten Munda-Stamm in Indien, mit dem er sich mittlerweile beschäftigte, den Schamanen als Mittelsmann nutzten, um die Toten dazu zu überreden, in die nächste Welt einzutreten.

»Eine Art Geisteraustreibung?«, fragte ich.

»Etwas in der Art«, sagte er. »Wobei es in beide Richtungen geht. Tote wie Lebende müssen die jeweils anderen davon überzeugen, einander gehen zu lassen. Das dauert eine lange Zeit.«

Bis die Verwandten einen Verstorbenen so weit hätten, nach unten in die nächste Welt einzutreten, erklärte er uns, bewege sich sein Geist noch durchs Dorf und tue üble Dinge, reize die Leute, mache sie krank und sorge für Ernteausfälle. Die Toten müssten dazu überredet werden, in der Tiefe zu verschwinden.

In dem Moment sah ich meinen riesigen Vater irgendwo auf einer Klippe, leicht betrunken und nahe am Abgrund, schwankend, predigend, und meine Geschwister und ich versuchen ihn zu überreden, in die nächste Welt einzutreten. Hatten wir das verpasst?, fragte ich mich. Hatten wir nicht genau das in der Mühle getan, mit Bergman und den Kricketübertragungen?

Aber ich hatte ja noch nicht mal angefangen. Mein Vater war immer noch um mich herum. Redete noch immer. Es gab Wespenschwärme, Provokationen, und es würde noch schlimmer kommen. Jemand musste ihn dazu bringen, sich zu verabschieden.

5

Sechs Jahre nach dem Tod meines Vaters kam meine neunzehnjährige Tochter Kezia den Sommer über von der Uni nach Hause. Es war sehr warm, und sie suchte nach einem Ventilator, der, wie ich ihr sagte, irgendwo in einem Schrank stehen müsse. Bei der Hitze oben in meinem Arbeitszimmer, so wie die Sonne auf die Fensterläden niederbrenne, hatte sie sich tags zuvor beschwert, sei es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.

Ich arbeitete zwei Kilometer entfernt in der Kühle der British Library, und sie schickte eine SMS.

»Ich habe Grandpas Kisten gefunden«, schrieb sie. »Darf ich sie aufmachen?«

Ich brauchte eine Weile für meine Antwort.

»In denen herrscht ein ziemliches Durcheinander«, simste ich schließlich zurück. »Aber vielleicht kannst du die Papiere in eine Art Ordnung bringen, wenn du die Zeit dafür hast.«

Als ich Stunden später nach Hause kam, saß Kez zwischen etlichen ordentlichen Papierstapeln oben in meinem Arbeitszimmer. Messerscharfe Lichtstrahlen drangen durch die geschlossenen Fensterläden und ließen den Staub erstrahlen. Orlando, meine ältliche, orange gestreifte Katze, stolzierte zwischen den Stapeln und versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Der Ventilator lag, noch zerlegt, seitlich auf dem Boden.

Kez war im Laden um die Ecke gewesen und hatte Post-its, Dokumentenhüllen und Stehordner gekauft.

»Ich habe 1953 angefangen«, sagte sie mit geröteten Wangen. »In dem Ordner sind Briefe aus Südafrika und Großvaters Gefängnistagebuch. Dazu der Brief an Großmutter, in dem er sie um die Scheidung bittet und sagt, dass er besprechen will, wer von euch bei ihr bleibt und wer mit ihm kommt. Dann all die Listen mit den Brethren-Regeln und lauter Merkblätter. Irres Zeug. So verrückt. Von der Hälfte hatte ich keine Ahnung. Warum hast du mir das alles nie erzählt?«

»Das lässt sich nicht einfach so auf die Schnelle erklären«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich es hätte versuchen können. Warum hatte ich meinen Kindern nie von den Brethren erzählt? Weil ich auch nicht im Ansatz wusste, wie ich die Fragen, die sie stellen würden, beantworten sollte. Fragen, denen ich seit Jahren aus dem Weg ging. Wie funktionierte ein Kult? Wie hatte unsere Familie überhaupt in eine so extreme protestantische Sekte geraten können? Warum sollte sich überhaupt irgendwer den Brethren anschließen wollen? Wie konnten die Männer eine solche Macht über die Frauen bekommen? Warum hatte niemand rebelliert?

Und dann ist das Mädchen mit der roten Strickjacke und dem Kopftuch wieder da. Das Mädchen, das ich einmal war. Sie ist wütend. Sie sitzt in der Versammlung, hört die Männer predigen und versucht zu begreifen, was eine »himmlische Bürgerschaft« ist, was es bedeutet, wenn ein Haus »geheiligt« ist, und ob der Heilige Geist ein Mann oder eine Frau und wie durchsichtig er ist. Und sie will begreifen, warum die Frauen nichts sagen dürfen. Aber sie weiß, sie kann das nicht fragen, denn sie ist ein Mädchen und darf ebenfalls nichts sagen. Und sie wundert sich, dass keine der Frauen aufsteht, schimpft und auf den Boden stampft, wie sie es tun will. Sie will den Männern sagen, sie sollen aufhören, diesen Unsinn zu reden.

Mein Vater mochte gestorben sein, bevor er bereit gewesen war, sich seinen Fragen zu stellen, aber ich hatte noch Zeit. Es würde meine Geschichte werden, genau wie seine. Ich mochte ja Angst vor den einschüchternden Vertretern der Brethren haben, aber ich würde ihnen die Stirn bieten. Lass sie nur kommen.

Kez willigte ein, mir ein paar Wochen zu helfen. Sie wollte ein Archiv anlegen und alles übersichtlich einordnen. Und während ich mich an den Aufbau der Geschichte machte, fand Kez eine Website.

»Sie haben sich umbenannt in die Plymouth Brethren Christian Church«, sagte sie und gab mir ihren Laptop.

»Du musst die falschen Brethren gefunden haben«, sagte ich. »Die Exklusiven Brüder wollen nichts mit dem Internet zu tun haben. Handys und Computer sind geächtet. Bruce Hales, ihr gegenwärtiger Führer, hat das Internet mal als ›Pipelines des Unrats‹ bezeichnet. Sie würden niemals eine eigene Website haben.«

Aber Kez hatte recht. Es waren ebendiese Exclusive Brethren, in die drei Generationen meiner Familie hineingeboren worden waren: mit diesen Führern, diesen Werten, diesen Regeln. Laut Wikipedia gab es 46.000 von ihnen, die in Bruderschaften in neunzehn Ländern lebten, 16.000 von ihnen im Vereinigten Königreich. Ihr Führer, Bruce Hales, war der Neffe des Mannes, der in meiner Kindheit die Fäden in der Hand gehalten hatte. Sie hatten eine Familiendynastie daraus gemacht und ihr für teures Geld ein neues Image verschafft. Sie mussten sich umbenannt haben, um ihr schlechtes Image loszuwerden, das ihnen seit Jahrzehnten anhing, erklärte ich Kez. Aber warum hatten sie sich das so viel kosten lassen? Sie hatten sich doch nie um die öffentliche Meinung geschert.

Auf der Website fanden sich Fotos und Videos von schnellen Brethren-»Einsatztruppen«, jungen Leuten in Signaljacken, die transportable Küchen aufbauten, um Menschen zu versorgen, die in Australien durch Buschfeuer ihr Zuhause verloren hatten und in England durch Überschwemmungen. Sie verteilten Brownies an überraschte Feuerwehrleute und während einer Hitzewelle Wasserflaschen an Pendler in King’s Cross. Es gab Fotos von Brethren-Chören, Mädchen mit langen Röcken und Kopftüchern, die für alte Menschen in Heimen geistliche Lieder sangen. Mir stellten sich die Haare im Nacken auf.

Die Familie ist das Herz von allem, woran wir glauben und was wir tun, lautete die Überschrift über der Nahaufnahme eines kleinen Mädchens, das mit der Hand durch eine Garbe Ähren fuhr. Ich fühlte Wut in mir aufwallen. Wie konnten sie? Ich dachte an die Selbstmorde und jene Familien, die die Brethren im Laufe der Jahrzehnte zu Tausenden gequält und zerstört hatten. An die Unmengen Ex-Brethren, die ich kannte und die ihre Eltern und Geschwister nie wiedersehen würden. Hatten die Leute der PR-Firma überhaupt eine Ahnung, für wen sie da Publicity machten?

Aber als Kez und ich in verschiedenen Nachrichtenarchiven recherchierten, stellten wir fest, dass die Brethren nach wie vor eine schlechte Presse bekamen. 2009 hatte ein australischer investigativer Journalist einen Bestseller über ihre Steuerflucht-Techniken herausgebracht und ihre aggressive politische Lobby-Arbeit in Australien offengelegt. Er hatte Hunderte Ex-Brethren interviewt und nach Selbstmorden, Exkommunikationen, zerstörten Familien und posttraumatischem Stress befragt.1 Der damalige australische Premierminister Kevin Rudd hatte die Brethren als »extremistischen Kult« bezeichnet, »der Familien zerbricht und schlecht für Australien ist«2.

Britische investigative Journalisten hatten ebenfalls recherchiert, und die daraus resultierenden Zeitungsartikel über ihre Glaubensschulen und ihre Steuerflucht hatten dem Ruf der Brethren geschadet. 2012 hatten englische Beamte den Brethren den Gemeinnützigkeitsstatus für einen ihrer Trusts in Devon verweigert, wodurch ihnen der Verlust von mehreren Millionen Pfund an Steuervergünstigungen drohte. Sie hatten gegen die Entscheidung Einspruch eingelegt und eine PR- und Lobby-kampagne gestartet, damit ihnen die Gemeinnützigkeit erneut zugesprochen wurde. Sie waren aber, wie englische Journalisten schrieben, keine harmlose Glaubensgemeinschaft, die von den Prüfern schikaniert wurde. Diese Leute predigten Hass.

»Wir müssen einen Hass entwickeln, einen heillosen Hass auf die Welt«, hatte Hales 2006 einer großen Brethren-Versammlung erklärt. »Wer keinen Hass auf die Welt empfindet, wird wahrscheinlich von ihr verschlungen und verführt.«3

Britische Brethren-Lobbyisten waren übermäßig aggressiv in ihren Bemühungen, den Status der Gemeinnützigkeit wiederzuerlangen. Zwei Times-Journalisten war das Protokoll eines Treffen zugespielt worden, in dem Hales die Lobbyisten drängte, »extremen Druck« auf William Shawcross auszuüben, den Vorsitzenden der Charity Commission für England und Wales: »Geht ihm an die Kehle«, hatte er gesagt. »Geht unter die Gürtellinie.« Ich erschauderte.

»Wir arbeiten daran«, hatte einer der Lobbyisten geantwortet.4

Für Hales und seine Anhänger war Shawcross ein nicht zu den Brethren gehörender »Weltlicher«, ein Agent des Satans und damit Freiwild.

Als ich las, dass die Charity Commission den Brüdern 2014 die Gemeinnützigkeit erneut zuerkannt hatte, fragte ich mich, womit sie Shawcross an die Kehle gegangen waren. Und dann, was sie mit mir machen würden. Ich konnte sehen, dass Kez das Gleiche dachte.

»Scheiße«, sagte sie. »Das macht einem Angst.«

Während der nächsten paar Wochen unterteilte Kez die Ordner in »Vorher«, »Während« und »Nachher«.

»Das kannst du immer noch ändern«, sagte sie. »Es ist nur eine erste grobe Zeiteinteilung.«

Ich nickte. Das Mädchen mit der roten Strickjacke stand wieder mit im Raum.

»Vielleicht magst du ›Danach‹ lieber als ›Nachher‹«, sagte Kez. »Das würde mehr auf die Konsequenzen hindeuten … Ich meine, dass das, was dir und deinem Vater hinterher passiert, das Ergebnis der Schrauben ist, die ›Vorher‹ und ›Während‹ immer fester angezogen wurden.«

»Natürlich«, sagte ich. Ich erinnerte mich, wie mir der Knoten des Kopftuches hinten in den Nacken gedrückt und das ungeschnittene Haar in langen, schweren Zöpfen über den Rücken gehangen hatte. »Ja. Das ist gut.«

Ich nahm mir vor, mit Kez Wilde Erdbeeren anzusehen. Sie hatte noch nie einen Bergman-Film gesehen.

Einen Monat, nachdem wir mit unserer Arbeit angefangen hatten, träumte ich, Kez und ich ließen uns an einem langen Seil in ein dunkles Netzwerk aus Höhlen hinunter. Sie war vor mir. Sie hatte eine Taschenlampe und erinnerte mich an die alten Geschichten, in denen ein junges Mädchen einen Drachen niedermetzeln muss, um einen Fluch zu brechen.

Ihre junge Handschrift befand sich über der meines Vaters, wenn sie seine Briefe ordnete. »Der hier ist interessant«, schrieb sie auf ein Etikett auf der Plastikhülle. »Während der Zeit der Apartheid hat er in schwarzen Townships gepredigt.« Auf dem Brief, den mein Vater meiner Mutter wegen der Scheidung geschrieben hatte, hatte Kez vermerkt: »Der könnte hart zu lesen sein.«

»Brot brechen?«, sagt Kez. »Was ist das?« Sie ist nicht religiös. So habe ich sie erzogen.

»Transsubstantiation«, erkläre ich ihr. »Jesus ist am Kreuz gestorben und hat Instruktionen hinterlassen, damit die Leute sich an seinen Tod erinnern, an sein Opfer, indem sie Brot essen und Wein trinken. Das Brot soll sein Fleisch sein, der Wein sein Blut. Das haben wir ›das Brot brechen‹ genannt.«

»Das schlage ich nach«, sagte sie.

Ich bin schon wieder dort und knete ein kleines Stückchen warmen Teig zwischen den Fingern, früh am Morgen. Es ist Winter. Die erste Versammlung des Tages, und draußen ist es noch dunkel. Ich habe mein Kopftuch um, trage mein »gutes Kleid« und halte meine Bibel in der einen und meine Puppe in der anderen Hand.

»Wir haben es ›das Brot brechen‹ genannt«, hatte ich zu Kez gesagt. Wer, so fragte ich mich, war eigentlich dieses Wir, das ich immer wieder einfließen ließ?