Es lohnt sich um jeden Tag - Richard Rickelmann - E-Book
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Es lohnt sich um jeden Tag E-Book

Richard Rickelmann

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Beschreibung

Ein Plädoyer für die Würde der Patienten Kerstin Ostmann, Mutter von zwei Söhnen, erfolgreiche Trampolinspringerin, kämpft zwölf Jahre gegen den Krebs. Im Leistungssport hat sie gelernt: Wer aufgibt, hat schon verloren. Kerstin ringt um Selbstbestimmung und um ein individuelles Behandlungskonzept in einem Medizinbetrieb, der Patienten oft zum Objekt degradiert. Aus ihrem Leiden immer wieder neue Kräfte schöpfend, leistet sie ihrer wuchernden Krankheit bis zuletzt energischen Widerstand. Trotz zunehmender Lebenseinschnürung nimmt sie ihre Familie, ihre Freunde und sich selbst intensiver wahr als früher. Auch im Wissen um den nahen Tod ist sie fähig zu genießen und sich zu freuen. Als sie zu schwach ist, setzt der Journalist Richard Rickelmann, ihr Adoptivvater, die Arbeit am Buch allein fort. Die häufig schwierige, mit Emotionen, Erwartungen und Enttäuschungen belastete Arzt-Patienten-Beziehung wird rückhaltlos beschrieben: Gravierende Versäumnisse bei ihrer Therapie veranlassen Kerstin schließlich zu einer Klage gegen ihren Operateur und die sie behandelnde Klinik. Der Prozess endet nach ihrem Tod mit einem Vergleich.

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Kerstin Ostmann; Richard Rickelmann

Es lohnt sich um jeden Tag

Mein Kampf gegen den Krebs

Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0345-8

ISBN PDF 978-3-8412-2345-6

ISBN Printausgabe 978-3-351-02739-1

Aufbau Digital, veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, November 2011

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2011 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg

unter Verwendung eines Motivs von plainpicture/Kniel Synnatzschke

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zu den Autoren

Impressum

Inhaltsübersicht

Vorwort

St. Peter-Ording

Der Tod der Mutter

Wie alles begann

»Du hast Krebs?«

Der Goldfasan

Die Algarve und die Fischsuppe

Kampf mit dem Drachen

BRCA1 und BRCA2

Ein Gedanke, ein Gefühl

Extreme Melange

Kopf oder Zahl?

Nur noch ein Vorgarten

Neue Wahrheiten

Ein weiterer Gegner

Zwölf Leerrohre

Unentschlossen

Eine neue Duldsamkeit

Silberhochzeit

Knöpfe auf der Haut

Edgar Koller*

Die Gutachterkommission

»Schämen Sie sich nicht?«

»Meine Beine, meine Beine!«

Eine verstörende Nachricht

Hoffnungspicken

Die Abtrünnigkeit aller Dinge

Der Prozess

Windstärke 5

Die Rasur

Gewissheiten

In kleinen Portionen

Afrikanischer Tee

Sofi

Das falsche Hemd

Wie auf Moos

Die Stifterin

Die Adoption

Das andere Ich

Im Koma

Kerstins Sturmangriff

Der verunglückte Stich

Patagonien

Nachwort

Danksagung

Fußnote

|5|Vorwort

Wir begegneten uns zum ersten Mal auf dem Flur eines Landgerichts. Kerstin Ostmann, Anfang vierzig, hochgewachsen, sportliche Figur, blond, mit wachen blauen Augen und einem offenen Gesicht, stand vor dem Raum, in dem der Prozess stattfinden sollte. Ihr Prozess. Am 18. Juli 2006 um 13 Uhr. Neben der Tür in Augenhöhe war in einem Kästchen hinter einem Plastikfenster zu lesen: Ostmann/Dr. Zeitler*, darunter der Name der Klinik.

Kerstin Ostmann war an Brustkrebs erkrankt, vor knapp einem Jahr wurden Metastasen in ihrer Leber diagnostiziert. Am Beginn ihres Krebsleidens Mitte 1996 hatte ihr Dr. Zeitler, damals noch Chefarzt der Gynäkologie, einen bösartigen Tumor aus der rechten Brust operiert. Im November 2000 hatte er während einer weiteren Brust-OP vergessen, ihr einen befallenen Lymphknoten zu entfernen, der eineinhalb Jahre später zufällig bei der Nachsorge-Untersuchung in einer Uniklinik wiederentdeckt wurde. Er war mittlerweile auf mehr als die doppelte Größe angewachsen. Den vergessenen Lymphknoten hatte Kerstins Anwalt in den Mittelpunkt der Klage gegen den ehemaligen Chefarzt gerückt.

Ich hatte nicht nur ein journalistisches Interesse an dem Verfahren. Die Ärztin Dr. Ulrike Zunker und ich waren für die Alexandra-Lang-Stiftung, die Opfern von Behandlungsfehlern bei der Durchsetzung ihrer Rechte hilft, zur Prozessbeobachtung angereist. Sie beriet die Stiftung in medizinischen Fragen, ich gehörte ihr als Vorstandsmitglied an. Kerstin Ostmann hegte einige Wochen vor dem Gerichtstermin Zweifel an der Prozessführung ihres Anwalts, suchte nach Orientierung und bat uns um Unterstützung.

|6|Ihre Zweifel waren berechtigt. Die Ärztin der Stiftung hatte in den Akten noch weitaus schwerwiegendere Behandlungsfehler entdeckt. Dr. Zeitler hatte trotz ihres familiär bedingten hohen Krebsrisikos jahrelang für Kerstin keine Chemotherapie in Erwägung gezogen, nicht einmal nach einem 1999 aufgetretenen Tumorrezidiv. Außerdem war sie von ihm über Jahre hinweg nicht mit einer antihormonellen Therapie behandelt worden, obwohl sie an einem hormonabhängigen Brustkrebs litt. Diesen Versäumnissen, die sich nach Expertenmeinung verkürzend auf ihre Überlebenszeit auswirkten, hatte ihr Anwalt keine Beachtung geschenkt.

Ein fataler Fehler, wie sich zeigen sollte. Der eindeutige Nachweis, dass es sich bei dem zuerst entdeckten und dem später in der Uniklinik auffälligen Lymphknoten um ein und denselben handelte, war nicht zu erbringen. Sich auf Antrag des Anwalts ad hoc mit der unterbliebenen Chemotherapie zu befassen, lehnte das Gericht ab. Richter und Gerichtsgutachter waren auf diese Thematik nicht vorbereitet.

Nach dem Prozess saßen wir in einem nahen Café. Kerstins Ehemann Bernd wirkte wie benommen, als hätten die Vorgänge seine Lebensatmosphäre auf lange Zeit vergiftet. Die fast drei Jahre langen Vorbereitungen auf den Prozess, die vielen Anwaltsgespräche, die Berge von Schriftsätzen, die auf die Anwaltsstrategie zugeschnittenen medizinischen Privatgutachten – und nun diese Niederlage. Eine Leere war zurückgeblieben, die ihn in eine schwermütige Unbeholfenheit hatte fallen lassen.

Und Kerstin, die diese Vorgänge hauptsächlich betrafen? Mich verblüffte ihre Reaktion, machte mich neugierig auf diese Person. Sie zeigte keine Spur von Niedergeschlagenheit. In ihrer Haltung lagen Stolz und Trotz. Im Dialog der Blicke sie ergründend, entdeckte ich auf Kerstins Gesicht Züge einer erhabenen Gewissheit, basierend auf der Erkenntnis, medizinisch stümperhaft behandelt und anwaltlich falsch beraten worden zu sein. Der Prozess war für sie wie eine überflüssige |7|Erfahrung. Das Bewusstsein, recht zu haben, rotierte in ihr wie ein kraftvoller Motor.

»Frau Ostmann«, sagte die Ärztin der Stiftung, als wir im Café saßen, »an Ihrer Stelle würde ich keinen Gedanken mehr an den Prozess verschwenden und ihn auch nicht mehr fortsetzen. Das kostet nur unnötig viel Kraft und viel Zeit. Beides aber brauchen Sie für Ihre Krankheit, darauf würde ich nun alle Energien konzentrieren.«

Kerstin sagte nichts, der Einwand erreichte sie nicht. Sie hörte sich die Bemerkungen an, geduldig, aber ungerührt. Die Äußerungen trafen nicht ihr Gefühl, nicht ihre Gedanken. Sie wirkte keineswegs erschüttert, nicht einmal aufgewühlt, als habe das Gericht sich mit einem anderen Fall befasst. Die Haltung entsprach dem Bewusstsein ihrer ungetrübten seelischen Kampfkraft, die durch ihre Erkenntnis, falsch beraten worden zu sein, noch gestärkt wurde. Auf der Suche nach Gerechtigkeit war sie lediglich vom Weg abgekommen, nicht aber von ihrem Ziel. Die Frau und ihr Fall zogen mich an, ich beschloss, mir ihre Akten gründlich anzusehen.

Während des Gesprächs ließ sie keine Zweifel daran, dass sie sich als sterbend betrachte. Sie sagte das in einem ruhigen, gefassten Ton, als handelte es sich um etwas Alltägliches. Und sie sagte das nicht von sich aus, um Aufmerksamkeit zu erheischen, sondern erwähnte es, als ich nach ihren weiteren Therapieoptionen fragte und sie mit dieser Gewissheit antwortete, unpathetisch und illusionslos, ohne jede Erwartung von Mitleid.

Ich würde die Kopien der Ostmann-Akten im Stiftungsbüro finden. Die Alexandra-Lang-Stiftung für Patientenrechte war von der Wormser Industriellen-Erbin Ilse Lang ins Leben gerufen worden, deren Tochter Alexandra im Jahre 2000 nach einer Infusion in der Praxis eines niedergelassenen Arztes daheim zusammengebrochen und Tage später an den Folgen eines Multiorganversagens gestorben war, als deren Ursache eine verunreinigte Infusionslösung vermutet wurde. Der schmerzliche Verlust ihrer Tochter weckte in Ilse Lang das Bedürfnis, Opfern von medizinischen Behandlungsfehlern |8|zu helfen. Sie, der Unternehmensberater Dr. Kurt Becker und ich bauten die Stiftung auf.

Ich brauchte einige Tage, bis ich mich durch die Akten gelesen hatte. Meine vielen Fragen, die ich zwischendurch an Kerstin richtete, beantwortete sie auf Anhieb. Sie hatte die einzelnen Diagnosen und Therapien und die vielen an ihr vollzogenen Behandlungsschritte nahezu vollständig im Kopf. Ihre Krankengeschichte fesselte mich mehr und mehr. Ob sie sich vorstellen könne, gemeinsam mit mir ein Buch darüber zu verfassen, fragte ich sie einige Wochen nach dem Prozess. Kerstin war sofort einverstanden.

Wir vereinbarten, das Buch aus Kerstins Ich-Perspektive zu schreiben. Wir hatten beide die Vorstellung, dass ihre Schilderungen durch diese Form eindringlicher und ihre Gedanken, Erinnerungen, Emotionen und Erlebnisse authentischer zum Ausdruck kommen würden. Kerstin besprach viele CDs, schickte mir unzählige Mails und füllte Kladden mit Gedanken, Interpretationen, Schilderungen und Beschreibungen ihrer jeweiligen Befindlichkeiten, die wir gemeinsam zu einem Erzählstrang verarbeiteten.

Während der vielen Begegnungen mit Kerstin entstand eine große freundschaftliche Nähe. Ein wachsendes gegenseitiges Vertrauen festigte die gemeinsame Arbeit, eine von ihr und mir zeitlebens empfundene familiäre Unvollständigkeit, mitunter gar als Mangel begriffen, verdichtete unsere Bindung, die bald eine familiäre werden sollte. Kerstin, deren Mutter Anfang der 90er-Jahre an Krebs gestorben war, fühlte sich mittlerweile elternlos. Ihr Vater, ein Einzelgänger, entzog sich seinen Kindern und war für Kerstin selbst in ihren schwersten Krankheitsphasen nicht erreichbar, von einem besorgten Kümmern erst gar nicht zu reden.

Meine Ehe war kinderlos geblieben. Eine Tochter hatte mir stets gefehlt, eine wie Kerstin: zuverlässig, couragiert, anhänglich, besorgt, mitfühlend, hilfsbereit. Bald wählte sie für ihre Mails an mich die Anrede »Lieber Daddy«. Im Sommer 2007 vereinbarten wir die Adoption, Kerstin wurde, |9|von einem Familiengericht bestätigt, offiziell unsere Tochter.

Die vielen Monate der gemeinsamen Arbeit, die zusammenfielen mit einer Phase ihres sich verschlechternden Gesundheitszustandes, in der sie sich ihrer nahenden Endlichkeit bewusst wurde, ließen mich zu einem Bewunderer ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit werden. Während ihres Erinnerns tauchte ich ein in ihre vergangenen zehn Jahre, erahnte ihre Qualen, die körperlichen nach diversen Eingriffen und die inneren Verwerfungen nach schlechten Diagnosen, und ich begriff im Zeitraffer ihrer Erzählungen, dass Kerstin als Folge der permanenten Lebenseinschnürung einen erstaunlichen Prozess vorgezogener Reifung durchgemacht hatte, verbunden mit der Abrundung ihres bemerkenswerten Charakters. Mich erstaunte zugleich, dass Verzagtheit und Larmoyanz in ihr selbst dann nicht aufgekeimt waren, als sie die am Einzelschicksal desinteressierte Medizinerroutine in ihrer schlimmsten Ausprägung erlebte. Das schien in ihr eher ein trotziges Dennoch hervorzurufen.

Kerstin war eine Kämpfernatur, deren Lebenswille sich mit zunehmender Schwere ihres Schicksals stärker ausprägte. Ihre kraftvolle Lebensbejahung nötigte allen Bewunderung ab, die ihre Art der Krebsbewältigung miterlebten – der Familie, Freunden und einigen der uns beim Buchprojekt in medizinischen Fragen beratenden Ärztinnen und Ärzte. Ihr energischer Widerstand gegen den sich in ihrem Körper ausbreitenden Krebs hat nach Einschätzung dieser Mediziner ihre Überlebenszeit deutlich verlängert. Kerstin starb am 14. April 2008 im Alter von 43 Jahren. Womöglich wäre sie bei sachgerechter medizinischer Betreuung noch am Leben.

Die Schilderungen über Kerstin Ostmanns Krebsjahre sind mutmachende und energiegeladene Zeugnisse einer starken Frau, die ihrem kurzen Leben trotz vieler Torturen mehr Erlebnisreichtum und Freude hat abringen können als mancher mit doppelter Lebensdauer. Kerstin hat die Herausforderungen ihres Schicksals mit großer Würde getragen.

|10|St. Peter-Ording

September 2006.

Die Sonne brennt unbarmherzig, so sengend wie an einem Julitag. Das Land ächzt unter einem Hitzeschirm. Das Meer ist nur leicht gekräuselt, es ist diesig, am Horizont verschmelzen Himmel und Nordsee in einer milchig-bläulichen Lichtemulsion. Schaumzungen, mit perlenden Lichtjuwelen durchsetzt, schwappen in sanften Schwüngen auf den Strand. Bleigraues Wasser umspült in kleinen Wirbeln meine Füße.

Eva begleitet mich. Wir sind Patienten der onkologischen Rehabilitationsklinik in St. Peter-Ording, wir haben beide Brustkrebs. In den ersten Tagen war Eva beobachtend reserviert, inzwischen ist sie so offen, als würden wir uns seit Jahren kennen. Eva ist Ärztin, sie hat eine gynäkologische Praxis in einer niedersächsischen Großstadt. Sie ist 46, vier Jahre älter als ich. Sie wird in ein paar Tagen wieder abreisen. Ich weiß nicht, ob ihr die Kur viel gebracht hat. An medizinischen Erkenntnissen sicher nichts.

Eva lacht häufig. Sie hat Grübchen, das verstärkt ihre freundliche Ausstrahlung. Wenn sie lacht, lacht sie auch mit den Augen, braunen Augen. Manchmal wirft sie dabei den Kopf in den Nacken, ihr Haar, brünett, leicht wellig, schulterlang, bauscht sich dann im Wind.

Die Psychologen hier will sie nicht sprechen. Eva verdrängt, sie scheut ihre Schwächen. Aus Schwächen könnten Sturmböen von Ängsten werden mit seelischem Land unter. Sie will aber stabil bleiben. Ihre Patientinnen suchen medizinische Stärkung. Eine labile Ärztin würde sie verunsichern.

Ihrer siebenjährigen Tochter hat sie bis heute nichts erzählt. Wenn sie überraschend ins Badezimmer kommt, dreht sich Eva abrupt um, greift den Bademantel oder ein Handtuch. |11|Die Tochter soll nicht merken, dass ihre Mutter nur noch eine Brust hat, die rechte. Die linke wurde ihr vor zwei Jahren entfernt. Das merkt keiner, sie trägt einen BH mit Prothese. Sie leidet noch immer unter dem Verlust an Fraulichkeit.

»So weit wie du«, sagt Eva mir bei einem Gang über den Strand, »bin ich noch lange nicht. Ich muss meine Krankheit immer noch verstecken.«

Es erstaunt sie, dass ich mich in der Gemeinschaftsdusche unbefangen zeige. Wo meine rechte Brust war, sind nur Narben. Aus der linken wurde die Brustdrüse entfernt – ein brusterhaltender Eingriff (subkutane Mastektomie). Auch auf dem Bauch habe ich eine Narbe: Totaloperation.

Meinen Söhnen Thore, 16, und Malte, 12, habe ich nie etwas verheimlicht. Natürlich haben sie Angst. Ich habe oft über den Tod gesprochen, meinen Tod. Meinen denkbar baldigen Tod. Gedanken, die rausmussten. Die Kinder konnten damit besser umgehen als Bernd, mein Mann. Er hat meine diversen Eingriffe schlechter verkraftet als ich.

Bernd ist Vermessungsingenieur beim Kreis, hat häufig überstürzt Urlaub machen müssen; er hat verständnisvolle Chefs und Kollegen. Seine 49 Jahre sind nicht zu leugnen, er ist an mir gealtert, wirkt häufig müde, tumormüde.

Seit Juni 1996 lebe ich mit Krebs, mit Metastasen, die zerstört werden, wieder auftauchen, mit schlampigen Diagnosen, mit Ärztepfusch, mit medizinischer Geschäftemacherei, mit düsteren Prognosen von nur noch wenigen Monaten Lebensdauer. Erst vor wenigen Wochen hat mir Frau Dr. Schäfer*, meine Onkologin, erklärt: »Frau Ostmann, Sie sind austherapiert. Bei Ihnen handelt es sich nur noch um lebensverlängernde Maßnahmen.« Das hat sie mir in Jahren mehrfach gesagt. Selbst schockierende Aussagen verlieren mit jeder Wiederholung an Wirkung.

Der Tod schreckt mich nicht mehr, ich lebe schon zu lange mit ihm. Er ist mein ständiger Begleiter, rückt nicht von meiner Seite. Ich gewöhne mich an ihn. Seit zehn Jahren spüre ich seine Anwesenheit. Und er lässt mich immer noch leben, das |12|hat auch etwas Beruhigendes. Er hat für mich mitunter sogar etwas Versöhnliches. Wenn es denn nicht mehr geht, habe ich ja ihn. Das ist in gewissen Stunden tröstlich.

Alles in meiner Umgebung ist auf mich zentriert, auf meine Krankheit, in Erwartung der nächsten schlechten Nachrichten von der Tumor-Front. Meine Familie lebt in ständiger Angst vor einem Attentäter – meinem Krebs und seinen Metastasen. Jeder Tag näher am Arzttermin steigert die Nervosität. Dann das Warten auf meine Rückkehr mit der Angst wie vor einer glimmenden Zündschnur: Ist der Tumor explodiert?

Der Krebs ist für mich eine Art Zentrifuge, er verwirbelt mein Leben, er beherrscht meine Träume, diktiert meine Gedanken; alles dreht sich um ihn. Besonders in St. Peter-Ording, wo ich zum sechsten Mal bin. Die Patienten der Rehaklinik sind Krebspatienten, keiner versteckt das. Das macht offen für Gespräche und Freundschaften.

Gemeinsames Leiden verbindet.

Wenn wir in der Kneipe sitzen, in den Dünen wandern, uns zum Mittagessen, zum Schachspiel, zur Wassergymnastik treffen oder am Strand flanieren, sind wir schon mal ausgelassen wie Pennäler am Tag vor den Ferien.

Gemeinsames Leiden macht klassenlos.

Selten habe ich Menschen so gelassen erlebt, frei von Rivalitäten, Posen und Strunzereien, keiner bläht sich auf. Der Krebs ist ein Gleichmacher.

Gemeinsames Leiden schreckt ab.

Im Café werden wir schnell als die mit dem Krebs erkannt. Einige von uns haben unter dem Tuch oder der Mütze den nur nachlässig zu verbergenden kahlen Chemo-Schädel. An den anderen Tischen Frauen vor Sahnetorten, die Kuchengabel zwischen ihren fleischigen Fingern mit den einschnürenden Ringen; er macht satt, der wölfische Appetit der Damen ohne Taille, die uns, wenn sie es vermeiden können, nicht in das Blickfeld ihrer goldgeränderten Brillen rücken. Sie halten uns auf Distanz; wir, die wir so unberechenbar lustig in unserem Elend sind, haben eine appetitverderbende Ausstrahlung.

|13|Gestern ist Eva abgereist. Wir haben unsere Daten ausgetauscht, wir werden uns regelmäßig sehen. Sie wird ihrer Tochter auch künftig nichts sagen. Zu groß noch ist die Scham über ihren Makel. Ihre Patientinnen sollen ebenfalls nichts erfahren. Sie sagt, eine Ärztin, die sich selbst vor Krebs nicht schützen könne, verliere bei ihren Patientinnen an Vertrauen. Ich glaube, das sieht sie realistisch.

Eva hat jetzt Verstärkung, sie hat eine junge Gynäkologin in ihre Praxis geholt. Krebs ist unberechenbar, sie kann schnell mal ausfallen. Nach Belieben eine Praxis schließen, das machen Patienten nicht lange mit. Ihre Familie braucht ihre Einkünfte. Ihr Mann, Ingenieur, war arbeitslos, sein Arbeitgeber hatte Insolvenz anmelden müssen: Auftragsmangel. Seit zwei Jahren ist er Hausmann.

Sie beneide mich um mein Körpergefühl, sagt mir Eva zum Abschied. Ich solle nur weiterhin meiner inneren Stimme folgen. Sie sei meine stärkste Waffe gegen den Krebs.

Meine innere Stimme ist sehr fein justiert, sie signalisiert mir frühzeitig Veränderungen im Körper. Ihr verdanke ich mein Überleben. Oft genug hörte ich von Ärzten, sie hätten nichts gefunden. Die Stimme in mir trieb mich zur nächsten Sonografie. Befund: positiv, eine neue Metastase.

In meinem Körper brodelt es wie in einem Vulkan. Ich fühle ein permanentes Grollen der Krankheit in mir, als hätten sich Organe und Zellen hinterrücks miteinander verbündet und wiegelten sich partisanenhaft gegen den Restkörper auf, kokelten an den Nerven, verpesteten mein Blut, vereint in der Absicht, mich zu zerlegen.

Nachts, wenn die Quälgeister in meinem Hirn mir den Schlaf rauben, meine Phantasie mich auf eine Expedition durch die Verästelungen meines Körpers führt, bildete ich mir manchmal ein, sie zu spüren, diese wuchernden Zellen, wie sie langsam mein Leben auffressen.

|14|Der Tod der Mutter

Ich stamme aus einer Riskiofamilie. In ihr hat der Krebs gewütet wie eine Epidemie: meine Großmutter mit 42 Brustkrebs, meine Mutter mit 52 Jahren Eierstocktumor, mein Vater mit 72 Blasenkrebs, seine Mutter mit 50 Tumor der Bauchspeicheldrüse, sein Vater mit 51 Leberkrebs, sein Bruder mit 74 Prostatakrebs, seine zweitälteste Schwester mit 62 Brustkrebs, seine jüngste Schwester mit 45 Brustkrebs, mein Vetter mit 55 den bei Männern seltenen Brustkrebs.

Eine Familienchronik der Verheerungen. Die meisten sind lange tot. Auch meine Mutter. Sie starb in dem lachsrosa gestrichenen und altmodisch hohen Zimmer eines Krankenhauses, während mein Vater und zwei meiner Brüder die elterliche Wohnung tapezierten.

Der Tod trat am 1. April 1993 ein, einem Donnerstag, nachmittags um zwei Uhr zehn. Eine Ärztin drückte ihr die Augen zu, eine Nonne band ihr Kinn hoch, ich sollte ihr den Schmuck abnehmen. Und die Uhr. Ich mochte es lange nicht glauben, doch die Zeiger der Uhr lügen nicht. Sie ist um zwei Uhr zehn stehen geblieben. Ich habe die Uhr mit dem roten Armband heute noch.

Tage vorher hatte die Nonne ein zweites Bett in das Krankenzimmer schieben lassen. Dort schlief ich bis zu ihrem Tod – eine Woche lang. In den letzten zwei Tagen zusammen mit meiner jüngsten Schwester Carmen. Der Krebs und seine Metastasen hatten die Nervenbahnen meiner Mutter verschont. Es war ein sanftes, schmerzfreies Sterben inmitten der Kulisse fabrikhektischer Beschäftigung um Krankheit und Tod. Auf dem Linoleumflur des baufälligen Krankenhausflügels: Türenschlagen, klappernde, schlurfende und gehetzte Schritte, ein ununterbrochenes Stimmengewirr und das Babygeschrei von der Säuglingsstation ein paar Räume weiter.

Am Dienstagnachmittag kam mein Vater. Er saß wenige Minuten am Kopfende von Mutters Bett, stand dann auf, griff unter die Bettdecke, kraulte ihr die Füße und verabschiedete |15|sich: »Tschüss, Eule« – sein Kosename für meine Mutter. So kannten wir ihn: den Zurückweicher, den Flüchtenden – vor Krankheit und vor Tod, vor Zwängen und vor Fesseln, ein Freund eigenwilliger Lebensregeln, nichts so fürchtend wie Emotionen.

Conny, meine älteste Schwester, brachte uns abends Tee. Danach sahen wir keinen mehr aus der Familie. Eine Ärztin hatte mir erklärt, dass ich über lebensverlängernde Maßnahmen zu entscheiden hätte. Das Ansinnen erschreckte mich: keine Bluttransfusionen und keine Sauerstoffzufuhr mehr. Darüber sollte ich entscheiden?

Wer sonst. Die Nonne, eine wirklich barmherzige, ermunterte mich. Ich verspürte an ihr nicht den geringsten Zweifel. Das machte mich sicher, ich stimmte zu.

Die letzten Stunden meiner Mutter – ein Kampf, ein Aufbäumen, ein Warten. Sie konnte nur noch hören. Am Montag war sie erblindet. Ihre Augen nahmen den Ausdruck des Todes vorweg – leblose, starre, glanzlose Pupillen: Stofftieraugen. Tags darauf konnte sie nicht mehr sprechen. Eine Auswirkung der Metastasen im Gehirn. Sie wartete auf ihren Mann und die anderen Kinder. Sie lauschte häufig in Richtung Tür. Gleich werden sie hier sein, erriet ich ihre Gedanken.

Vom Telefon im Zimmer rief ich meinen Vater an: »Es geht zu Ende«, sagte ich flüsternd, »ihr müsst kommen.« Meine übrigen Geschwister waren dort versammelt. Er sagte ihnen nichts von meinem Anruf. Keiner kam.

Abends saßen Carmen und ich an ihrem Bett. Wir kramten in Erinnerungen. Da waren die Familienfeste, die Mutter so stimmungsvoll arrangiert hatte. Bereits Wochen vor Weihnachten wurden wir Kinder von einer ätherischen Anspannung erfasst. Es war die Zeit der Geheimnisse, die bald keine mehr waren. Tuschelnd und mit großer Wichtigkeit tauschten wir uns über die geplanten, verworfenen und meist hektisch im letzten Moment gebastelten, gemalten, ersparten oder gehäkelten Geschenke für die Eltern aus. Märchenhafte Tage. Wir kuschelten uns ein in geträumte Erwartungen.

Mir fiel plötzlich ein, dass sie uns Geschwister im Sommer |16|oft in der Badeanstalt besucht hatte. Ihr Fahrrad war mit schweren Körben bepackt, sie hingen am Lenker und klemmten auf dem Gepäckträger. In jeder Hand zwei bis drei Körbe, kam sie zu uns auf die Wiese. Mit Behagen verspeisten wir Schnitzel, Frikadellen, Würstchen, Kartoffelsalat, Kuchen. Häufig forderte sie andere Kinder auf, sich auf unsere Decke zu setzen, und reichte ihnen einen Pappteller.

Mutter hatte meinen Erinnerungen aufmerksam zugehört, sie drückte mir ein paarmal die Hand. Ihrem Gesicht sah ich an, dass sie sich gefreut hatte. In unseren stundenlangen Erzählungen kam unser Vater nicht vor.

Am Donnerstag ließen Mutters Kräfte nach, der Tod war schon in ihr. Auf ihrem Gesicht lag plötzlich ein sanftes Lächeln, ein verzeihendes Lächeln. Carmen trat an ihr Bett, rüttelte sie: »Du darfst noch nicht gehen, ich will doch heiraten, du hast doch mit mir mein Brautkleid ausgesucht.« Mutter hörte es nicht mehr. Vier Wochen vorher eine ähnliche Szene. »Das schaffe ich noch, Carmen«, konnte Mutter ihr da noch antworten mit einem schwachen Vogelstimmchen. »Ich werde kämpfen, deine Hochzeit erlebe ich noch.«

»Ihre Schwester muss hier raus«, sagte mir die Nonne, »sie verkraftet das nicht.« Ich bugsierte Carmen vor die Tür. Zehn Minuten später war Mutter tot. Ich rief meinen Vater an, er fragte sofort: »Ist es zu Ende?« – Ich sagte nur: »Ja.«

Daheim kippte ich um. Ich hatte in diesen Tagen kaum geschlafen und fünf Kilo abgenommen. Ich sah meinen Vater bei der Beerdigung und dann ein halbes Jahr nicht mehr. Ich wollte nicht.

Eines Tages sprachen wir uns aus. »Ich weiß«, sagte er, »was ich dir angetan und was für eine Verantwortung ich dir aufgebürdet habe.« Man habe ihm den wichtigsten Menschen seines Lebens genommen. »Ich hatte ihr Sterben nicht erleben wollen, das hätte ich nicht verkraftet.« Sein Vater und seine Mutter seien im Alter von 50 und 52 Jahren gestorben. »Ich hatte gerade deine Mutter geheiratet und musste dann meine jüngste Schwester aufnehmen, die noch in der Lehre war.« – Ziemlich armselig, seine Rechtfertigung.

|17|Das Drama meiner Mutter hat mich viele Jahre begleitet, täglich, stündlich. Das Leben, empfand ich damals, ist wesentlich grausamer als der Tod. Die letzten Tage mit ihr haben mich stärker geprägt als alle anderen Ereignisse in meinen vier Jahrzehnten, wie wichtig sie mir auch jeweils erschienen.

Mutter war ein außergewöhnlicher Mensch: einfühlsam, verständnisvoll und bieder. Eine Biederkeit, die uneitel alle Tugenden verstärkt. Sie war fleißig und voller Demut. Sie war so zuverlässig und treu wie ihre kleine runde Uhr, deren schwingende Unruh lange Zeit in meinem Kopf pendelte, mich erinnernd, trauererhaltend, kräftestärkend in ihrer pulsierenden Verbindung zu meiner Mutter.

Diese schlichte Mechanik wurde für mich seelenvoll lebendig, ich belegte sie mit Gefühlen. Manchmal war ich auch neidisch. Hatte die Uhr nicht den stärksten Treuebeweis geliefert, indem auch ihr Herz stehen blieb in der Minute, als das meiner Mutter versagte.

War meine Mutter an ihrem Krebs gestorben oder an ihrer Therapie? Es ließ sich nicht mehr klären. Ihr Onkologe hatte sie über zwei Jahre mit Zytostatika, schwerstem Kaliber, behandelt. Als sie zum Sterben ins Krankenhaus eingeliefert wurde, stellte der Gynäkologe fest, dass ihr gesamter Unterleib innen wie verbrannt aussah. Nekrotisches Gewebe in der Scheide und am After. Sie habe, meinte der Arzt, über einen zu langen Zeitraum eine viel zu hohe Dosis erhalten.

Ohne die letzten Tage mit meiner Mutter hätte mein Krebs mehr gallige Dramatik in mein Leben gebracht. Meine Mutter starb ohne Angst und mit Würde, von ihrem Mann würdelos im Stich gelassen. Mein langes Abschiednehmen von meiner Mutter hatte mich verändert, eine Prägung in mir hinterlassen.

Das Ich hatte in diesen acht Tagen Krankenhaus an Konturen gewonnen; ich fühlte mich kraftvoller, gereifter, kämpferischer. Dass der Tod, der mich später ständig umlauerte, mir keinen Schrecken mehr einjagte, verdanke ich dem gelassenen Sterben meiner Mutter.

|18|Wie alles begann

Sommer 1996.

Ich war gerade 32 Jahre alt geworden, als meine Sensoren sich zum ersten Mal meldeten: Druck in der rechten Brust. Ich fühlte einen Knoten, er war beweglich, groß wie eine Kidneybohne. Meine Frauenärztin teilte meine Besorgnis und schickte mich vorsorglich zur Mammografie. Ergebnis: gutartig. Ein Fibroadenom, meinte der Radiologe. Die Ränder seien glatt und nicht gezackt: untypisch für einen bösartigen Tumor.

Ein Fibroadenom? Frau Dr. Wollmer* las den Befund, ihre Miene zeigte Skepsis. Sie hatte erst vor wenigen Tage eine Patientin mit der Diagnose Fibroadenom zu einer weitergehenden Diagnose geschickt. Ergebnis: bösartig.

Das bestätigte mein Gefühl, der Knoten musste weg. Ich meldete mich in der Gynäkologie der Städtischen Klinik. Chefarzt Dr. Zeitler nahm sich Zeit, betrachtete den Knoten in der Sonografie. Er meinte, der sei zu 98 Prozent gutartig. Ich wollte hundert Prozent Sicherheit.

Donnerstag, 20. Juni 1996.

Ich ließ mir den Knoten entfernen. Die Operation war morgens um neun, Bernd wartete vor der Tür. Die Spannung wuchs. Immer wieder Tür auf, Tür zu. Einmal kam Dr. Denhard*, der Operateur, aus dem OP, Stress im Gesicht, kopfschüttelnd. »Da ist etwas schiefgegangen«, sagte er meinem Mann und hastete davon, keine weitere Erklärung. Mediziner können brutal unsensibel sein.

Bernd saß vor dem OP auf der Bank, desinformiert, in Panik, seine Phantasie jagte von einer Apokalypse in die andere. Dr. Denhard kam mit seinem Chef zurück. Eine Schnelldiagnose hatte ergeben: bösartig – pT1c, G2, pNO (O/16) ER pos., PR pos. in 6/96. Dr. Zeitler musste nachoperieren, entfernte den Tumor und prophylaktisch 16 Lymphknoten. Die Brust blieb erhalten.

Abends gegen 18 Uhr wachte ich auf. Mein Operateur kam |19|irgendwann ins Zimmer, griff nach meinen Händen: »Frau Ostmann, mit dieser Diagnose hatte ich nicht gerechnet.«

Einen Tag nach der OP standen meine drei Männer in der Tür. Bernd hatte sich große Mühe gemacht. Thore, damals sechseinhalb, Malte, zweieinhalb Jahre alt, waren gekleidet wie aus der Schachtel. Meine Kinder, lebhaft, laut, rüpelhaft, was war mir ihnen passiert? Blass, traurig, ängstlich standen sie versteinert neben Bernd, er bleich wie eine Oblate. »Wollt ihr mir denn nicht mal guten Tag sagen,« rief ich. Ich war erfreut, sie zu sehen. Und sagte das. Sie kamen näher, umarmten mich.

Malte fragte: »Kann ich mal sehen, wo du Aua hast?« Ich zeigte den dicken Verband und den Wundschlauch. In meiner Brust hätte sich ein Tumor gebildet, erklärte ich. »Wie bei der Oma?«, wollte Thore wissen. Ich sagte, meiner sei ein anderer Krebs. »Musst Du jetzt sterben?«, fragte er. Malte nahm mich spontan in den Arm: »Mama muss nicht sterben.«

Ich versicherte, ich würde wieder ganz gesund. Beide drückten mich, Bernd blickte aus dem Fenster. Als er sich umdrehte, sah ich, dass er geweint hatte.

Meine drei Männer: bedrückt, bestürzend verloren wirkten sie – wie unfreiwillige Statisten, die sich im letzten Akt eines Trauerspiels auf die Bühne verirrt hatten. In diesem Stück wollte ich keine Rolle spielen.

Im Sport hatte ich kämpfen gelernt, ich würde nicht aufgeben. Ich raffte mich auf, zog mich an. Wir gingen in die Stadt, ich versprach meinen Söhnen ein Eis. Es machte mir nichts aus, dass der Wundschlauch aus dem Ärmel hing und fragende Blicke provozierte.

Am Tag vor meiner Entlassung erschien nachmittags der Chefarzt und setzte sich an mein Bett: papahaft jovial. »Beten Sie«, sagte mir Dr. Zeitler und hielt dabei meinen Arm, »dass Sie in den nächsten fünf Jahren keinen Rückfall erleben.«

Eine Woche Ruhe, dann revoltierte mein Körper wieder. Morgens noch im Aufwachen erfasste mich ein Taumel. In mir und um mich war alles in Bewegung. Das Bett drehte sich, der |20|Boden schwankte wie ein Schiffsdeck im Sturm. Die gegenüberliegende Wand raste rauf und runter, als wollte sie meinen Blicken entfliehen. Die Muster auf der Tapete lösten sich ab, ihre Farben vermischten sich wie auf einer Malerpalette.

Tanzende Rußflocken vor den Augen, hangelte ich mich am Geländer nach unten. In der Aufrechten rotierte ich wie ein Karussell mit immer höherer Drehzahl. Ich musste mich auf die Couch legen. Die Medikamente schlugen nicht an, Bernd brachte mich ins Kreiskrankenhaus.

Dr. Ralf Wiesner*, ein Freund von uns, behandelte mich. Nach einigen Tagen hatte er die Ursache für den Drehschwindel gefunden: extremer Eisenmangel. Meine Krebsbehandlung machte ihn nachdenklich. Er ließ sich von mir jedes Detail meiner Krankheit erzählen. Schließlich forderte er von der Städtischen Klinik meine Unterlagen an: Arztberichte und histologische Befunde.

Ralf studierte jede Eintragung. Ihn verwunderte, dass Dr. Zeitler eine Chemotherapie mit der Begründung abgelehnt hatte, der Tumor sei mit 1,2 Zentimetern noch sehr klein gewesen. Ralf studierte das pathologische Gutachten vom 21. Juni. Viele Fragen dann. War der Tumor großzügig genug und damit risikomindernd entfernt worden? Sind Bestrahlungen vorgesehen? Ob Dr. Zeitler über die Krebsfälle in meiner Familie informiert sei. Ob er denn wisse, dass ich eine Risikopatientin sei. Ja, Dr. Zeitler war über alles informiert. Ralf empört: »Ich verstehe das nicht. Wenn du meine Frau wärest, würdest du sofort eine Chemo bekommen.«

Irritiert über die Einschätzungen unseres Freundes, rief Bernd sofort Dr. Zeitler an. Der reagierte gelassen. Der Tumor sei so klein, dass Bestrahlungen ausreichten. Schwerere Geschütze lehne er gegenwärtig ab. Danach telefonierte Dr. Zeitler mit Ralf und verbat sich dessen Einmischung.

Wenige Tage später fuhr ich ins Krankenhaus des Nachbarkreises zur Bestrahlung, täglich, acht Wochen lang.

Ralf, der heute eine onkologische Praxis betreibt, ist ein guter Arzt. Hätte ich doch damals das Gespräch mit ihm als Signal verstanden.

|21|»Du hast Krebs?«

Meine Krankheit gehörte fortan zur Familie, anfangs nur in stiller Präsenz. Mein Krebs fremdelte in der ersten Zeit wie ein schüchterner Gast, beschränkte sich auf eine Zwiesprache mit mir, unaufdringlich noch, keineswegs bedrängend. Dann bezog er auch Bernd grübelnd mit ein. Heimtückisch und unaufhaltsam machte sich der Tumor bei uns breit, drang schließlich mit langsam wachsender Dominanz in das Leben meiner Kinder ein. Schon bald umwölkte er wie ein überdimensionierter schwerer Schatten unsere Wochen, Monate, Jahre.

Auch meine Söhne leiden unter ihm, wirken häufig bedrückt und abwesend. Malte war oft unkonzentriert, brauchte Stunden für seine Schularbeiten. »Bist du immer noch nicht fertig«, rief ich schon mal nach oben. Später erzählte ich seiner Therapeutin von seinen Lernproblemen. Sie erfuhr von Malte, dass er häufig auf seinem Bett lag und weinte. »Weil Mama Krebs hat.«

Der Tumor infiltrierte schließlich meine Umgebung.

Stufe eins:

Meine Krankheit macht die Runde, sich behäbig verbreitend unter den Nachbarn, flüsternd und staunend erzählt, Mitleid weckend, Befangenheit auslösend.

Stufe zwei:

Mein Krebs verlässt die Phase des Tuschelns und mutiert zum Tratsch, legt gewaltig an Fahrt und Dramatik zu, immer größere Kreise ziehend. »Kerstin«, rief mir eines Tages eine Bekannte quer über den Marktplatz zu, »ich habe gehört, du hast Krebs?« Ich war mit Thore unterwegs, es war ihm peinlich für mich. Sein Blick von der Seite, vorsichtig fragend: Hatte ich das verkraftet?

Stufe drei:

Mein Tumor hat das Stadium der Sensation verlassen, weckt kaum noch Interesse, er hat mich isoliert. Einige Freunde sind mir geblieben, ausreichend viele, darunter Freunde, die ich vorher nicht dazu zählte; andere, die ich für Freunde hielt, gingen auf Distanz.

|22|Wenn sie nicht mehr ausweichen konnten und vor mir standen – diese ihnen peinliche Verlegenheit, was sollten sie mir sagen, würden sie die richtige Tonlage finden, wohin mit ihren flattrigen Augen, die immer auf der Flucht schienen vor meinem Blick und meinem unglückbehafteten Dasein, das sie zu ihrer sonderbaren Unbeholfenheit zwang. Manche dieser Verlegenheiten endeten in einer schrecklichen Wortprozession des Mitgefühls.

Mein Makel macht einsam, ich bin für viele nur noch eine Bezugsperson auf Abruf, ein nicht mehr lohnender Kontakt. Krebs, wenn er so heilungsresistent ist wie meiner, bringt Gehirne und Befindlichkeiten durcheinander: er ist angstschürend, spaßtötend, erfolgdämpfend, genussfeindlich.

»Die Leute«, sagte mir Bernd eines Tages, »wollen mit uns nichts mehr zu tun haben. Der Krebs macht ihnen Angst. Sie laufen vor uns und sich davon.«

Zuerst nahm meine bis dahin beste Freundin Mechthild Reißaus. Sie stand bei ihrem Metzger vor der Theke, als eine andere Kundin sie ansprach: »Hast du schon gehört ...« Überstürzt verließ sie den Laden.

Am Tag nach meiner Entlassung aus der Städtischen Klinik überredete mich Bernd zum Besuch des Kurparkfestes in der Nachbarstadt. Ich hatte Malte an der Hand. In einiger Entfernung vor uns Mechthild mit Mann, Kind und einigen Freunden. Sie kamen direkt auf uns zu, wechselten plötzlich die Straßenseite und blieben an einem Getränkestand stehen, mit dem Rücken zu uns.

Außer einem Telefonat und einer knappen Begegnung Jahre später mit der lapidaren Erklärung, sie habe damit nicht umgehen können, habe ich nichts mehr von ihr gehört.

Das schmerzte, es brauchte Monate, bis ich das weggesteckt hatte. Wir waren beide zur Realschule gegangen, jahrelang unzertrennlich, sahen uns sehr ähnlich, manche hielten uns für Zwillinge. Wir tauschten unsere Kleider und Autos, sahen uns mehrfach am Tag. Sie wurde Verwaltungsangestellte, ich Anwaltsgehilfin. Mechthild heiratete einen Architekten, oberflächlich, karriereversessen, mit Hang zu |23|höheren Kreisen. Schwächelnde Freunde waren seinem Image abträglich.

Manchmal schafft mein Krebs Realitäten, für die ich dankbar bin: Er entzaubert jene Leute, deren Verlust eher ein Segen ist.

Wie sollte ich auf meinen Krebs reagieren? Ihn verdrängen, mit Aktivitäten auf Distanz halten? Auf keinen Fall wollte ich mich ihm hingeben: in einer traurig-schönen Melancholie, gemästet von eigenem Leid und fremden Mitgefühlen.

Ich nahm wieder meinen Leistungssport auf, Trampolinspringen mit höchsten Schwierigkeitsgraden, war häufig auf internationalen Wettbewerben in der Schweiz, in Belgien und den Niederlanden. In Bern schaffte ich mal den sechsten Platz unter Teilnehmern aus ganz Europa. Der Kitzel, nicht ohne Risiken, gab mir Kraft.

Einmal verunglückte eine Freundin. Wir hatten gerade den Vorwärtssalto mit anderthalbfacher Schraube geübt. Nina hatte ausreichend Schwung, erreichte auch genügend Höhe. Als sie mit den Füßen auf dem Tuch landete, war ihr Oberkörper noch voll in der Rotation. Dann das Geräusch: wie von einem splitternden Ast. Ihr rechtes Schienbein barst unter der ungeheuren Kraft der Drehung; ein markerschütternder Schrei. Der Unterschenkel baumelte herab, nur noch gehalten von Gewebe. Wir legten sie mit dem Rücken auf die Sprungfläche, der Trainer presste den abgeknickten Unterschenkel auf die Wunde am Bein, er wollte den Blutfluss stoppen. Nina hörte nicht auf zu schreien. Erst nach zwanzig Minuten traf der Krankenwagen ein. Es war eine komplizierte Operation. Später ist sie doch wieder aufs Trampolin gegangen.

Beinahe hätte es auch mich erwischt. Bei einem Schauturnen kam ich mal nach einem Doppelsalto vorwärts, gebückt und mit halber Schraube schräg mit nur einem Bein auf, wurde nach oben katapultiert, flog waagerecht über die Köpfe der am Trampolinrand stehenden Helfer hinweg und schlug mit dem Rücken auf den Hallenboden. Ich rang nach Luft, |24|eine Ärztin unter den Zuschauern eilte herbei. Ich hatte mich zum Glück nicht verletzt.

Noch während meiner Bestrahlungen begann ich wieder mit dem regelmäßigen Training. Im Dezember 1996 belegte ich bei den Landesmeisterschaften mit meiner Partnerin Antje im Synchronspringen den ersten Platz und wurde mit meiner Mannschaft Vizemeister. Es war mein letzter Wettbewerb, ich hatte mich vorher zur Übungsleiterin ausbilden lassen und trainierte fortan den Nachwuchs. Thore gehörte dazu, er war der Einzige in der Familie, der sich für das Trampolin begeistern ließ. In seiner Altersklasse wurde er 2002 Bezirksmeister.

Der Goldfasan

Im April 1999.

Nach dem Sport verspürte ich oft einen Druck in der OP-Narbe. Wenn ich die jungen Turner nach hohen Sprüngen auffing, hatte ich regelmäßig Schmerzen. Unruhe packte mich. Da wucherte etwas in meiner rechten Brust. Manchmal hatte ich das Gefühl, das Narbengewebe würde reißen.

Ich suchte Frau Dr. Wollmer auf. Von ihrem Sprechzimmer aus blickt sie auf den Eingang des Standesamtes, was die hagere Ärztin mit den schwarzen schulterlangen Haaren schon mal zu einem das eigene unverarbeitete Ehedrama erahnenden Kommentar veranlasste.

Vor einiger Zeit saß ich vor ihrem Schreibtisch, sie holte mir ein Medikament aus einem Wandschrank, kam am Fenster vorbei und blickte in Richtung Standesamt, wo ein gerade getrautes Pärchen und ihre Familien für ein Foto posierten. Sie schüttelte den Kopf, verdrehte die Augen zur Decke: »Diese Leute sind doch komplett verrückt.« Ich kannte das, sie kommentierte jede Trauung, die sie wahrnahm.

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