Erwin Wickert - Ulli Kulke - E-Book

Erwin Wickert E-Book

Ulli Kulke

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Beschreibung

Erwin Wickert (1915-2008), Vater von Tagesthemen-Anchorman Ulrich Wickert, war der Inbegriff des kosmopolitischen und kultivierten Diplomaten und einer der interessantesten Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. 1939 wurde Wickert als erster deutscher Rundfunkattachée nach Tokio und Shanghai entsandt, er war erfolgreicher Schriftsteller und 1966 Verfasser der berühmten "Friedensnote", die die Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock mit einleitete. Ulrich Kulke hat diesen außergewöhnlichen Mann in intensiven Gesprächen persönlich kennengelernt und beschreibt sein bewegtes Leben, von den Abenteuern als Hobo in Amerika bis zum unangepassten Doyen des Auswärtigen Dienstes.

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Ulli Kulke

Erwin

Wickert

Abenteurer zwischen den Welten

Ein Leben als Diplomat und Schriftsteller

Bildnachweis: Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, Erwin Wickert Stiftung; Nr. 20, 21, 22, 23: Bundesbildstelle; Nr. 24: J.H. Darchinger; 25: Barbara Klemm.

Distanzierungserklärung:

Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.

© 2022 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Sabine Schröder

Umschlagmotiv: © Erwin Wickert Stiftung

Satz und Ebook-Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-7844-8427-3

www.langenmueller.de

Inhalt

Vorwort

von Professor Christian Hacke

Einführung

Das Jahrhundert des Erwin Wickert

Teil I: Abenteuer und Neugier (1915–1947)

1. Bewegte Kindheit, rebellische Jugend

2. »Sie wollen also Schriftsteller werden?«

3. Einmal um die Welt, als Tramp, »Moses« und Reporter

4. Der junge Bildungsbürger staunt über Hitler

5. Der Parteieintritt: Nötigung oder Bequemlichkeit?

6. Rundfunkattaché in Shanghai: Wickert fliegt raus

7. In Tokio: Ärger mit Richard Sorge, Angst nach Pearl Harbour

8. Das Ende in Japan: Ein Requiem für Hitler

Teil II: Diplomatie und Zeitgeschichte (1947–2008)

9. Nach sieben Jahren Heimkehr ins zerstörte Land

10. Diplomat in Paris: Kalter Krieg und Bordeaux-Wein

11. Moskau fordert NATO-Austritt: Wickert schreibt die Antwort

12. Autor der neuen Bonner Ostpolitik

13. In London: Zwischen High Society und »68er«-Attacken

14. Botschafter in Bukarest: Im Small Talk mit dem »Führer«

15. Brückenbauer in China: Wickert legt Fundamente

16. Der Pensionär: Ein streitbarer alter Herr

17. »Putztruppen-Revoluzzer« Joschka Fischer gegen die »Mumie« Erwin Wickert

Schlussbetrachtung

»Der große Zampano«

Anhang

»Er war der Pharao…« – Ein Gespräch mit dem Historiker Daniel Koerfer

Zum Weiterlesen – Ausgewählte Schriften von und über Erwin Wickert

Register

Vorwort

Die Biografie über den außergewöhnlichen Botschafter Erwin Wickert zeigt ein neues politisches Bild aus den Anfängen der Bundesrepublik und führt allen Lesern zu Recht eindrucksvoll vor Augen, wie vielschichtig das Leben dieses ganz besonderen Mannes war. Es ist ein Doppelleben, das sich vor unseren Augen entfaltet, das Leben eines Schriftstellers, eines klugen, kultivierten »Homme de Lettres« auf der einen Seite und andererseits das eines versierten, einflussreichen Diplomaten, der sich im Rahmen der praktischen Außenpolitik der Bundesrepublik als Rat- und entspannungspolitischer Ideengeber für Außenminister und Bundeskanzler in die Geschichtsbücher eingeschrieben hat. Ein solches »Grenzgängertum«, das im angelsächsischen und französischen Raum durchaus häufiger anzutreffen ist, besitzt in Deutschland absoluten Seltenheitswert. Wilhelm G. Grewe, der Vertraute von Adenauer und Hallstein, der seine universitäre Karriere als Völkerrechtler der diplomatischen Laufbahn opferte, es zum Botschafter in Washington brachte und später, am Ende seiner Dienstzeit, in Japan und der dabei gleichfalls in den Bann des Fernen Ostens geriet, mag einem hier allenfalls noch einfallen.  

Wer war Erwin Wickert? Um sich die zeitgeschichtliche Rolle und Bedeutung dieses Mannes vor Augen führen zu können, muss man an den Ausgangspunkt erinnern. Deutsche Außenpolitik und Diplomatie waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 durch eine vielfache Hypothek belastet. Deutschland hatte aufgehört, als Völkerrechtssubjekt zu existieren. Das Land und mit ihm das nach der Weststaatsgründung in Etappen wieder begründete Auswärtige Amt waren durch die verbrecherische Politik des Hitler-Regimes zutiefst diskreditiert. Zugleich wurde ab 1949 die Überwindung der Teilung Deutschlands zum Dreh- und Angelpunkt der westdeutschen Politik. Aus dieser Konstellation leitete die deutsche Diplomatie ihre zwei zentralen Zielsetzungen ab: die Wiederherstellung von Respekt und Ansehen in der Welt und das Offenhalten einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands.

Erwin Wickerts Leben und Wirken als Diplomat stand im Zeichen dieser Zielsetzungen und ihrer Vorgeschichte. Von 1939 bis 1945 war er selbst bereits im diplomatischen Dienst mit den Belastungen und Verbrechen der nationalsozialistischen Außenpolitik im Auswärtigen Amt konfrontiert worden, wenn auch aus einer gewissen räumlichen Distanz durch seine Diensttätigkeit in Asien. Nach seinem Wiedereintritt in das AA 1955 wurden die Rückgewinnung nationaler Reputation sowie die Überwindung der Teilung Deutschlands zu zentralen Bezugspunkten seiner diplomatischen Tätigkeit.

Wickerts Biografie spiegelt diese Verknüpfung zwischen nationalsozialistischer Vergangenheit und der Wiedervereinigung Deutschlands bemerkenswert unkonventionell wider: Er war ja alles andere als ein glühender Nationalsozialist. Im Gegenteil, schon der junge Erwin Wickert suchte mit allen Mitteln der streng nationalsozialistischen Erziehung seines Vaters zu entkommen. Sein USA-Aufenthalt 1935 als junger Austauschschüler kann auch als Flucht vor dem Elternhaus verstanden werden. Die anschließende abenteuerliche Reise um die Welt weckte vor allem seine nachhaltige Begeisterung für Asien. Nach seiner Weltreise war Wickert durch und durch kosmopolitisch eingestellt. Außerdem war er künstlerisch veranlagt – er schien regelrecht von den Musen geküsst. 

Mit dieser Disposition war er gegenüber dem rassistisch-bornierten Nationalsozialismus ziemlich immunisiert. Kein Wunder, dass er nach Mitteln und Wegen suchte, innerhalb dieser brutalen Diktatur möglichst ungestört zu leben und zu wirken. Mit dem Studium der Kunstgeschichte in Berlin suchte der Freigeist Wickert zunächst nach einer beruflichen Nische, um seiner Leidenschaft für Schriftstellerei und schöne Künste zu frönen. Doch damit war kein Lebensunterhalt zu sichern. Deshalb bewarb er sich im Auswärtigen Amt. Dort bot sich ihm überraschend die Möglichkeit, Krieg und Kriegsdienst weitestmöglich zu entkommen und wieder im Fernen Osten, der ihn weiterhin magisch anzog, leben zu können. 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Rückkehr nach Deutschland hatte sich der literarische Freigeist mit Hörspielen und Romanen in wenigen Jahren einen Namen gemacht. Deshalb kam für Wickert zunächst eine Fortsetzung seiner diplomatischen Karriere nicht infrage. Als Franz Krapf, Wickerts engster Freund und Kollege in Tokio, ihn 1955 aber zum Wiedereintritt in das Auswärtige Amt überredete, gab Wickert seine literarische Muse vorübergehend auf und kehrte zu seiner alten Leidenschaft, der Diplomatie und Außenpolitik, zurück. 

Dank seiner Unabhängigkeit und seines Freigeistes muss er dort schon 1939, mehr noch aber von 1955 an als unkonventioneller Seiteneinsteiger gelten. Wickert dachte und handelte weltoffener und unorthodoxer als die allermeisten seiner Kollegen und war – Ulli Kulke weiß uns vielfach ein Lied davon zu singen – skeptisch gegenüber allen Rangordnungen und Autoritäten. Dank seiner Unbekümmertheit und seiner guten Verbindungen reüssierte der Seiteneinsteiger im Amt dennoch erstaunlich schnell.

Mehr als einen Zipfel vom Mantel der Geschichte ergriff Erwin Wickert beherzt und entschlossen als Referatsleiter der Ostabteilung des AA. Wie war das möglich? Wie so oft in der Geschichte durch eine ungewöhnliche Personalkonstellation. 1962 wurde Wickert von seinem alten Freund Franz Krapf beauftragt, für den neuen christdemokratischen Außenminister Gerhard Schröder, der gerade Heinrich von Brentano abgelöst hatte, ein Memorandum zur Ostpolitik zu entwerfen. Das war überfällig, denn ab dem Beginn der Sechzigerjahre hinkte die deutsche Außenpolitik den dynamischen internationalen Entwicklungen hinterher. Die Forderung der Verbündeten nach entspannungspolitischen Initiativen der jeweiligen Bundesregierungen wurden immer ungeduldiger formuliert. Staatssekretär Karl Carstens zeigte sich gegenüber neuen friedens- und ostpolitischen Initiativen besonders aufgeschlossen. Doch als Krapf seinen alten Freund Wickert mit der Ausarbeitung einer entsprechenden Note beauftragen wollte, erklärte dieser unverblümt, er hätte keine Lust, die alten, langweiligen westdeutschen Argumente in einer Note an die ganze Welt zu wiederholen. 

Das war schon außergewöhnlich. Man stelle sich heute vor, ein Mitarbeiter im AA hätte die Chuzpe, eine entsprechende, vom Staatssekretär abgesegnete Anweisung rundheraus abzulehnen. Doch Wickert hatte sogar noch den Nerv, dem verblüfften Staatssekretär Carstens zu erklären, eine solche Note sei wenig zweckmäßig: »Die Wiederholung all der Tatsachen, die für unsere friedfertige Politik Zeugnis ablegen«, werde nur als »langweilig« empfunden werden. 

Wickerts Aufbegehren war sachlich verständlich: Die Außenpolitik der Bundesrepublik war zunehmend erstarrt und von selbst auferlegten Fesseln gelähmt. Sie drohte Westdeutschland im heraufziehenden Entspannungszeitalter zunehmend zu isolieren: Die Forderung nach Nichtanerkennung der DDR und der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik reichten als Instrumente nicht mehr aus, ja sie wirkten jetzt regelrecht kontraproduktiv! Die Welt war es müde, aus Bonn zu hören, dass am Beginn jeder Entspannungspolitik sichtbare Fortschritte in der Wiedervereinigung stehen müssten.

Carstens hatte das Dilemma wohl bereits selbst erkannt, deshalb reagierte er souverän und konstruktiv auf Wickerts Einwand: Dann solle dieser doch seine eigenen Vorstellungen zu Papier zu bringen! – Gesagt, getan! Wickert schrieb ein ausführliches Memorandum, das bereits die Grundzüge der im März 1966 veröffentlichten Friedensnote enthielt. 

Ihm war völlig klar, dass vor einem etwaigen Friedensvertrag und der Rückgewinnung der staatlichen Einheit und vollständigen Souveränität das Terrain erst einmal entspannungspolitisch für eine mögliche Wiedervereinigung vorbereitet werden musste! Denn noch immer war allenthalben, ganz besonders aber in Osteuropa, die Furcht vor deutschem Revanchismus virulent – trotz aller gegenteiligen Versicherungen aus Bonn. So schnell waren die bitteren Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs nicht abzuschütteln.

Deshalb konzipierte Wickert die Note mit zweifacher Stoßrichtung: In Richtung Westen galt es, die Verbündeten davon zu überzeugen, dass für die Verantwortlichen in Bonn tatsächlich nunmehr die europäische Entspannung zunächst Vorrang vor der Lösung der deutschen Frage haben sollte. Nach Osten galt es, der dortigen Propaganda mit ihrem permanenten Revanchismusvorwurf wirkungsvoll entgegenzutreten. Wickert verknüpfte in der Note deshalb Gewaltverzicht und Opferbereitschaft auf neuartige Weise, um die ostpolitischen Partner aufgeschlossen zu stimmen. Dazu bot sich die Forderung nach Abrüstung an.

Unter Verweis auf die zurückliegenden geringen Fortschritte in der Abrüstung schlug Wickert konkrete Schritte zur Rüstungskontrolle und zur europäischen Sicherheit vor. Dabei war für ihn der sogenannte »Einfrierungsvorschlag« zentral: »Die Bundesregierung erklärt sich bereit, einem Abkommen zuzustimmen, in dem die Staaten sich verpflichten, die Zahl der Atom-Waffen in Europa (...) stufenweise zu verringern. Ein solches Abkommen müsste sich auf ganz Europa erstrecken, (das) Kräfteverhältnis insgesamt wahren, eine wirksame Kontrolle vorsehen und mit entscheidenden Fortschritten bei der Lösung der politischen Probleme in Mitteleuropa verbunden werden.«

Die Note betonte das politische Ziel einer weltweiten allgemeinen kontrollierten Abrüstung. Das ließ aufhorchen! Jetzt machte sich die Bundesrepublik zu einem couragierten Befürworter von Abrüstung! Denn dadurch verstärkte Wickert die Wirkung der entspannungspolitischen Intentionen der Note gegenüber den Staaten Osteuropas. 

Die Bundesrepublik wurde also nicht nur in der Abrüstungs- und Sicherheitspolitik initiativ! Ein gutes Verhältnis zu den osteuropäischen Nachbarn schloss jetzt auch Fortschritte und Opfer bei der Regelung der Grenzfragen mit ein. Gegenüber der Tschechoslowakei ging die Note zugleich deutlich über die bisherigen offiziellen Positionen hinaus, wenn es hieß, das Münchner Abkommen sei von Hitler zerrissen worden und habe keine territoriale Bedeutung mehr. Die Note machte damit den Weg frei für Erfolg versprechende Verhandlungen mit dem Grenznachbarn ČSSR, wie sie die Regierung Brandt/Scheel dann ab 1970 einleitete!

Auch die Auflösung des Junktims zwischen Gewaltverzicht und Fortschritt in der deutschen Frage eröffnete neue diplomatische Spielräume. Jetzt zeigte sich die Bundesrepublik bereit, die Lösung politischer Probleme in ganz Europa nicht mehr mit der Forderung nach Wiedervereinigung zu blockieren. Entspannungspolitik wurde nicht mehr vom Fortschritt in der deutschen Frage abhängig gemacht. So gewann die Bundesrepublik außenpolitisch an Boden und Handlungsspielraum: Gegenüber dem Osten und der Sowjetunion wurden Verständigungs- und Entspannungsbereitschaft dokumentiert; im Westen zeigten sich die Verbündeten erleichtert. Die doppelte Stoßrichtung der Note machte Sinn und brachte Erfolg.

Neu und vielleicht erst im Rückblick voll zu würdigen ist in der Note das Eintreten der Bundesrepublik für neue Formen der internationalen Zusammenarbeit. Das war damals alles andere als selbstverständlich. Die Bundesregierung betonte jetzt, dass die alte nationalstaatliche Ordnung unseres Erdteils den großen politischen, wirtschaftlichen und technischen Aufgaben unserer Zeit nicht mehr gewachsen sei: »Diese Aufgaben lassen sich nur gemeinschaftlich lösen. Eine Politik, die auf internationale Zusammenarbeit und Zusammenschlüsse gerichtet ist, dient dem Frieden. Sie braucht den Frieden, wenn sie ihre Ziele erreichen will.«

Das Friedensmotiv der Note war zwar idealistisch im Anspruch, aber auch nüchtern-realistisch verankert, wenn es unter Zurückweisung sowjetischer Drohungen heißt: »Die Bundesregierung ist entschlossen, sich im Verein mit ihren Verbündeten gegen jeden Angriff auf ihre Freiheit zu verteidigen. Dagegen ist sie für einen Angriffskrieg nicht gerüstet, zumal sie ihre Kampfverbände dem Verteidigungsbündnis NATO unterstellt.«

Hier nahm Wickert in Ansätzen schon eine Verknüpfung zwischen militärischer Sicherheit und politischer Entspannung im multinationalen Rahmen vorweg, wie sie bald darauf 1967 im Harmel-Bericht als Leitfaden für die neue NATO-Strategie fixiert und schließlich 1968 mit dem Signal von Reykjavik als Kernbotschaft und Verhandlungsofferte den Staaten des Warschauer Paktes übermittelt wurde. Wickert war mit diesen Überlegungen in der Friedensnote also tatsächlich seiner Zeit weit voraus. 

Kein Wunder, dass Carstens die Friedensnote in seinen Memoiren als »Meisterstück deutscher Diplomatie« und Wickert als »hochbefähigten Mitarbeiter« würdigte. Denn Wickert initiierte mit seinen Vorschlägen eine bislang unbekannte innovative Offensive der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Note belegt zudem unzweideutig, dass, schon bevor Willy Brandt 1966 Außenminister der ersten Großen Koalition und bald darauf – 1969 – Bundeskanzler geworden war, die Bundesregierung unter Führung der CDU/CSU verhandlungspolitisch aufgeschlossen Verständigung und Entspannung mit den Ländern Osteuropas suchte, mithin die westdeutsche Entspannungspolitik keineswegs erst mit der sozialliberalen Koalition einsetzte. 

Es gehört zu den Pointen dieser wichtigen Episode dazu, dass sie uns zugleich auch Erwin Wickerts taktisches Geschick vor Augen führt, die breite Front der Entspannungsskeptiker in den Unionsparteien zu neutralisieren. Denn das größte innenpolitische Hindernis für Schröders »neue« Ostpolitik waren die Vertriebenenverbände: »Wir müssen«, notierte Wickert nicht ohne Grund in seinem Tagebuch, »die Vertriebenenverbände einzeln knacken.«

Dabei war ihm Bundesvertriebenenminister Johann Baptist Gradl, der in der Union ebenfalls für Ausgleich und Versöhnung plädierte, eine wichtige Hilfe. Auch Heinrich Krone, den christdemokratischen Bundesminister für Angelegenheiten des Verteidigungsrates und langjährigen Adenauer-Vertrauten, wusste Wickert einzubinden.

In einem wesentlichen Punkt allerdings wurde die Note national wie international kritisiert: Ausgeklammert war in ihr die DDR, mit der die Bundesrepublik zum damaligen Zeitpunkt noch keinerlei diplomatische Beziehungen unterhielt. Ihr wurde weder die Note übermittelt, noch wurde sie in der Note überhaupt mit einem Wort erwähnt. Wickerts Begründung war plausibel: »Wir waren uns dieser Schwäche bewusst. Aber in der damaligen innenpolitischen Situation, wo schon verhältnismäßig sekundäre völkerrechtliche Fragen umstritten waren, etwa ob das Münchner Abkommen von 1938 ex tunc oder ex nunc ungültig sei, war ein neuer Kurs gegenüber der DDR noch nicht durchzusetzen. Das Fundament für weitergehende Initiativen war nicht tragfähig genug. Wir mussten noch warten, bis wir in einem günstigen Stadium auch die deutsche Frage, die Wiedervereinigung diskutieren konnten.«

Weil Außenminister Schröder und Erwin Wickert besonderen Wert auf überparteiliche Zustimmung aller drei im Bundestag vertretenen Parteien legten, wurde die Note in ihrer Entstehung mit allen Fraktionen und damit auch mit der oppositionellen SPD detailliert abgestimmt. Als Bundeskanzler Erhard die Note im Bundestag vorstellte, stimmten ihm alle Parteien zu. Damit war der innenpolitische Erfolg gesichert. Für Wickert war es nicht verwunderlich, dass Bundeskanzler Erhard den Eindruck zu vermitteln suchte, die Note sei das Produkt seiner eigenen Initiative gewesen – Schröder, Carstens, Wickert und das Auswärtige Amt wussten es besser. Auch die westlichen Verbündeten waren von Wickert umfassend in den Entstehungsprozess der Note eingebunden worden. So war es nur konsequent, dass auf der NATO-Konferenz in Brüssel die Friedensnote als nachahmenswertes Beispiel für Ost-West-Entspannung gewürdigt wurde.

Die Friedensnote von 1966 markierte nicht nur einen Meilenstein in den Bemühungen der Bonner Republik um Ost-West-Entspannung. In ihr kommt auch die herausragende und innovative Stellung des Auswärtigen Amtes für die Formulierung der bundesdeutschen Außenpolitik zum Ausdruck. Und bei zögerlichen Bundeskanzlern fungierte das Amt auch nicht selten wie bei der Friedensnote als konstruktives, innovatives und kritisches Widerlager. 

Kein Wunder, dass dank der eindrucksvollen Resonanz in den nationalen wie internationalen Medien Erwin Wickert bei Außenminister Schröder fortan einen Stein mit Brett hatte und zu einem besonders hochgeschätzten Diplomaten avancierte. Schröder hatte Gefallen gefunden an diesem unabhängigen Freigeist, der außerdem als Seiteneinsteiger seine literarischen Ambitionen weiterverfolgte und sich deshalb auch schon mal für ein Jahr unbezahlten Urlaub vom Amt nahm. Diese Unabhängigkeit und kulturelle Vielseitigkeit imponierten dem Außenminister. Wickert dachte unangepasst, unkonventionell und zukunftsweisend, wie nicht nur »seine« Friedensnote unter Beweis stellte.

Zugleich blieb er auch in den kommenden Jahren Gerhard Schröder persönlich verbunden: »Er besuchte mich, als ich Botschafter in Bukarest war, und später auch in China. Dort machten wir mit unseren Frauen eine Reise in die Wüste Gobi. Und als ich im Ruhestand war, nahm ich teil an dem Schröder-Kreis, dem einige deutsche Politiker, Journalisten, Diplomaten, Generale, Wissenschaftler und Wirtschaftler angehörten.«

Der geplante west-östliche Dialog, der mit der Friedensnote begonnen hatte, konnte von der Regierung Erhard jedoch nicht fortgesetzt werden. Im November 1966 trat Bundeskanzler Ludwig Erhard, von christdemokratischen Kabalen und eigener Schwäche zermürbt, zurück, Kurt Georg Kiesinger (CDU) wurde sein Nachfolger, Willy Brandt (SPD) wurde Außenminister der ersten Großen Koalition auf Bundesebene.

Erwin Wickert rückte dadurch noch näher ins Zentrum der Macht. Mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und neuen Bundeskanzler verband ihn eine langjährige Freundschaft, deren Wurzeln bis ins alte Amt zurückreichten: »Mit Kiesinger sprach ich al pari, wir hatten dieselben Freunde, hatten Ähnliches in der schwierigen Zeit des Krieges erlebt, waren uns später oft begegnet, sprachen nicht nur über Politik, sondern über Geschichte, Philosophie und Literatur, und wir lasen dieselben amerikanischen Krimis. Außerdem leerten wir manche Flasche Rotwein gemeinsam im Kanzlerbungalow.«

Kiesinger knüpfte bei den entspannungspolitischen Bemühungen seiner Koalition explizit bei der Friedensnote an. So erklärte er am 13. Dezember 1966 im Bundestag: »Die letzte Bundesregierung hat in der Friedensnote auch der Sowjetunion den Austausch von Gewaltverzichts-Erklärungen angeboten. Die Bundesregierung wiederholt heute dieses auch an die anderen osteuropäischen Staaten gerichtete Angebot. Sie ist bereit, das ungelöste Problem der deutschen Teilung in dieses Angebot einzubeziehen.«

Auch Bundeskanzler Willy Brandt berief sich 1969 bei seinem Regierungsantritt auf diese Tradition. In seiner ersten programmatischen Regierungserklärung sagte er: »Die Außenpolitik dieser Bundesregierung knüpft an die Friedensnote vom März 1966 an. Die in diesen Dokumenten niedergelegte Politik hat damals die Zustimmung aller Fraktionen dieses Hauses erhalten.«

Als Fazit lässt sich festhalten: Die Friedensnote hat sich in Europa und in der Welt als ein wichtiger Markstein deutscher Entspannungspolitik eingeprägt, denn sie stellte klar: Der deutsche Gewaltverzicht war ernst gemeint und unwiderruflich. Die Bundesrepublik spekulierte nicht mehr auf ein Rollback des Kommunismus nach Osten. Ein wiedervereinigtes Deutschland würde Rüstungsbeschränkungen akzeptieren und Sicherheitsgarantien bieten, die geeignet sind, die Furcht vor einem militärisch übermächtigen Gesamtdeutschland zu zerstreuen. Mit Blick auf die Ostgrenzen und Ostgebiete war die Bundesrepublik zu endgültigen Opfern bereit im Falle der Wiedervereinigung.

Liest man diese vier essenziellen Punkte der Friedensnote genau, so stellt man verblüfft fest, dass sie bereits die Eckpunkte der Ergebnisse der Zwei-plus-Vier-Gespräche enthalten; diese wiederum waren Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands 1990.

Erwin Wickert leistete mit dieser Friedensnote also nicht nur einen zentralen Beitrag zur deutschen Entspannungspolitik, sondern indirekt schrieb er sich zugleich auch in das Geschichtsbuch zur deutschen Einheit ein.

Erwin Wickert hat auch auf seinem letzten Posten als Vertreter der Bundesrepublik in Peking wichtige Weichen in die Zukunft gestellt. Schon der Auftakt seiner dortigen Mission war dramatisch: Nur einen Tag nach seiner Akkreditierung als Botschafter verstarb Mao. China stürzte in eine Phase gefährlicher Desorientierung. Dank seines diplomatischen Geschicks, seiner Vertrautheit mit der chinesischen Geschichte und seines Einfühlungsvermögens entwickelte Wickert rasch ein sicheres Gespür für die Ereignisse und politischen Strömungen in dieser Umbruchphase. Früher und klarer als jeder andere westliche Diplomat erkannte Wickert den tiefen, ja revolutionären Einschnitt eines neuen China ohne Mao. Amerikanische Experten dagegen bezweifelten, ob die chinesischen Kommunisten Reformen überhaupt innenpolitisch durchsetzen wollten.

Wickert war regelrecht elektrisiert: Die Kontroversen innerhalb der chinesischen Führung eröffneten in seinen Augen ganz neue Chancen für Veränderungen in China und damit auch für verbesserte Beziehungen. Die chinesischen Kommunisten waren offen und suchten westliche Vorbilder für die eigenen Reformen. Dabei wurde gerade die Bundesrepublik mit Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft für viele Kommunisten zum Vorbild für Wirtschaftsreformen. Dadurch rückten plötzlich neue und intensivere Verbindungen zwischen China und Deutschland in Reichweite. Wickert hatte schon 1964 erstmals das Terrain sondiert, als er Gespräche mit den Chinesen in Bern geführt hatte, um den Warenaustausch auszubauen und den Status von West-Berlin aufzuwerten. Damals scheiterte ein geplantes Abkommen am amerikanischen Veto und an der mangelnden Kampfkraft des Bundeskanzlers Erhard. 

Ab 1976 war die Lage völlig anders; jetzt handelte die Bundesrepublik unabhängiger. Mitarbeitern von Deng zeigte Wickert als Anschauungsmaterial Dokumentarfilme über die Zerstörung Deutschlands bei Kriegsende und über die Erfolge des deutschen Wirtschaftswunders. Die Chinesen waren beeindruckt. Sie wollten vom deutschen Beispiel lernen. Außenminister Genscher unterstützte Wickerts Bemühungen, mit dem neuen Staatsoberhaupt Hua Guofeng und dann mit dem kühnen Reformer Deng Xiaoping engere Bande zu knüpfen. 

Wickerts Motto bezüglich China lautete: »Jede Chance sofort ergreifen, denn das Potential dieses Landes an Menschen, Begabung und Rohstoffen ist groß, und gute wirtschaftliche Beziehungen könnten einmal die Grundlage für engere wirtschaftliche Beziehungen bilden, denn Chinas strategische Lage ist für Europa von großer Bedeutung …« – das stieß im Auswärtigen Amt auf positive Resonanz. Wickert wurde zur Drehscheibe deutscher China-Politik. So begleitete er auch Hua Guofeng auf seinem ersten Auslandsbesuch nach Deutschland und knüpfte dabei den persönlichen Kontakt enger. Bundeskanzler Helmut Schmidt zeigte sich nach dem Treffen mit Hua – und von Wickerts Anregungen – so begeistert, dass er auf chinesischen Wunsch deutsche Wirtschaftswissenschaftler zu Vorträgen und Schulungskursen nach China entsandte. Schmidt wurde übrigens selbst, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Wickert, zu einem Bewunderer von Deng und knüpfte mit diesem vertrauensvolle Beziehungen.

Auch bei der weiteren Entwicklung sollte Wickert weitgehend recht behalten. So prophezeite der Botschafter früh: »Die Modernisierung wird länger dauern, die Chinesen sprechen selbst von einem neuen Langen Marsch, denn es wird regionale, wirtschaftliche, soziale und politische Spannungen geben, doch die Aussichten sind gut. Der politische Wille ist bei der Führung da; sie muss nur die Funktionäre im Land dazu bringen, selbst zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Das wird schwer sein und lange dauern.«

Man ist versucht zu sagen, dass Erwin Wickert mit seinen klugen Beobachtungen und Ratschlägen zu einer Art bundesrepublikanischem Henry Kissinger der deutschen China-Politik avancierte. Wie Kissinger teilte er die Bewunderung für die strategische Ausrichtung der chinesischen Diplomatie und erkannte das große politische und wirtschaftliche Potenzial Chinas: »Sicher ist, dass ein industrialisiertes, politisch einiges China mit einer Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen in der Welt Wirkungen ausüben würde, die unsere heutigen Vorstellungen weit übertreffen. China würde eine Macht werden, die schon im Laufe ihres Entstehens das Bild der Welt ändern und die Handelsströme umlenken würde. Vielleicht würden die Kraft Chinas, Japans, Südkoreas, Taiwans und Hongkong bewirken, dass das wirtschaftliche und politische Gravitationszentrum der Welt sich nach Ostasien verlagert, fernab von Westeuropa, das in endlosen Debatten in Brüssel und Straßburg beweisen würde, dass es zu einem großen Entwurf nicht mehr fähig ist.«

Auch Wickerts Seitenhieb auf Europa hat sich – leider – in den vergangenen vier Jahrzehnten als begründet erwiesen. Wer außer ihm hat so früh die globale Machtverschiebung von West nach Ost prophezeit? Heute jedoch überwiegt im Westen die Angst vor einem erstarkten China. Das liegt aber auch an selbst verschuldeter Schwäche des Westens. Wickert würde deshalb heute vor Angst und Panik warnen und vielmehr eine Erneuerung der westlichen Demokratien anmahnen, sich zugleich von moralisierendem China-Bashing distanzieren.

Hat Erwin Wickert an eine demokratische Transformation in China geglaubt? Wohl kaum. Dazu war er zu sehr Realist: »Die Kommunistische Partei fürchtet wahre Demokratie und ein Mehrparteiensystem; und eine Demokratie, in der das Volk wirklich etwas zu sagen hat, wird diffamiert als ›bourgeoise Demokratie‹«. Diese seine Einsicht hat weiterhin Bestand, auch nachdem Jahrzehnte vergangen sind. 

Eines allerdings ist sicher: Wickerts Wirken in Peking ging über die traditionelle Botschaftertätigkeit weit hinaus. Er war nicht nur mit der chinesischen Sprache vertraut, sondern ein gesuchter Experte der chinesischen Geschichte. So verwundert es nicht, dass er an seinem Lebensabend auf eine chinesischen Historikerkonferenz in Nanking eingeladen wurde, um über die Taiping-Revolution zu referieren. Doch damit nicht genug: Man schätzte in China auch den Dichter und Schriftsteller Erwin Wickert! Sein Hörspiel »Der Klassenaufsatz« wurde übersetzt, in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht und als erstes ausländisches Hörspiel im chinesischen Rundfunk gesendet. 

Deshalb ist es nicht übertrieben zu sagen: Es gibt in der Geschichte der deutschen Diplomatie wohl keinen zweiten Botschafter, der sich so verdient gemacht hat um die deutsch-chinesischen Beziehungen wie Erwin Wickert. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass nach Maos Tod die Grundlagen gelegt wurden für einen massiven Auf- und Ausbau der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen! Kein Land außer den USA pflegt heute so eindrucksvolle Wirtschaftsbeziehungen mit der Volksrepublik wie Deutschland. Wickerts Wirken und Erbe wirken damit fort – er hat China tatsächlich »von innen gesehen«, so der Titel seiner China-Erinnerungen, soweit das einem Ausländer überhaupt möglich ist. Er trat für klugen Realismus und Einfühlungsvermögen in Chinas Geschichte, Politik und Kultur ein. Nicht moralisierende Besserwisserei, sondern China historisch – und das heißt, auch von innen – verstehen zu lernen, das bleibt die große Herausforderung deutscher China- Politik, die Erwin Wickert zum Wohle der deutschen Interessen großartig gemeistert hat.

Erwin Wickert verkörperte wie kaum ein Zweiter einen Typus von Diplomaten, der kosmopolitisch, kultiviert und mit großer Neugier sich für andere Länder und Kulturen interessierte, ja begeistern konnte! Wickert war hoch politisch, aber zusätzlich kulturell und literarisch gebildet und dazu selbst schöngeistig orientiert. Das führte dazu, dass er Zugänge zum Leben und Puls anderer Gesellschaften fand, die anderen Ausländern und Botschaftern verschlossen blieben. Umgekehrt entwickelte er deshalb gesellschaftspolitische Einsichten und politische Schlussfolgerungen, die als Berichte an die Zentrale in Bonn für Einzelaspekte der deutschen Außenpolitik von unschätzbarem Wert waren.

Dies wiederum führte dazu, dass Erwin Wickert nicht nur als Diplomat reüssierte, sondern zeit seines Lebens gesuchter Gesprächspartner der deutschen Außenminister und Bundeskanzler war. Inwieweit sich manche dieser vertraulichen Ratschläge in konkreter Politik niederschlugen, das ist Wickerts Geheimnis geblieben. Und diese Vertraulichkeit erhöht auch posthum seinen Rang und seinen Einfluss. Er blieb ein Leben lang der obersten diplomatischen Prämisse verpflichtet: Mehr Sein als Scheinen, und dazu gehört: Das Vertraulichste bleibt der Diskretion unterworfen.

Professor Christian Hacke, emeritus

EinführungDas Jahrhundert des Erwin Wickert

»Das 20. Jahrhundert war großartig in seinen Schrecken, niederdrückend in langen Leidenszeiten, erschütternd im Unrecht an unschuldigen Menschen, beschämend in der Feigheit selbst der Anständigen vor der Wahrheit. Es war wunderbar, dass dem Menschen Kenntnis, Bewusstsein und Erinnerung zuteilwurde, um sich selbst und die Welt in extremis sehen und zu einem kleinen Teil verstehen zu können. Und doch ist die Sprache nicht mächtig genug, um alles in einem Wort zu benennen, was ich erlebt und überlebt habe und was jetzt als Hintergrund meines Weltbildes das, was mir begegnet, beleuchtet – ein unverlierbarer Gewinn. Wem kann ich das danken?«

So fasste Wickert ein Jahr vor seinem Tod das vergangene Jahrhundert zusammen, sein Jahrhundert. In einem intensiven Gespräch, das der Autor im Frühjahr 2007 zwei Tage lang in seinem Haus führte, ein Jahr vor seinem Tod.

Am Ende hat er sie alle überlebt. Die Zeitgenossen, mit denen er die Etappen seines Lebens gemeinsam gegangen war, mit denen er, der zu den bestvernetzten Personen des Bonner Beamtenapparates gehörte, im ständigen Austausch stand, mit Vorliebe korrespondierte – ausgewählt dokumentiert nicht zuletzt auch in dem von Ulrich Lappenküper herausgegebenen Buch»Das muss ich Ihnen schreiben« mit Wickerts wechselseitiger Korrespondenz über 64 Jahre (1937 bis 2001). Es ist ein illustrer Spaziergang durch den privaten Schriftverkehr eines mit aller Welt in Verbindung stehenden Diplomaten und Schriftstellers, der hinter die Nachrichtenebene gleich mehrerer Epochen blicken lässt. Im Briefverkehr mit Bundespräsidenten, Bundeskanzlern, Verbandsgrößen, Chefdiplomaten der Supermächte. Ein beispielloser Fundus, offenbar über Jahrzehnte von ihm verwahrt. Doch irgendwann stockte der Austausch, die fortgeschrittene Zeit forderte ihren menschlichen Tribut.

»Es gibt immer weniger, leider«, bedauerte Wickert es in jenem Interview von 2007, dass er sich über das dramatische Weltgeschehen von früher, in dessen Zentrum er selbst agierte, nun nicht mehr mit anderen Akteuren unterhalten konnte, und erzählte: »Oft will man rückfragen, um die Erinnerung zu prüfen. Zum Beispiel: Ende Oktober 1956. NATO-Rat in Paris. Die Ungarn sind gegen die sowjetische Besatzung aufgestanden. (...) Der alte Generalsekretär Lord Ismay (...), tritt ein, ernst, eröffnet die Sitzung (...): ›Ich werde eben informiert, dass die britische und französische Luftwaffe seit heute früh mit starken Bomberverbänden Ziele in Ägypten angreifen.‹ Totenstille im NATO-Rat. Der britische und der französische Premierminister hatten diesen Angriff hinterhältig und unter striktester Geheimhaltung vorbereitet und weder die amerikanischen noch die anderen NATO-Bundesgenossen davon unterrichtet. Selbst vor dem NATO-Generalsekretär des Bündnisses hatten sie den Überfall geheim gehalten und es ihm überlassen, die NATO-Bundesgenossen nachträglich von ihrem Bubenstück zu informieren. Marcelle Campana, meine französische Kollegin, gab mir mit den Augen einen Wink zum Generalsekretär. Er hatte Tränen in den Augen, weil seine eigene Regierung und die Frankreichs die Bundesgenossen getäuscht hatten. (...) Vor Kurzem wollte ich Marcelle fragen, ob ich mich richtig an alles erinnere. Da fiel mir ein, dass ich schon vor Jahren ihre Todesanzeige erhalten hatte.«

Wickert wurde 93 Jahre alt. Er war ein streitbarer Mensch, scheute politische Auseinandersetzungen auch nicht mit namhaften Persönlichkeiten der Bundesrepublik, mit Walter Hallstein, Franz Josef Strauß, Egon Bahr, Horst Ehmke und vielen anderen, soweit es sein diplomatisches Amt verlangte, über Bande. Nach seiner Pensionierung konnte er direkt vorgehen. Noch gegen Ende seines neunten Lebensjahrzehnts führte er mit dem amtierenden Außenminister Josef (»Joschka«) Fischer einen anhaltenden, von den Zeitungen viel beachteten Schlagabtausch, der damit begonnen hatte, dass er dem grünen Politiker vorwarf, aus dessen militanter 68er-Zeit alte Seilschaften auf Schlüsselpositionen ins Auswärtige Amt zu holen.

Am Ende stand – letztlich als Retourkutsche Fischers gegen Wickert – ein Auftrag des Ministers an eine »Historikerkommission«, die Rolle der Diplomatengeneration Erwin Wickerts im Dritten Reich sowie beim Neuaufbau des Ministeriums nach dem Krieg unter die Lupe zu nehmen. Dessen Ergebnis, das fast 900 Seiten starke Buch »Das Amt und seine Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik« erlebte er nicht mehr. Es kam 2010, zwei Jahre nach Wickerts Tod, heraus (siehe Kapitel 17 und das Gespräch mit Daniel Koerfer im Anhang) und führte zu einem mehrere Monate andauernden Streit unter Historikern und Feuilletonisten in den überregionalen Blättern.

Weisheit ist gefragt

Was Wickerts Leben angeht, Details, Anekdoten, Dialoge, Abenteuer, politischer Streit – es ist, als habe er gleich zu Beginn seines polyglotten Lebens, seiner Weltenbummelei, geahnt, welchen Wert dieses Maß an Zeitzeugenschaft später einmal haben würde. So hat er seine Erlebnisse regelmäßig aufgezeichnet, wenn auch erstmal nur für sich. In kurzen Abständen und ausführlich, seit den frühen Dreißigerjahren fast durchgehend.

2007, bei jenem Interview, war Wickert bereits seit 28 Jahren pensioniert. War seither hauptsächlich als Buchautor tätig, schon immer seine zweite Berufung, die ihm eine parallele Karriere beschert hatte. In der manche Zeitgenossen sogar seine größere Leidenschaft ausmachten – nicht abwegig angesichts von vierzig Werken, Sachbüchern, Romanen, Autobiografien, und vor allem preisgekrönten Hörspielen. Nebenbei beschäftigte er sich auch in seinen späten Jahren noch als erfolgreicher Brückenbauer zwischen Asien und Europa. Nachdem er Anfang 1980 seine letzte Aufgabe im Diplomatischen Dienst – Botschafter in China während der wohl dramatischsten Zeit, unmittelbar nach Maos Tod – erledigt hatte, stand er, freischaffend und ehrenamtlich, bei besonderen Lagen zwischen Fernost und Bonn oft dichter am Geschehen als seine Nachfolger in Amt und Würden. Schon als man ihn 1976 nach Peking versetzt hatte, war dies alles andere als ein Zufall; er, der die Landessprache beherrschte, der unter seinen vielen Romanen 1961 bereits einen Bestseller über ein Schlüsselereignis der chinesischen Geschichte vorgelegt hatte (»Der Auftrag«), mit Neuauflagen bis in die 1990er-Jahre, galt in Deutschland als einer der ausgewiesensten Kenner der Politik und Gesellschaft Chinas.

Die Bonner Außenstellen im kommunistischen Bereich waren in den Jahrzehnten des Kalten Krieges die größte Herausforderung im Auswärtigen Dienst. Nachdem Willy Brandt mit seiner neuen Ostpolitik die Hallstein-Doktrin ad acta gelegt hatte, verwandelten sich Osteuropa sowie Teile Afrikas und Ostasiens für die Bundesrepublik unversehens vom diplomatischen Niemandsland in Neuland. Eine ganze Hemisphäre, in der Ideologie stets Vorrang hatte vor Vernunft und berechenbarer Kommunikation, war plötzlich neu zu besetzen. Weisheit war gefragt. Wickert wollte dann gleich ins Land seiner Sehnsucht, nach China, 1972 als erster Botschafter. Doch in kluger Voraussicht hielt ihn der Außenminister zunächst zurück, wollte ihn sich aufheben für die Zeit nach Maos Tod. Und so bedachte ihn Walter Scheel 1971 zunächst mit einem anderen, kaum minder pikanten Botschafterposten: Rumänien, als Bonner Vertreter in einem Land mit einem besonders sprunghaften, gefährlichen Despoten an der Spitze, Nicolae Ceaușescu, den westliche Beobachter völlig überschätzten, weil sie sich durch seine Distanz zu Moskau blenden ließen.

Wickerts Aufzeichnungen über seine Umtriebe in der rumänischen Nomenklatura gehören zu den amüsantesten und eindrucksvollsten seiner Chronistentätigkeit. Und zu den köstlichsten Lehrstücken darüber, wie ein Chefdiplomat auf Außenposten durch fast schon undiplomatische Härte und kleine Tricks vermeintlich große Diktatoren zur Räson bringen kann. Egal ob es um Wirtschaftskontakte oder humanitäre Hilfe geht – oder einfach nur um Respekt vor der persönlichen Botschafter-Residenz. Diplomat sein, so sagte er einmal, heißt auch, »sich nicht über den Tisch ziehen zu lassen«. Er erwarb sich bald einen Ruf, der dann, viele Jahre später, als sich Hans-Dietrich Genscher einmal vor Problemen mit der polnischen Führung sah, zum Stoßseufzer veranlasste: »Ach, wäre doch nur der Wickert Botschafter in Warschau.«

Die Zeiten als Botschafter in den exotischen Welten Rumänien und China ließen Wickert gegenüber seinen Ämtern zuvor gehörig aufleben. Gewiss, Paris, wo noch die ganze Familie zusammenlebte – die Kinder Wolfram, Ulrich und Barbara gingen dort zur Schule –, war für den weltläufigen, historisch ambitionierten Bordeaux-Liebhaber eine ideale Spielwiese. Doch die Arbeit in der französischen Hauptstadt bei der NATO-Botschaft füllte ihn ebenso wenig aus wie die spätere als Gesandter an der Londoner Botschaft unter Außenminister Willy Brandt.

Der »Amtspoet« mit Hang zum Abenteuer

Es war die Zeit zwischen diesen beiden Stationen, die Wickert wohl seine nachhaltigste, wirkungsvollste Tätigkeit bescherte: für sieben Jahre als Referatsleiter zuständig für die Staaten des Warschauer Pakts. Als »Amtspoet«, wie ihn derSpiegel wegen seiner vielen Romane bald titulierte. Als ein Poet, der allerdings nicht nur die Belletristik beherrschte, sondern mit derselben Verve auch die wirkmächtige politische Prosa. Im Auftrag des damaligen Außenministers Gerhard Schröder (er sagte: »Sie müssen jetzt mal in die Speichen greifen!«) und dessen Staatssekretärs Karl Carstens war letztlich er es, der die Bonner Friedensnote 1966 verfasste, mit der die Bundesrepublik dem kommunistischen Block erstmals signalisierte: Wir sehen eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und die Revision der Oder-Neiße-Grenze nicht mehr als Vorbedingung für bessere Beziehungen. Ein Papier, das den Beziehungen zu Moskaus Herrschaftsbereich schon bald einen anderen Rahmen gab, dem zuvor allerdings lange, schwierige Diskussionen Wickerts mit der Spitze des Hauses vorangegangen waren und das anschließend auch in der Regierung wie in der Union für Aufruhr sorgte. Es war ein Vorgeschmack auf die harten Auseinandersetzungen, denen sich später Willy Brandt bei seiner neuen Ostpolitik ausgesetzt sah, als er die Friedensnote des »Amtspoeten« in sein politisches Konzept goss: »Wandel durch Annäherung«.

Es hätte ja auch alles ganz anders laufen können. Als Wickert sich 1955 vom – neuen – Auswärtigen Amt hatte einstellen lassen, zehn Jahre nachdem – in der Botschaft in Tokio – seine Arbeit fürs alte Amt am Ende war, weil dieses gemeinsam mit dem »Dritten Reich« untergegangen war. War doch die Rückkehr in den diplomatischen Dienst das Ergebnis eines langen Ringens mit sich selbst. Er wäre auch gern Schriftsteller, Journalist und Hörspielautor geblieben, konnte in dieser Tätigkeit inzwischen auf erkleckliche Erfolge zurückblicken. Vor allem mit Hörspielen hatte er sich zwischen Krieg und Fernsehzeitalter einen Namen im Land gemacht. Auch Jahre nach seiner Verbeamtung spielte er deshalb immer wieder mit dem Gedanken an die Rückkehr zur Schreibmaschine, in die Freiheit, in die Welt abenteuerlicher historischer Dramen.

Abenteuer und Neugier – diese Begriffe waren immer präsent, wenn Wickert erklärte, was ihn umtrieb. Nicht zuletzt erinnerte er sich da an seine Fahrten als Tramp auf amerikanischen Güterzügen in den Dreißigerjahren an seine Heuer auf Frachtern im Pazifik, an seine Reisen durch China als 20-Jähriger, an seinen Abstecher, mit 17 Jahren, auf dem Fahrrad zum abgedankten Kaiser ins holländische Doorn. Dennoch war er 1955 wieder zurückgekehrt in die Diplomatie, dauerhaft. Auch sie hatte schließlich Abenteuer zu bieten.

Womöglich war Wickert die Reminiszenz an seine früheren diplomatischen Stationen in Shanghai und Tokio, seine dortige Arbeit als Rundfunkattaché vor allem dieses: Neugier und, mehr noch, Abenteuer. Seine diplomatischen Bemühungen in Fernost entwickelte er im Spannungsfeld zwischen harten Faschisten, deren Feindschaft er sich durch das Ausstrahlen von »Negermusik« zugezogen hatte, und kritischen Geistern oder auch in der Begegnung mit schrägen Typen, wie dem später als Spion enttarnten Richard Sorge oder Erich Kordt, NSDAP- und SS-Mitglied und gleichzeitig Mann des Widerstands, mit dem ihn später eine enge Freundschaft verbinden sollte.

Seine Biografie bietet noch unzählige weitere derartige Beispiele, vorher und erst recht hinterher.

Teil I:Abenteuer und Neugier (1915–1947)

1.Bewegte Kindheit, rebellische Jugend

Erwin Wickerts Vater – auch er hieß Erwin – hatte das »Glück«, an der Front zu stehen, ein leidenschaftlicher Soldat. Am 7. Januar 1915, als sein Sohn Erwin im brandenburgischen Bralitz, nahe der Oder nordöstlich von Berlin, geboren wurde, stand er tief im Osten. Mit der Feldpost erfuhr er von der Geburt. Im Hausbuch schrieb der Vater später über diesen Moment an der Front, als er im Ort Humin lag: »Da gerade Freunde bei mir zu Besuch waren, wurde die Ankunft des Kronsohns gefeiert. Dabei wurde beschlossen, ihm als zweiten Vornamen den Namen ›Humin‹ zu geben. (…) Leutnant Binder fügte noch seinen Vornamen Otto hinzu.« Sohn Erwin konnte sich dazu natürlich nicht äußern, doch wenn man ihn später auf seine Beinamen Humin und Otto ansprach, »bekam er gleich schlechte Laune«, erinnern sich seine Kinder heute.

Diese Begebenheit aus den Kriegstagen in Humin zeichnet das Verhältnis von Vater und Sohn in gewisser Weise vor. Bei Vater Wickert, der gegen Ende 1915, wegen eines Lungenleidens entlassen wurde, sollte sich die Zuneigung zum Militärischen nicht legen, ganz im Gegensatz zum Sohn. Wickerts Vater sollte früh schon eine starke Sympathie für die Nazis entwickeln und diese nicht mehr ablegen. Noch 1950, in Kenntnis allen furchtbaren Geschehens, notierte er: »Wir hoffen auch auf die Wiederkehr des Nationalsozialismus, der unter den jetzigen Umständen allerdings viel radikaler ausfallen wird, als Hitler und auch wir es jemals gewünscht haben.«

Pickelhaube statt Puppenstube

»Sein Vater war ein Nazi« – es ist dies mit das Erste, was den Söhnen Wolfram und Ulrich zu ihrem Großvater einfällt. Eine Geisteshaltung des Großvaters offenbar, die sich in dessen Verhältnis zu seiner Familie als autoritäre Attitüde fortsetzte. Auch dies ist ein Grund dafür, dass der Sohn Erwin Wickert sich von seinem Vater entfremden sollte, sobald er als Heranwachsender sein Gesellschaftsbild formen und im Privaten wie im Studium seine eigenen, abenteuerlichen Wege suchte, für ihn auf jeden Fall fern von Front und Armee.

Als Kind hatte der Sohn begeistert mit Puppen gespielt. »Eines Tages waren sie verschwunden; stattdessen lagen auf dem Bett eine blaue Kinder-Soldatenuniform, eine kleine Pickelhaube und ein Holzgewehr.« Damit nicht genug, er musste sich mit alldem auch noch fotografieren lassen – für ihn ein nachhaltiges, prägendes Ärgernis.

Dennoch, auch die Mutter gehörte zu den Anhängern Hitlers, sie und der Vater traten 1931 in die NSDAP ein. Beispielhaft für das Verhältnis der Eltern Erwin Wickerts untereinander ist der Satz, mit dem der Vater sich 1950 an die Tage erinnerte, als er die Mutter kennenlernte: »Wenn ihre Geistesgaben auch nicht sehr stark waren, so traten ihre Herzensgaben umso stärker hervor, was mir bei Weitem wertvoller erschien. Zudem entsprach sie auch im Äußeren meinem Schönheitsideal: mittelgroß, schlank, feingliedrig, hochhüftig, blondes Haar und blaue Augen.«

Vater Erwin Wickert war in Bad Freienwalde aufgewachsen. Er konnte – obwohl er gegen den Rat seines Lehrers das Gymnasium in Frankfurt an der Oder vorzeitig verließ – in jungen Jahren eine Karriere als preußischer Beamter hinlegen, mehrfach in leitender Funktion. Erst bei der Post, dann im Militärdienst. Anschließend, nach seiner Entlassung 1915, ein knappes Jahr nach der Geburt von Sohn Erwin, dann in Wilhelmsort bei Bromberg als »Distriktkommissar« – eine Art Landrat, angesiedelt allerdings im Polizeiapparat. Den Titel, der fast ausschließlich ausgeschiedenen Offizieren vorbehalten war, gab es nur in der Provinz Posen, dort eingeführt noch im frühen 19. Jahrhundert von der preußischen Regierung, wohl auch vor dem Hintergrund des hohen polnischen Bevölkerungsanteils.

Immer wieder besuchte die Familie die Großeltern in Bralitz, sodass Erwin Wickerts Erinnerung an sein Geburtshaus auch später vital blieb. Er entwickelte eine starke Zuneigung zu seinem weltgewandten Großvater, ein Maschinenfabrikant, der allerdings an fortgeschrittenem Kehlkopfkrebs litt und nur noch flüstern konnte. Oft saß er bei ihm auf dem Schoß und ließ sich als neugieriger Steppke die Kanülen am Hals zeigen. Als der Großvater Arnold Dornbusch dann 1919 starb, waren für den gerade vier Jahre alten Erwin Wickert die vergnüglichen, auch eindrucksvollen Besuche in Bralitz Vergangenheit. Vater Erwin sen. entfremdete sich schnell von den anderen Verwandten seiner Frau, bei denen er sich einst doch »sofort zu Hause gefühlt hatte«, wie er schrieb.

Im Oktober 1919 musste das Reich gemäß dem Versailler Vertrag die Provinz Posen an den neuen, nach über 120 Jahren wieder souveränen Staat Polen abtreten. Vater Wickert verlor seinen komfortablen Posten, er hatte mit Frau und Kind die Region zu verlassen. Später schrieb er: »Ich kann wohl sagen, dass die in Wilhelmsort verbrachten Jahre die glücklichste Zeit meines Lebens war.«

Nach Arnold Dornbuschs Tod stand ein erkleckliches Erbe zur Verfügung, und der Vater bezog als Beamter ausreichend Übergangsgeld. Ein sprunghaftes Leben des Vaters begann, örtlich wie beruflich, auch was den Erfolg anging. Mal war er Bauer, mal Beamter, mal beides. Im Südosten Berlins, in Westfalen. Hier kurz vor der Pleite, dort wieder in leitender Position mit eigenem Dienst-Opel, als Kommandeur einer Radfahr-Hundertschaft, die in den unruhigen ersten Jahren der Weimarer Republik gegen aufrührerische Arbeitermassen ausrücken musste. Verbunden mit den Orts- und Berufswechseln waren Liegenschaftskäufe für sechsstellige Summen, ein Jonglieren, bei dem der Vater meist ein »Händchen« bewies.

In dem kleinen Dorf Reuden, zwischen Wittenberg und Bitterfeld gelegen, erstand Vater Wickert eine Ziegelei. »Obwohl er keine Erfahrung auf diesem Gebiet hatte«, ging der Sohn mit seinem Vater später ins Gericht, die Anlage sei »etwas heruntergekommen« gewesen: »Hier wohnten wir: die Eltern, meine Schwester Ingrid, mein Bruder Dieter, der dort geboren wurde, und ich in einem ländlichen Haus von 1922 bis 1932, von meinem siebten bis siebtzehnten Lebensjahr. Und wenn ich sagen sollte, wo meine Heimat liegt, würde ich zuerst dieses Dorf und diese Gegend nennen.«

Wer liest, was Erwin Wickert über Reuden notierte, dem kommt – trotz aller Not und Entbehrung – die Floskel von der guten alten Zeit in den Sinn. Reuden, am Nordrand der Dübener Heide gelegen, hatte etwa dreihundert Einwohner, war arm, ohne elektrischen Strom. Zu später Stunde nahm der Nachtwächter, ein Veteran des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71, seine Runden auf. Fast alle hatten sie in Reuden einen kleinen Acker und ein oder zwei Kühe im Stall hinterm Haus, bewirtschaftet von den Frauen, während die Männer in Wickerts Ziegelei oder im nahen Braunkohle-Tagebau arbeiteten, unter ihnen viele Kommunisten. Die Nationalsozialisten waren in der Minderheit. Auf die Weimarer Republik war kaum jemand gut zu sprechen. Man fand sie schwach, nahm sie hin, setzte sich nicht für sie ein.

Wolkenkratzer in der anhaltinischen Provinz

Erwin Wickert hatte schon in der ersten Klasse einen Kilometer weit in den Nachbarort Rotta zu laufen. Als einziger Schüler, der auch im Sommer mit Schuhen gehen »musste«, wie er sich erinnerte, alle anderen durften barfuß bleiben. Er übersprang die zweite Klasse, kam nach der ersten gleich in die dritte. Noch war er einer der Besten. Nach der Schule spielte er meist auf dem Gelände der Ziegelei, mit seinen Schulkameraden. An einen Rangunterschied, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, konnte er sich später nicht erinnern. Besonders gern schaute er dem Dorfschuster über die Leisten, wie er das Leder zuschnitt.

Irgendwann kam dann auch in diese Provinz die große, weite Welt, immer sonntags. In den Tanzsaal in Kemberg, einem benachbarten Städtchen, eine Dreiviertelstunde Fußmarsch. Filme mit Charlie Chaplin liefen über die aufgespannte Leinwand, auch mit Buster Keaton, mit Harold Lloyd, der in »Ausgerechnet Wolkenkratzer« viele Stockwerke über den Straßenschluchten am Zeiger einer Uhr hängt. Amerika, das freie, das metropolitane, lässt den jungen Wickert vom großen Land jenseits des Ozeans träumen, von New York und seiner Moderne.

Diesseits von Kino, Moderne und Amerika war für ihn die Zeit in Reuden vor allem eine Auseinandersetzung mit der Natur. »Ich sah sie naiv, ihre Schönheit lernte ich erst sehen, als ich in der Stadt lebte.« Im Winter ging es auf den Mühlenteich – auf Schlittschuhen, seinem Weihnachtsgeschenk, wobei ihm die anderen Kinder, die sich keine leisten konnten, mit den selbst installierten Eisen unter der Schuhsohle den Schneid abkauften. Im Frühling bastelte er sich mit den Jungs aus dem Dorf Kreisel aus Tannenzapfen oder Trillerpfeifen aus Weidenruten. Dann die Experimente mit der Herstellung von angeblicher »Hautcreme« aus Kieferntrieben, oder von magischem, aber brennendem Haargel aus Birkensaft. Krähen- und Spatzennester ausnehmen, Heidelbeeren und Preiselbeeren ernten, Fußball spielen oder Drachen steigen lassen auf den Stoppelfeldern – die nähere und weitere Umgebung war für Erwin Wickert in Wahrheit Forschungslabor, Parcours für Abenteuer, Sportplatz und Obstgarten. Manchmal wurde er vom Vater zur Kartoffellese geschickt, »aber ich war nicht so ausdauernd wie die anderen Kinder«. Er merkte, »dass ich für das Leben eines Landmannes nicht geschaffen war«.

Der Vater, auch die Mutter, überhaupt die Familie kommt in Wickerts lebhaften und ausführlichen Erinnerungen an seine frühe Kindheit in Reuden zunächst nicht vor. Sie hatten in seiner Gedankenwelt jener Zeit – jedenfalls in seiner späteren Erinnerung – nur eine untergeordnete Bedeutung. Immerhin war ihm im Gedächtnis geblieben, dass sein Vater enttäuscht war, als er die Prüfung zur Aufnahme ins Gymnasium »nur knapp« bestanden hatte. Etwas scherzhaft könnte man im Geständnis des Beinahe-Scheiterns den Grund dafür vermuten, dass Erwin Wickert in seinen Memoiren »Mut und Übermut« immer wieder passende Weisheiten oder Zitate in lateinischer Sprache einflechtet – ohne Übersetzung, versteht sich. Hier und da auch Sätze auf Altgriechisch. Es ging ja damals, gleich in der »Sexta«, auch gehoben los: »Wir hatten vier Stunden in der Woche Deutsch, Latein aber sieben Stunden. Latein und Griechisch waren in den letzten sechs Jahren von der Untertertia bis zur Oberprima die Fächer mit den meisten Wochenstunden.«

Erwin Wickerts Gymnasium lag in Wittenberg. Er lernte dort die gesellschaftlichen Differenzierungen kennen, erfuhr, wie nach und nach die Arbeiterkinder spätestens ab der Mittleren Reife die Schule verließen. Dass die Oberschüler von anderen als eine Art Elite angesehen wurden, begriff er noch nicht, wunderte sich immerhin, dass die Mädchen der Tanzschule ihm und seinen Mitschülern gegenüber den Jungs aus der Mittelschule den Vorzug gaben. Und dann bekamen die Eltern doch einmal Bedeutung, seine Mutter jedenfalls.

Wie Heinz Rühmann in der »Feuerzangenbowle«

Während der ersten beiden Wittenberger Schuljahre wohnte er in einem Zimmer, »bei Fräulein Kühnhold, einer älteren, unverheirateten und etwas säuerlichen Dame« – ähnlich vielleicht wie Heinz Rühmann als Primaner Hans Pfeiffer in der »Feuerzangenbowle«. Fräulein Kühnhold kontrollierte die Hausaufgaben, und eines Tages erwischte sie ihn bei Schummeleien, die er mit einer Lüge zu vertuschen suchte – und erzählte dies der Mutter. »Doch meine Mutter nahm das nicht so ernst.« Dennoch kam es zum Streit, Wickert zog wieder nach Hause, wurde Fahrschüler.

Die Genugtuung darüber, dem Fräulein Kühnhold aus dem Weg gehen zu können, war nicht ungetrübt. Im Gegenteil. Jetzt, da er für einige Zeit auch unter der Woche daheim wohnte, wurde ihm erstmals richtig klar, welche Gefühle er dem Vater gegenüber hegte: Abneigung, Feindschaft, ja Hass. »Sobald ich zu Hause angekommen war, meine Mutter begrüßt und in der Küche gegessen hatte, verkroch ich mich. Ich ging ihm aus dem Weg.« Manchmal entging er ihm nicht, dann wurden Vokabeln gelernt, abgefragt, wieder gelernt. Wickert hatte Angst vor seinem Vater, konnte sich deshalb nicht konzentrieren, bekam Bücher an den Kopf geworfen, wenn er Fehler machte, und bei kritischen Zeugnissen eine Tracht Prügel.

Immer wieder flüchtete er zur Mutter, die ihn tröstete, auch weinte. Nie hörte er einen Scherz vom Vater. »Humor, Heiterkeit, Leichtigkeit gingen ihm ab.« Ganz anders die Mutter: »Sie war weich, liebevoll und liebesbedürftig. Scherze und allerlei Schabernack liebte sie bis ins hohe Alter. Bei ihr fanden wir Kinder Verständnis und Schutz.«

Der Vater war nach seinem Verständnis »ein unglücklicher Mensch, der seine Ziele zu hoch angesetzt hatte und auf dem Weg dahin stürzte«. Das bekam er als ältester Sohn zu spüren: »Er wollte mich zu dem Menschen formen, der er selbst hatte werden wollen: zum Offizier; notfalls mit Härte. Liebe und Zuneigung zu zeigen, fiel ihm schwer.«

Nur für eines war ihm der Sohn sein Leben lang dankbar: dass ihm der Vater den Sinn fürs Musizieren, das Klavierspielen mitgab.

Spätestens jetzt, in seiner Zeit als Teenager, wurde Erwin Wickert klar, dass seine Ankerpunkte auswärts lagen, liegen mussten. Er zogt wieder nach Wittenberg, als »Pensionär« bei »Tante Lize«, wie er und eine Handvoll Mitbewohner – allesamt Mitschüler – ihre Wirtin nannten, bei der sie ihre Mahlzeiten einnahmen und die Schulaufgaben gemeinsam erledigten. Eine nette Herbergsmutter, die auch beim Büffeln half, in einem etwas ärmlichen mehrstöckigen Haus im Zentrum, gleich um die Ecke von Luthers Predigtkirche und dem Gymnasium. Erwin Wickert wuchs ins Kleinstadtleben hinein. »Wir lebten nicht in den wilden Zwanzigerjahren sondern noch tief im 19. Jahrhundert. Nicht nur wir, auch die Stadt.«

Eine große Rolle spielten nun die Lehrer, die für die klassischen Fächer. August Kaulbach, zuständig für Griechisch und griechische Geschichte, sowie Walter Kliche, der Deutsch und Latein unterrichtete – von den Schülern eher liebevoll »Hippias« genannt, nach dem griechischen Tyrannen. Wer verfolgt, wie sich Erwin Wickert noch als 75-Jähriger, als er »Mut und Übermut« verfasste, an die Leidenschaft erinnert, mit der sie ihm damals, sechzig Jahre zuvor, Homer, Herodot, die Vorsokratiker und Plato, Sokrates oder auch Cicero, Sallust und Tacitus näherzubringen vermochten, der ahnt, wie sehr er sich als Schüler für diese »Alten« begeistern konnte. Den Leser, an dem all dies in der eigenen Jugend vielleicht eher vorbeigeflogen ist, lässt Wickert hier am Werden eines Bildungsbürgers teilhaben, nicht ohne die große Portion Selbstbewusstsein, die alle seine autobiografischen Schriften durchziehen.

Er selbst sieht es so: »In der Schule hatte ich, ohne dass es mir bewusst geworden war, den griechischen Wertekanon übernommen: Freiheit, Mut, Wert der Bildung, Bewährung im Wettstreit um die Arete – aien aristeuein kai hypeirochon emmenai allon, immer der zu sein und ausgezeichnet vor den anderen –, Freude am sinnlich Schönen, kritisches Denken gegen die Meinung der Menge, wie sie Heraklit, und unbedingte Treue gegenüber dem, was man als wahr und gut erkannt hatte, wie Sokrates sie uns in seinem Leben und Sterben bewies. Und im römischen Kanon wuchs ich mit den lateinischen Autoren und ihren Tugendbegriffen wie humanitas, liberalitas, virtus, res publica, constantia, urbanitasund severitas auf.«

Sein Ziel: ein Werk »von Umfang und Tiefe wie Karl May«

An seinen Anspruch, »immer der Beste zu sein und ausgezeichnet vor den anderen«, können sich all jene bestens erinnern, die ihn im Leben länger begleiteten. Er wird auch das Verhältnis zu seinen Söhnen bestimmen, als diese als Buchautoren reüssierten und Erwin Wickert in seinem Konkurrenzdenken auch gegenüber ihnen keinen Spaß verstehen wollte, es dabei auf regelrechte Zerwürfnisse ankommen ließ. Im Wettstreit eben um »Arete«, die Vortrefflichkeit, kannte er keine Verwandten.

Es war jene Zeit, damals in Wittenberg, als der Ehrgeiz zum großen Schriftsteller heranwuchs: »Mein Ideal vom zwölften oder dreizehnten Lebensjahr an bestand darin, ein literarisches Werk etwa vom Umfang und von der Tiefe her ähnlich dem von Karl May zu schreiben«, gestand er als Pensionär. »Karl May war mein Vorbild.« Natürlich, der Altmeister der Abenteuerliteratur hatte es dem Sextaner Wickert vor allem wegen der fernen, exotischen Länder angetan. Ein paar Klassen weiter hatte Lehrer »Hippias« dann seinen Anteil daran, dass es bei Karl May nicht blieb, dass Literatur nun ein Objekt für Diskurse wurde. Der Deutschlehrer, wenn er mit den Schülern nicht gerade abends auf der Wiese vor der Stadt den Sternenhimmel betrachtete, lud sie zu sich nach Hause ein, um mit ihnen über Literatur zu diskutieren. Wickert erinnerte sich später an diese Abende, obwohl er mit den »Dichtern der Scholle«, die der Lehrer bevorzugte, wie etwa Erwin Guido Kolbenheyer, Hans Grimm und anderen, allesamt geeint durch ihre Ablehnung der Berliner »Caféhaus-Literaten«, nicht viel anfangen konnte.

Gegenwartsautoren dagegen, vom Lehrer als moralverderbende Berliner »Asphaltliteratur« verabscheut, fanden nicht statt im Unterricht. Brecht, Tucholsky und Kästner wurden abgekanzelt, Thomas Mann als morbide und dekadent – sogar »Tante Lize« warnte ihre Untermieter vor ihm. Was nicht verhinderte, dass Erwin Wickert den Lübecker Patrizier und leidenschaftlichen Republikaner als einen seiner literarischen Leuchttürme verehren würde. Wickerts Rückblicke auf sein Leben geraten ab seiner Gymnasialzeit immer wieder zu einem Streifzug durch die Lektüre, die ihn begleitete. »Mit den Gedichten und langen Texten in Griechisch und Latein, in Alt- und Mittelhochdeutsch und modernem Deutsch, die wir auswendig lernen mussten, erwarben wir einen Besitz für immer. Ich bin August Kaulbach und Hippias dankbar.«

Die Erinnerung an die damaligen Sommerferien konzentrierte sich später auf die Schulbibliothek, auf die Dramen von Schiller und Shakespeare, »Werther«, »Götz von Berlichingen« und »Faust« und die einsame Lektüre am Badestrand der Tongrube. »Wahllos und unersättlich«, so schreibt er, habe er damals gelesen. »Wenn ich abends nach Hause kam, war ich in einer anderen Welt. Dann spielte ich auf dem Flügel bis spät in die Nacht.« Gelegentlich intonierte er am Klavier bei solchen Gelegenheiten auch aus eigenen Stücken Gedichte von Hölderlin, Klabund, Storm oder Goethe.

Seine erste Veröffentlichung, bereits mit sechzehn, war dann doch nichts »Erfundenes«, sondern ein Tatsachenbericht, in seiner Heimatzeitung. Weil der Pfarrer aus der Dorfkirche von Rotta, gleich neben seiner früheren Volksschule, ihm bisweilen die Orgelbegleitung bei Hochzeiten oder Taufen überließ, durfte er dort auch üben – allein. Eines Tages sah er sich auf dem Kirchboden um (»auf dessen dünne Bretter sich wohl seit Jahrhunderten niemand gewagt hatte«) und entdeckte dort die Reste eines gotischen Altars mit zwei holzgeschnitzten Figuren, offenbar Evangelisten, die er mitnahm und in Wittenberg vom Pfarrer der Stadtkirche sowie dem Leiter des Lutherhauses auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts taxieren ließ. Heraus kam dann ein Beitrag im Wittenberger Tageblatt, mit einem Foto der Figuren. »Ich war stolz, obwohl Hippias einige kunsthistorische Thesen meines Aufsatzes als unhaltbar bezeichnete. Und Pfarrer Lasson war zu Recht verärgert, dass er von dem Fund auf dem Dachboden seiner Kirche erst aus der Zeitung erfuhr.«

Für kurze Zeit ein glühender Marxist

Regelrecht erschüttern ließ sich der 16-Jährige damals durch »Also sprach Zarathustra« von Friedrich Nietzsche. »Mit dem Hammer philosophierend zertrümmerte er gerade die Werte, auf die meine Welt aufgebaut war. Mitleid, Caritas, Fürsorge, Nächstenliebe, Glaube entlarvte er als raffinierte Mittel der Seele, sich selbst zu betrügen.« Der heranwachsende Wickert war überwältigt »und sah die Welt nunmehr aus der Sicht der Herrenmoral, gewiss, dass ich als Einziger den Umwerter aller Werte verstand«. Nietzsche hatte das Christentum als Sklavenreligion verdammt. Was nun den jungen Sohn veranlasste, seinem Vater, damals ein Patronatsherr der Kirche von Rotta, mitzuteilen, dass er fortan nicht mehr zur Kirche gehe.

Es folgte eine heftige Auseinandersetzung, bei der der Vater am Ende ausholte, um – mal wieder – seinen Sohn zu schlagen. Der aber blieb dieses Mal stehen. Der Vater senkte die Hand. »Seitdem ging ich aufrecht. Ich hatte keine Angst mehr. Von jenem Tag an hatte ich Mut und war furchtlos.« Eine Zäsur im Vater-Sohn-Verhältnis.

Die Differenzen mit dem Vater machten sich an weiteren Dingen fest. Als der ihm Hitlers »Mein Kampf« ans Herz legte, las er zwar hinein und erläuterte dem Vater, dass Hitler ein »miserables Deutsch« schreibe und nicht einmal Arten von Rassen unterscheiden könne. »Diese Antwort in meiner neu gewonnenen Überheblichkeit verbesserte das Verhältnis zu meinem Vater natürlich nicht.« Um dem die Krone aufzusetzen, ging er auch noch ins Parteibüro der Kommunisten in der Jüdenstraße, kaufte sich das »Kommunistische Manifest«, war anschließend »für kurze Zeit glühender Marxist« und schaffte es sogar, einige Freunde zu diesem neuen Glauben zu überreden.

Der Ausflug ins linksradikale Spektrum blieb eine Episode, die über ein paar Monate nicht hinausging. Der Graben zum Vater aber blieb. Und obwohl auch Erwin Wickerts Mutter dem Nationalsozialismus zugeneigt war, kam er ihr nun, nach dem Streit mit dem Vater selbstbewusster geworden, näher. »Ich war jetzt auch meiner Mutter eine Stütze.«

Ein Schlag hatte die Familie erschüttert. »Vater hat geweint«. Das waren die Worte mit denen die Mutter eines Tages im Juni 1931 nach der Schule die Kinder in der Küche empfing. Die Ziegelei würde zwangsversteigert. Das hatte die Hausbank des Betriebes in einem Brief mitgeteilt. Die Weltwirtschaftskrise hatte den kleinen Ort Reuden und dessen größten Betrieb in aller Härte erreicht. Der Vater war pleite, die Existenzgrundlage der Familie war weg.

Die »Katastrophe« belastet die Familie

Eher beiläufig erwähnt Wickert, dass die Firmenpleite nun auch die Ehe seiner Eltern zerrüttete. Es begann ein neues Leben für ihn, am Anhalter Bahnhof in Berlin, wo er und seine vier Jahre jüngere Schwester Ingrid nach der Ankunft ihre Fahrräder aus dem Gepäckabteil holten und in die Wohnung in der Klopstockstraße im Hansaviertel fuhren, zum Vater. Ihre neue Wohnung, zwar in einem herrschaftlichen Haus mit marmorgetäfeltem, verspiegeltem Aufgang – in dem die drei allerdings nur ein Zimmer bewohnten und wo der Vater zur Ankunft seiner Kinder Erbsensuppe aufgesetzt hatte. Unter Tränen waren die beiden Teenager zuvor in Reuden von ihrem Bruder Dieter und der Mutter verabschiedet worden. Die blieben dort, die Familie hatte sich in zwei Teile geteilt.

Zu jenen Schattenseiten, die der 17-Jährige kennenlernte, gehörte nun unversehens auch die persönliche Armut. Eine Ära in seinem Leben, der Wickert später, als er dem Autor dieses Buches sein Leben erzählte, wie auch als er »Mut und Übermut« schrieb, keine größere Bedeutung beimaß, weder im heroischen Sinne noch in einem der Scham. Bisweilen aßen sie in der Volksküche, der Vater bekam für ein paar kleinere Tätigkeiten für nationalsozialistische Organisationen ein paar zusätzliche Mark »Taschengeld«. Erwin Wickert sorgte mit Nachhilfediensten dafür, dass er sich in der Weltstadt, deren »wilde 20er-Jahre damals noch nicht vorbei waren«, die eine oder andere Gefälligkeit leisten konnte.

Jetzt, gegen Ende der Schulzeit näherte sich der Primaner, als Berliner Teenager, mehreren Objekten der Sehnsucht: der klassischen Hochkultur, dem Abenteuer Reisen und dem unmittelbaren Dialog mit bedeutenden Protagonisten der Zeitgeschichte.

Von seinem Nachhilfegeld leistete er sich einen Stehplatz im Deutschen Theater, ging ins Theater am Schiffbauer Damm, ins Bodemuseum. Im Ägyptischen Museum drang er gleich mal zum Direktor vor, um ihn zu fragen, wie man Ägyptologe werde. Und er mischte selbst mit, als Komparse in der Deutschen Oper, stand bei kurzen Szenen allein im Rampenlicht, bei Gagen bis zu zehn Mark. Um an den Proben teilnehmen zu können, schwänzte er die Schule.

Der Tag, die Berliner Börsenzeitung, die Deutsche Allgemeine Zeitung