Es stolpert sich leichter im Paradies - Irène Steiner - E-Book

Es stolpert sich leichter im Paradies E-Book

Irène Steiner

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Beschreibung

Gemeinsam mit ihren beiden Töchtern im Teenageralter zieht die Autorin 1989 an ihren Sehnsuchtsort, die Antilleninsel Guadeloupe. Doch das Inselleben ist nicht nur idyllisch. Prägende Begegnungen und eine stürmische Liebesbeziehung ändern ihre Sicht auf das Leben grundlegend. Sie lernt, dem Schicksal die Stirn zu bieten, aber auch die Dinge hinzunehmen, die sie nicht ändern kann. Als der Hurrikan HUGO auf die Insel trifft, gerät die Familie in Gefahr - doch aufgeben ist keine Option. Ihre eigene Geschichte soll den Leserinnen und Lesern Mut machen, auch nach Rückschlägen weiterzumachen und der eigenen Intuition zu folgen.

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Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Zur Autorin/Impressum

Widmung

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

RÜCKBLENDE I

KAPITEL 5

RÜCKBLENDE II

KAPITEL 6

KAPITEL 7

RÜCKBLENDE III

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

GUADELOUPE

GLOSSAR

Zur Autorin/Impressum

Als junge Erwachsene arbeitet Irène Steiner 1968 als Flight Attendant bei der Swissair. Nach ihrer gescheiterten Ehe mit einem bekannten Schweizer Radio- und TV-Moderator fasst sie Fuss in der Werbebranche. Sie arbeitet u.a. als Moderatorin bei Radio Basilisk mit einer Live-Kindersendung. Mit ihrem zweiten Ehemann hat sie zwei Töchter. Nachdem die Ehe nach vierzehn Jahren zerbricht, wandert sie mit den Mädchen auf die karibische Insel La Guadeloupe aus. Irène Steiner lebt nun in der Schweiz und ist in der psychiatrischen Pflege tätig. Nach Guadeloupe kehrt sie bis heute immer wieder zurück.

E-Book-Ausgabe, Herbst 2024

Verlag: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Umschlag: © Jasmin Kreilmann,

Designerin/Illustratorin, www.jasmin-kreilmann.de

Covermotiv: © Irène Steiner

Lektorat: Susanne Schneemann, www.lektorat-bern.com

Text: © Irène Steiner

Verantwortlich für den Inhalt: Irène Steiner,

c/o Postflex #7846

Emsdettener Str. 10, 48268 Greven (DE)

Widmung

Für meine Töchter

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Hermann Hesse

(Auszug aus dem Gedicht «Stufen»,

aus dem Roman «Das Glasperlenspiel», 1943)

KAPITEL 1

Der gedeckte Tisch im kleinen Garten lädt zum Frühstück ein. Es ist sieben Uhr morgens auf Guadeloupe und das Thermometer zeigt fünfundzwanzig Grad. Derweil sich die anderen Familienmitglieder noch mit dem Wachwerden beschäftigen, sitze ich mit meinem Kaffee im Garten. Meine Lieben wissen um meine Stummheit, bevor das Koffein wirkt und so ist es nur gut, dass sie sich mit dem Aufstehen Zeit lassen. Pudelnass liegt unser Golden Retriever Flinny auf der schattenspendenden Veranda. Er kommt gerade von einem Strandausflug zurück. Für ihn bedeuten diese jährlichen Sommerferien ein Leben ohne Leine, ohne Hundeschule und Asphalt, «zügellos» sozusagen, pures Glück. Die zu den kleinen Antillen gehörende Insel Guadeloupe erstrahlt frühmorgens in einem besonders weichen Licht. Bedächtig nippe ich an meinem Kaffee, während meine Augen das leuchtende Rot und Gelb der Hibiskus- und Bougainvillea-Stauden betrachten. Sie bilden den Zaun des üppig wuchernden Gartens, der unseren kleinen, im Kolonialstil erbauten Bungalow umgibt. Er steht in einer ruhigen Residenz, in St. François, unweit des äussersten Ostzipfels der Insel. Wenn ich morgens, noch schlaftrunken die Rollläden am Fenster der amerikanischen Küche hochziehe, bestürmen mich sogleich die Sucriers, diese Zuckervögel mit ihrem unersättlichen Verlangen nach Zucker. Das Barfuss-Dasein und T-Shirt-Leben in der Natur mit ihren spektakulären Farben unter dem tiefblauen Himmel setzt in mir immer wieder Glückshormone frei. Dazu kommt ein Gefühl tiefer Naturverbundenheit und vollständiger Gelassenheit, als ob ich alles Bisherige hinter mir lassen könnte. Auch in diesem Jahr setzen diese Empfindungen ein, obwohl mein Ehemann und der Vater von Nicole und Simone nicht mehr dabei ist. Eher scheint sich die Wahrnehmung durch die Tatsache zu verstärken, dass auch meine zweite Ehe gerade Schiffbruch erleidet. Unsere Trennung begleiten keine hässlichen Szenen und niemand spricht von Scheidung, doch das ist kein Trost für das Ehe-Aus. So kommt es, dass uns in diesem Jahr meine Freundin Paula begleitet. Ihre Anwesenheit, so hoffe ich, lenkt ein wenig von der aussergewöhnlichen Situation ab. Paula ist eine Frohnatur, zehn Jahre jünger als ich und spielt im Schauspiel-Ensemble eines Kleintheaters in der Zürcher Altstadt. Ich kümmere mich dort um die Öffentlichkeitsarbeit. Diese Aufgabe wäre für mich massgeschneidert, müsste ich mich nicht ständig mit zwei Dramaturgen auseinandersetzen, die mir aufgrund meiner früheren Werbetätigkeit die Kompetenz für die Belange der Theaterarbeit absprechen.

Langsam lässt der Kaffee meine Lebensgeister erwachen und ich beginne alles aufzutischen, was ein reichhaltiges Frühstück ausmacht. Begleitet werde ich von Zouk-Musik aus dem Radio. Sie soll die anderen zum Frühstück anlocken. Die Kinder kommen dann auch ziemlich schnell und ziemlich verschlafen über das Wohnzimmer auf die Veranda, kurz darauf erscheint Paula. «An welchen Strand gehen wir heute?», fragt mich Nicole grinsend, denn eigentlich kennt sie bereits die Antwort. «Ihr habt doch sicher schon einen im Kopf.» «St. Anne», sprudelt es aus Nicole und Simone heraus. Der weite Sandstrand von St. Anne mit seiner hohen Palmendichte ist speziell für Kinder geeignet. Entfernte Korallenriffe haben ein natürliches Wasserbecken geschaffen, in dem sie sich tummeln können. Ohne Taucherbrille sind die quicklebendigen Fische im glasklaren, türkisblauen Wasser zu beobachten. Ich sehe in die von Joghurt und Mangos verschmierten, glücklichen Kindergesichter und fast wie von selbst bilden sich die Worte in meinem Mund, doch ich wage nicht, sie meinen Kindern gegenüber auszusprechen. Als sich Paula nach dem Frühstück genüsslich eine Zigarette gönnt, muss mein Blick tadelnd statt nachdenklich wirken. Sie nimmt wohl an, ich würde ihr das Rauchen vorwerfen. «Ich weiss, was du denkst, lass mich noch während der Ferien sündigen. Zurück in der Schweiz werde ich mit dem Rauchen ernsthaft aufhören, du kannst mich beim Wort nehmen.» «Es ist nicht das Rauchen», sage ich leise. Sie schaut sinnend dem Zigarettenrauch nach. «Willst du vom Theater weg?» Dabei lacht sie schallend. «Du wirst denen doch nicht die Freude machen, indem du jetzt aufgibst! Die werden sich mit der Zeit abfinden müssen, dass jetzt ein frischer Wind alles ein wenig aufmischt.» Paula denkt offensichtlich an meine problematische Zusammenarbeit mit den Dramaturgen. «Das ist es nicht, sondern ich denke seit einiger Zeit an eine geografische Veränderung, eine Auswanderung hierher.» Sie ist weder überrascht noch erstaunt und sagt nur: «Dann mach es», es klingt so, als stimme sie irgendeinem Ausflug zu. Eine solche Antwort habe ich nun wirklich nicht erwartet. «Mit zweiundvierzig Jahren und zwei Töchtern von zehn und zwölf ist das noch möglich. Ihr kennt bereits das Land. Ich traue dir so etwas zu.» So nimmt das Thema seinen Anfang, das uns während der kommenden vier Wochen begleiten wird. Zunächst sprechen wir im Geheimen wie zwei Teenager, deren Eltern nichts von ihren Schwärmereien erfahren dürfen, bis wir kurz darauf von den Kindern belauscht werden und die Geheimniskrämerei ein jähes Ende findet. Die Aufklärung über die mögliche Auswanderung habe ich mir ebenso wie die Reaktion meiner Töchter anders vorgestellt – sie sind voller Begeisterung. So wird mein Wunsch realistischer. Doch kein Tag vergeht ohne mein Wenn und Aber, sei es die Sorge um die bevorstehende Zahnspange oder um Ballettstunden; Dinge, die ich den Kindern, wo auch immer sie sind, nicht vorenthalten will. Die grösste Hürde aber sehe ich in Sprache und Schule. Hinzu kommt noch die wenig erquickliche Aussicht auf die Reaktion meines Ehemannes. «Hör mal, wir sind hier nicht in einem Drittwelt-Land, sondern sozusagen in Frankreich. Das ganze System ist französisch. Frankreich geniesst einen guten Ruf in der Medizin. Wenn du dir weiterhin nur das Negative vorstellen willst, solltest du das Ganze vergessen.» Paula reisst der Geduldsfaden. Ihr Machtwort hält mir vor Augen, wie sehr ich mich mit meinen Bedenken im Kreis drehe. Sie hat sicher recht. Natürlich darf ich Respekt gegenüber dem Vorhaben zeigen, aber ich sollte mich nicht dauernd mit möglichen Folgeerscheinungen beschäftigen. Was zunächst als Bild entworfen wurde, gewinnt von Tag zu Tag mehr Konturen und nähert sich der Wirklichkeit. Langsam zieht die Triebfeder an, die jeden Schritt lenken wird. Geduld gehört nicht zu meinen Tugenden, oft schon wurde sie von jäher Spontaneität weggefegt. Packte mich eine Unternehmung, ein Umzug, ein Arbeitswechsel so war das Ziel Ausgangspunkt der Planung. Eine Arbeitsstelle oder Wohnung wurde gekündigt, bevor ich mich anderweitig abgesichert hatte. Das Glück stand mir in dieser Hinsicht immer zur Seite. Auch dieses Mal beginnt mein Zeitplan in umgekehrter Richtung, also vom Ende her gedacht. In acht Monaten, so rechne ich es mir aus, will ich hier auf Guadeloupe sein. Dieser Zeitraum müsste für die Vorbereitungen reichen. Das heute festgesetzte Datum ist die Initialzündung für den Start ins Neue.

Die Abende lassen wir gewöhnlich mit einem Apéro beginnen. Wir sitzen auf der Veranda, vor uns stehen die hübschen, kleinen Tische mit köstlichen Snacks. Heute mixe ich die Zutaten zu einem Planteur, ein karibisches Getränk aus Ananas-, Orangen- und Guavensaft, dazu einige Tropfen Grenadine-Sirup, gewürzt mit Zimt und Zitrone und natürlich einem guten Schuss weissen Rum. Paula nimmt genüsslich einen ersten Schluck und fragt nebenbei: «Wie kommt es eigentlich, dass man siebentausend Kilometer entfernt auf den französischen Antillen ein Ferienhaus kauft?» «Oh, das ist tatsächlich eine kuriose Geschichte, sogar doppelt kurios. Zum einen wie ich zu diesem Ort fand und zum anderen, wie das Haus uns fand. Eine Apéro-Zeit reicht dafür nicht aus.» «Dann erzähl sie mir in Fortsetzungen während unserer Abende», meint Paula. Ich schaue nach den Mädchen, wie sie versunken «Hostess und Passagier» spielen. Soeben verlangt ein Passagier nach mehr Chips. Als Chefhostess komme ich schnell ins Spiel und sorge für Nachschub, dann verschwinde ich in die Küche. Mein Drink benötigt einige Eiswürfel. «Und?», fordert mich Paula lächelnd auf. Ich nehme einen kräftigen Schluck, bevor ich beginne:

«Ich litt monatelang an plötzlich einsetzendem Herzrasen. Schlaflosigkeit machte die Nächte zu meinem Feind. Die Vermutung, auch meine zweite Ehe sei im Begriff zu zerbrechen, war der Grund, doch ich wollte es mir einfach nicht eingestehen, zu gross war die Scham. Der Gedanke an ein zweites Versagen brachte mich zur Verzweiflung. Mein Hausarzt, dem ich ein ganz besonderes Vertrauen entgegenbringe, riet mir zu einer Auszeit, alleine, am allerbesten in einem Ferienclub. Er hatte keine Ahnung, wie absurd sein Vorschlag für mich klang, denn für Clubferien war ich schon im gesunden Zustand nicht zu begeistern, geschweige denn in einer Krise. Ich sehnte mich nach nichts anderem als Ruhe. Als ich dann später eine französische Tageszeitung in den Händen hielt, ich glaube, es war in einem Café, liess mich ein Inserat über Reisen nach Guadeloupe innehalten. Verstohlen riss ich es heraus, um zu Hause den Reiseveranstalter anzurufen. Eigentlich spielte es gar keine grosse Rolle, wohin ich reise, ein Inserat über Appenzell hätte vielleicht das Gleiche bewirkt und mich nach Ausserrhoden gebracht. Ich buchte ziemlich emotionslos, interessierte mich zunächst nicht für Land und Leute von Guadeloupe. Es war so ganz anders als bei meinen vorherigen Reisen, da schürte ich die Vorfreude anhand allerlei Informationen. Aber dieses Mal hemmte mein desaströser Zustand jegliche Neugierde. Umso mehr staunte ich bei meiner Ankunft in Pointe-à-Pitre. Im Gewimmel zwischen Touristinnen, Touristen und Einheimischen hörte ich völlig unverhofft Französisch und das entsprach so gar nicht meinen Erwartungen. Die Karibik hatte ich bisher ausschliesslich mit der englischen Sprache verbunden. Da stand ich vor dem Gepäckkarussell, um mich herum französisches Geplapper und ich dachte: Neun Stunden Flug für ein französisches Land. Paula lacht und auch ich sehe mich im Nachhinein eher in einer komischen Situation, doch damals verstimmte mich zunächst die französische Sprache. «Und die Kinder?», will Paula wissen. «Wir hatten es noch nicht lange mit einem Au-Pair-Mädchen versucht und hofften, durch eine Hilfe könne ich mich mit der Zeit besser fühlen. Aber der Grund meines schlechten Befindens lag ja ganz woanders, nämlich dort, wo wir ihn beide nicht sehen wollten. Unser Au-Pair war Tessinerin, erkannte trotz ihrer jungen Jahre schnell, was mit mir los war und versicherte mir, sie fühle sich durchaus imstande, verantwortungsvoll für die Kinder zu sorgen und auch Tobias ermutigte mich zur Erholung. An einem regnerischen Oktobertag fuhren wir zum Zürcher Flughafen. Auf der Fahrt brachte ich kein Gespräch zustande. Ein Kloss steckte in meinem Hals, ein schwerer Rucksack voller Schuldgefühle begleitete mich und von Ferienstimmung keine Spur. Weder das Hotel, eingebettet in eine Parkanlage direkt am Meer, noch mein Zimmer mit Meerblick änderten in der ersten Zeit etwas an meiner Befindlichkeit. Bis zu dem Tag, an dem mich eine Gruppe Feriengäste zu sich an ihren Tisch einlud, alle kamen aus Frankreich. Gerne wäre ich der Einladung ausgewichen, aber es gab kein Entrinnen und zugegebenermassen hatte ich ein Faible für ihre Leichtigkeit des Seins, zumindest vermittelten sie mir diesen Eindruck. Nach und nach gelang mir ein Entkommen aus dieser Blase von Traurigkeit und Starre, da rief mich Tobias an. «Wie fühlst du dich als Jane im Urwald?» «Na ja, die Ortsveränderung und Natur zeigen allmählich eine wohltuende Wirkung.» Im Vergessen der Zeitverschiebung, es war in der Schweiz bereits zehn Uhr abends, wollte ich die Kinder sprechen. «Sie schlafen», sagte er mir. Gerade fragte ich mich, warum er nicht eine Zeit gewählt hatte, wo ich mit ihnen sprechen konnte, da erwähnte er beiläufig, Elena sei nach Hause ins Tessin zurückgekehrt. Sekundenlang fehlten mir die Worte, mein Puls pochte wie wild. Was geschehen war, wollte er mir nicht erzählen. Dies hätte Zeit bis nach meiner Rückkehr. Ich solle mir darüber nicht den Kopf zerbrechen, sondern mich um meine Erholung kümmern. Aber in meinem Kopf zerbrach in diesem Moment etwas. Tobias hielt sich bedeckt und mir fehlte die Kraft nachzuhaken. Nach dem Anruf fühlte ich mich verändert. Die neu gewonnene Ruhe wurde im Nu durch die Frage zerstört, wie wohl zu Hause alles organisiert werde. Die Nachricht führte mich zu einer ganz unerwarteten Tat. Zwei Tage nach seinem Anruf rief ich ihn an. Es war zehn Uhr morgens in der Schweiz, auf Guadeloupe vier Uhr in der Früh. Was er zu hören bekam, musste ihn am anderen Ende der Telefonleitung erstarren lassen. Wegen der neuen Umstände zu Hause bestand ich darauf, er solle mir die Kinder nach Guadeloupe bringen. Doch damit nicht genug bahnten sich meine lang aufgestauten Gefühle einen Weg und bildeten Worte und Sätze, die über den Atlantik hallten: Seine Familie habe stets als letztes auf der Prioritätenliste gestanden. Ich warf ihm vor, das Zuhause nur als kurze Ausruhstation zu nutzen und doppelte nach, dass ich nicht zu den Frauen gehöre, die sich mit materiellen Dingen über ihr Unglücklich-Sein trösten lassen. Jetzt nehme ich mir das Recht zu fordern. Zwischendurch rief ich ein lautes «Hallo» in die Sprechmuschel, denn die Ruhe am Ende der Leitung schien wie der Abbruch der Verbindung. Er antwortete nur: «Ich hör dir zu.» In der Tat blieb er erstaunlich ruhig und verhielt sich auch noch nach meiner Ankündigung still, dass ich nämlich einen längeren Aufenthalt plane und mir Arbeit suchen wolle. Das war ein ziemlich spontaner Einfall, der während unseres Telefonates entstand. Seine Gelassenheit – falls er nicht einfach unter Schock stand – wunderte mich. Womöglich nahm er das alles nicht ernst, was man ihm, ehrlich gesagt, nicht hätte verübeln können. Selbst mich überraschte meine eigene Dreistigkeit. Er hätte bemerken können, ich sei nicht mehr ganz bei Trost oder sonst etwas Kreatives, doch was immer ich auch sagte, er quittierte es mit Schweigen. Mein Redeschwall floss dahin wie ein angestauter See nach einem Dammbruch. Nachdem ich mir alles von der Seele geredet hatte, schaute ich aus dem Fenster des Hotelzimmers. Wir mussten länger gesprochen haben, als ich ahnte. Bereits kündigte sich die Morgendämmerung in der Ferne an. Eine Tür knallte auf dem Hotelkorridor, Stimmen durchbrachen die Nachtruhe. Schon machten sich einige Feriengäste auf den Weg zu irgendeiner frühmorgendlichen Exkursion. Mit dem nichtssagenden Satz: «Ich melde mich bald wieder», beendete er das Gespräch. Erschöpft und befreit legte ich den Telefonhörer auf die Gabel, warf noch einen Blick auf die Morgenröte, bevor ich die Vorhänge zuzog und mich auf das breite Bett fallen liess.

Acht Tage später fuhr ich in einem gemieteten Mini Moke zum Flughafen und überraschte meine Familie mit dem perfekten Ferienauto, wohl wissend um seine Sicherheitslücken. Jedoch, dem kalten Europa entflohen zu sein, um dann auf Guadeloupe von einem Mini Moke abgeholt zu werden, übertraf sicher alle Erwartungen. Aufgeregt und ein wenig schambehaftet sah ich sie alle drei strahlend durch die Passkontrolle auf mich zukommen. Scham, weil ich nun meinem Mann in die Augen sehen musste, nachdem ich ihm so einiges an den Kopf geworfen hatte. Paradoxerweise verlief aber die Ankunft und Begrüssung nicht anders ab als bei den Menschen um uns herum, genauso unbeschwert und glücklich. Wer kennt schon die Schicksale hinter all den glücklichen Szenen des Wiedersehens? Tobias brachte mir unsere Kinder und viel Geld für einen zeitlich unbestimmten Aufenthalt.»

Der Blick von Paula sagt nicht, ob sie mein Handeln versteht oder eher verurteilt. Ihre Neugier steht wohl an erster Stelle: «Wie alt waren Nicole und Simone damals?» «Vier und zwei Jahre.» Nach einer Weile des Erzählens fühle ich mich aufgewühlt. Unangenehme Gefühle aus der Vergangenheit kriechen aus ihrem Versteck. Am liebsten würde ich jetzt schweigen, doch Paulas nächste Frage lässt mich fortfahren: «Und dann flog dein Ehemann in die Schweiz zurück und du bliebst mit den Kindern hier?» «Nein, er kehrte erst nach einer Woche zurück. Die Zeit war kurz, aber lang genug, um uns wieder näherzukommen. Fernab aller Hektik sah er einige Dinge klarer. Ein schmerzlich empfundener Abschied gab uns Hoffnung auf ein frühes oder spätes erneutes Zusammenfinden. Noch hatte uns die Liebe nicht verlassen.

Durch das Aufblühen der Kinder in ihrer neuen Umgebung gewann ich zusätzliche Energie, Euphorie entstand und die Überzeugung wuchs, hier fände ich Arbeit. Also nahm ich meine Chancen ins Visier.»

Während Paula in den Himmel blickt – die Galaxis zeigt sich schwach über uns – bemerkt sie: «Offenbar hat es damit nicht geklappt, sonst sässen wir heute Abend nicht hier auf diesem wunderschönen Fleckchen Erde.» «Fortsetzung morgen gleiche Zeit, gleicher Ort», antworte ich ihr und nehme einen grossen Schluck von meinem Planteur, der längst seine Frische verloren hat, dann stehe ich ruckartig auf. Der Duft aus der Küche ruft zum Essen. Die Fische haben lange genug im Ofen geschmort. Die Mädchen beschäftigen sich unterdessen mit den Fröschen im Garten. «Le dîner est prêt», rufe ich, weil sie es mögen, wenn ich ab und zu Französisch spreche. Ausnahmsweise essen wir spät, die Milchstrasse wird klarer am Himmel über uns. Ich serviere jedem einen gebratenen Fisch, dazu gibt es Süsskartoffeln mit Auberginen. Hin und wieder kommt Paula auf meine Erzählung zurück oder fragt die Kinder, ob sie sich an diese Zeit erinnern können. Nach einem weiteren Plauderstündchen zelebrieren wir den Abschluss des Tages mit dem stillen Betrachten des Himmels. Wir legen uns auf den Rasen, unsere ganze Aufmerksamkeit ist dem Flackern der Sterne gewidmet, nicht selten saust eine Sternschnuppe vorbei. Später – Paula und ich teilen uns aus Platzgründen ein Bett – bittet sie mich weiterzuerzählen. In dieser Nacht liegen wir wie Kinder im Schullager nebeneinander, das geöffnete Fenster gibt ein Stück Nachthimmel frei und wir reden und reden immer weiter. Eigentlich möchte ich jetzt die Augen schliessen, doch Paula gibt keine Ruhe. «Wie ging es nun weiter mit der Arbeitssuche?»

«Am ersten Tag nach meiner Ankunft lernte ich Danie kennen, eine Schweizerin aus Neuchâtel, verheiratet mit einem Antillen. Sie lebte bereits seit einigen Jahren auf Guadeloupe und war Mutter von zwei Knaben. Mehrmals wöchentlich kam sie in die Hotel-Lobby als Vertreterin eines grossen Schweizer Reiseveranstalters. Hier trafen sich Beauftragte verschiedener Reiseorganisationen zu den Sprechstunden für ihre Touristen. Mittlerweile waren schon ein paar Wochen seit der Ankunft der Kinder vergangen. Ich fühlte mich auf eine wunderbare Art zu Hause. Die Kunde von der Schweizerin mit den zwei kleinen Kindern hatte sich in St. François wohl bereits herumgesprochen. Das Inselleben hat seine eigene Art, Neuigkeiten zu verbreiten ebenso werden aus Bagatellen Bedeutsamkeiten, aber das erkläre ich dir später. Dass man über mich sprach, störte mich nicht im Geringsten. Der offensichtliche Respekt gegenüber mir als Mutter und die kleinen Gesten der Hilfsbereitschaft liessen mich ein Wohlgefühl erleben wie schon lange nicht mehr. Mit Danies Hilfe, so redete ich es mir ein, bekäme ich sicher eine Arbeit im Tourismussektor. Zugegeben, ich war erstaunt, wie selbstverständlich sie auf meine Frage nach Arbeit reagierte, so als sähe sie keinerlei Schwierigkeiten. Personen mit Sprachkenntnissen kenne sie hier nicht viele, meinte sie leichthin, und einer ehemaligen Swissair Hostess stehe ganz sicher eine Türe offen. Sie fragte weder, ob ich verheiratet oder geschieden war, noch versuchte sie den Grund für meine Pläne zu erfahren.» Paula unterbricht mich: «Ich frage mich, ob du mutig oder verzweifelt warst?» «Vielleicht beides», antworte ich. «Möglicherweise war es der Mut der Verzweiflung. Aus heutiger Sicht schwebte ich in einem Ausnahmezustand. Danie bemühte sich sehr schnell um ein Treffen mit dem Geschäftsleiter eines lokalen Reiseveranstalters und so fuhr ich eines Morgens mit meinen kleinen Mädchen im Bus nach Pointe-à-Pitre.» Paula schaut mich entgeistert an: «Du nahmst die Kinder mit zum Vorstellungsgespräch?» Ich lächle, «tja, anders ging es nicht, zudem ist man hier in dieser Hinsicht tolerant. Babysitter sind ein Luxus, nur wenige können sich eine bezahlte Betreuung leisten.» Ich erzähle weiter: «Die Adresse befand sich in einer heruntergekommenen Seitenstrasse, Stromkabel hingen auffallend niedrig über dem Quartier. Wenig überraschend war, dass auch das Büro in einem ungepflegten Gebäude lag. Vom engen, dunklen Korridor führte eine steile Treppe in den ersten Stock. Vergeblich suchte ich nach einem Lichtschalter, die Farbe der Wände war stellenweise verblichen. Die ganze Umgebung war nicht gerade Vertrauen einflössend. Danie erwartete mich mit einem schelmischen Lächeln. Sie war eine kleine, zierliche Person mit blondem Haar und ihre Zuvorkommenheit täuschte nicht darüber hinweg, dass sie auch durchaus unbequem werden konnte. Meine Kinder begrüsste sie mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte sie deren Anwesenheit erwartet. Monsieur Denize sei noch besetzt, sagte sie, während sie uns im Vorzimmer einen Platz anbot. Sie holte aus dem kleinen, laut surrenden Kühlschrank verschiedene Getränke. Ich setzte mich an den Tisch, Simone auf meinem Schoss haltend. Ein Glas kühles Wasser tat gut in dieser stickigen Luft. Ausser dem Summen brachte der Deckenventilator keinerlei spürbare Leistung. Von der Strasse her drang der Lärm frisierter Mopeds zu uns herauf. Danie erklärte, dass es nicht mehr lange dauern würde, eine unerwartete Sitzung sei einberufen worden.» Paula schüttelt nach meiner Erläuterung ungläubig den Kopf. «Monsieur Denize erschien mit reichlicher Verspätung. Simone lag unterdessen schlafend auf zwei mit Kissen ausgestatteten Stühlen. Nicole zeichnete versonnen vor sich hin. Ich nutzte die Zeit des Wartens für eine kurze Schilderung über meine Situation. Danie lächelte und sagte, ich sei mutig. Eine gute Stunde war inzwischen vergangen, bis wir laute Stimmen vom Korridor hörten. Danie lief Monsieur Denize entgegen, bevor er in sein Büro eintreten konnte. Irène wartet auf Sie, sagte sie zu ihm, er habe doch hoffentlich noch Zeit. Seine Stimme klang tief, als er sagte, für kleine Schweizerinnen habe er immer Zeit.» Paula schaut mich entgeistert an, aber ich fahre fort mit meiner Schilderung: «Und da stand er in der Tür, ein Mann von grosser Statur, auf Anhieb sympathisch und seinem Gesichtsausdruck nach vermutete ich, er habe den Schalk im Nacken. Jovial kam er auf mich zu, begrüsste mich mit einem «Madame Irène, enchanté», setzte sich, schaute mich lächelnd an, schwieg aber. Dann nahm er sich etwas zu trinken, deutete an, er müsse nochmals zurück in sein Büro, einen dringenden Anruf erledigen. Dabei liess er die Türe offen, sodass wir das Gespräch mitanhören konnten, doch dafür interessierte ich mich wenig. Ich wollte nur endlich wissen, wie meine Chancen auf eine Anstellung standen. Danie spürte meine Anspannung und Nervosität. Sie legte freundschaftlich ermunternd ihre Hand auf meinen Arm, er werde sich über mein Angebot, für ihn zu arbeiten, freuen und ich solle doch an meine Qualifikationen denken. Als er mir dann erneut gegenübersass, verbarg er seine Verblüffung nicht über diese Schweizer Touristin mit zwei Kindern und dem Wunsch nach einer Anstellung. Nach einem kurzen Smalltalk interessierte er sich ernsthaft für meinen Lebenslauf. Die Flight Attendant-Zeit erwies sich tatsächlich als eine gute Visitenkarte. Mehr noch gefielen ihm meine Sprachkenntnisse, doch dann gab er ganz offen zu, dass zum jetzigen Zeitpunkt es für diese Wintersaison leider keine Vakanzen mehr gebe. Nach der Art und Weise, wie er es sagte, durfte ich annehmen, ich sei ganz einfach zu spät dran. Trotzdem stellte er die für mich überraschende Frage, wie ich mir die Arbeit mit den Kindern vorstellte. Immerhin deutete das auf ein gewisses Interesse. Das sei eine Sache der Organisation, antwortete ich selbstbewusst. Er verstand offenbar, wie sehr mir die Angelegenheit am Herzen lag, denn er lächelte, ich sei wohl fest entschlossen, doch wie gesagt, für diese Wintersaison sei das Personal komplett. Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu, es komme ja jedes Jahr ein neuer Winter.» «Und dann fuhrst du in die Schweiz zurück?», fragt mich Paula schläfrig. «Ungefähr so», erwidere ich. «Gute Nacht», doch sie war schon eingeschlafen.

Der Schlaf lässt bei mir noch eine Weile auf sich warten und in Gedanken erzähle ich noch weiter: Nein, ich kehrte nicht sofort zurück, sondern lebte noch einige Wochen planlos in die karibischen Tage hinein, mein Bekanntenkreis erweiterte sich und ich hoffte, dies werde mir helfen bei einer anderen bezahlten Beschäftigung. Dann riss uns eines nachts, um drei Uhr morgens, ein heftiger Knall aus dem Schlaf. Eine Explosion, war mein erster Gedanke. Intuitiv wusste ich, etwas Bedrohliches war passiert. Während die kurz aufgeschreckten Kinder bald wieder sorglos eingeschlafen waren, wartete ich die nächsten Stunden mit Ungeduld auf den Tag. Früher als sonst begaben wir uns am Morgen zum Frühstück in das kleine Bistro neben unserer Unterkunft. Beim Eintreffen zeigte sich reges Treiben, aufgebrachte Stimmen redeten durcheinander, angespannte Diskussionen zwischen politisch unterschiedlich Denkenden erfüllten den Raum. Ich fragte unseren mittlerweile zum Freund und Ratgeber gewordenen Kellner Sacha nach dem Grund für die Aufregung und erfuhr von einer Detonation im nahegelegenen Hotel, nur wenige Schritte von unserer Unterkunft entfernt. Menschen seien keine verletzt worden, aber mit dem Geschehenen befürchte jeder das Ende der Wintersaison, noch bevor sie begonnen hatte. Er erwähnte einen anderen Vorfall in Pointe-à-Pitre vor ein paar Monaten.

Im Jahr 1946 ist aus der Kolonie Guadeloupe ein französisches Departement geworden mit eigenen politischen Abgeordneten. Ich hörte während meines Aufenthaltes ab und zu von einer Minderheit, die für eine vollständige Loslösung von Frankreich plädierte. Aber niemals hätte ich eine solche Aktion erwartet. Was ich gerade erlebte, nahm mir die Lust auf ein Frühstück an diesem spannungsgeladenen Vormittag, der von grauen Wolken begleitet wurde. Die Kinder verstanden gottlob nichts und genossen unbeschwert ihre Croissants und Pains au chocolat. Ich musste so schnell wie möglich Danie sehen und so gingen wir später in Richtung des erwähnten Hotels, wo sie um diese Zeit anzutreffen war. Immer noch lag eine erdrückende Schwüle als Überbleibsel der vergangenen Regenperiode auf St. François.Ab und zu wirbelte ein warmer Wind vereinzelte Regentropfen durch die Luft. Nachdem wir in der Hotellobby angekommen waren, stellte ich sogleich eine schlechte Stimmung unter den Anwesenden fest, gruppenweise sassen oder standen Touristinnen und Touristen zusammen, mittendrin die Reisebetreuerinnen und alle waren sichtlich mit wichtigen Fragen beschäftigt. Ich hatte den Eindruck, die Mehrheit der Reisenden liess sich nicht von den gestylten und um Ruhe bemühten Damen beschwichtigen. Im Moment, wo sich in der Menge Danies und mein Blick trafen, entschuldigte sie sich bei ihren Kunden, bevor sie direkt auf uns zu kam. »Diese Bomben-Aktion vermiest unser Wintergeschäft. Wenn dich Monsieur Denize eingestellt hätte, müsste er dich jetzt wieder entlassen. Es wird von Stornierungen nur so wimmeln.»

Die Zeichen für eine Abreise hätten nicht klarer sein können. Noch war der Augenblick für eine Niederlassung auf Guadeloupe nicht der richtige. Seit jenem Jahr aber ist die Insel in meinem Herzen verankert und ein immer wiederkehrender Traum nahm seinen Anfang. Die Handlung bleibt immer dieselbe: Sie spielt auf Guadeloupe. Ich sitze vor einem grossen dunklen Koffer, den ich für die Abreise packen muss. Dabei quält mich eine Traurigkeit, die ich im Wachzustand noch nie derart intensiv erlebt habe und ich weine.

KAPITEL 2

Neben Kopfschmerzen meldet sich eine Panik gegenüber dem bevorstehenden Telefonat mit Tobias bereits beim Erwachen. Ich wehre mich gegen das endgültige Wachwerden, doch die Sonne dringt durch die schräg gestellten, weissen Fensterlamellen mit zu viel Licht in das Schlafzimmer, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Ich will es heute hinter mich bringen sofort nach unserer gestrigen Rückkehr aus Guadeloupe. Die Uhr an der Wand zeigt elf Uhr. Von den Kindern ist noch nichts zu hören. Sogar Flinny schläft immer noch aufgrund der Zeitumstellung. Die Ruhe ermöglicht mir ein ungestörtes Telefonat mit Tobias. Leise schleiche ich mich in die Küche. Es pocht in meinem Kopf, der Jetlag hat mich eingeholt. Ein starker Kaffee wird hoffentlich die Kopfschmerzen vertreiben. Mit Telefon und Tasse ziehe ich mich wieder in mein Bett zurück. In meinen Gedanken stelle ich die Sätze zusammen, die ich ihm sagen möchte, aber die Nervosität lässt keine Vorbereitung zu. Abgesehen davon, liegen mir solche vorbereiteten Sätze nicht. Also wähle ich seine Nummer in der leisen Hoffnung, er möge bitte zu Hause sein, denn einen erneuten Versuch traue ich mir heute nicht mehr zu. Es dauert nicht lange, bis er sich meldet: «Du lässt lange auf dich warten!» Oh nein, ein Vorwurf ist die schlechteste Voraussetzung für das, was noch auf ihn zukommen wird. «Du weisst doch, wie es ist, wenn man zurückkommt: Müdigkeit, Traurigkeit und dann auch noch der Winter in der Schweiz.» «Ein Anruf dauert drei Minuten!» Ehrlicherweise kann ich ihm seine Verstimmung nicht übelnehmen. «Du hast recht, entschuldige. Was ich dir jedoch sagen will, dauert mehr als drei Minuten.» «Du hast dich verliebt», lacht er. «Ja, in die Insel, aber das ist nicht neu. Doch es kommt etwas hinzu zur Sehnsucht, die mich seit dem ersten Mal nie mehr verlassen hat. Ein Wunsch ist stärker geworden in den letzten Monaten. Mag sein, weil wir wieder in der gleichen Situation sind wie damals. Seit der Trennung schaue ich anders in die Zukunft.» Er unterbricht mich spitz: «Ich ebenfalls!» Sehr gut, denke ich, somit kann ich mir die weitere sorgfältige Einleitung sparen. «Natürlich gilt das für uns beide. In den Ferien habe ich mich für einen festen Wohnsitz auf Guadeloupe mit den Kindern entschieden.» Einige Sekunden bleibt es still. Dann bricht Tobias in schallendes Gelächter aus. Nur kurz halte ich es für ein gutes Lachen, doch dann prasselt eine Lawine von Vorwürfen und Beleidigungen auf mich ein. Ich lasse ihn seinem Ärger Luft machen, was kann ich anderes erwarten? Doch als er mir ins Ohr schreit, was für eine egoistische Mutter er als Frau habe, die Scheissträume verwirklichen wolle, da werde ich ebenfalls laut: «Wer nicht mehr träumen kann, ist tot!», erwidere ich. Allein die vor einigen Jahren getroffene Abmachung, keiner dürfe ein Telefongespräch ohne Verabschiedung beenden, führt zu einem halbwegs anständigen Schluss unseres Gespräches. Mit dem Hörer in der Hand sitze ich noch eine Zeitlang inmitten der Kuschelkissen im Bett. Am liebsten würde ich mich in den Schlaf flüchten. Klares Denken, wie ich das Problem angehen könnte, ist genauso schwer wie die Suche nach dem Ausgang aus diesem Labyrinth der Gefühle. Ein Gedanke jagt den nächsten. Ich ziehe mir warme Kleidung über, lasse eine Notiz mit dem Hinweis: «Bin mit Flinny spazieren», auf dem Tisch und gehe hinaus in einen von der Sonne schwach erwärmten Wintertag. Nur so kann ich dem Chaos der Gedanken entfliehen. Der Nebel bleibt an diesem Tag aus – ein kleiner Trost nach Wochen voller Licht, Wärme und Farben in der Karibik. Beim Gehen durch Wald und über Felder sorge ich mich wieder viel mehr um die Situation meiner Ehe als um alles andere. Vermutlich stehe ich erneut vor einem Scheideweg mit der Wahl: Entweder ich kämpfe für meinen Plan oder verwerfe ihn aus Angst. «Egoistische Mutter» hat er mich genannt, diese Worte hallen nach. Sie bewirken sogar ein kleines, aber nicht zu ignorierendes Wackeln meines Vorhabens. Nicole und Simone haben von Anfang an Begeisterung für die Auswanderungs-Idee gezeigt. Jetzt kommen Zweifel auf, ob die Begeisterung der Kinder weitab von Guadeloupe anhält. Vielleicht müssten erst einmal ein paar Wochen abgewartet werden, bis der Alltag sie wieder zurück hat. Im Grunde lässt sich mein Entschluss nicht so leicht vertreiben, denn es handelt sich nicht um eine plötzliche Anwandlung der besonderen Art, auch wenn es nach aussen und insbesondere bei Tobias diesen Anschein erweckt. Geduldig sein, heisst ab jetzt der erste Schritt der Vorbereitung; abwarten, ob die kindliche Begeisterung Bestand hat. Zudem muss ich ihnen ernsthaft verständlich machen, was ein solcher Landeswechsel bedeutet, bevor ich das Thema für eine Weile ruhen lassen kann. Ihr vor kurzem begonnenes, unbeschwertes Schulleben in der amerikanischen Tagesschule in der Schweiz soll nicht von meinem Entschluss beeinflusst werden. Mit etwas neu gewonnener Übersicht kehre ich mit Flinny nach Hause zurück. Nur der Gedanke an einen erneuten Sprachwechsel für meine Töchter lässt mich bildlich gesehen vor einer grossen Mauer stehen und diese wächst von Tag zu Tag. Doch die Standhaftigkeit meiner Kinder mildert die Bedenken. Sie halten noch Wochen später an unserem Vorhaben fest und gerade während ich kurz davorstehe, alles in den Wind zu schreiben, bringen sie es mit ihrer ehrlichen Enttäuschung über die abzusagende Auswanderung fertig, das Ruder doch noch herumzureissen. Seitdem schaue ich nur noch zuversichtlich meinem Ziel entgegen. Mit dem, was alles auf mich zukommt, wird mir bald klar, was eine solche Lebensveränderung bedeutet. Freude mischt sich mit Angst, Abschiedsschmerz mit Loslassen. Es muss eine minutiöse Organisation eingehalten werden, doch der wichtigste Teil entgleitet mir. Noch bin ich verheiratet und Scheidung ist immer noch kein Thema. Zufälligerweise kreuzt nach längerer Zeit Eveline, eine Juristin und alte Bekannte, meinen Weg. Wir tauschen uns in einem Café über Neues aus, wobei ich von ihr erfahre, wie unumgänglich die Scheidung ist, bevor ich das Land überhaupt verlassen darf. «So lange ihr nur getrennt seid, bist du nicht frei, auch nicht über eine Distanz von siebentausend Kilometern hinweg. Beim jetzigen Status ist dir eine Auswanderung nicht erlaubt. Mit einem zügig agierenden Anwalt solltet ihr in ein paar Monaten geschieden sein.» Ich muss zerknirscht und hilflos dreinschauen, zumindest fühle ich mich so. Sie tätschelt aufmunternd meine Hand: «Komm schon, das wird schon gut, das schafft ihr.» Ich widerspreche ihren Standardfloskeln gereizt: «Wir haben Ende August und für eine Scheidung braucht es zwei. Falls er einverstanden ist, muss ein Anwalt ohne Wartefrist gefunden werden. In acht Monaten will ich aber bereits weg sein.» Sie schaut mich streng an: «Jetzt denke mal sachlich. Das Dringendste ist, deinem Mann die Scheidung auf eine Art zu schildern, dass auch er Positives für sich sieht, nämlich einen fairen Abschluss einer Lebensphase, eine Möglichkeit für neue Perspektiven. Wenn ihr bereit seid, dann ruf mich an. Ich kenne eine Person, die schnell vorwärts machen könnte, schliesslich sind die Sommerferien vorbei. Ich schätze, das würde man bis Ende des Jahres hinkriegen. Denk daran, ein Anwalt für beide. Dann geht alles schneller.»

Natürlich würde ich mich lieber mit anderen Vorbereitungen beschäftigen, aber im Wissen, was nun absolute Priorität hat, muss ich mich wohl oder übel um solche Dinge kümmern. Jetzt hängt der Plan am seidenen Faden. Sperrt sich mein Ehemann gegen eine Scheidung, verwandelt sich der schöne Traum in einen lang andauernden Alptraum. In den vergangenen dreizehn Jahren haben Tobias und ich uns weder hässliche Szenen gemacht, noch laute Streitereien ausgetragen. Unsere Beziehung begann leise zu verkümmern, während sein beruflicher Aufstieg kometengleich war. Vom Erfolg berauscht, geniesst er seinen stetig grösser werdenden Bekanntheitsgrad in Werbekreisen. Das Privatleben, die Familie, steht weit abgeschlagen am Rande des vom Dauerapplaus begleiteten Berufslebens. Gemeinsame Unternehmungen an Wochenenden bleiben schon seit längerer Zeit aus. Ich begebe mich allmählich mit den Kindern auf einen partnerlosen Weg. Es ist nicht nur eine Krise, sondern eine Wiederholung dessen, warum ich das erste Mal nach Guadeloupe reiste. Sicher halte ich mich nicht für eine fehlerfreie Partnerin. Wie heisst es doch so schön, zum Tango braucht es immer zwei. Meine Einstellung, dem Partner zu gewähren, was er für gut hält, ihn jedoch nachträglich zu kritisieren, verspricht nicht gerade eine prosperierende Beziehung. Unsere Trennung geschah ohne viel Aufhebens und wir sehen uns seitdem genauso viel oder wenig wie während unseres Zusammenlebens. Beinahe zeitgleich mit meinem Auszug fiel mir eine neue berufliche Herausforderung in den Schoss, womit auch unsere Zusammenarbeit in seinem Werbebüro zu Fall kam. Die Arbeit am Theater kam wie bestellt, obwohl sich der Start als harzig herausstellte, weil ich – wie mir heimlich gesteckt wurde – keinen links-politisch gefärbten Eindruck vermittle, dazu einen Habitus an den Tag lege, der vermuten lässt, ich sei wohlhabend. Die zwei verantwortlichen Dramaturgen zogen in den ersten Monaten sämtliche Register, um mich aus dem Theaterjob zu ekeln. Aber entgegen ihrer Annahme, arbeiten sei kein Muss für mich, zwangen mich meine finanziellen Gründe durchzuhalten. Und jetzt, wo sich die Wogen geglättet haben, schmeisse ich das Erreichte einfach hin – verrückt eigentlich.

Seit unserem letzten Telefongespräch habe ich Tobias weder gesehen noch gesprochen. Doch Nicole und Simone besuchen ihren Vater regelmässig und verhindern damit neue Auseinandersetzungen. Sie schaffen so geradezu eine wunderbare Basis zum Weiterkommen auf unserem Weg nach Guadeloupe. Davon erfahre ich bei einem unerwarteten Anruf von Tobias. Bei ihren Besuchen schwärmen sie offenbar stets von unserer Ausreise. Für sie steht fest, bald beginnt ein neues Leben. Er schlägt ein Treffen vor. Die Angelegenheit solle ruhig besprochen werden. Vorab sagt er mir am Telefon: «Warum nicht ein Experiment versuchen? So oder so wäre es für die Kinder eine interessante Erfahrung. Beinah beneide ich euch.» Niemals habe ich mit einer solchen Wendung gerechnet. Umso neugieriger fiebere ich unserer Verabredung entgegen. Draussen höre ich die Stimmen der Kinder. Im nächsten Moment kommen sie fröhlich zur Tür herein.

Statt uns, wie vorgesehen, in einem Restaurant hoch über dem Zürichsee zu treffen, wählen wir einen Spaziergang mit Hund Flinny. Der grosse Parkplatz am Waldrand ist hauptsächlich von Teilnehmenden einer Hundeschule besetzt. Aus der Distanz ruft Tobias mir zu: «Das hier wird dir sicher in der Zukunft fehlen!» Er deutet auf den Hundesportplatz, wo die Hundehalterinnen und -halter ihren Vierbeinern den Gehorsam beibringen. «Sitz», «Platz» und «Bleib» hallt es durch die ländliche Stille. Inmitten des Kreises steht der Übungsleitende gleich einem Dompteur. «Auch auf Guadeloupe gibt es Hunde-Clubs, das solltest du wissen.» «Klar, weiss ich das» und damit ist die Einleitung zum Thema gegeben. Er scherzt und küsst mich freundschaftlich auf die Wange. Wir folgen dem Weg am Waldrand, der uns an die gemeinsamen Sonntagsspaziergänge erinnert in einer Zeit, wo wir mit unserem Geschäft in der Startphase steckten. Mir scheint, die Zeit liegt lang zurück. Nach ein paar belanglosen Wortwechseln will ich gerade den heiklen Punkt Scheidung zur Sprache bringen, doch er beginnt als erster: «Meine Reaktion bei deiner Rückkehr tut mir leid, erst recht weil mich dein Vorhaben nicht überrascht und weil auch ich mich für etwas entschieden habe. Nicht zu vergleichen mit deinen Plänen, aber es geht ebenfalls um die Zukunft – um meine.» Ich bleibe stehen, schaue zu ihm auf, die Sonne blendet mich, so dass ich seinen Gesichtsausdruck nicht lesen kann. Ein kleines Unbehagen überkommt mich. «Ja und was ist es?» Eine künstliche Pause gehört zu seiner Art, wenn er Wichtiges zu sagen oder zu erklären hat. Sie macht mich wie auch in diesem Augenblick nervös. «Eine Frau», antwortet er bedeutungsvoll. Eigentlich öffnen diese zwei Worte federleicht die Türe zur Scheidung. Sie könnten mich innerlich zum Jauchzen bringen. Aber nein, seltsam kränkend fahren sie mir durch Mark und Bein. Ich werde mit etwas überfallen, das eine ehrliche Reaktion kaum zulässt. Ich gönne ihm eine neue Frau nicht und verberge dies hinter zwei Worten: «Du Glückspilz.» «Ihr könntet kaum gegensätzlicher sein», fährt er munter fort, »charakterlich ist sie das pure Gegenteil und dabei sechzehn Jahre jünger.» Zum Schluss schlägt er mir unabsichtlich oder doch absichtsvoll die Faust in die Magengrube, begleitet von einem euphorischen Gesichtsausdruck. Sie mag das Gegenteil von mir sein, was kümmert mich das! Was hängen bleibt, ist der Altersunterschied zwischen ihr und mir – «sechzehn Jahre jünger.» Wie konnte ich nur mein Alter vergessen?

KAPITEL 3

Zürich liegt im Nebel an diesem eiskalten Dezembermorgen. An der Strassenbahnhaltestelle treten einige Wartende gegen die Kälte auf der Stelle. Ich fahre zum Gerichtsgebäude. Tobias’ Freundin trug zu einer schnellen Abwicklung der Scheidung massgeblich bei. Ich komme mir so jämmerlich und nichtig vor, mehr durch die Tatsache bedingt, diesen Weg bereits schon einmal gegangen zu sein, als durch die aufkommende Leere. Um mich herum steigen hektisch Passantinnen und Passanten ein und aus. Alle leben in meiner Phantasie eine glückliche Partnerschaft, allen geht es in diesen Minuten besser als mir. Meine bleischweren Beine tragen mich später doch noch die kurze Treppe zum Gerichtsgebäude hinauf, der Körper wiegt gefühlt das Doppelte. In der Eingangshalle empfängt mich unsere gemeinsame Anwältin, mein noch Ehemann kommt hinterher. Der Termin ist auf neun Uhr angesetzt. Ihre Anwesenheit gibt mir ein wenig Zuversicht. Eigentlich genügt lediglich mein Erscheinen, den Rest übernimmt sie. Ich beruhige mich selbst mit der guten Zurede, dass dieser einschneidende Moment bereits in kurzer Zeit der Vergangenheit angehört. Und tatsächlich dauert die Verhandlung nur fünfundvierzig Minuten, dann ist der Schlussstrich unter eine vierzehnjährige Ehe gezogen. Draussen vor dem Gebäude schauen wir uns das erste Mal als Geschiedene ins Gesicht. Aus purer Verlegenheit rutscht mir ein banales «Ich wünsch dir alles Gute» heraus. Er ist mir schon in diesem Moment erschreckend fremd. Ich zerre an meinem dicken Wintermantel, um ihn zum Schutz fester um mich zu schlingen. Äusserlich wie innerlich spüre ich Kälte, Frost und gefrorene Tränen.

Die Wochen danach bringen langsam das aktuelle Hauptthema wieder in den Vordergrund, nicht ohne von Gefühlsschwankungen begleitet zu sein. Einerseits steht das Neue im Raum, das Aufregende und Inspirierende, andererseits hadere ich immer noch mit meinem privaten Scheitern. Aber die Vorbereitungen zur Abreise dürfen nicht ins Stocken geraten. Hauptsächlich auf die Frage, wie die Kinder am effizientesten auf ihre neue Sprache vorbereitet werden sollen, suche ich die bestmögliche Antwort. Französischunterricht genügt meiner Ansicht nach nicht, sondern eher ein Aufenthalt in der französischsprachigen Schweiz. Das Gelingen unserer Auswanderung hängt massgeblich davon ab, wie sie mit der Sprache zurechtkommen werden. Da sie bereits von der schweizerischen Schule in die amerikanische wechselten, erschreckt sie eine neue Sprache offensichtlich nicht sonderlich, zumal sie begeisterungsfähige Mädchen sind.

Bald ist Weihnachten. Nie zuvor empfand ich die bevorstehenden Tage derart bedrückend wie in diesem Jahr. Frisch geschieden und im Wissen, dass die neue Beziehung meines Ex-Ehemannes und seiner Freundin auf der Aufgabe unserer gemeinsamen Vergangenheit beruht, die ich für eine neue Zukunft auf Guadeloupe geopfert habe, liegt die Begründung für meine schlechte psychische Verfassung. Aber das allein ist nicht der Grund, Tobias und sie verreisen in den kommenden Weihnachtstagen – nach Guadeloupe! Ich bin über so viel Geschmacklosigkeit im höchsten Masse empört und zugleich sprachlos. Mit der Wut aber kehrt die Energie zurück und mit ihr eine grosse Portion Unternehmungslust. Spontan buche ich einen Last Minute Flug nach New York, kaufe Frank Sinatras Song NEW YORK, spiele ihn Nicole und Simone mit den einleitenden Worten vor: «Wir gehen ...», worauf lautstark die Songzeile «START SPREADING THE NEWS» ertönt. Unsere Wohnung füllt sich mit jubelnder Freude. Einen Tag vor Weihnachten steigen wir in einem Hotel am Times Square ab.

Mit dem Beginn des Neuen Jahres verblasst nach und nach Belastendes. Die Umzugsvorbereitungen sorgen für eine beschwingte Aufbruchsstimmung. Zeigen einige Menschen in meinem Umfeld eine regelrechte Bestürzung über meinen Entschluss – tausche ich doch unsere sichere, saubere Schweiz gegen eine klimatisch und kulturell höchst verschiedene Welt ein – bringen mir andere ihre volle Bewunderung entgegen. Aber die schwarzmalerischen Bemerkungen bleiben allmählich wie Wolken in der Luft hängen. Bei vereinzelt wohlgemeinten Ratschlägen halte ich inne wie eine Spaziergängerin, die in der Ferne noch unklare Landschaften sieht. So ist es auch bei Hannes, einem Schauspieler des Theaterensembles. Er besucht mich eines Abends in meinem Büro, eine Stunde vor Premierenbeginn. Die Hysterie im Haus nimmt überhand, dauernd klingelt das Telefon oder jemand steht mit einer Frage in der Tür. «Irène!», sein Blick ist andächtig. Wäre er mir nicht so vertraut, hätte ich ihn gespannt fixiert und mich gefragt, was denn nun kommen würde. Stattdessen widme ich mich weiter den Presseunterlagen für die Journalistengruppen. «Irène», fast schon klingt es bittend mit dieser sanften österreichischen Einfärbung seiner Stimme. «Ja, sag schon. Um was geht's?», seine übertrieben zur Schau gestellte Manier nervt mich. «Nun, ich habe über dich nachgedacht.» «Wie schön, du sinnierst mal über andere.» Hannes übergeht die Bemerkung, seine Selbstironie erträgt einiges. Schnell erwischt er meine geschäftigen Hände und nimmt sie in die seinen. «Irène, wie stellst du dir denn ein Leben unter Palmen vor, am Meer hockend, in der Monotonie eines Insellebens ohne Kultur vegetierend? Du wirst innerlich vertrocknen, in deiner Entwicklung stagnieren! In deinem Alter ist der Mensch voll im Saft, Irène. Ich gebe dir sechs Monate, bis du realisierst, wo dein Platz ist. Hier ist nämlich dein Platz!» Das war, kurz gesagt und doch sehr präzise ausgedrückt, seine Haltung zu meinen Auswanderungsplänen. Das Wort Kultur blieb bei mir hängen. Welche Kultur, was ist eigentlich Kultur? Im Duden steht, sie ist die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäusserung einer Gesellschaft, eines Volkes. Wie ein Mantra wiederholt eine kleine Gruppe meines Freundeskreises diese Voraussage, ich würde die Kultur vermissen. Ich kann sie nicht ignorieren schon von Berufs wegen nicht, sondern will mich näher mit dem Thema auseinandersetzen. Frage ich diese meine Pläne kommentierenden Personen nach ihren Kulturgewohnheiten, beklagen sie zunächst den Zeitmangel. So manche werden verlegen, wenn sie mir sagen sollen, wie oft sie ins Theater oder Museum gehen. Sie würden noch so gerne und oft gehen, wäre da nicht der harte Alltag. Am Ende des Tages bliebe dafür keine Kraft. Das einladende Sofa mit Blick auf den Fernseher sei der Grund, warum auf einen Theaterbesuch oder eine Ausstellung verzichtet werde. Das Angebot scheint demnach für alle wichtiger zu sein als die Teilnahme, etwa nach dem Motto: «Wir könnten ja, wenn wir nur wollten.» Immerhin gelingt es ihnen, dass ich darüber nachdenke, wie es um die Kultur auf Guadeloupe bestellt ist. Auf einmal taucht in meinem Innersten die Frage auf, ob ich tatsächlich mir und der Entwicklung meiner Kinder etwas Wichtiges vorenthalte? Meinen Bedenken ein Ende setzt eine befreundete Schriftstellerin. Sie kommentiert das Ganze mit nur einem Satz: «Wenn dein Geist auf Ablenkung verzichten kann, was willst du denn noch mehr?» Neben den Zögerlichen und den Mahnenden in meinem Freundeskreis gibt es noch die Besserwisser. Sie lassen ihren Bemerkungen freien Lauf und spielen mit Antagonismen. Nennen mich mutig, aber unüberlegt, risikofreudig, aber das Schicksal herausfordernd, unverantwortlich gegenüber zwei minderjährigen Kindern – noch dazu ohne ihren Vater an ihrer Seite stehend. Ihre mehr oder weniger ausgesprochene Voraussage bedeutet nur eins: programmiertes Scheitern. All diese verschiedenen Ansichten regen mich immer wieder an, meine Entscheidung zu hinterfragen. Sie sind Teil zur Erlangung von Sicherheit in dem, was ich gerade vorbereite. Sie zwingen mich zum Nachdenken, um dann wieder bestärkt mein Ziel weiterzuverfolgen. Je mehr Sichtweisen mir präsentiert werden – einige nehme ich ernsthaft unter die Lupe – desto vertrauensvoller mache ich weiter. Dann gibt es noch die Ängstlichen, die sich durch meinen Entschluss beleidigt fühlen oder in ihrem Lebensplan verletzt sehen. Will man die Schweiz verlassen mit Kindern in diesem Alter, heisst das für sie, die Kinder zu entwurzeln, ihnen eine neue Sprache aufbürden, ein stabiles Umfeld einfach so wegzunehmen! Und schliesslich gibt es noch die Sehnsüchtigen, in deren Augen sich das Verlangen spiegelt, wenn sie von meinem Entschluss hören. Sie unterstützen mich, geben aber auch zu, dass Angst eine schlechte Begleiterin sei und der Grund, warum ihre Träume von einer Auswanderung bis heute unerfüllt geblieben sind. Ich ahne, dass ich mit meinem Entschluss nicht nur meine eigene Sehnsucht stille. Irgendwann wurden die Kommentare seltener, bis alle verstummt sind. Ein Scheitern wird es nicht geben, wiederhole ich den Kindern und mir gegenüber. Allenfalls ein Zurückkehren, wenn Unvorhergesehenes uns dazu zwingt.

Der letzte Umzugshelfer verlässt die Wohnung mit der letzten Schachtel auf seinen Schultern. Ich stehe im oberen Stock meiner Maisonette-Wohnung. Die leeren Räume kommen mir kalt und abweisend vor, als wollten sie mich auffordern, ich möge sie nun verlassen. Aber sie müssen noch einen Moment warten, bis alles Persönliche, was noch herumliegt, in meinem Handkoffer verschwunden ist. Einsam hängen noch zwei Bilder an der Wand. Der Gedanke an zukünftige Fremde, deren Leben diese Räume willkommen heissen, gibt meinem Herzen einen Stich. Gleich aber werden diese Räumlichkeiten ein letztes Mal mit meiner Abschiedsfeier belebt werden. Durch das Fenster beobachte ich das vertraute Bild des hohen Kamins mit seinem unaufhörlich spuckenden Rauch, umgeben vom farblosen Häusermeer. Der trübe Regentag geht seinem Ende entgegen. Wehmütig denke ich an Nicole und Simone. Sie nehmen seit zwei Wochen an einem Intensiv-Französischkurs in der französischsprachigen Schweiz teil, eine weitere Woche bleibt ihnen noch. Ein Wermutstropfen trübt die Freude auf die Abschiedsparty und auf die Abreise. Bald werden die Kinder und ich für drei Monate getrennt sein. Sie bleiben bis zum Ende des Schuljahres bei ihrem Vater, derweil ich auf Guadeloupe eine geeignete Schule für sie suche und mit der Einarbeitung in meine neue Arbeitsstelle beginnen werde. Sozusagen im letzten Moment ist mir ein Arbeitsvertrag von einem der grössten Schweizer Reiseunternehmen quasi in den Schoss gefallen. Ich werde die Stellvertreterin des Unternehmens auf Guadeloupe sein, eine vielseitige Aufgabe erwartet mich und ich kann mein Glück beinahe nicht fassen. Dieser Vertrag krönt meine Bemühungen auf das Schönste. Meine Gedanken kehren zur bevorstehenden Feier zurück. Es ist Zeit, mich umzuziehen. Im Badezimmer zeigt mir der Spiegel unerbittlich die Spuren von Müdigkeit in meinem Gesicht nach den vielen zu kurzen Nächten der vergangenen Wochen. Dank Kosmetik entferne ich sie, so gut es eben geht. Paula erscheint früher als erwartet. Ich öffne ihr die Tür im Bademantel. Sie sagt gleich: «Nimm dir Zeit, ich werde oben alles vorbereiten.» In ihrer Einkaufstasche sehe ich Champagnerflaschen funkeln. Schnell ziehe ich mich an, denn ich möchte meine Freundin noch einige Minuten für mich alleine haben. Ich stosse herausgeputzt zu ihr, inzwischen ist meine Schlappheit verschwunden, offenbar trägt das Zurechtmachen dazu bei, mich wieder frisch zu fühlen. Gemeinsam bereiten wir das Buffet mit Snacks, Antipasti und Getränken vor. Für später steht ein selbstgemachtes Risotto mit Steinpilzen auf der Speisekarte. Wie sehr wünsche ich mir eine Feier, als gäbe es kein Morgen. Doch das Abschiednehmen liegt mir sehr auf der Seele. Irgendwann kommt der Punkt, wo man am liebsten seine eigene Feier sang- und klanglos verlassen möchte, per Knopfdruck sozusagen, klick und weg. Kein Adieu mehr sagen, keine Umarmung ertragen, keine Abschiedstränen vergiessen. Paula kennt mich gut, nimmt mich bei der Hand und führt mich zum grossen Bodenkissen. «Wir machen nun eine kleine Gedenkpause, eine Hommage an die vergangenen Monate», dabei öffnet sie eine Flasche Champagner. Der Korken fliegt knallend aus dem geöffneten Fenster ins Freie. «Ich weiss, so was tut man nur an einem 1. Januar, aber nicht nur das Jahr hat einen Neubeginn.» Mit zwei gefüllten Gläser setzt sie sich zu mir, ihr bekanntes Strahlen in den Augen, welches mich in den vergangenen Monaten immer wieder ermutigt hat in Zeiten, wo das Puzzle-Spiel der Vorbereitungen scheinbar unlösbar schien. Sie begleitet und bestätigt mich in meinem Tun, seit sie von meinem Entschluss erfahren hat. «Du hast die erste Etappe erreicht! Wach auf, feiere!» Sie reicht mir das Glas mit dem prickelnden Champagner. Mit einem kräftigen Schluck besiegeln wir das Ende der Mühsal der vergangenen Monate. Als wenig später ein Gast nach dem andern eintrudelt, verflüchtigt sich meine Wehmut. Susanne steht plötzlich mit einem Geschenk in der Hand vor mir: «Das ist etwas, womit du nur das Beste vom Leben schöpfst.» Sie überreicht mir eine bunt bemalte chinesische Schöpfkelle als Metapher. Der kleine Wohnraum füllt sich schnell. Bald stehen und sitzen ungefähr vierzig Gäste auf engstem Raum zusammen. Patti taucht frech und sehr überraschend im Badeanzug auf, umhüllt von einer Federboa, sie folgt damit dem Motto der Party «Heisse Nächte in der Karibik.« So ganz bei der Sache bin ich an diesem Abend nicht, die Zukunft drängt sich mit Macht in meinen Kopf. Erst Linard holt mich für eine Zeitlang in die Gegenwart zurück. Mit seiner tiefen Stimme unterbricht er das Geplauder. Sein Abschiedsgeschenk an mich ist ein selbstkomponiertes Lied. Er singt, begleitet von seiner Gitarre, vom Wegzug einer Mutter und ihren Kindern in ein fremdes Land. Ich beobachte die Gäste und fühle mich getröstet; nicht nur ich bin den Tränen nahe. Das Risotto erhält zwar nicht so viel Applaus wie Linard, aber es trägt mit dem Wein dazu bei, dass sich die Feier bis in die frühen Morgenstunden hineinziehen wird. Die Letzten verabschieden sich um fünf Uhr. Jetzt wo alle gegangen sind, wird unter ein Kapitel meines Lebens ein Schlusspunkt gesetzt. Ich bin befreit vom wochenlangen, störenden Abschiedsschmerz.

KAPITEL 4

Nicole und Simone kehren übermütig von ihrem Aufenthalt in Verbier zurück. Ihrer Begeisterung nach gab es neben dem Französisch-Pauken auch lustige Ferienaktivitäten. Sie erzählen von Kindern aus Italien und England, von Ausflügen und Theaterabenden. Meine baldige Abreise nehmen sie scheinbar kinderleicht, denn mit ihr rückt das eigene Abenteuer der Auswanderung näher. Gleichzeitig realisieren sie sehr genau, dass sie noch vor einer Herausforderung stehen, der Abschluss ihres Schuljahres. Unser letztes gemeinsames Abendessen vor meiner Abfahrt verbringen wir vergnügt in einem Zürcher Restaurant, wo es die beste Mousse au chocolat gibt. Ich gebe mir Mühe, die Dauer bis zu ihrer Abreise als möglichst kurz darzustellen und komme mir dabei ziemlich hilflos und unehrlich vor. Drei Monate sind für Kinder eine lange Zeit. Ein bisschen zu spät fahre ich sie nach dem Essen zu ihrem vorübergehenden neuen Wohnort bei ihrem Vater. Ich parkiere das Auto direkt vor der Wohnungstür, mein Herz ist schwer und ein Stein liegt mir im Magen, denn nun heisst es Abschied nehmen. Kinder sind uns Erwachsenen manchmal in ihrer mentalen Stärke erstaunlich überlegen. Sie umarmen mich sorglos, ohne Spuren von Traurigkeit, denn sie wissen und fühlen es genau, bald gibt es ein Wiedersehen. Wir sagen uns «Tschüss» wie an jedem anderen Tag. In der leeren Wohnung steht im Kinderzimmer noch ein Kinderbett und in der Küche ein Tisch, sie sind das letzte Mobiliar für meine verbleibenden zwei Nächte. Je näher die Abreise aus der Schweiz rückt, desto bedeutungsschwerer erscheinen sämtliche meiner Handlungen. Mit ihnen endet eine Zeitspanne und – so banal diese Aktionen auch erscheinen – sie werden Teil von etwas Vergangenem. Flinnys Hundeinstinkt hat ihn in höchste Alarmbereitschaft versetzt, er folgt mir in den letzten Stunden auf Schritt und Tritt. Er ist mein Komplize, mein Wegbegleiter und wir gehen am Tag der Abfahrt ein letztes Mal am Zürichsee spazieren. Es regnet an diesem Apriltag, die Temperaturen sind mild. In der Ferne hängen bereits die nächsten Regenwolken tief am Himmel. Ich führe Flinny zum bekannten Ufer, wo er jeweils ein kurzes Bad nimmt, bevor wir den Rückweg antreten. Die Zeit verstreicht jetzt schnell. In einer Stunde bringt Paula das Mietauto, einen weissen Ford Kombi, für das wenige Gepäck. Der grösste Teil ist schon vor Wochen verschickt worden. Einzig die Hundebox für den Flug beansprucht viel Platz. Zu Hause gebe ich Flinny seine Mahlzeit, die letzte grosse bevor er anderntags am Flughafen Basel mit mir auf die Reise geht. Das Beruhigungsmittel wird ihm helfen, die Zeit der Reise buchstäblich wie im Flug vergehen zu lassen. Paula erscheint wie immer pünktlich. Noch ein letztes Mal schaue ich mich in den Zimmern um, dann verlasse ich die Wohnung, schliesse die Haustüre ab und lege den Schlüssel in den Briefkasten vom Hausmeister. Ich verabschiede mich nicht mehr bei ihm wie auch bei einigen anderen nicht. Jedes Adieu-Sagen vermeide ich seit den letzten Tagen. Paula fährt den Wagen bei kräftigem Wind auf die Autobahn, sie ist konzentriert, so dass ich annehme, ein Gespräch würde sie überfordern. Ohne viele Worte fahren wir Richtung Basel. Für die letzte Nacht habe ich, warum auch immer, eine billige Absteige gegenüber vom Bahnhof und der Flughafenbushaltestelle gewählt. Das kleine Hotel hätte irgendwo in der zweifelhaften Gegend einer Grossstadt stehen können, in Basel wirkt es fehl am Platz. Während Paula und ich auf dem Korridor unser Zimmer suchen, stehen vereinzelt Afrikaner in ihren Zimmertüren, ihre herausfordernden Blicke meiden wir mit sturem Geradeausschauen. Ich täusche vor, meinen Hund besonders kurz an der Leine führen zu müssen, damit er nicht einen der Männer attackiert. Demonstrativ schreie ich «bei Fuss», derweil Paula ihr Grinsen nur schwer verbergen kann. Einen Golden Retriever als Kampfhund vorzuführen, ist natürlich lächerlich. Im kleinen Doppelzimmer suchen wir als erstes einen funktionierenden Lichtschalter. Den gibt es lediglich im Badezimmer. Allerdings zeigt das wenige Licht genug vom dreckigen Teppichboden. «Am besten nicht barfuss gehen», stöhne ich. Wir lassen uns auf das Bett fallen und hängen sogleich durch. Die Matratze passt in dieser Hinsicht ausgezeichnet zum Rest des schäbigen Zimmers. Eine der Nachttischlampen spendet genug schummrigen Schein, um uns vor blauen Flecken durch Kanten und Ecken zu bewahren. Paula wirft lachend ihren Mantel auf den einzigen Stuhl: «Ich muss zugeben, alles passt prima. Wenn düster, dann aber richtig und bitte den ganzen Tag lang. Wir verdienen jetzt ein köstliches Abendessen in einem hübschen Restaurant.» Nicht weit vom Hotel entfernt, kommen wir zufälligerweise an einem, von aussen betrachtet, recht einladenden Restaurant vorbei. Wir sind hungrig und möchten uns einen guten Wein gönnen. Ohne Zögern kehren wir ein. Drinnen empfängt uns eine angenehme Ambiance, obwohl die meisten Tische noch leer sind. Es ist unser vorläufig letztes gemeinsames Essen und wir bemühen uns sehr, die ständig lauernde Traurigkeit in Schach zu halten. Die Rückkehr von diesem gediegenen, geschmackvollen Bistro in unsere dubiose Unterkunft kann kontrastvoller nicht sein, glücklicherweise schützt uns der Alkoholpegel vor einer nüchternen Wahrnehmung. Schnurstracks begeben wir uns, leise kichernd zu unserem Zimmer. Doch in der Unterkunft meint man es nicht gut mit uns. Immer wieder werden wir aus dem Schlaf gerissen. Mal dröhnt Saxophonmusik an unser Ohr, mal sind es laute Stimmen, die durch die dünnen Wände dringen und Flinny knurrt häufig vor sich hin. Irgendwann muss mich der Schlaf doch noch erwischt haben, denn Paulas Wutausbruch über die gestörte Nachtruhe schreckt mich auf. Ab jetzt ist es mit dem Schlafen endgültig aus. Nur dank meiner Zerschlagenheit breche ich mit ihr keinen Streit vom Zaun. Nichts hasse ich so sehr wie Reisen in müdem Zustand. Am nächsten Morgen regnet es immer noch. Einen letzten Wunsch muss mir Paula noch erfüllen: Sie soll auf keinen Fall zum Abschied winken, wenn der Flughafenbus losfährt. Vielleicht kommt uns beiden dabei die Abgeschlagenheit der vergangenen Nacht entgegen, denn für grosse Emotionen fehlt uns schlicht die Energie. Ich schaue ihr nach, wie sie sich von der Busstation im Zeitlupentempo entfernt, gleichzeitig schliessen sich die Bustüren. Der Regen prasselt an die Fensterscheiben, Tropfen kullern wie Tränen über das Glas. Schade sehe ich meine Heimatstadt das letzte Mal nur grau in grau. Flinny hat sich an mich geschmiegt, die Wirkung seines Beruhigungsmedikaments hat eingesetzt. Trotz des ungeheuren Schlafmangels fühle ich mich während des Fluges nach Paris munter. Ich weiss genau, wie ich die Stunden bis zum Weiterflug nach Pointe-à-Pitre verbringen werde. Und so bleibe ich meinem Ritual treu und flaniere nach der Ankunft am Flughafen Paris-Orly erst einmal durch die noch leeren Boutiquen, Bistros und sonstigen Verkaufsstellen. Noch drei Stunden bleiben mir bis zum Weiterflug. Aber die karibische Atmosphäre beginnt bereits am Flugsteig, ausgelöst durch die vielen Einheimischen, die nach Besuchen bei Verwandten in Frankreich zurück in ihre Heimat fliegen. Bei jedem Flug nach Guadeloupe bietet sich mir ein buntes Bild: lautes Gelächter, kreolisches Geplauder, übergrosse Tricolortaschen als Handgepäck. Beim Aufruf des Fluges warte ich, bis alle Fluggäste das Boarding passiert haben. Vor dem langen Flug in engen Sitzen vertrete ich mir so lange wie möglich die Füsse. Mein euphorischer Zustand erreicht den Höhepunkt beim Vorweisen meiner Bordkarte und dem freundlichen «bon voyage» des Flugpersonals. Könnte ich doch mit jemandem diese kribbelig machende Aufregung teilen. Ich bin wie ein Champagnerkorken, der im Flaschenhals steckenbleibt. Ich will die gewonnene Freiheit nach aussen sicht- und hörbar knallen lassen. Was noch vor einigen Monaten als wackelige Absichtserklärung mein Leben aufgewühlt hat, ist heute Wirklichkeit geworden. Wohlmöglich hat sich auf dem Weg zum Flugzeug ein Dauerlächeln auf meinem Gesicht gebildet, so dass ich mir vorstelle, bis auf meinen späteren Sitznachbarn, der seinen Blick stur auf ein Buch gerichtet hält, müsse jede und jeder meinen Glückszustand bemerken und tatsächlich lächeln einige mir zu. Statt den Flight Attendants bei der Sicherheitsshow zu folgen, mache ich mich flugtauglich. Tausche meine Schuhe gegen dicke Socken, fülle das Reisekissen mit Luft, womit ich für maximale Bequemlichkeit während der nächsten achteinhalb Stunden gesorgt habe. Von jetzt an heisst meine Parole: «Einfach nur sein!»

Nach der Bordverpflegung holt mich dann doch noch die vergangene schlaflose Nacht ein. Der Schlaf übermannt mich kurz nach der Mahlzeit, er ist traumlos und tief.