Es war einmal ein Krebs - Bettina Kohlegger - E-Book

Es war einmal ein Krebs E-Book

Bettina Kohlegger

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Beschreibung

Aus einer Routineuntersuchung wird Gewissheit: Die Diagnose "Krebs" verändert das Leben von Bettina von heute auf morgen radikal. Doch dem belastenden Therapieverlauf steht sie kämpferisch gegenüber. In ihrem Buch beschreibt sie den "Sturz aus der Wirklichkeit", die Unterstützung durch ihr Umfeld, die Begegnungen mit Ärzten, aber auch die Konfrontation mit Unverständnis. Immer an ihrer Seite: Ihr Mann, ihre Familie und ihre zwei Hunde. Bettina thematisiert in ihrem Buch die körperlichen Auswirkungen der Therapien genauso wie die psychische Belastung. Mit den Worten "Es gibt die guten und es gibt die besseren Tage" vermittelt sie Mut und Optimismus, ohne diese Lebensphase zu bagatellisieren. Dass es ihr heute wieder so gut geht, verdankt sie den Ärzten, ihrer Familie - und vor allem aber sich selbst. Ein Buch, an dem man wachsen kann.

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Dr. Bettina Kohlegger, Jahrgang 1975, hat Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Innsbruck und New Orleans studiert. Die Leidenschaft zum Schreiben begleitet sie schon ein Leben lang. Der Schicksalsschlag der Krebserkrankung machte ihr Mut, eigene Texte zu publizieren. Es war einmal ein Krebs. Eine Geschichte von Mut und Hoffnung ist ihr erstes Buch. Ihre Inspiration ist das Leben selbst. Sie liebt unter anderem das Theater, Filme, Tanz, Musik und Literatur. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in den Tiroler Bergen und im italienischen Friaul.

Für Werner, der den Himmel mit mir teilt, meine Seele streichelt und mein Herz in Händen hält

Inhalt

Vorwort

Drei Jahre danach

Je dunkler der Himmel, desto heller leuchten die Sterne

Wer die Wahrheit sucht, darf nicht erschrecken, wenn er sie findet

Krebs haben immer nur die anderen, bis es einen selbst betrifft

Eine spannende Reise

Wenn Gott dir ein Geschenk senden will, verpackt er es in ein Problem

Übersicht: Therapien, Behandlungen, Maßnahmen

Heute ist ein neuer Tag: Mein Chemo-Tagebuch

Es war einmal im Dezember

Antihormon-Therapie: Nach der Therapie ist vor der Therapie

Strahlentherapie: Die große Unbekannte

Eine haarige Angelegenheit

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Man kann auch ohne Hund leben, aber es lohnt sich nicht (Heinz Rühmann)

Bettina 2.0

Das Leben ist zu kurz, um das Glück auf später zu verschieben

Am Ende steht der Anfang

Vorwort

»Kann ich dieses Buch jemals veröffentlichen?« habe ich mich wieder und wieder gefragt. Schaffe ich es, meine Gedanken und meine persönlichen Erlebnisse mit anderen Menschen zu teilen? Braucht die Welt noch ein Buch mehr? Je länger ich geschrieben habe, umso unsicherer wurde ich mir in Bezug auf all diese Fragen. Möchte ich denn diese Texte wirklich veröffentlichen, die von meiner Krankheit handeln oder betrachte ich sie einfach als abgeschlossene Therapie und lasse sie wieder in einer Schublade verschwinden. Irgendwann fasste ich jedoch den Entschluss, dass ich das Wagnis »Buchprojekt« eingehe. Was hätte ich zu verlieren, außer das Nein eines Verlages zu kassieren? Ich dachte mir, es würde sich lohnen, für mein Buch zu kämpfen, denn wenn nur ein einziger Mensch mein Buch lesen und sich darüber freuen würde, wäre es die ganze Mühe Wert gewesen. Abgesehen davon, dass jedes Wort in diesem Buch für mich persönlich Heilung bedeutet, denn Schreiben, das ich über alle Maßen liebe, ist meine beste Medizin.

Ich bin Bettina, die meisten nennen mich Betty, ich bin mittlerweile 44 Jahre alt und ich hatte Krebs. Die Betonung liegt auf »hatte«, denn ich bin wieder gesund, und es geht mir sehr gut. Dies ist meine ganz persönliche Geschichte aus der Zeit meiner Erkrankung. Die Diagnose trifft einen eiskalt mitten ins Herz. Von heute auf morgen ist alles anders und die Welt steht Kopf, wenn dir gesagt wird, was keine Frau gerne hören möchte: Sie haben Brustkrebs!

Als ich am 27. Juli 2016 die Diagnose bekam und ich mich plötzlich mit einer gänzlich neuen Realität auseinandersetzen musste, wurde mir erschreckend bewusst, dass ich nur eine von Millionen von Frauen weltweit bin, der dieses Schicksal widerfährt. Brustkrebs ist allgegenwärtig. Beinahe jeder kennt eine Betroffene in seiner Umgebung. Wie viele Frauen tatsächlich bereits an dieser Krankheit leiden und wie viele Neuerkrankungen ständig hin zu kommen, ist für mich ein wirkliches Schreckensszenario. Was passiert hier und warum? Ich weine, wenn ich daran denke, wie viele Frauen dem Brustkrebs bereits ihr Leben opfern mussten und ich bete für alle, die den schweren Weg noch gehen müssen, den auch ich schon hinter mir habe. Allein in meiner Heimat Tirol erkrankt jede achte Frau im Laufe ihres Lebens einmal an Brustkrebs. In meiner Familie betraf es meine Oma Ludmilla im hohen Alter von 85. Sie überstand es mehr oder weniger gut und wurde noch stolze 97 Jahre alt. Andere Brustkrebsfälle sind mir in meiner Familie nicht bekannt. Auch in meinem Freundeskreis gab es einige Frauen mit der Diagnose. Ich wurde also schon vor meiner eigenen Erkrankung mehrfach mit dem Krankheitsbild konfrontiert. Als ich dann plötzlich selbst betroffen war, traf mich die neue Realität wie ein harter Schlag, und es dauerte eine geraume Zeit bis ich begriff, was mit mir passiert. Es ist natürlich immer etwas ganz anderes, wenn man selbst im Mittelpunkt der grausamen Wirklichkeit steht.

In diesem Buch erzähle ich von der Zeit meiner Krankheit, die zum Glück nur ein kleiner Ausschnitt meines Lebens ist, der mich aber dennoch sehr stark geprägt hat und es auch immer noch tut. Ich erzähle von allem, was die Krankheit betrifft, von der Diagnose bis hin zur letzten Therapie, meinen Erfahrungen, Erlebnissen und persönlichen Gedanken. Alles, was mir in dieser Zeit passiert ist, nimmt Einfluss darauf, wer ich bin und was ich sein werde. Brustkrebs ist durch die Behandlungen und Therapien, die ich nach wie vor absolvieren muss, zu einem Teil meines Lebens geworden, obwohl ich jetzt wieder völlig gesund bin. Trotzdem ist es mir besonders wichtig zu betonen, dass die Krankheit nicht mein Leben bestimmt. Ich bestimme mein Leben, denn ich bezwang auch die Krankheit. Jetzt bin ich Bettina 2.0. Gesund und energiegeladen, lebendig und glücklich. Das ist das Wichtigste.

Das Aufschreiben des Erlebten war für mich wie eine Therapie, eine für mich persönlich ideale Form des Verarbeitens und des Verstehens. Viele bittere Tränen habe ich während des Schreibprozesses geweint. Jeden einzelnen Tag dieser schweren Zeit noch einmal intensiv zu durch leben und über alles nach zu denken, hat eine ganz andere und neue Qualität entwickelt, das Erlebte zu begreifen und zu verarbeiten.

Obwohl das Schreiben dieses Buches sehr intensiv, oft anstrengend und traurig für mich war, war es mir ein großes Anliegen und Bedürfnis, meine Geschichte fest zu halten und meine Erlebnisse in Bezug auf die Krankheit mit allen Menschen zu teilen, die daran interessiert sind. Alles was mit meiner Erkrankung zu tun hat, was mich belastet hat, aber insbesondere was mir geholfen und gut getan hat, möchte ich gerne teilen, in der Hoffnung, dass zumindest eine Handvoll Frauen sich den einen oder anderen Tipp heraussuchen kann, der ihnen das Leben in der schweren Zeit etwas einfacher macht.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich anderen Betroffenen viele hilfreiche Tipps geben kann, da die Krankheit ja so individuell ist und in so vielen verschiedenen Formen existiert. Ich habe das Rad nicht neu erfunden. Viele Dinge, die ich gemacht habe, haben wahrscheinlich auch schon Tausende andere vor mir gemacht. Wie gesagt, dies ist meine persönliche Geschichte und kein allgemeiner Ratgeber. Vielleicht können aber zumindest mein großer Optimismus und meine positive Einstellung dem Leben gegenüber einige Menschen trösten und ihnen Mut machen. Positiv und optimistisch war ich nämlich von Anfang an. Die Zuversicht habe ich mir niemals nehmen lassen, nicht einmal in den dunklen Stunden.

Vielleicht hatte ich Glück, dass meine Diagnose im Jahr 2016 gestellt wurde, in einer Zeit, in der die Medizin schon so fortgeschritten war und es bereits so tolle Therapiemöglichkeiten gab, sodass mir die Ärzte von Anfang an sagen konnten, ich hätte eine Heilungschance von 99%. Das klingt doch viel versprechend oder? Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, wie es wohl für Frauen gewesen sein musste, die vor zwanzig oder dreißig Jahren oder noch früher dieselbe Diagnose bekamen, als die Medizin noch keine so vielversprechenden und erfolgreichen Therapien anbieten konnte. Dann überlege ich mir wiederum, wie die medizinische Entwicklung in fünfzig bis hundert Jahren aussieht, wenn die Diagnose Brustkrebs hoffentlich nicht schlimmer sein wird als ein grippaler Infekt. Das letztere wäre mein allergrößter Wunsch, sodass ich nicht mit Sorge und Trauer an all diejenigen Frauen denken muss, die dieses Schicksal noch ereilen wird. Wesentlich schöner wäre es natürlich noch, wenn die Forschung den Wurzeln dieser Krankheit auf die Schliche käme und sie uns Frauen überhaupt nicht mehr heimtückisch überfallen würde.

Während ich dieses Buch schreibe, habe ich den Hauptteil der schulmedizinischen Therapien und Behandlungen bereits hinter mir: Chemotherapie, Operationen und Strahlentherapie sind abgeschlossen, die Antihormontherapie läuft seit ungefähr zweieinhalb Jahren und wird mich auch noch über die nächsten Jahre meines Lebens begleiten. Eine Rekonvaleszenz-Phase von einigen Monaten habe ich mir auch gegönnt, und es geht mir jetzt, drei Jahre nach der Diagnose wirklich sehr gut. Ich sage immer, es gibt die guten und die besseren Tage.

Sollte ich also nur eine einzige positive Emotion bei Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, auslösen, so würde mich das schon glücklich und zufrieden machen und mein persönliches Ziel wäre erreicht.

Ich werde einige wenige medizinische Details beschreiben, die meine eigene Geschichte betreffen und mir von meinen Ärzten erklärt wurden bzw. die ich selbst recherchiert habe. Ich bin keine Ärztin und habe keine medizinische Ausbildung absolviert. Meine laienhaften Kenntnisse, und es ist mir auch wichtig zu erwähnen, dass ich nie angestrebt habe, mein Wissen in dieser Hinsicht überdurchschnittlich auszudehnen, beruhen auf meinen persönlichen Erlebnissen und dem was ich durch Lektüre in Erfahrung gebracht habe. Dieses Buch hat nicht den Anspruch, wissenschaftlich fundiert zu sein, sondern ist eine subjektive Erzählung von Ereignissen und des von mir Erlebten. Ich habe viel Recherche betrieben, gelesen, mich bei unterschiedlichsten Quellen informiert und mit Ärzten und Therapeuten meine persönliche Krankheitsgeschichte mit allen Aus- und Nebenwirkungen erörtert und besprochen. Das alles zum Zweck, gewisse Zusammenhänge zu verstehen und mir selbst Mittel und Wege zu suchen, die mir den Krankheitsverlauf erleichtern und Leiden lindern.

Sollten Sie selbst betroffene Patientin sein, wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute und viel Kraft. Als Ehepartner, Familienmitglied oder Freund/in einer Betroffenen möchte ich Ihnen vor allem Geduld, Verständnis und genügend Herzenswärme wünschen, die Zeit gemeinsam so gut wie möglich durchzustehen. Es ist mir mehr als bewusst, dass die Familien und Freunde am meisten leiden, wenn ein geliebter Mensch erkrankt. Nichts ist wichtiger in der Zeit der Genesung als Liebe, Liebe und noch einmal Liebe.

Bettina Kohlegger

1 Drei Jahre danach

Drei Jahre später fühle ich mich noch immer nicht so wie früher. Wahrscheinlich werde ich mich nie mehr so fühlen und nie mehr die alte sein. Ich habe die Krankheit überstanden, 6 Chemotherapien und mehrere Operationen hinter mich gebracht, 31 Bestrahlungen ausgehalten, stecke noch mitten in der Antihormon-Therapie (die mir oft den letzten Nerv raubt und mich sehr viel Kraft kostet) und habe unzählige andere Therapien und Dinge ausprobiert, in der großen Hoffnung, sie mögen mein Leben erleichtern.

Es geht mir gut, aber so fühlen wie davor, werde ich mich wahrscheinlich nicht mehr. Das unbeschwerte Herz, das ich immer hatte, hat eine Last auf sich nehmen müssen, die es nicht mehr los wird. Tief in mir ist die Überzeugung, dass ich die Erkrankung endgültig besiegt habe und ihr nie wieder begegnen muss, aber dennoch gibt es auch Tage, an denen ich Angst habe, sie könnte eines Tages zurückkehren. Mein Risiko, wieder an Brustkrebs zu erkranken, ist nicht größer, als bei jeder anderen Frau. Ich gelte als geheilt, aber natürlich existiert immer ein gewisses Risiko. Um es zu minimieren, habe ich die ganze Palette an schulmedizinischen Therapien hinter mich gebracht, die man mir empfohlen und ans Herz gelegt hat. Ich bin ganz im Reinen mit mir selbst, dass ich alles umgesetzt habe, um am Ende des Tages als Siegerin aus dem Kampf hervorgehen zu können. Alles habe ich gemacht, um wieder gesund zu werden.

Obwohl ich mittlerweile schon lange wieder gesund bin, fühle ich mich oft elend und schlecht. Die Krankheit sitzt wie ein tiefer Stachel in meiner Seele, den ich nicht herauszuziehen imstande bin, egal wie viel Heilung ich mir zuteil werden lasse und wie viel Liebe ich empfange.

Ich spüre einfach, dass mein Körper nicht mehr so fit ist wie früher. Ich sehe, dass ich nicht mehr dasselbe Körpergewicht habe und dass meine prachtvolle Lockenmähne weg ist. Zig Sachen haben sich verändert in meinem Leben, und das stecke ich nicht so einfach weg, wie viele glauben. Auch wenn ich nicht oft davon spreche oder nur mit einigen wenigen Menschen, denen ich mich diesbezüglich anvertraue, heißt das nicht, dass dieses Unwohlsein in mir nicht existiert. Ich versuche, damit klar zu kommen, meinen Alltag gut zu bewältigen und mich von diesen neuen Empfindungen nicht zu stark beeinflussen zu lassen. Wie gesagt, es gibt die guten Tage und die besseren. Das war immer mein Credo. Trotz der vielen unangenehmen Veränderungen in mir, habe ich mir prinzipiell meine Fröhlichkeit, meinen Humor, meinen Optimismus und meine Lebenslust nicht nehmen lassen. Ich schaue immer nach vorne und ich glaube, dass ich deshalb auch so viel Schönes und Gutes in meinem Leben erfahre. Meine Umwelt reflektiert meinen Optimismus und meine positive Lebenseinstellung. Ich führe ein mehr als privilegiertes Leben, für das ich unfassbar dankbar bin, und ich möchte mit keinem Menschen auf der Welt tauschen. Egal was passiert ist und noch passieren wird, ich bin wirklich gerne ICH und nehme mein Leben und mein Schicksal an.

Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dass alles, was passiert ist, nur ein Traum war und ich irgendwann daraus erwache. Ich stelle mir vor, dass ich an einem ganz normalen Montag Morgen im Sommer 2016 aufwache und dass dieser Tag, der zufällig der 25.07. ist, ein Tag sein wird wie viele andere, ein Tag an dem nichts Ungewöhnliches passiert und an den ich mich deshalb auch nicht erinnern werde. Ich bekomme in meiner Vorstellung keine böse Diagnose an diesem Tag, und mein Leben läuft weiter wie ich es bis dort hin gewohnt war. Was wäre wenn? Es war aber leider kein Traum, sodass der 25.07.2016 für mich nun immer der Tag sein wird, an dem meine Leidensgeschichte begann. Es dauert verdammt lange, bis man eine neue, harte, sich unfair anfühlende Wirklichkeit begreift, mit der man zunächst ganz und gar nichts anfangen kann. Sie lähmt einen, hält einen gefangen, fühlt sich unwirklich und surreal an, bis sie zur Normalität wird und man lernt, damit um zu gehen. Man lernt sogar, dass auch die neue Realität ihre guten Seiten hat. Man lernt, dass man alles loslassen muss, um wirklich kämpfen zu können, denn nur wer los lässt, hat auch beide Hände frei.

Aber nun alles auf Anfang. Starten wir ganz von vorne, damit Sie meine Geschichte besser verstehen.

2 Je dunkler der Himmel, desto heller leuchten die Sterne

Alles begann am 5. Oktober 2015. Der halbjährliche Routine-Besuch bei meiner Gynäkologin stand an. Ich gehe schon seit langer Zeit zweimal im Jahr zu dieser Kontrolle. Doppelt hält besser, dachte ich mir immer, und wenn ich zweimal pro Jahr ginge, dann wäre ich früh genug dran, wenn einmal etwas entdeckt würde.

An diesem 5. Oktober ging ich in der Früh zur Ärztin meines Vertrauens. Ich wartete, bis ich aufgerufen wurde und als es dann so weit war, sprachen wir wie immer einige relativ belanglose Sätze miteinander. Ein Frage-Antwort-Spiel. Wie geht es Ihnen? Was macht die Arbeit? Gibt es etwas Besonderes? Meine Antworten waren »Gut!«, »Gut!«, »Nein!« Ich hatte ehrlich gesagt, nie allzu viel zu besprechen. Es war ja auch alles in Ordnung bei mir. Ich fühlte mich fit und gesund, rundum glücklich und zufrieden. Raus aus den Kleidern, rauf auf den Stuhl, Untersuchung, Kleidung unten herum anziehen, danach oben herum ausziehen, auf einen anderen Stuhl setzen, Brust abtasten. Es gehört zur Routine-Untersuchung dazu, und wie immer fragte sie mich, ob ich denn auch selbst regelmäßig die Abtastung mache. Unter der Dusche? Am besten nach der Periode! Meine Antwort, »Ähm nein, eigentlich selten. Wissen´s eh, eher ungern...« Es ist halt so. Wie immer tastete sie sorgfältig. Zuerst in der Position Arme locker herabhängend, anschließend in der Position Arme im Nacken verschränkt. Es kam mir vor, als dauerte es diesmal länger. Mein Blick auf dem Gesicht der Ärztin ruhend, beobachtete ich ihre Mimik und versuchte, darin etwas zu erkennen. Die Ärzte sind jedoch geübt im Pokerface-machen und so sagte sie nach einiger Zeit nur, dass sie auf der linken Seite etwas Ungewöhnliches spüre. Es müsse nichts sein und wäre eventuell typisch für eine verdichtete Stelle im Brustgewebe. Eine Abklärung beim Radiologen sei jedoch ihre Empfehlung. Das hörte ich nicht unbedingt gerne, beunruhigte mich aber auch nicht außerordentlich. Wird schon nichts sein. Wieder anziehen. Kurzes Abschlussgespräch bevor ich ging. »Bitte bald abklären lassen! Nicht vergessen!« meinte sie. Nein, natürlich nicht! Das würde ich gar nicht aushalten! Die Überweisung zum Radiologen drückte sie mir gleich in die Hand.

Bereits wenige Tage später wurde ich in einer Radiologen-Praxis vorstellig. Dort hin zu gehen, kostete mich in mehrfacher Hinsicht große Überwindung. Einerseits saß mir natürlich die Angst im Nacken, dass nun irgendetwas Schlimmes in meiner Brust gefunden werden könnte, andererseits beschäftigten mich das Thema Brustkrebs und die Mammographie-Untersuchung schon seit geraumer Zeit. Zwei Frauen aus meinem Freundeskreis bekamen in den vergangenen Jahren die Diagnose Brustkrebs, und dadurch ist man natürlich automatisch etwas mehr in das ganze Thema involviert. Ich erlebte einen Teil ihrer Geschichte mit, wie die Entscheidungen bezüglich Therapiemöglichkeiten getroffen wurden und wie die Krankheit ihr Leben sowohl positiv als auch negativ veränderte. Eine der beiden Damen hat nach einigen Jahren den Kampf gegen den Krebs verloren, die andere hat ihn erfolgreich besiegt. Als Statist hatte ich natürlich keine Ahnung was man als Betroffener für Entscheidungen treffen muss und was man alles durch macht. So war ich nur ein hilfloser Zuschauer, der von der Tribüne aus zusieht, was sich auf der Bühne abspielt. Ich führte natürlich viele Gespräche mit den beiden Frauen und hörte ihnen zu, als sie mir von ihren Ängsten bezüglich Chemotherapie, Strahlentherapie und Mammographie erzählten. Ich war Zeugin von schlimmen Nebenwirkungen der Medikamente, von Sorgen und großer Verzweiflung. Ich hörte die eine Freundin sagen, wie schrecklich Chemotherapien seien, dass sie mehr schaden als nutzen und den Körper komplett vergiften und sie deshalb auch gänzlich darauf verzichten würde. Ich hörte sehr viel Negatives über die Mammographie, dass der Körper eine zu hohe Strahlendosis verpasst bekäme, die selbst Tumore ausbilden würde, dass die Quetschung der Brust stark schädlich sei und man darüber hinaus nicht einmal ein umfangreiches Bild bekäme, um alle eventuell vorhandenen Tumore zu erkennen. Zudem wäre es lediglich Geschäftemacherei. Ich verfolgte zahlreiche Diskussionen zu alternativen Heilmethoden und beobachtete aus der Ferne, wie die beiden Frauen, jede auf ihre Weise mit der Krankheit umging und dagegen ankämpfte.

In den Medien ist das Thema Brustkrebs ja auch ein allgegenwärtig behandelter Stoff. Jeder kennt die pinke Schleife und die großen Werbekampagnen, die die Vorsorgeuntersuchungen propagieren. Weibliche Fernsehstars und andere prominente Damen lachen einen aus Magazinen, von Plakatwänden und aus dem Fernseher heraus an und machen einen freundlich aber bestimmt darauf aufmerksam, wie wichtig es sei, zum Screening zu gehen. Oktober wurde zum Brustkrebsmonat erklärt, überall gibt es Veranstaltungen, Informationsbroschüren, Reportagen, Sendungen und Berichte von Betroffenen. Ständig hört und liest man dann wieder, wie wichtig die Vorsorgeuntersuchung sei, weil Früherkennung natürlich die Heilungschancen erhöht. Man hört auch, dass die Anzahl der Neuerkrankungen in den westlichen Ländern im Steigen begriffen ist, ohne genaue Gründe dafür benennen zu können.

Das alles prägte meine eigene Meinung zum Thema Brustkrebs und Mammographie und machte mich aufgrund der vielen Negativberichte zugegebenermaßen ein wenig voreingenommen gegenüber den schulmedizinischen Therapien. Die Mammographie war in meinem Kopf zu einem regelrechten Horrorszenario geworden. Irgendwie hatte ich nur noch im Kopf, dass sie selbst Auslöser von Brustkrebs sein könnte und erklärte sie somit zu meinem schlimmsten Feind. Ehrlich gesagt, habe ich mich ziemlich in die »Anti-Mammographie-Theorie« hineingesteigert. Ich habe mit etlichen Ärzten über meine Sorgen gesprochen, sie zu ihrer Meinung und Expertise befragt und bin dann schlussendlich zu der Entscheidung gekommen, dass ich vorerst keine Mammographie an mir durchführen lassen möchte. Zu diesem Zeitpunkt war ich 40 Jahre alt, ein Alter, in dem man sich über die erste Mammographie-Untersuchung aus den oben genannten Gründen Gedanken macht, zumal es einem ja vielfach angeraten wird. Bis dato hatte ich mich jedoch gegen das Screening entschieden und wollte mit der Thematik sowieso nichts zu tun haben. Ich glaube, da ich mich bereits mehrfach so nah damit auseinandersetzen musste, war ich zu diesem Zeitpunkt diesbezüglich etwas traumatisiert.

Nun saß ich also in dieser Radiologen-Praxis und bereitete mich geistig darauf vor, dass es jetzt und heute soweit sein könnte, dass eine Mammographie einfach notwendig sei und ich mich nicht mehr dagegen auflehnen könnte. Heute würde ich dem Feind ins Auge blicken müssen. Insgeheim hoffte ich jedoch, dass eine Sonographie (=Ultraschall) ausreichen würde. Das Glück war an diesem Tag scheinbar auf meiner Seite, denn eine Assistentin rief mich auf und bat mich, gleich in den Ultraschallraum zu kommen. Ein freundlicher junger Arzt begrüßte mich, befragte mich zur Problematik, und ich erläuterte kurz, dass meine Gynäkologin etwas Ungewöhnliches ertastet hätte. Er trug das Kontrastmittel auf meiner linken Brust auf und begann mit der Ultraschalluntersuchung. Schon nach kurzer Zeit meinte er, ich müsse mir keinerlei Sorgen machen. Er bestätigte den Verdacht meiner Ärztin, dass es sich lediglich um verdichtetes Gewebe, um eine sogenannte Mastopathie, handelte. Dieser Tatsache würden schlicht und ergreifend diverse hormonelle Veränderungen zugrunde liegen, was weder altersbedingt sei noch sonst irgendwelche anderen Zusammenhänge aufzeigen würde. Auf mein Nachfragen hin, meinte er, ich könnte auf diese Entwicklung keinerlei Einfluss nehmen, sollte mir aber wie gesagt keine Sorgen machen. Wenn es jedoch zu meiner Beruhigung beitragen würde, könnte ich die Untersuchung in einem halben Jahr noch einmal wiederholen. Des Weiteren meinte er, die Sonographie sei ausreichend um alles zu erkennen, eine Mammographie sei in diesem Fall nicht notwendig.

»Ich bin so ein Glückskind!« dachte ich mir, und: »Schwein gehabt!« Das Schönste an diesem Tag war für mich wirklich, dass keine Mammographie an mir durchgeführt wurde. Ich war einfach nur erleichtert, dass ich ohne Strahlenbelastung und ohne schlimme Diagnose die Radiologen-Praxis verlassen konnte. Ich feierte den Tag und war glücklich.

Wie sich bald herausstellte, war alles, was mich an diesem Tag freudig stimmte ein Trugschluss, und wie schnell sich Prioritäten verändern können, sollte ich bereits ein paar Monate später erkennen.

3 Wer die Wahrheit sucht, darf nicht erschrecken, wenn er sie findet

Neun Monate später. Ganz pünktlich war ich dieses Mal nicht mit meinem Besuch bei der Gynäkologin. Da ich jedoch ohnehin so regelmäßig zur Vorsorge gehe, dachte ich mir nichts bei dieser kleinen zeitlichen Verzögerung.

Einige turbulente Monate lagen in diesem Jahr bereits hinter mir. Ich organisierte im Jänner den 45. Geburtstag meines Mannes Werner und im Februar den 70er meines Vaters. Es waren zwei große Feste mit vielen Gästen und allerlei Turbulenzen. Werner und ich absolvierten von Jänner bis April die Jungjägerausbildung und Jagdprüfung, was uns zwar einerseits riesengroßen Spaß und Freude bereitete, aber andererseits auch monatelang neben unseren Jobs und allen anderen Dingen des Alltags sehr viel abverlangte. Die Prüfung haben wir schlussendlich beide mit Erfolg bestanden, was wir dann auch noch ausgiebig feierten. Im Mai und Juni sind wir ein paarmal verreist, haben herrliche Tage in Italien verbracht und einen entspannenden Wellness-Urlaub in Bayern genossen. So vergingen die Monate wie im Flug und plötzlich war es schon Juli, als ich es endlich schaffte, einen neuerlichen Termin bei meiner Gynäkologin zu vereinbaren.

Die vermeintlich verdichtete Stelle in meiner linken Brust hatte ich natürlich trotz der ganzen Stress-Situationen nicht vergessen. Ich hatte es immer latent im Gedächtnis, dass da eventuell etwas nicht in Ordnung sein könnte. Ich kam auch nicht umhin, immer wieder mal die entsprechende Stelle selbst zu ertasten. Da ich ja wusste, dass da irgendetwas ist, musste ich auch immer wieder einmal hin greifen, obwohl ich ja sonst überhaupt nicht die »Abtasterin« war und das immer gerne meiner Gynäkologin überließ. Es war jedoch wie ein innerer Zwang, so wie bei einem Unfall, wo man nicht hinschauen möchte und es trotzdem tut, weil man einfach nicht anders kann. Ich fand die Stelle auch immer sofort und spürte einen kleinen Knoten in der Brust. Im Anschluss fühlte ich mich dann jedes Mal wahnsinnig schlecht und elend und mein Bauchgefühl sagte mir, dass da etwas nicht in Ordnung sei. »Aber nein!« rief mein Kopf, »Es ist ja nur eine verdichtete Stelle im Gewebe! Der nette junge Arzt hat gesagt, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen.« Mein Bauchgefühl ließ sich jedoch nicht so richtig überzeugen und flüsterte mir mehr als einmal zu, dass da doch etwas sein könnte. Der Stress, die Umstände und meine allseits präsente positive Grundeinstellung ließen mich jedoch in dem fixen Glauben, dass alles gut sei und ich mich nicht verrückt machen sollte.

Am 18.7.2016 suchte ich dann also wieder meine Gynäkologin auf. Wir besprachen die Diagnose des Radiologen vom vergangenen Herbst und sie meinte, es wäre sicherlich gut, die verdichtete Stelle im Gewebe jetzt noch einmal überprüfen zu lassen. So unangenehm es war, war es doch auch in meinem Interesse. Es wäre das vernünftigste, sich noch einmal Auskunft zu holen, was da wirklich los ist in meiner linken Brust. Die latenten Ängste und Sorgen sowie die innere Unruhe in mir, die mich schon seit Monaten begleiteten, so konnte es einfach nicht weitergehen.

Am 25.7.2016 wurde ich daher noch einmal beim Radiologen vorstellig. Ich ging wieder in dieselbe Praxis. Es war mitten im Sommer. Mutterseelenallein saß ich in dem großen Wartezimmer und die Situation kam mir irgendwie ganz unwirklich vor. Ich dachte mir noch, dass wohl die ganze Welt auf Urlaub sei zu dieser schönen Jahreszeit, nur ich säße beim Arzt. Nach kurzer Zeit wurde ich wieder in denselben Ultraschall-Untersuchungsraum gebeten wie beim vergangenen Mal. Die Sonographie führte nun jedoch ein anderer Arzt durch als neun Monate zuvor. Er stellte sich mir nicht vor und sprach auch nicht viel mit mir, sah die ganze Zeit nur auf den Bildschirm. Ich erzählte ihm kurz, was für ein Sachverhalt vorlag, vermutete allerdings, dass er diesen bereits den vorhandenen Unterlagen entnommen hatte. Wie so oft bei Ärzten war auch dieses Mal nichts vom Gesicht abzulesen. Diesen Gedanken sollte ich in den nächsten Monaten noch oft haben: Wenn man doch bloß etwas aus dieser kryptischen Ärzte-Mimik ablesen oder ableiten könnte! Da gibt es wahrscheinlich einen eigenen Ausbildungszweig an der Uni mit dem Inhalt »Wie mache ich das beste Pokerface, um meinen Patienten nervös zu machen?« Schließlich wurde ich so angespannt und unruhig, dass ich den Arzt fragte, was denn los sei. Er meinte schlichtweg, dass da etwas Beunruhigendes sei, etwas, dass weiter abgeklärt werden müsse.

An dieser Stelle muss ich dazu sagen, dass ich den Radiologen von Anfang an nicht besonders sympathisch fand. Mir ist klar, dass das eine völlig subjektive Einschätzung ist, aber mein Eindruck war einfach, dass es bei ihm völlig an Empathie fehlte. Ich war vom Moment seiner Aussage an richtig paralysiert und brachte außer »Aha« und »ok« kein weiteres Wort, geschweige denn eine Frage heraus. So viele Fragen brannten mir aber auf der Seele. Wie konnte das plötzlich etwas Beunruhigendes sein? Es war doch »nur« eine verdichtete Stelle? Kann sich denn in nur wenigen Monaten etwas Gefährliches entwickelt haben? War etwa schon im November etwas Verdächtiges vorhanden gewesen, aber nicht richtig diagnostiziert worden? War meine innere Unruhe der vergangenen Monate, wann immer ich an die vermeintlich verdichtete Stelle dachte oder wann immer ich sie unter der Dusche ertastete, schon eine leise Vorahnung gewesen, dass sich etwas Böses anbahnt? Und so weiter und so weiter. Die Fragen in meinem Kopf überschlugen sich, aber ich brachte kein Wort heraus und das, obwohl ich jemand bin, der gerne spricht, der eloquent und keinesfalls wortkarg ist. Jetzt war aber einfach nicht mein Moment. Ich fühlte mich schlichtweg ganz ganz schlecht.

Der Arzt sagte mir noch, ich solle es ja nicht auf die lange Bank schieben und schnellstmöglich in der Klinik vorstellig werden. Tolle Aussage! Das möchte man einfach nicht hören! Und schon gar nicht in diesem kalten gefühllosen Ton! Kein Hauch von Empathie! Gar nichts! Stattdessen wurde ich angewiesen, noch einmal im Wartezimmer Platz zu nehmen, bis man mir die Zuweisung für die Klinik sowie die CD mit den Ultraschallbildern bringen würde. Er drehte mir den Rücken zu und war mit irgendetwas an seinem Arbeitsplatz beschäftigt. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen und mich die Angst packte. Ich stand von der Liege auf, wischte mir mit einem Tuch, das bereit lag, das restliche Kontrastmittel weg und wusste nicht wie mir geschah. Mit nacktem Oberkörper stand ich völlig verloren mitten in dem abgedunkelten Ultraschallraum. Meine Augen waren nass und meine Gedanken verzweifelt. Was mache ich jetzt? Der Arzt stand immer noch von mir abgewandt und beachtete mich einfach nicht mehr. Er gab mir weder die Hand, noch verabschiedete er sich von mir. Ich glaube, ich habe mich selten schlechter gefühlt in meinem Leben.

Natürlich stand in diesem Moment noch nicht fest, dass ich krank bin, und es hätte auch sein können, dass alles in bester Ordnung ist, dass die verdichtete Stelle wirklich nur eine verdichtete Stelle ist, und dass ich im nächsten Moment schon aus diesem bösen Traum erwache und völlig erleichtert ganz tief durch atmen kann. Für mich stand in diesem Moment jedoch lediglich fest, dass ich mit einer schlechten Prognose entlassen werde. Das Manko an Menschlichkeit, Mitgefühl und Höflichkeit in dieser Praxis war ungefähr so groß, wie die Leere, die ich in diesem Moment spürte. Es ist mir heute ganz klar, dass dieser Arzt wahrscheinlich tagtäglich schlechte Diagnosen überbringen muss und ein gewisser Grad an Selbstschutz es ihm abverlangt, Emotionen und Persönliches zurück zu nehmen. Mit demselben Thema müssen sich andere Ärzte jedoch auch beschäftigen, und zum Glück sind sehr viele von ihnen in der Lage, ihren Patienten ein bewältigbares Maß an Mitgefühl entgegen zu bringen. Empathisches und einfühlsames Verhalten gehört für mich jedoch ohne Zweifel und unbedingt zum Berufsbild. Es sollte absolut oberstes Gebot sein, ansonsten scheint mir der Beruf verfehlt. Für den Arzt mag die schlechte Botschaft tägliches Brot sein, für den Patienten ist es jedoch immer das erste Mal. Eine schlechte Prognose, unsensibel vermittelt, könnte bei einem psychisch labilen Menschen unter Umständen Angst und Panik auslösen, nicht gleich in die Klinik zur weiteren Abklärung zu gehen, das Ganze hinaus zu zögern und dann eventuell keine Chance mehr auf Heilung zu haben. Wie gesagt, es gab in dieser Praxis für mich keinen Handschlag, kein »Alles Gute« und kein »Auf Wiedersehen« mit auf den Weg. Mit CD und Zettel in der Hand zog ich traurig und verzweifelt los.

4 Krebs haben immer nur die anderen, bis es einen selbst betrifft

Noch am selben Tag ging ich in die Klinik. Ich bin ein Mensch, der begreift, wenn es fünf vor zwölf ist und der einen, wenn auch unfreundlichen Hinweis eines Arztes wie »Schieben Sie es nicht auf die lange Bank!« als absoluten Warnschuss versteht. Wie in Trance marschierte ich also die Straßen entlang. Zum Glück war Sommer und ich hatte eine Sonnenbrille dabei. So fielen meine Tränen niemandem auf. Es war ein heißer Tag, und die Straßen schienen mir besonders staubig zu sein. Da Mittagszeit war, hetzten viele Menschen auf den Gehsteigen herum. Jeder hatte wahrscheinlich einen wichtigen Termin, den er wahrnehmen musste. Ein Mittagessen, eine Besprechung, ein Treffen mit Freunden. Ich dachte mir, dass mein bevorstehender Termin ziemlich sicher der Unangenehmste von allen sei. Ich rief Werner, meinen Mann, an, um Bescheid zu sagen, dass ich vom Radiologen eine schlechte Prognose bekommen hätte und auf dem Weg in die Klinik zur weiteren Abklärung sei. Er hatte selbst noch eine Besprechung und wollte mich anschließend in der Klinik abholen. Werner klang gefasst am Telefon, und er versuchte, mich zu beruhigen. Ich weinte, war verzweifelt und voller Panik. Er fand wie immer die richtigen Worte und ließ sich seine eigenen Emotionen nicht anmerken. Erst später dachte ich darüber nach, wie ihm in diesem Moment wohl zumute gewesen sein musste.

Ich wusste, dass ich in die Frauenklinik gehen musste, aber mehr auch nicht. Die Universitätsklinik ist wie eine kleine Stadt in sich, und bis dato hatte ich hier zum Glück noch nicht allzu viel zu tun. Als Kind hatte ich eine Blinddarmoperation und einen Oberschenkelbruch, aber das ist beides mehr als dreißig Jahre her. Hin und wieder stattete ich jemandem einen Krankenbesuch ab. 2012 zum Beispiel lag mein Papa für einige Wochen in der Chirurgie, weil nach einer Routine-Operation einiges schief gelaufen ist und seine Rekonvaleszenz leider viele Monate dauerte. Ich marschierte in dieser Zeit also oft in das Chirurgie-Gebäude, um ihn zu besuchen. Die Erinnerungen an diese schwere Zeit und auch die schlechten Erfahrungen meines Vaters bezüglich Klinik-Aufenthalt gingen mir genau in diesem Moment durch den Kopf. Ansonsten endet hier mein persönlicher Krankenhaus-Erfahrungsschatz.

Mit der Überweisung in der Hand fragte ich beim Portier im Erdgeschoß der Frauenklinik nach, wohin ich denn gehen müsste. Er schickte mich in den zweiten Stock in die Brustambulanz. Irgendwie bahnte ich mir meinen Weg dorthin. Ich hatte immer noch die Sonnenbrille auf, da die Tränen einfach nicht aufhören wollten über mein Gesicht zu laufen. Verzweiflung, Angst, negative Gedanken – alles Mögliche ging mir durch den Kopf. Ich stand vor dem Anmeldeschalter der Brustambulanz. Die Sonnenbrille musste ich aus Höflichkeit natürlich abnehmen, sodass man mein verweintes Gesicht und die verquollenen Augen nun bestens sehen konnte. Eine sehr freundliche und verständnisvolle Frau nahm mich in Empfang. Sie bemerkte natürlich sofort meine Verzweiflung und gab mir erst einmal ein Glas Wasser, eine Box mit Taschentüchern und ein Zuckerl zur Beruhigung. Sie sah sich die Überweisung des Radiologen an und sagte mir, dass ich hier im zweiten Stock eigentlich falsch sei, weil ich in die Radiologie-Abteilung müsse. Es sei aber gar kein Problem, sie würde mir gleich die entsprechende Zuweisung vorbereiten, und ich solle inzwischen in Ruhe mein Wasser trinken und mich etwas beruhigen. Sie meinte, jetzt hätte man halt etwas gefunden bei mir, was ja auch noch gar nichts weiter bedeuten würde, und wenn es aber so wäre, dass etwas Ernstes ist, so sollte ich mir sicher sein, wäre ich hier in dieser Abteilung in den allerbesten Händen. Ihre Freundlichkeit und aufmunternde Art war wirklich wie Balsam für meine gerade sehr verletzte Seele, speziell nach der forschen und unfreundlichen Abfertigung des Radiologen zuvor. Als sie das Formular fertig hatte, verabschiedete ich mich dankbar und ging hinunter ins Erdgeschoß, um die Radiologie zu suchen. Hier gab es auch wieder einen Anmeldeschalter, an dem ich gleich dran kam. Ich wurde gebeten, Platz zu nehmen, bis ich aufgerufen würde.

An diesem Tag scheinen wirklich alle im Urlaub gewesen zu sein. Nirgendwo war etwas los und überall kam ich gleich dran. Es war zwar mitten im Sommer und daher auch nicht total verwunderlich, dass es überall etwas ruhiger war, trotzdem kam es mir ein bisschen gespenstisch vor, so als würde man mich hier schon mit allergrößter Selbstverständlichkeit erwarten. Nicht dass es mich gestört hätte, ganz im Gegenteil, es war natürlich äußerst angenehm, wenn man in diesem Fall überhaupt von angenehm sprechen kann, aber für meine ohnehin sehr strapazierten Nerven war es dann zumindest ein Schonprogramm, dass ich nicht lange warten musste. Ich telefonierte noch einmal mit Werner, um ihm mit zu teilen, wo in der Klinik ich mich gerade aufhielt und damit er wusste, wo er mich dann abholen sollte.

Eine große schwarzhaarige, sehr attraktive Frau rief mich nach wenigen Minuten auf. Ich hatte keine Ahnung ob sie Ärztin, Pflegerin oder was auch immer war. Sie war nett, freundlich und verständnisvoll zu mir und das war in diesem Moment alles was ich brauchte und wollte. Wir setzten uns in einen kleinen Raum an einen Schreibtisch und sie bat mich, ihr einfach mal alles zu erzählen, was vorgefallen sei. Ich begann mit den Erlebnissen vom Herbst 2015 bis zu diesem Tag. Natürlich erzählte ich ihr auch, dass ich in der Radiologen-Praxis wenige Stunden zuvor so ein unangenehmes Erlebnis hatte, worüber sie sich sehr erboste und meinte, so manch ein Arzt hätte da den Beruf verfehlt mit so wenig Empathie im Leib. Sie machte einige Notizen, stellte mir noch ein paar Fragen und begleitete mich dann in den Umkleidebereich, wo ich mir den Oberkörper frei machen musste und ein Hemd bekam. Meine Handtasche und die restliche Kleidung konnte ich in einem Kasten versperren. Anschließend brachte sie mich in einen Untersuchungsraum mit Liege und Ultraschallgerät. Ich legte mich hin und schon wieder waren sie da: die Tränen! Ich erinnerte mich, dass ich ja schon ein paar Stunden zuvor auf so einer Liege gelegen war und überlegte mir, was dieser Tag wohl noch alles bringen mag und überhaupt, dass heute alles verdammt schrecklich sei. Die nette dunkelhaarige Frau, mittlerweile hatte ich übrigens herausgefunden, dass sie keine Ärztin war, lächelte mir wieder aufmunternd zu und war wirklich entzückend zu mir. Kurze Zeit später betrat ein Arzt das Zimmer, der sich mir mit Handschlag und Namen vorstellte und wie ich später erfuhr der Chefarzt der Abteilung war. Ich erzählte auch ihm noch einmal alles von Anfang an, und er meinte, er würde jetzt noch seine eigenen Ultraschallbilder erstellen, da ihm die CD des Kollegen nicht ausreichen würde, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Für einige Augenblicke war ich wieder voller Hoffnung, dass der andere unsympathische Radiologe ja womöglich eine Fehldiagnose gestellt haben könnte, dass es wirklich nur eine harmlose Verdichtung des Gewebes oder eine andere schnell behebbare Sache war. Vielleicht war dieser Arzt ja nicht nur unsympathisch sondern auch unfähig gewesen. Ich lag jedoch falsch mit meiner Vermutung. Sein Verhalten mir gegenüber war zwar sub-optimal, aber seine medizinische Auskunft war korrekt. Nach einer wirklich ausführlichen Ultraschalluntersuchung, während der der Blick des Chef-Radiologen sich gar nicht mehr vom Bildschirm lösen wollte und mir immer mulmiger wurde, bestätigte er mir, dass da tatsächlich etwas sei, dass nicht gut aussehe. Um eine eindeutige Diagnostik zu bekommen, müssten jetzt jedoch noch unbedingt eine Mammographie sowie eine Biopsie vorgenommen werden. Es ging sofort los, und ich hatte keine Zeit über irgendetwas nach zu denken.

Die nette Assistentin führte mich in einen anderen Raum, in dem ein Mammographie-Gerät stand. Oh mein Gott! Die verhasste, seit Jahren von mir gefürchtete und gemiedene Mammographie! Blieb mir denn an diesem Tag auch gar nichts erspart? Eine sehr freundliche Röntgenassistentin kümmerte sich nun um mich. Zumindest darauf konnte ich mich hier scheinbar verlassen. Es waren alle nett zu mir. Sie erklärte mir kurz das Prozedere und meinte, ich bräuchte bestimmt keine Angst zu haben. Die Quetschung der Brust wäre nur minimal und auch nur einen Augenblick lang und meine große Befürchtung, dass die Strahlenbelastung mir fürchterlich schaden könnte, entkräftete sie mit zwei Argumenten. Einerseits seien die heutigen hochmodernen Geräte wesentlich Strahlen-ärmer als früher und andererseits wäre ich während eines Transatlantikfluges einer mindestens ebenso hohen Strahlung ausgesetzt. Es sei halt jetzt notwendig, das Screening zu machen, und wenn ich eine Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen würde, dann wäre der Nutzen der Untersuchung einfach wesentlich größer als der Schaden! Diese Argumentation sollte ich in den nächsten Monaten noch öfter hören! Ich wollte zu diesem Zeitpunkt auch nicht zu diskutieren anfangen, dass ich keine häufigen Überseeflüge unternehmen würde und diese Strahlung mir daher sowieso erspart bliebe und dass sie als Radiologie-Assistentin natürlich immer zu Gunsten der Mammographie sprechen würde, sei ja geradezu logisch. Zumindest hatte ich jedoch das Gefühl, dass meine Ängste ernst genommen wurden und man versuchte, mir mit rationalen Argumenten aber auch mit viel Freundlichkeit, die Scheu und Abneigung vor der Mammographie zu nehmen. Etwas später sollte ich über diese Angst nur noch lachen, denn durch das, was ich in den darauffolgenden Monaten noch alles an Strahlenbelastung aufgebürdet bekam, hätte ich im Fasching locker als wandelnder Gamma-Strahl gehen können, und das auch ohne Verkleidung. Ich ließ also die Mammographie über mich ergehen. Es war nicht super angenehm, aber auch nicht so schlimm, wie ich vielleicht gedacht habe. Die Wirkung des Screenings im Inneren meines Körpers konnte ich natürlich nicht kontrollieren. Ich dachte dann vorerst aber auch nicht mehr weiter darüber nach. Wie schon zuvor erwähnt, Prioritäten können sich schnell ändern, und das war in diesem Moment wirklich so. Im Augenblick wollte ich nur wissen, was mit mir los ist.