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Eine Kindheit im zerstörten Berlin und der heilen Welt eines kleinen Dorfs in der Nieder-Lausitz. Begegnungen des Kindes, des Jugendlichen mit Menschen und Herausforderungen und Zufriedenheit im Spätherbst des Lebens. Biografische Episoden, seltsame Begegnungen und Geschichten.
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für Lindow und seine Menschen - November 2013 -
PAUL
PAUL, LAß‘ DAS!
SCHEITEL RECHTS
STOPPELFELD UND OSTERWASSER
LINDOWS PFERDE
DER FLECHTER
DIE BREMSEN
GLATTEIS
KURZE BEINE
LIESE
MITTAGSSONNE
OSTERWASSER
GEWITTER
EIN RICHTIGER KERL
SCHWALBEN
DER WEIDENKORB
RUINEN UND ASPHALT
EIN SECHSER
DIE VÖLKER DER WELT AUF LANGEN BEINEN
RADFAHRROLLERN
SCHUNDLITERATUR
DIE LEBENSMITTELKARTE
ROTE PUNKTE
GUCK‘ MAL
DAS EIGENE FAHRRAD
BLAUE HEMDEN
NACHTFAHRT MIT DEM GROßEN GELBEN
KRUMMES BÄUMCHEN
SÜDWETKORSO
DER HIMMEL ÜBER BERLIN
BABELSBERGER BEGEGNUNG
DIE BIENEN, DER IMKER UND PAUL
PUZZLE
KLEINE KARTOFFELN
MAIENWERDER
INSELSTUNDEN
FERNE LÄNDER, NAHE MENSCHEN
MATRJOSCHKA
ABYDOS
SHUKRAN
NIKOSIA
EIN STEIN
HELDEN
SÖHNE
VÄTER
SELTSAME GESCHICHTEN
DER ROTE HAHN
TRAUMERINNERUNG
APOKALYPSE
DEMOKRIT
DIE WAHL
VERABREDUNGEN
STATISTIK
Paul ist ein Avatar; was das ist, wissen Ihre Enkel! *
Paul mag Gespräche, Diskussionen und sagt so manches Mal dummes Zeug, das bleibt leider in der Welt. Anders bei Geschriebenem. Das ist beliebig oft korrigierbar. Erst durch den Einwurf eines Briefes in den gelben Blechkasten wird es endgültig. Heute genügt das Antippen der Taste „Send“.
Der Unterschied zwischen Denken/Sagen und Denken/Schreiben besteht in der Zeitspanne zwischen Gedanken und Aktion. Ein Zeitunterschied, der entscheidend sein kann. Für dieses Buch gab es beliebig viel Zeit.
Hat sie genügt?
*) Sie sind ein Enkel? Sorry, damit habe ich nicht gerechnet
Sehr steil war die Straße nicht. Dennoch ging seine Mutter langsamer als sonst. Vorbei an großen, eingezäunten Vorgärten, die er längst kannte. Auch die meist von der Straße entfernt gebauten Häuser hatte er schon oft gesehen. Seine Mutter war dort meist stehengeblieben, hatte mit anderen Frauen gesprochen. Paul schaute dann auf die Gartentüren oder, falls man sie von der Straße aus sehen konnte, auf die Haustüren. Es hoffte, daß jemand mit einem Hund herauskäme, der seine Mutter anbellte. Dann würde sie sich schnell von der anderen Frau verabschieden und mit ihm weitergehen. Bisher war das nur einmal geschehen.
Am häufigsten blieb sie oben, gegenüber dem auf der anderen Straßenseite einmündenden Weg, stehen. An dieser Ecke waren drei Häuser sehr nah nebeneinander gebaut. Sonst gab es auf dieser Straßenseite nur weite Wiesen.
In den drei Häusern schienen nur Frauen zu wohnen. Weshalb aber kamen sie immer gerade dann heraus, wenn seine Mutter mit ihm hier vorbei ging? Sie redete dann mit den Frauen und Paul langweilte sich. Er zog an ihrer Hand, wollte weiter. Seine Mutter schüttelte meist nur den Kopf. Schaute nicht einmal zu ihm herunter. "Paul, laß das!"
Also guckte er weiter auf langweilige Röcke oder lange Mäntel, die nicht einmal ein Muster hatten. Weshalb mußten die Großen immer so lange miteinander reden? Niemals spielten sie miteinander, redeten nur.
Heute waren sie an den drei Häusern fast vorbei. Er freute sich. Sie hatten niemand getroffen. Noch ein paar Schritte und sie würden in ihre eigene Straße abbiegen.
Paul hörte einen hellen Ruf. Seine Mutter auch. Sofort blieb sie stehen, schaute sich um. "Ach, das ist Frau ...!" Den Namen hatte er nicht verstanden. Die Frau, die gerade eine Gartentür auf ihrer Seite, genau gegenüber den drei Häusern, zuzog, kannte er nicht. Daß sie nicht einmal aus diesen Häusern kam, sondern auf ihrer eigenen Seite wohnte, fand Paul hinterlistig.
Die Frau streckte die Hand aus, als sie auf seine Mutter zukam, schaute dabei aber ihn an: "Das ist aber nett! Jetzt lerne ich auch endlich mal ihr Söhnchen kennen."
Sie beugte sich zu ihm hinab. "Du bist aber goldig! Wie heißt Du denn?" Sie streckte den Arm aus, wollte ihm über die Haare streichen. Rasch bog er den Kopf zur Seite und sagte: "Paulasdas!"
"Was ... aber wieso? Ich dachte ..." Die Frau schaute seine Mutter an. Das tat er auch, denn er hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Als er aber sah, daß seine Mutter die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen hatte, war dieses Gefühl aber gleich wieder weg. Das mit der Lippe, das machte sie immer, wenn sie nicht lachen wollte, aber eigentlich doch lachen mußte.
Diesmal blieb seine Mutter auch nicht lange stehen, redete nur kurz mit der Frau. Als sie ein paar Schritte weiter gegangen waren, hielt sie gleich wieder an. Sie bückte sich und nahm ihn auf den Arm: "Du bist ja vielleicht ein Filou! Wenn ich das der Oma erzähle, wird sie's mir nicht glauben!“
Sie lachte ihn an und gab ihm einen Kuß auf die Backe. Das tat sie nicht sehr oft. Sofort hatte er wieder so ein Gefühl im Bauch. Diesmal aber ein gutes.
"Du siehst ja aus wie'n Mädchen!"
Paul war fünf Jahre alt und hatte hellblonde Locken. Wurden die etwas länger, war nicht mehr erkennbar, ob er ein Junge war oder ein Mädchen.
Eigentlich war es ihm egal, wofür ihn die Leute hielten. Die Großen taten aber so, als sei es etwas Unangenehmes, wenn er für ein Mädchen gehalten wurde. Weshalb sie glaubten, wußte er nicht. Die Oma oder seine Mutter schnitten ihm dann die Haare, obwohl sie ihn mit langen Locken auch sehr lieb fanden.
Etwas Besonderes war es, wenn er seine Mutter zum Friseur begleiten durfte. Das kam selten vor, weil der Friseur teuer war. Aber interessant war es dort. Einige Leute, die meisten waren Frauen, saßen auf seltsamen Stühlen, die hoch- und runterfahren konnten. Andere warteten auf ganz normalen Stühlen darauf, daß sie sich auch auf die Hoch-Runter-Stühle setzen durften.
Dann bekamen sie ein großes weißes Handtuch um die Schultern gelegt, und der Friseur begann mit der Schere zu klappern. Die Leute redeten viel und es roch sehr merkwürdig in dem Raum. Nach einer Weile wurde es Paul langweilig und er wünschte sich, daß seine Mutter bald fertig wäre. Er selbst durfte ja doch nicht auf einen Hoch-runter-Stuhl.
Dann aber kam sein Geburtstag und die Oma versprach ihm, daß sie zur Feier des großen Tages mit ihm zum Friseur gehen und ihm dort die Haare schneiden lassen würde.
"Du bist ja auch schon so groß, daß wirklich mal Façon in Deine Haare kommen muß", meinte sie. Paul freute sich auf den Tag, an dem er endlich selbst auf einen der Hoch-Runter-Stühle durfte.
Es war ein sonniger Tag. Vor den großen Scheiben des Friseurladens gingen viele Leute vorbei. Hoffentlich achteten sie darauf, wenn sich Paul auf einen Hoch-Runter Stuhl setzen durfte. Sie mußten ein Weilchen warten, doch dann war es so weit. Der Friseur zog einen Holzstuhl mit einer runden Lehne aus der Ecke und sagte: "So, dann nehmen 'se man Platz, junger Mann". Welch’ eine Enttäuschung.
Paul schaute die Oma an, die Oma schaute den Friseur an. "Kann er denn nicht auf einem großen Stuhl sitzen?"
"Nee", schüttelte der Mann den Kopf. "Dazu isser noch zu klein, der fällt mir ja runter oder zappelt zu viel". Er winkte Paul an den Stuhl.
"Komm' man hier rauf, der is' grade richtig für Dich".
Mit einer Prümpe kletterte Paul auf den Holzstuhl. Der Friseur spürte seine Enttäuschung.
“Dafür fahrn wir jetzt‘n bißchen Karussell, ist doch auch ganz schön.“ Mit Schwung drehte er den Holzstuhl ein paarmal herum, der wurde dabei immer höher, fast so, wie die großen Stühle. Das machte auch Spaß. Paul zog die Prümpe wieder ein.
Der Friseur band ihm das große weiße Handtuch um und hob den Kamm. "Auf Welcher Seite hast Du denn Deinen Scheitel?", fragte er.
Paul war stolz, daß er dem Friseur selbst antworten durfte. „Rechts“, sagte er laut, „wie der Führer".
Für einen kurzen Augenblick war es mucksmäuschenstill in dem Friseurladen. Es war, als hielten alle Leute den Atem an. Dann redeten sie mit einemmal wie auf ein Kommando weiter, lauter sogar als vorher.
"Kind ...", sagte die Oma hinter ihm mit einer ganz fremden Stimme.
"Na ja, Kinder!", brummte auch der Friseur und fuhr ihm mit dem Kamm durch das Haar.
Paul traute sich nicht zu fragen, was er falsch gemacht habe, aber er wußte, daß irgend etwas nicht richtig war. Der Friseur beeilte sich sehr. Paul meinte, daß seine Schere noch nie so rasch geklappert hatte. Auch das Runterdrehen des Stuhles ging viel zu schnell. Die Oma hatte das Portemonnaie schon in der Hand. Paul sah, wie ihr beim Bezahlen die Hand zitterte. “Komm!“ Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn auf die Straße, ging rasch mit ihm um die Ecke, obschon die Straßenbahn doch beinahe vor dem Friseurladen hielt.
Dann blieb die Oma stehen und bückte sich zu ihm hinab. "Kind, Kind. Was hast Du mir für einen Schrecken eingejagt.“
Fest nahm sie ihn in die Arme, drückte ihn an sich. „Ich hatte Angst! Richtig Angst. Aber glücklicherweise waren nur anständige Leute beim Friseur.“ "Was war denn, Oma?", fragte Paul ängstlich.
"Sowas darfst Du nie wieder sagen. Wie schnell kann man dafür abgeholt werden. Sag' das nie, nie wieder!“
Paul hatte Angst, er wußte auch genau, was die Oma meinte. Vom Führer durfte man nicht sprechen, das war etwas ganz Schlimmes und Abgeholtwerden war noch viel, viel schlimmer als Haue, Hunger und Durst. Paul schluckte und unterdrückte die Tränen.
"Na, ist ja gut. Ist ja Gottseidank nichts passiert. Wir haben ja selber schuld! Das dumme Gerede aber auch." Sie strich Paul über die jetzt kurzen Locken. "Komm, wir fahren nach Hause.“
Sechs Wochen dauerten die Sommer-Ferien, sechs Wochen lebte Paul in Lindow. Diese sechs Wochen waren für Paul die schönste Zeit des Jahres
Es war die Zeit kurz vor und während der Ernte. Das Wetter war, wie es immer war in der Mark: warm, trocken und immer wieder überraschend heftig. Eine wundervolle, selbsterfüllte Zeit für Paul.
Mehlsuppe zum Frühstück in der Küche und dann weg. Niemand fragte „Wohin?“ oder sagte „Du mußt bis um …“
Lindow war klein und es gab nicht viele Kinder. Vier, fünf Jungen. Wenn die Mädchen dabei waren, waren sie manchmal auch zu acht oder neun. Schwarzens Fritze war immer dabei, Görsdorfs Günter nur manchmal, er war ja schon größer, älter. Oft auch Marlies, Fritzens Schwester. Paul mochte Marlies. Oft saßen sie alle bei Schulzens auf der Treppe, erzählten sich etwas.
Unterwegs aber waren sie meist nur zu zweit. Paul oft mit Günter. Der wußte alles, kannte alles. Wenn Paul nach Lindow kam, war Günter da, freute sich über Paul, wie Paul sich über Günter freute. Günter war drei Jahre älter war als Paul und Paul drei Jahre jünger als Günter. Sie waren Freunde.
Die Kinder streiften über die Wiesen, jagten die Frösche am einzigen Bach des Dorfes ins Wasser, liefen über die Felder nach Kuhleihe und sprangen von dem kurzen Steg, den die Bauern für sie gebaut hatten, in das kühle Wasser des kleinen Teiches. Rundum standen Birken. Viel Schatten gaben sie nicht, aber man wurde dort, im Zwielicht unter den hellen Blättern, rasch trocken.
Lindows Hof in Lindow war kein Gestüt. Onkel Otto war „Der Bauer“, wie alle anderen Hofbesitzer in Lindow auch. Bei ihm aber hatten Pferde einen besonderen Rang. „Pferdenarr“, nannte ihn seine Frau, Tante Marie, so manches Mal mit vorwurfsvoller Stimme. In Lindow waren Pferde gemeinhin Nutztiere, so wie es auch die Schweine, Tante Maries Lieblingstiere, waren. Für Onkel Otto waren die Pferde viel, viel mehr.
Paul mochte den Geruch im Pferdestall und in der Futterkammer daneben. Er ging auch in den Kuhstall, obwohl er den Färsen nur mit Mißtrauen näher kam. Bei dem Versuch, sie zu melken, hatte ihn eine mit kräftigem Schwanzschlag vom Melkschemel in den Mist befördert. Das hätte er ihr ja noch verziehen, denn seine Hände waren ungeschickt und für sie sicher unangenehm an ihrem Euter zu fühlen. Aber als sie dann, während er versuchte, sich aus dem Mist aufzurappeln, den Kopf drehte, die dicke Oberlippe emporzog und ihn aus großen Augen schadenfroh angrinste, war seine Sympathie für die gesamte Kuhbagage dahin. Es waren die Pferde und deren Geruch, die Paul vor allen anderen Tieren in Lindow mochte. Auf Lindows Hof gab es immer Pferde. Aber nur drei. Lindows waren keine Großbauern. Zwei Pferde standen in der vorderen, eins in der hinteren Box; Als Paul in den großen Ferien nach Lindow kam, stand in der hinteren Box keine Stute, sondern ein Fohlen. Ein Pferdchen, nicht höher als Paul. Das war ganz zahm und lieb.
Die Flechter hingen hinter der Tür des Pferdestalls. Man durfte sie nicht anfassen und man durfte nicht "Peitsche" sagen. Jeder Flechter hatte seine eigene Geschichte. Opa Rintisch erzählte manchmal, welche Kunststücke er früher mit dem Flechter fertiggebracht hatte. "Jeht aber heut' nich' mehr wejen die verdammte Gicht."
Manchmal, wenn Onkel Otto besonders gut gelaunt war, gab er Paul einen Flechter in die Hand: "Riech' mal das Leder! Und fühl', wie glatt die Riemchen geflochten sind. Hat noch der alte Gustav gemacht. Lebt ja nu' och schon lange nich' mehr."
Für Paul waren die Flechter schwer zu halten. Den langen dicken Griff konnte er nur mit beiden Händen umfassen. Wenn er versuchte, das dreifach verflochtene Lederband über die Schulter zu schwingen, fiel er fast auf den Rücken. Onkel Otto lachte: "Na, na. Nu' mal nich' so hastig mit die jungen Pferde. Dazu mußte schon noch 'n bißchen wachsen."
Onkel Otto mußte ins Friedland'sche, in's "Frillandsche". Die Großen hatten am Morgen darüber gesprochen. Es war Zeit zum Drillen. Die Kinder durften dorthin nur selten mit. Es sei zu weit, sagten die Großen.
Das „Frillandsche Feld“ hatte etwas mit Verreisen zu tun, weil es direkt an der Chaussee lag. Die Chaussee war die einzige geteerte Straße in der Nähe des Dorfes. Dort, am „Weißen Stein“ gab es einen kleinen Unterstand mit Wellblechdach. Der Bus nach Beeskow oder in der anderen Richtung zum Bahnhof nach Weichensdorf hielt dort. Wenn es regnete, konnte man im Trockenen auf den Bus warten und dabei dem Regentrommeln zuhören.
Das Feld lag in einem Grund, war oft feucht, naß sogar. Nach starkem Regen stand das Wasser manchmal als kleiner See über dem Feld, und die Großen hatten Sorgen wegen der Ernte. Die Sträucher am Feldrain, am Graben, waren nur stachlig. Es gab keine Brombeeren, wie an anderen Lindower Feldern. Nur Sauerampfer. Gut gegen den Durst.
Paul mochte das „Frillandsche“ nicht. Aber die Telegraphenmasten an der Chaussee mochte er sehr. Es umarmte den warmen, glatten Mast, legte das Ohr an das feinrissige Holz und hörte den Stimmen zu. Sogar Stimmen aus Amerika konnte man hören, aber natürlich nicht verstehen. Überhaupt waren diese Stimmen nur ein Summen. Manchmal, selten, war auch ein helles Zwitschern zu hören.
Ganz besonders aber mochte Paul die Drille. Die Drille war ein langer blauer Kasten auf zwei Rädern. Obendrauf war ein Deckel. Dort schüttete man das Korn hinein. Unten gab es viele dünne Rohre, die in kleinen Blechpfeifen endeten. Die Blechpfeifen ritzten schmale, nicht sehr tiefe Furchen in den Boden. Dort hinein rieselte dann das Korn.
Wo die Drille gefahren war, hatte sie das Feld mit langen Linien überzogen. Das sah schön aus.
Paul wußte auch, wie es später aussehen würde. Wenn die ersten grünen Hälmchen aus dem Boden kamen. Und wie dann, noch später, die hohen gelben Halme auf dem Feld standen und sich unter dem Wind bogen. Selbst wenn nach der Ernte nur noch die kurzen Stoppeln standen, konnte man noch immer die Linien erkennen, die die Drille vor so langer Zeit gemacht hatte.
Nach dem Frühstück spannte Onkel Otto an. Er nahm den kurzen Leiterwagen, die Drille wurde hinten angeschirrt. Ein Pferd reichte. Die Drille war nicht schwer zu ziehen.
Paul hatte nicht gefragt, ob er mitfahren dürfe. Er war rechtzeitig vom Hof gelaufen, so daß ihm keiner sagen konnte, er solle zu Hause bleiben. Dann hätte er sich nicht getraut, mitzulaufen.
Onkel Otto nahm den Weg am letzten Hof vorbei zur Chaussee. Kurz dahinter holte Paul ihn ein.
Es lief hinter der Drille her. Der Onkel saß sehr hoch auf einem der beiden Säcke Korn, die er zum Säen mitgenommen hatte. Weil Paul aber klein war und sich hinter der Drille hielt, konnte er es vom Wagen aus nicht sehen.
Das Pferd ging Schritt. Es fiel nicht schwer, mit ihm mitzuhalten. Auf dem Sandweg lief es sich gut. Alle Steine waren weggeräumt, weil sie die Leiterwagen zum Holpern brachten. Von vorne rechts kam der Fichtenwald auf den Weg zu. Er war nur ein grüner Vorsprung, dahinter wieder Felder. Paul kannte diesen Wald nicht. Es wußte nicht, ob es dort auch so viele "Pfefferlinge" oder Steinpilze gab, wie in dem Wald bei Kuhleihe.
Er trottete hinter dem Wagen her, schaute auf die Speichen der Räder, fand den Rhythmus. Jede zweite Speiche war ein Schritt. Bei zwei Pferden wären es vielleicht zwei Schritte bei jeder Speiche gewesen, das hätte Paul nicht lange geschafft.
Dann hörte er das Brummen. Ein lautes, böses Brummen. Das waren keine Fliegen, keine Bienen. Der Braune schüttelte unruhig die Mähne, schnaubte. "Hohh", brummte Onkel Otto beruhigend.
Paul war etwas zu Seite gegangen, damit er besser sehen konnte. Die Bremsen flogen dicht neben den steil aufgestellten, nach vorn gedrehten Ohren des Braunen.
Onkel Otto sagte etwas. Was er sagte, konnte Paul nicht verstehen. Freundlich klang es nicht.
Der Onkel hielt jetzt beide Zügel mit der linken Hand. Er hielt sie straff. Mit der anderen Hand nahm er den Flechter auf, der neben dem Sack auf der Pritsche lag. Er faßte ihn unten an, an seinem dicken Ende.
Paul ahnte, was jetzt kam. Aufgeregt vor Erwartung rannte er ein paar Schritte nach vorn. Onkel Otto hob den Arm mit der langen geflochtenen Peitsche in einer drehenden Bewegung nach hinten, schwang ihn jäh nach vorn. Das lange schmale Leder zischte durch die Luft, schnappte knallend dicht neben dem Ohr des Braunen zurück.
Der zuckte nicht einmal zusammen. Er kannte das. Noch niemals hatte die Peitsche sein Fell auch nur berührt. Manchmal weckte ihn der Knall, wenn er anfing zu dösen und die Spur nicht richtig hielt. Diesmal aber galt die Peitsche nicht ihm, sondern den Bremsen. Der Braune wußte das.
Sein Schnauben klang jetzt, als er den Kopf, wie um sich zu bedanken, nach hinten wandte, wie schnobernde Genugtuung.
"Hast Du sie getroffen? Eine oder beide? Du hast sie getroffen, nicht wahr?"
Paul war aufgeregt am Wagen entlang ganz nach vorn gelaufen, dachte nicht mehr daran, daß er ja eigentlich gar nicht hier sein durfte.
"Heh, wo kommst du denn mit einemmal her?" Vor dem Onkel hatte Paul eine leichte Scheu. Er war schließlich der Bauer, er sagte, was gemacht werden sollte.
Meist war er ernst, doch jetzt lachte er leise: "Ich glaub´ schon. Eine bestimmt. Jedenfalls sind sie weg, die Biesters."
Paul schaute zu ihm empor. Der Onkel schaute zurück. "Na ja", sagte er dann, "ist schon zu weit zum Zurücklaufen."
"Brrhh!" Er brauchte die Zügel nicht anzuziehen, der Braune verstand ihn auch so und blieb stehen. Der Onkel streckte die Hand aus. "Na denn komm."
Paul faßte die Hand. Es war hoch bis zur Pritsche, doch die Hand war fest und Paul zögerte nicht. Ein Schwung und er stand neben dem Onkel. Der rutschte auf seinem Sack etwas zur Seite, deutete mit dem Griff des Flechters auf den freien Platz. Paul setzte sich neben ihn. Er war stolz.
"Hühh!" machte der Onkel. Der Braune zog an. Ein Bauer kam ihnen entgegen. "Tach ooch", sagte der Onkel und grüßte mit dem Flechter. "Tach ooch", sagte Paul und grüßte mit der Hand. Es schaute den Onkel von der Seite an, der schaute zurück, zwinkerte mit den Augen. Tief atmete Paul ein. Ob er später auch mal eine Pfeife haben würde, so wie der Onkel?
Den ganzen Tag über lief Paul hinter der Drille her, schaute auf die Striche, die sie auf das Feld zeichnete. Es wußte nicht, woher das Gefühl kam. Ein gutes Gefühl, zuzuschauen, wie die Körner hinter dem Blechdreieck in der Furche zurückblieben.
Nachdem der zweite Sack Korn durch die dünnen Rohre gerieselt war, fuhren sie zurück.
"Na, da biste ja. Wir dachten schon, dir ham die Russen mitjenomm'n.", sagte Tante Marie. Der Onkel brummte etwas von Drille und hinterherlaufen. Die Tante schüttelte den Kopf und schaute Paul neugierig an: "Die ganzen Stunden hinter der Drille? Ja du meine Güte. Dieser Junge aber ooch!"
Sie erzählte noch oft davon, wie Paul hinter der Drille hergelaufen war. Als ob das eine Heldentat gewesen wäre. So klein fühlte sich Paul ja nun auch nicht mehr.
"Der junge Birnath ist ein Schinder!", sagte Onkel Otto.
„Und Du bist ein alter Pferdenarr!", sagte Tante Marie. Paul schaute den Onkel neugierig an:
"Was ist ein Schinder?"
"Ein fauler Säufer, einer der Pferde schlägt!", sagte der Onkel.
"Nu' mach' aber mal halblang." Tante Marie schaute den Onkel über ihren Brillenrand hinweg an. So schaute sie immer, wenn ihr etwas nicht gefiel oder wenn sie schimpfte.
"Kann sich ja nich' jeder umbringen wejen die Pferde. Und wenn der ‘se mal'n bißchen antreibt, denn wern'se davon ja nich' gleich injehn!" Onkel Otto schüttelte nur den Kopf. Wenn Tante Marie so guckte, war es besser, ihr nicht zu widersprechen.
Der nächste Tag war ein Sonntag, der vierte Advent. Nachts hatte es wieder geschneit. Seit zwei Wochen war es nun schon dezemberkalt in Lindow. Schicht um Schicht war die Schneedecke gewachsen, waren die Felder zu strahlend weißen, leicht gewellten Ebenen geworden. Die Fichten trugen spitze Schneehüte und auf der Dorfstraße hatten die Räder der Wagen den Schnee längst zu Eis gepreßt.
Darauf ließ es sich gut schliddern. Die größeren Jungen konnten das breitbeinig. Anlauf. Den einen Fuß in die linke, den anderen in die rechte Spur. Wehe dem, der mit einem Fuß in eine falsche Spur geriet. Es ging das Flüstergerücht, daß es dabei schon manchmal einen mittendurch gerissen hätte.