Eugen Drewermann - Matthias Beier - E-Book

Eugen Drewermann E-Book

Matthias Beier

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Beschreibung

Eugen Drewermann zählt zu den gefragtesten Denkern unserer Epoche. Seine über 100 Bücher wurden in 15 Sprachen übersetzt. Seine Vorträge füllen immer die Säle. Was ist das Besondere an Drewermann, dass er mit seinen befreienden und heilenden Gedanken nach wie vor zahllose Menschen berührt und ermutigt? Es sind nicht allein das Predigtverbot und die Suspendierung vom Priesterdienst in den 90er Jahren, nicht nur sein Eintreten für Menschen, die innerlich oder äußerlich am Rande von Kirche und Gesellschaft stehen, es ist nicht allein seine befreiende Aussöhnung von Theologie und Psychologie und sein wirksamer Einsatz für Frieden und gegen Krieg und Ausbeutung. Eugen Drewermann fasziniert auch als Person, die das Leben weise zu deuten weiß und Zuhörerinnen und Leser in druckreifen Reden und inspirierenden Zeilen mitreißt. Matthias Beier bietet ein überraschendes Porträt des Menschen Eugen Drewermann und führt zugleich ins Zentrum seines Denkens und Wirkens. Das Ergebnis ist ein Lebensbild, das Antworten auf drängende Fragen nach einer befreienden Religiosität und einer gelebten Menschlichkeit bereithält.

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Matthias Beier

Eugen Drewermann

Die Biografie

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Einführung: Porträt eines radikalen Verfechters von Menschlichkeit, Liebe und Frieden

Teil I Jugend, Kindheit und Familie: Die eigene Stimme finden

1. Wider das Mitläufertum in Kirche und Gesellschaft: Identitätsfindung, Freiheit des Gewissens und Kriegsdienstverweigerung

2. »Bombenjunge«: ein Kind des Krieges

3. Bibelkritik, der Buddha und Mitgefühl mit den Tieren: Drewermann begegnet dem Dalai Lama

4. Ein »trojanisches Pferd«, oder: der ungewöhnliche Weg zum Priester, Theologen, Schriftsteller und Beschwörer der Liebe

Teil II Der Streit um die Menschlichkeit in der Religion

5. »Man liest in Rom ihre Bücher«: Papst Benedikt XVI. »tiefe Besorgnis«

6. Erfahrung statt Dogma, oder: Wie religiöse Texte befreiend und heilend zu lesen sind

7. Wider die Unterdrückung der Sexualität und die Glorifizierung von Leiden im Namen Gottes: Der Streit bricht in die Öffentlichkeit

8. Als die Mauer fällt: Kleriker, der internationale Bestseller aus der Feder des »neuen Luther«

9. Die Inquisition schlägt zu: Die kafkaeske Verurteilung

Teil III Wegweiser globaler Menschlichkeit und des heiligen Respekts vor allem Leben

10. »Ein Geschenk der Freiheit an mich selber«: Drewermanns Weg zum Kirchenaustritt und seine globale Bedeutung als therapeutischer Prophet, Friedensaktivist und gesellschaftskritischer Publizist

Bibliografie

Quellenverzeichnis

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Für

Jennifer

Tandeko

Remy

Flynn

Vorwort

Peter Eicher

Eugen Drewermanns Werk zu verurteilen, fiel der katholischen Hierarchie nicht schwer. Es zu verstehen, hat sie bis heute nicht vermocht. Jetzt wird offenbar, dass der Denker aus Paderborn in den letzten vierzig Jahren ein Werk hervorgebracht hat, welches das menschliche und das tierische Leiden in unserer Zeit auf seinen letzten Grund hin durchsichtig macht.

Das kirchliche Missverständnis des religiösen Denkens von Eugen Drewermann hat dazu geführt, dass der kühne Schriftsteller seine Flügel seit nunmehr 25 Jahren erst recht aufgetan hat. Seine tiefenpsychologische Auslegung der christlichen Tradition hatte den Moralismus der christlichen Tradition als eine gewalttätige Verformung der biblischen Literatur durchgearbeitet. Hat nicht Angst vor sich selbst, wer andere mit Angst beherrscht? Das war der Kern seines kritischen Fragens. Nun zeigte sich, dass seine Analysen auch die gesellschaftlichen Verhältnisse neu begreifen ließen:

Wie ist es möglich, dass Religionen dogmatisch oder terroristisch Gewalt ausüben, um Erlösung und »Heil« versprechen zu können?Wie ist es möglich, dass eine wissenschaftlich aufgeklärte Moderne die Natur vernichtet, von der und mit der sie lebt?Wie ist es möglich, dass die zeitgenössische Wirtschaftsform die Menschlichkeit verarmen lässt und die Armen auf unmenschliche Weise ausbeutet, ja problemlos Hungers sterben lassen kann?

Der Vorzug dieser Biografie liegt darin, dass es Matthias Beier gelungen ist, aus den Zeugnissen zur frühkindlichen Verzweiflung und aus den Dokumenten zur Tragödie der Verurteilung die Matrix herauszuarbeiten, welche die Fragestellung des ganzen Werkes ermöglicht hat. Die frühe Lebenserfahrung des unter einem Bombardement zur Welt Gekommenen war die Absurdität des Daseins: Wieso spielen die Erwachsenen Krieg, den sie fürchten und der sie tötet, während sie ihre Kinder auf Gott zu vertrauen lehren? Der Vater bejahte den Krieg – die Mutter lehrte beten. Und das Kind lernte denken.

Die Neuzeit hat mit der Frage begonnen, ob die Vorstellung, dass Gott zur Erziehung des Menschengeschlechts jede Kreatur, ob schuldig oder nicht, leiden lasse, nicht selbst böse sei. Seit der Renaissance zeigte sich, dass die alte Strafmetaphysik keine Erklärung, sondern ein Herrschaftsmittel war, eine dogmatische Ideologie, die auch der Menschenfreundlichkeit des Menschensohns aus Galiläa Hohn sprach. Doch das Böse selbst blieb ein Geheimnis – so Immanuel Kant. Es sei eine Vorstellung von Ohnmächtigen, um die des Lebens Mächtigen zu erniedrigen, so Friedrich Nietzsche. Das Böse schien – so Sigmund Freud – etwas Unerträgliches zu sein, das zur Regression der Kirchen und zum Militarismus der Politik führe.

Vielleicht ist Eugen Drewermann der erste Buchautor, der den Mut fand, ein Leben lang das Böse nicht nur neu zu interpretieren und kritisch zu analysieren: Er verwandelt schreibend die Angst, die das Böse bewirkt, in ein existenzielles Vertrauen. Das sei nur möglich, so der Paderborner Kierkegaard, wenn ein liebevolles Gegenüber den sich Ängstigenden vorbehaltlos begleite. Das heißt, dass die Person dieses Schriftstellers die Lesenden mit seinem sprechenden Schreibstil auch selber zu begleiten und auf ein liebevolles Gegenüber zu beziehen sucht. Wir erfahren also nicht nur, warum die Vorstellung von einem allmächtigen Schöpfer uns der Natur entfremdet, und wir erfahren nicht nur, warum der Krieg das hervorbringt, wovor sich die Kriegführenden fürchten. Wir erfahren auch nicht nur, warum die neokapitalistische Form der Marktwirtschaft diese selbst zerstört. Wir begegnen bei der Lektüre auch diesem Menschen, Eugen Drewermann, der uns zur Vernunft und zum Selbstvertrauen zu bringen sucht. Ja, diese Biografie ist notwendig, um Eugen Drewermanns Werk wirklich zu verstehen.

Einführung: Porträt eines radikalen Verfechters von Menschlichkeit, Liebe und Frieden

»Freedom is like religion to us.«

John Legend/Lonnie R. Lynn, »Glory«, Titellied für den Film Selma über das Leben von Martin Luther King Jr.

»Über Eugen Drewermann wird man noch reden, ihn lesen, sich von ihm anregen und provozieren lassen, wenn andere, die sich für ›groß‹ halten, schon vergessen sind.« (GR 7)

Michael Albus, Theologe und ehemaliger ZDF-Hauptredaktionsleiter

Der Brief von Papst emeritus Benedikt XVI. erreichte mich überraschend am 25. Juni 2015, fünf Tage nach Eugen Drewermanns 75. Geburtstag. Ich hatte den Papst nach seiner Rolle bei der kirchlichen Verurteilung Drewermanns gefragt. Sein Name, Kardinal Joseph Ratzinger, einst gefürchteter Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation (der Nachfolgeinstitution der Inquisitionsbehörde), tauchte an entscheidenden Stellen in Briefen von Drewermanns Erzbischof in Paderborn und in dem Leak eines geheimen Protokolls der Deutschen Bischofskonferenz auf. Ich wollte von Benedikt XVI. direkt mehr darüber erfahren. Würde er mir antworten? Die Chancen standen nicht gut. Denn seitdem Drewermann von einem der engsten Freunde Ratzingers, dem Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt, auf Druck des damaligen Kardinals ‒ wie diese Biografie aufgrund neuer Informationen überzeugend zeigen wird ‒ erst die Lehrerlaubnis, dann die Predigterlaubnis und schließlich die Ausübung des Priesteramtes entzogen worden war, ist Drewermann für Kirchenobere ein Tabuthema geworden, auf das nicht eingegangen werden darf. Die amtskirchliche Angst vor Drewermann basiert auf der Furcht vor der Freiheit des Geistes, die Drewermann lebt und einfordert. Der große dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard, ein wichtiger Autor für Drewermann, hat die Angst vor einem wahrhaft freien Geist als »Dämonie«, als Angst vor dem Guten bezeichnet (Søren Kierkegaard 2005, 134). Drewermann bricht die Kolonialisierung des freien Geistes (vgl. Mk 5) in Kirche, Christentum, Religion, ja, der Gesellschaft schlechthin auf. Damit erschüttert er die Throne der Macht. Zu meinem Erstaunen antwortet Benedikt XVI. »Vielen Dank für Ihren mich überraschenden Brief«, beginnt er ihn. Was konkret war seine »tiefe Besorgnis« über die Schriften Drewermanns, von der er Degenhardt schon am 7. Mai 1986 schrieb, wollte ich wissen. Seine Antwort ist überraschend, wie wir sehen werden.

Ein großer Weiser

Seit Jahrzehnten wird Eugen Drewermann (Abb. 1) als ein großer Weiser unserer Epoche von Millionen Menschen gefeiert. Zugleich wird er von Machthabern in Religion, Politik und Wirtschaft gefürchtet und gemieden, weil er die Verabsolutierung menschlicher Angst, auf die sie ihre Macht aufzubauen pflegen, auflöst. Seine Vorschläge für eine Revolution der Menschlichkeit bieten Einzelnen wie der Menschheit insgesamt enorme Chancen. Drewermann eröffnet vielversprechende Wege nachhaltiger Heilung und Befreiung von Angst, Gewalt und Unterdrückung. Er ist eine Inspiration zum Frieden für Millionen von Menschen. Sein kompromissloser Einsatz für den Frieden und seine revolutionären, religions- und kulturübergreifenden Vorschläge zur Kultivierung einer Friedensmentalität, die die Angst als Wurzel von Krieg und Unterdrückung überwindet, sollte ihn zu einem würdigen Kandidaten für den »Alternativen Nobelpreis« oder gar den Friedensnobelpreis machen.

Abbildung 1: Eugen Drewermann am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, 2015

Drewermanns Bücher und Reden wirken wie Medizin für Seele und Gesellschaft. Schon in der Spiegel Spezial-Ausgabe vom 1. 3. 1992 bemerkt der Journalist Manfred Müller in einer Bestandsaufnahme des phänomenalen Bucherfolgs Drewermanns (Abb. 2): »Es gibt in den 47 Nachkriegsjahren keinen christlichen Theologen, der die Amtskirche so gegen sich aufgebracht und gleichzeitig der Mehrheit der Christen so aus der Seele gesprochen hat wie der Paderborner Einsiedler ohne Auto, Kühlschrank und Telefon.« (Spiegel Special 1. 3. 1992, 25) Schon Anfang 1992 hatten Drewermanns 53 Bücher, mit neun Nachdrucken und Sonderausgaben, eine Gesamtauflage von 1,5 Millionen in zehn deutschsprachigen Verlagen. Zwei Jahre später erscheint Drewermann als »Deutschlands bekanntester und umstrittenster Theologe« auf dem Titelbild der Weihnachtsausgabe von DER SPIEGEL (20. 12. 1993, 50, Abb. 3). Eine 1992 veröffentlichte Bibliografie zu Werken von und über Drewermann zwischen 1971 und März 1992 spannt 204 Bücher, Aufsätze und Interviews Drewermanns sowie 11 Bücher und 323 Aufsätze, Buchrezensionen und Zeitschriftenartikel über sein Werk (Alfred Sobel 1992). Bis heute hat Drewermann weltweit mehr als 100 Bücher, die über 40 000 Seiten spannen, in 15 Sprachen mit einer geschätzten Auflage von vier Millionen veröffentlicht. Hinzu kommen unzählige Artikel, Buchkapitel, Interviews und Mediensendungen. Gefragt als Kommentator zu Tagesthemen aller Art formuliert er prägnant und kurz in Rundfunksendungen und der Tagespresse.

Abbildung 2: Der Spiegel Spezial, ­Titelbild vom 1. März 1992

Drewermann ist ein Genie und Wunder an Geisteskraft. Befürworter wie Kritiker stimmen darin überein. Keine andere lebende Geistesgröße hat so viele Gebiete der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften in solcher Tiefe und mit solcher Scharfsicht verbunden mit den Fragen des Menschseins und der Menschheit, wie es Eugen Drewermann getan hat. Seine sensiblen Beschreibungen komplexer menschlicher Gefühle, Beziehungen und Existenzzustände demonstrieren erstaunliches Einfühlungsvermögen. Seine Bücher und Reden helfen Menschen, sich von Ketten der Entmachtung und Unterdrückung zu befreien und anderen ebenso dabei behilflich zu sein. Rhetorisch reicht ihm heute niemand das Wasser. Stundenlang kann er ohne Manuskript druckreif über die verschiedensten Themen in vielbesuchten Vorträgen sprechen. Er spricht auf eine Weise, dass Menschen sich unmittelbar angesprochen und verstanden fühlen.

Wer ist Eugen Drewermann? Und was ist so ansprechend und so gefährlich an seiner Botschaft? Während mein Buch Gott ohne Angst: Einführung in das Denken Eugen Drewermanns (GOA) einen Gesamtüberblick in das revolutionäre Denken Drewermanns gibt, bietet diese Biografie erstmals einen umfassenden Einblick in den persönlichen Hintergrund dieses großen Weisen unserer Zeit. Sie soll dazu beitragen, die bleibende Relevanz des Werkes Drewermanns für die Menschheitsgeschichte darzustellen.

Abbildung 3: Der Spiegel, Titelbild vom 20. Dezember 1993

Von den einen als neuer Martin Luther gefeiert, von anderen als scharfzüngiger Kirchenrebell geächtet, ist Drewermann als Person zu einem kulturellen Phänomen geworden, das eine zentrale historische Schwelle in der Geschichte des menschlichen Geistes markiert. In seiner psychohistorischen Studie zu Martin Luther meinte der bekannte Entwicklungspsychologe Erik H. Erikson, dass die von der Geschichte als »groß« betrachteten Menschen wie etwa Luther oder Mahatma Gandhi sich dadurch auszeichnen, dass sie es vermögen, ihren eigenen inneren Kernkonflikt mit einem zentralen zeitgeschichtlichen Konflikt ihrer Tage zu verbinden und durch ihre entschlossene Arbeit für ihr jeweiliges Zeitalter etwas lösen, was sie für sich alleine nicht hätten lösen können (Erik H. Erikson 1975). Diese Biografie will zeigen, wie das Werk Eugen Drewermanns am Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts für unzählige Menschen einen zentralen Konflikt um die Glaubwürdigkeit der Religion und des eigenen Lebens löst. Dabei geht es entscheidend um die Frage, wie man als Mensch Freiheit, Wahrhaftigkeit und Beziehungsfähigkeit angesichts tiefsitzender existenzieller Ängste und kollektiver Zwänge bewahren und bewähren kann. Im Grunde macht Drewermann, nach Eriksons einfühlsamer Analyse, dort weiter, wo Gandhi aufgehört hat (Erik H. Erikson 1978). Wie bei vielen großen Weisen ging bei Gandhi die geistlich motivierte Gewaltlosigkeit einher mit psychologischer Gewalttätigkeit gegenüber sich selbst und den eigenen nächsten Menschen – wie etwa seiner Frau Kasturba und seinem Sohn Harilal. In seiner psychohistorischen Studie lädt Erikson Gandhi in einem fiktiven Brief ein, darüber nachzudenken, wie seine militante Gewaltlosigkeit in ihrem Moralismus psychisch Gewalt antut. Erikson schlägt Gandhi und uns allen vor, von einem großen Menschen zu lernen, der die psychische Gewalttätigkeit der besten religiösen, geistlichen Absichten verständlich gemacht hat: Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Er fordert, geistige Gewaltlosigkeit so zu leben, dass sie psychisch weder dem eigenen Selbst noch anderen Gewalt antue. Für die Entwicklung einer solchen Lebensform, in der geistige und psychologische Gewaltlosigkeit im Ringen um Frieden und Gerechtigkeit zusammenkommen, steht das Leben und Werk Eugen Drewermanns.

Für ein Christentum ohne Gewalt: die verpasste Chance der Kirche

Weit bekannt wird Drewermann bereits in den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum, als er in Publikationen und Vorträgen Vorschläge dazu entwickelt, wie das Christentum und speziell die katholische Kirche sich von der verinnerlichten Gewalt lösen kann, die sie Menschen und der Welt im Namen eines schuldbesessenen, ambivalenten Gottesbildes auferlegt. Große Resonanz findet seine Neuinterpretation der heilenden Botschaft Jesu. Durch seine Bücher gewinnen Menschen neue Hoffnung, dass die Worte Jesu wieder zur wirklichen inneren Befreiung und äußeren friedlichen Gestaltung der Welt dienen können. Von Anfang an entwickelt er einen überzeugenden und umfassenden Vorschlag für das Ende von Gewalt im Namen Gottes und der Religion (S1–3, TF, SP).

Die katholische Amtskirche verpasst die darin liegende große Chance zur Veränderung. Die Amtsinhaber wissen, dass die Umsetzung von Drewermanns Vorschlägen eine radikale Demokratisierung des Glaubens bedeuten würde. Die Kirchenoberen sind tief alarmiert, weil Drewermanns Gedanken Millionen Menschen dazu ermutigen, die ausschließliche Machtkompetenz in Frage zu stellen, die sich lebensferne Kirchenführer in den wichtigsten Lebensfragen anmaßen. Schon Mitte der 1980er weist daher Kardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., als Präfekt der römischen Glaubenskongregation im Vatikan Drewermanns Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt an, »geeignete Initiativen« gegen den Reformer aus Paderborn zu ergreifen (DOK 348-9). Amtskirchentreue Theologen werden beauftragt, Drewermann als Häretiker darzustellen. Zunächst scheitert diese Strategie jämmerlich an dem enormen öffentlichen Zuspruch, den Drewermann unter Gläubigen, Suchenden, Theologen und in den Medien findet. Bischof Karl Lehmann, damals Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, muss schon 1987 zugeben, dass in Drewermanns Werk »Irrlehren … schwer nachzuweisen seien«. (KS 270) Statt der Stilllegung von Drewermanns heilenden, befreienden Ideen kommt es zu einer Verbreitung derselben unter dem kirchlichen Dickicht dogmatisch-moralistischer Einengungen. Der Gegenwind aus dem Vatikan führt zu einem nützlichen Waldbrand, der verspricht, wieder Raum zur Entwicklung diversen, neuen Lebens zu eröffnen.

Eine historische Chance für die Welt

Während Drewermanns Analysen und Lösungsvorschläge von Anfang an die globale Weltsituation und die grundlegenden menschlichen Fragen im Blick haben, die in Religion und Philosophie das Thema sind, legt er nach der kafkaesken Verurteilung durch die Amtskirche 1991 und 1992 zunehmend den Akzent über den Einflussraum der Kirche und des Christentums hinaus auf breitere Fragen: wie man Krieg und Gewalt nachhaltig verhindern kann, was die Geisteswissenschaften und die Religionen von den Naturwissenschaften zur Bewahrung unserer Menschlichkeit und des Lebens insgesamt zu lernen haben, welche Rolle ein psychologisch und philosophisch aufgeklärter Gottesbegriff bei dieser Bewahrung wesentlich haben könnte und wie der verheerenden kapitalistischen Reduzierung von allem Wertvollen in Mensch und Welt auf Geld und käufliche Ware Einhalt zu bieten ist. Für die Menschheit liegt im Werk Drewermanns eine enorme Chance, die Spirale der Angst und Gewalt, die sich im Leben von Einzelnen wie von Gruppen aus Identitätssehnsucht und Identitätsverlust speist, herunterzuschrauben, damit alle innerlich wie äußerlich Vertrauen und Frieden finden können.

Die Mauern fallen

Das Jahr 1989 ist historisch zentral bedeutsam für die Wirkung des Werkes Drewermanns. Es war ein bewegtes Jahr in der Weltgeschichte. Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer. Der Kalte Krieg kommt zu Ende. Am gleichen Tag erscheint mit explosiver Wirkung Eugen Drewermanns internationaler Bestseller Kleriker: Psychogramm eines Ideals (K). Das Buch deckt die seelische Verstümmelung der traditionellen Klerikerpsyche durch den angstdurchtränkten Gottesbegriff der kirchlichen Theologie auf. Eugen Drewermann wird plötzlich zum internationalen Symbol für eine Form von Glauben, der Menschen von inneren und äußeren Strukturen der Unterdrückung befreit. Seine therapeutisch-heilenden Auslegungen biblischer Geschichten und Grimm’scher Märchen sowie seine gesellschafts- und christentumskritischen Schriften zu ökologischen und friedenspolitischen Themen erreichen nun ein internationales Publikum. Er bricht die kirchlichen Macht- und Angststrukturen, die durch dogmatische Starre und moralistische Strenge im Namen Gottes aufrechterhalten werden, radikal auf. Statt Drewermanns kreative Ideen zur vermenschlichenden Neuorientierung der Klerikerausbildung aufzunehmen, reagiert die katholische Amtskirche mit Panik und extrem repressiven Disziplinarmaßnahmen auf den wachsenden Einfluss der Gedanken Drewermanns.

Auf Druck Kardinal Ratzingers und mit Zustimmung von Papst Johannes Paul II. wird Drewermann nach der Veröffentlichung von Kleriker in einem weltweit verfolgten mehrjährigen Konflikt die katholische Lehrbefugnis und das Recht auf Ausübung des Priesteramtes entzogen. Der rhetorisch außerordentlich begabte »sanfte Rebell« (Rudolf Augstein 30. 1. 1995, 33) aus Paderborn lässt sich dadurch jedoch nicht stillgelegen. Im Gegenteil! Er wird gefragter Gast in Fernseh-Talkshows und Radiosendungen, hoch geschätzter Kommentator in der Tagespresse, und veröffentlicht jährlich fortan mehr Bücher als zuvor. Er bleibt ein im wahrsten Sinne des Wortes »freier« Schriftsteller und wird mit Millionenauflage auf den Bestsellerlisten Europas als die Stimme menschlichen Dissens gegen unmenschliche Normalität gefeiert. Viele seiner Bücher erscheinen nun in den 1990er Jahren auf Französisch, Italienisch, Spanisch, Niederländisch, Englisch, Portugiesisch, Polnisch, Ungarisch, Tschechisch, Koreanisch, Finnisch, Bulgarisch, und in weiteren Sprachen.

Statt Klerikern den Reformvorschlägen Drewermanns entsprechend endlich zuzugestehen, als volle Menschen statt »Funktionäre Gottes« leben zu dürfen, jammert die Amtskirche ein Vierteljahrhundert nach der Verurteilung Drewermanns borniert in den Worten des heutigen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Reinhard Marx, dass es »angesichts mancher Krisen, durch die das Ansehen der Kirche in den zurückliegenden Jahren Schaden genommen hat, … sicherlich mit kritischen Anfragen verbunden [ist], wenn sich jemand für den Priesterberuf entscheidet«. (Reinhard Marx 2015, 9) Seit 1991 ist die Mitgliederzahl der katholischen Kirche in Deutschland um rund ein Sechstel von über 28 Millionen auf unter 24 Millionen geschrumpft.1 Für die drastischen Austrittszahlen schaut die Kirche nicht nach inneren Gründen, wie etwa die weitverbreitete Enttäuschung der Menschen mit der Kirche, sondern macht den »Säkularisierungsprozess« »seit 1990« verantwortlich, wie es der Apostolische Nuntius aus Rom, Nikola Eterović, auf der gleichen Tagung der Bischofskonferenz 2015 ausdrückte (Reinhard Marx 2015, 3). In seiner Abschiedspredigt als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz warnte wenigstens der sensible Erzbischof Zollitsch: »Damit die Verkündigung nicht die Berührung mit dem Menschen verliert, sind wir herausgefordert, mit den Suchenden auf der Suche zu sein.« (Robert Zollitsch 2014, 3) Gerade diese »Berührung mit dem Menschen« war und ist die Wirkung des tiefenpsychologischen Auslegungsansatzes Drewermanns. Statt ihn aufzunehmen, verpasste die Amtskirche Drewermann den Maulkorb. Mit seinem Kirchenaustritt 2005 auf seinem 65. Geburtstag zog Drewermann selbst den Schluss daraus. Hunderttausende gehen jährlich den gleichen Weg, nicht, weil sie nicht glauben, sondern ganz im Gegenteil, weil sie glauben und nicht weiter Teil einer Form von Kirche sein wollen, die ihrem Glauben Scheuklappen und Ketten anlegt.

Beliebter als der Papst

Am 15. Juni 1992 berichtet das bekannte Spiegel-Magazin, dass Eugen Drewermann in einer Emnid-Umfrage populärer ist als Papst Johannes Paul II. (Der Spiegel 15. 6. 1992, 36–57). In der gleichen Woche verfolgen Millionen Menschen im ZDF eine Live-Übertragung des Streitgesprächs zwischen Drewermann und der Vorsitzenden des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, der Berliner Politikerin Hanna-Renate Laurien auf dem 91. Deutschen Katholikentag in Karlsruhe (19. 6. 1992) ‒ kein deutscher Bischof wollte sich auf die Debatte einlassen. Ein Jahr später verdrängt Drewermanns internationaler Bestseller Kleriker: Psychogramm eines Ideals (K) im März 1993 den wenige Wochen zuvor veröffentlichten katholischen Katechismus vom ersten Platz der französischen Bestsellerlisten. Zur gleichen Zeit werden Drewermanns Bücher auf Weisung der Amtskirche aus katholischen Bibliotheken verbannt. Katholischen Einrichtungen allerorten wird von Bischöfen und Diözesanleitungen verboten, Drewermann als Redner einzuladen. Die Angst der Amtskirche ist groß, dass Drewermann »das Eis schmilzt« (ES), wie er in einem biografischen Film gleichen Titels treffend formuliert.

Auch 20 Jahre danach ist Drewermanns Popularität als wichtiger Intellektueller ungebrochen. Das Kulturmagazin Cicero zeigt Drewermann auf Rang 127 in der 2013 veröffentlichten »Liste der 500« einflussreichsten Intellektuellen (Cicero Magazin 31. 1. 2013), welche die Präsenz in Zeitungen, wissenschaftlicher Literatur und im Internet im deutschsprachigen Raum auswertet. Seine Popularität bleibt sehr hoch, wie der Vergleich mit der gleichen Liste von 2006 zeigt, als er auf Rang 82 war. Im Vergleich dazu landet der beliebte ehemalige Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, 2013 auf Rang 187, und der in den letzten Jahren auch international bekannt gewordene Benediktinermönch Anselm Grün auf 128 gleich hinter Drewermann. Vor der Wahl Kardinal Ratzingers zum Papst ist Drewermann auf Rang 121 in einer aus über 3,3 Millionen Zuschauerstimmen ermittelten ZDF Rangliste »Unsere Besten« der »größten Deutschen« (ZDF 2003), vor Ratzinger (157), Bundespräsident Johannes Rau (127), den Gebrüdern Grimm (128), Nina Hagen (165), Hanna Arendt (185), Heinrich Böll (132), Anne Frank (134) und Günter Grass (175), um nur einige zu nennen.

Europas Stimme für den Frieden

Mit Beginn des 1. Golfkrieges am 15. Januar 1991 wird Drewermann zu einer der bedeutendsten Stimmen für den Frieden in Europa und der Welt (R1, R2). Seine weit beachteten Reden auf großen Friedensdemonstrationen hält er wie alle Vorträge und Reden frei und ohne Notizen. Radikal wendet er sich gegen die Verzweckung des Menschen und anderer Lebewesen in der heute global dominanten Form des westlichen Raubkapitalismus und ruft zur Abschaffung der NATO auf. Er deckt die unwillkürlichen »christlichen« Wurzeln der Unmenschlichkeit im westlichen Fortschrittsdenken auf, mit der Mensch und Tier im globalen System überall ausgebeutet werden (TF). Zugleich zeigt er, wie eine grundlegende Änderung des Menschseins zu realistischen, menschlichen Alternativen des Zusammenlebens führen kann. Eine vermenschlichende Systemveränderung muss mit dem gelebten absoluten Respekt vor jeder einzelnen Person und jedem einzelnen Lebewesen beginnen, wie er sie im Nazarener Jesus vorgelebt sieht. Sie verlangt die Beruhigung der menschlichen Existenzangst, die den Motor für die Gewalt jedes unmenschlichen Systems bildet. Wie die grundlegende, existenzielle Beruhigung des Menschen möglich wird und zur Vermenschlichung psychologischer wie sozialer Strukturen führen kann, und welche Rolle der Religion dabei eigentlich zukäme, wenn sie nur aufhören würde, die Angst selbst zu verabsolutieren statt zu bewältigen, ist das Thema aller Werke Drewermanns.

Inspiriert vom Dalai Lama, mit dem Drewermann zweimal Dialoge in Zürich geführt hat, schlägt er vor (WE 31–32; JN 39), dass verschiedene religiöse Traditionen aus diversen Kulturgebieten so zu verstehen sind wie unterschiedliche Heilsangebote, die aus verschiedenen Blickwinkeln die tiefsten menschlichen Ängste zu beruhigen vermögen und der Kultivierung von Selbstvertrauen und Vertrauen untereinander dienen können. Weil die Religion im Laufe der Menschheitsgeschichte dem Verstand und dem Gefühl immer wieder Gewalt angetan hat, wird ihr heute oft aus guten Gründen Misstrauen entgegengebracht. Drewermann will den Missbrauch der Religion zum Zwecke von Unterdrückung beenden und sie stattdessen wieder als wesentlich befreiende und heilende Kraft freisetzen. Dabei sieht Drewermann die Religion nicht wesentlich als institutionsgebunden, sondern vielmehr als eine zentrale Funktion des menschlichen Selbstbewusstseins, die evolutiv entscheidend aus der Sehnsucht nach und der Erfahrung von Liebe angesichts des Todes entstanden ist (ST). Es ist eine kuriose Tatsache, dass Drewermann praktisch keinen Geruchssinn hat, doch Unfreiheit herausschnüffeln kann, wo immer sie besteht, um dann Vorschläge zu entwickeln, wie der Freiheit eine Chance gegeben werden kann.

Wider die Angst

Drewermanns Bedeutung für die Menschheitsgeschichte kann kaum überschätzt werden. Seine scharfsinnigen Analysen der menschlichen Angst und der daraus entstehenden Strukturen von Gewalt (S) sowie seine Vorschläge für eine tiefe geistige Beruhigung im Lichte neuester Ergebnisse der Human- und Naturwissenschaften haben enormes Potenzial, um den Kurs der Menschheit von einer furchtgetriebenen zu einer vertrauensgeprägten Lebensweise zu ändern. Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Angst vor einer rein prozentual gesehen absolut winzigen Zahl von »Terroristen« über alle Maße hinaus von Massenmedien und Politikern den mehr als sieben Milliarden Menschen oft als das wichtigste Problem präsentiert wird (Eugen Drewermann/Ralf Kaminski 2016). Zugleich akzeptiert die große Mehrzahl der Menschen ohne Protest die Argumente der Angst, die zur Begründung »militärischer« Lösungen herreichen, durch welche Millionen von Menschen im angeblichen Kampf gegen den Terror getötet werden. Drewermanns Werk will ein Medikament für die an Angst erkrankte, verrückte Wirklichkeit der Menschheit sein. Der Widerstand gegen Drewermanns Vorschläge der Vermenschlichung und Entängstigung der Menschen durch die sich als rational gebenden Machthaber in Religion und Politik ist verständlich: Mit Angst können sie bewusst oder unbewusst Menschen zu Machtzwecken manipulieren und in Schach halten und auf diese Weise den demokratischen Prozess am einfachsten unterlaufen.

Der Weg zu dieser Biografie

Wie komme ich dazu, die Biografie Drewermanns zu schreiben? Der äußere Anlass war eine Einladung dazu von dem damaligen Lektor Drewermanns beim Patmos Verlag, Thomas Nahrmann, um die Gelegenheit von Drewermanns 75. Geburtstag zu feiern. Bereits meine Einführung in Drewermanns Werk, Gott ohne Angst, die Patmos 2010 veröffentlichte, sollte ursprünglich ein biografisches Kapitel enthalten. Die Fülle des biografischen Materials machte dies jedoch schier unmöglich. Der Einladung, eine Biografie zu schreiben, folgte ich sehr gerne. Sehr dankbar bin ich Lektorin Claudia Lueg im Patmos Verlag, unter deren geduldiger Begleitung die Biografie in ihre jetzige Form wachsen konnte.

Seit den Tagen meines Theologiestudiums an der evangelisch-methodistischen Theologischen Hochschule in Reutlingen fasziniert mich Drewermanns erfrischende und existenziell relevante Auslegung religiöser Texte. Ein Kollege, der an Depressionen litt, wies mich auf ein kleines Bändchen mit kurzen Meditationen Drewermanns hin: Was uns Zukunft gibt (WZ). Es hatte ihm sehr geholfen. Ich verschlang es wie frisches Quellwasser. Die theologischen Texte, die ich bis dahin im Studium vorgelegt bekommen hatte, wirkten dagegen zumeist wie abgestandenes Wasser. Kurz darauf empfiehl mir jener Freund, mir ein zweites Werk, dessen Lektüre einem Erdbeben gleichkam: die zwei Bände der tiefenpsychologischen Auslegung des Markusevangeliums (MK1–2). Die ganze schuldgetränkte, moralistische Auslegung von Kreuz und Auferstehung, die mir seit Kindertagen in Religionsunterricht und Kirche zugemutet worden war, wurde Stück für Stück abgetragen, bis die Gestalt Jesu als heilend und befreiend wieder hervortrat. Weitere Studien in Psychoanalyse und Theologie führten mich in die Vereinigten Staaten. Dort veröffentlichte der Continuum Verlag (heute Bloomsbury) 2004 Teile meiner Dissertation (Matthias Beier 2002) über Drewermanns Leben und Werk. Damit wurden seine Kerngedanken erstmals einem breiten englischsprachigen Publikum zugänglich (Matthias Beier 2004). Vier kleinere Bände Drewermanns waren schon ins Englische übersetzt (N, LI, LT, KP). Im November 1999 organisierte ich Drewermanns erste USA-Vortragsreise, die ihn zum bekannten Union Theological Seminary, New York, Princeton Theological Seminary, und der Drew Universität brachte.

Persönlich traf ich Eugen Drewermann das erste Mal am 22. Oktober 1997 in Montreal, Canada. Die University of Montreal und das Goethe-Institut Montreal hatten ihn damals zu seiner ersten Nordamerika-Vortragsreise eingeladen. Im Vorlauf hatte ich mit Drewermann, vermittelt durch seinen damaligen Mitarbeiter Wolfgang Hein, über meine Anfragen an amerikanische Verlagshäuser korrespondiert, die unter anderem an der Veröffentlichung von Kleriker interessiert waren. Die englische Ausgabe von Kleriker scheitert 1996, weil der interessierte progressive katholische Verlag, der einem Orden gehört, mir nach anfänglichem grünen Licht mitteilt, dass ein Lizenzvertrag nicht möglich ist: Der Aufsichtsrat des Verlags fürchtet, die Veröffentlichung würde den Zorn der Kirchenoberen auf sich ziehen und zur Zerschlagung des Verlags samt Orden führen. Diese Furcht ist nicht unberechtigt. Denn 1993 musste Éditions du Cerf, das französische Verlagshaus der Dominikaner, unter schweren Drohungen von Seiten des Vatikans den Vertrag zur Veröffentlichung von Kleriker rückgängig machen, während die Übersetzung schon in der Druckerei war (Le Monde 6. 1. 1993)! Éditions du Cerf wurde zur Strafe von der Veröffentlichung des neuen Katechismus 1993 ausgeschlossen (Jacques Michon/Jean-Yves Mollier 2001, 425). Der große säkulare Verlag Albin Michel sprang sofort ein und veröffentlichte das leicht gekürzte 768 Seiten dicke Kleriker-Buch unter dem Titel Fonctionnaires de Dieu. Innerhalb weniger Wochen stand der Band auf Platz eins der Bestsellerlisten in Frankreich und wurde von der Tageszeitung Le Monde (6. 1. 1993) als »le bombe« bezeichnet.

Im Herbst 2016 ist Drewermann zum zweiten Mal in den Vereinigten Staaten. Das Desmond Tutu Center in Indianapolis, 2013 von dem südafrikanischen Friedensnobelpreisträger Erzbischof Tutu eröffnet, um dessen Arbeit von Wahrheit und Versöhnung global und lokal weiterzutragen, ist von Drewermanns Verbindung von Heilung und Befreiung so beeindruckt, dass das Zentrum seine erste große Konferenz am 11. und 12. November 2016 an der Butler Universität und dem Christian Theological Seminary dem Thema Sustaining Global Change: Healing and Liberation widmet. Drewermann ist Hauptredner (Abb. 4 v. Verf.). Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff, ein Freund Drewermanns, nimmt durch eine Videoansprache an der Tagung teil. Auch die Benediktiner Schwester Joan Chittister, die Drewermanns Werk schätzt und die selbst wegen ihrer Auseinandersetzung mit dem Vatikan weltweit bekannt wurde, hatte geplant teilzunehmen, musste aber wegen eines Notfalls kurzfristig absagen. Weiter dabei sind u. a. George Tinker von der indianischen Osaga Nation und Derek King, ein Bürgerrechtler, der mitwirkt, die begonnene Arbeit von gewaltfreiem Widerstand seines Onkels Martin Luther King Jr. weiterzuführen. Drewermann erhält große Resonanz während seiner zweiten US-Vortragsreise. Er wird als globaler Friedensaktivist im Fernsehen interviewt, wo er auf Englisch spricht und sagt: »Die Befreiung der Gesellschaft und die Heilung jedes Menschen sind das gleiche und gehören zueinander. Die Befreiung der Gesellschaft gründet auf der freien Person. Und eine Person kann nicht frei sein, wenn soziale Ungerechtigkeit besteht.« (WISH TV 12. 11. 2016) Neue englische Ausgaben von Drewermanns Büchern sind geplant.

Die Tutu Center Konferenz steht unter dem Schatten einer Entwicklung im politischen Bereich, die erstaunliche Parallelen zu Drewermanns Auseinandersetzung mit der Amtskirche hat. Drei Tage vor Drewermanns Rede in den USA wird der nationalistisch-populistische Immobilien-Mogul Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. »Fake news«, fiktive Nachrichten, spielen eine zentrale Rolle bei seiner Wahl. Die Trump-Regierung benutzt in ihrem Regierungsstil gezielt ideologisch motivierte Behauptungen von »alternativen Fakten«, die wahr sein sollen, einfach weil die Mächtigen wollen, dass sie wahr sind. Unabhängige Berichterstattung in den Medien wird in Frage gestellt. Kritiker sehen diese Entwicklung als Untergrabung der Demokratie und widerstehen den Versuchen, die Politik auf ideologische Behauptungen falscher Fakten aufzubauen. Die Auseinandersetzung Drewermanns mit der Amtskirche dreht sich ähnlich in entscheidenden Punkten um seine Forderung, dass die Amtskirche aufhören muss, alternative Fakten (das heißt, angeblich historische, physikalische »Glaubensfakten«, die wahr sein sollen, weil die Kirchenoberen sie als wahr deklarieren) als das Kriterium für wahren Glauben anzuführen, unter Androhung des Ausschlusses aus dem Kreis der »Gläubigen«.

Abbildung 4: Internationale Konferenz im Desmond Tutu Center for Peace, Reconciliation, and Global Justice, ­Indianapolis, USA, 11. November 2016

Übersicht: Was Sie in diesem Buch erwartet

Im ersten Teil der Biografie werden wir Drewermann bei dem Abenteuer begleiten, seine eigene Stimme gegen allen konformistischen Druck zu finden: angefangen mit den Jugenderfahrungen in der Nachkriegszeit, die ihn zum Pazifisten und späteren Friedensaktivisten werden lassen; dann zurückschreitend in seine Kindheit während des 2. Weltkriegs, wo die Wurzeln seiner eigenen Erfahrung zur Überwindung von Angst liegen; hin zur Entdeckung von Bibelkritik und Weltreligionen, die zur universalen Weite seiner Weltsicht führt; weiter in die desillusionierten jungen Erwachsenenjahre im Priesterseminar während der halbherzigen Öffnung der Kirche im 2. Vatikanischen Konzil; sodann in sein abenteuerliches, geheimes Studium der Psychoanalyse, das ihm fast das Leben kostet, es ihm dann aber dann, durch die Augen Dostojewskis gesehen, rettet und genau die Impulse schenkt, die er zur Durcharbeitung und Auflösung des Leidenskults in der Kirche suchte. Schließlich sind wir dabei, wenn er ein trojanisches Pferd zimmert: inmitten der theologischen Gelehrtenzimmer der Kirche während der Doktor- und Habilitationsstudien, durch die er der Angstmacherei im Namen Gottes ein wirksames Mittel entgegensetzt und seine Stimme als Verfechter der Menschlichkeit in der Religion entwickelt.

Im zweiten Teil verfolgen wir Drewermanns sehr öffentlichen Konflikt mit der katholischen Amtskirche um die Menschlichkeit der Religion, der Anfang der 1990er Jahre von Millionen in Europa so fieberhaft verfolgt wird wie sonst nur Fußballweltmeisterschaftsspiele. Dabei stoßen wir darauf, wie Drewermann dem zukünftigen Papst Benedikt XVI. ein solcher Dorn im Auge wird, dass dieser die Anweisung gibt, ihn stillzustellen; weshalb seine erfrischenden, lebensnahen Neuauslegungen biblischer Erzählungen und christlicher Dogmen die Amtskirche in Panik versetzt und warum seine Analysen von amtskirchlichem Aberglauben so gefährlich sind; wie sein Kampf gegen die Unterdrückung der Sexualität im Raum der Kirche und gegen die Glorifizierung des Leidens von unzähligen Menschen als befreiend willkommen geheißen, aber von der Amtskirche als bedrohend gebannt wird, da es ihren Absolutheitsanspruch untergräbt; wie seine Psychoanalyse des kirchlichen Klerikerideals im Buch Kleriker ihn zum internationalen Symbol für die Freiheit in der Kirche werden lässt; wie die Amtskirche erfolglos versucht, den Konflikt lokal zu begrenzen und Drewermann in einem weltweit verfolgten kafkaesken Prozess durch offizielle Disziplinarmaßnahmen seine Stimme und Wirkung zu nehmen. 25 Jahre nach der Verurteilung befindet sich die deutsche katholische Kirche auf einem bedauerlichen Abstiegskurs. In einem Interview anlässlich des 25. Jahrestags seines Lehrentzugs sagt Drewermann: »Ich habe damals ein dickes Buch drucken lassen ‒ ›Worum es eigentlich geht. Protokoll einer Verurteilung‹ ‒, weil ich dachte: Das glaubt mir in 20 Jahren kein Mensch. Jeder wird sagen: Du hast doch gesponnen, das können die doch nicht gemeint haben. Aber in der Gesprächsaufzeichung steht es: Ich frage den Bischof: Glaubt man an die Himmelfahrt Jesu nur, wenn man sie sehen kann, historisch? Seine Antwort ist: Ja! Ich glaube, dass es ein Bild ist: Jesus hat die Welt auf den Kopf gestellt. Aber das hat der Bischof überhaupt nicht verstanden.« (Eugen Drewermann/Anne Strotmann 8. 10. 2016) Wir werden hier die »unglaublichen« Gründe für die Verurteilung nachzeichnen.

Der dritte Teil zeichnet kurz die wachsende und bleibende globale Bedeutung Drewermanns als therapeutischer Prophet, Friedensaktivist und gesellschaftskritischer Publizist und Redner nach. Wir können hier nur einige Höhepunkte hervorheben aus Hunderten von Vorträgen, Protestreden, Tagungen, Berichten, Talkshows in Fernsehen und Rundfunk, die wie Lichter eines Leuchtturms zur Orientierung von Drewermanns enormer Wirkung dienen. Darunter sind Begegnungen und Diskussionen mit anderen bekannten Persönlichkeiten aus Kultur und Politik, in denen Drewermann überzeugend für die Menschlichkeit und gegen die Verzweckung und Militarisierung von Mensch, Tier und Natur eintritt. Drewermann gibt weiter jährlich etwa fünfzig Vorträge und Reden, die das breite Spektrum von Protestreden auf Friedens- und Antikriegstagen bis hin zu seinen legendären Märcheninterpretationen spannen. Wo immer er hinfährt, sind seine Vorträge weiterhin voll besucht. Es genügt, dass die Veranstalter lokal Ankündigungen machen. Seit 2006 weise ich auf einer Webseite sowie auf Facebook und Twitter regelmäßig auf Veranstaltungen mit und Nachrichten über Drewermann hin, die im Internet angekündigt sind (siehe Bibliografie). Der frühere ZDF-Redakteur Volker Panzer, der Drewermann bis 2012 einige Mal im nachtstudio zu Gast hatte, erklärte mir in einem Gespräch, dass die Wirkung Drewermanns seiner Ansicht nach daher rührt, dass er als »Befreier« von Menschen erlebt wird (IN-VP).

Die Quellen

Wie kam Drewermann zu seiner furchtlosen und kulturell so wirksamen Arbeit? Wo kommt Drewermann her? Aus welcher Zeit und welcher Familie stammt er? Welche Einflüsse haben ihn geprägt? Wer ist er als Mensch? Worum geht es in seinem Streit mit der Amtskirche wirklich? Wie wurde er zu dem einflussreichen Symbol für Frieden und gegen Krieg bei Großdemonstrationen in Europa? Neben bereits veröffentlichten, aber inzwischen vergriffenen Quellen wie dem autobiografischen Büchlein Drewermanns Was ich denke (1994, WD), dem biografisch gehaltenen Interviewband Näher zu Gott. Nah bei den Menschen (1996, NG), und einer Fülle von autobiografisch und biografisch geprägten Beiträgen und Interviews2, stützt sich diese Biografie auf über 50 Stunden Original-Interviews, die ich seit 1999 auf Kassette, mp3-Recorder oder Video aufgenommen oder als Gesprächsnotiz festgehalten und anschließend ausgewertet habe, sowie auf schriftliche Korrespondenz, die dazu diente, wichtige Daten in Drewermanns Kindheit und Jugend korrekt wiederzugeben.

Abbildung 5: Matthias Beier und Eugen Drewermann ­anlässlich einer Vorlesung in der Mead Hall, Drew ­University, Madison, New Jersey, 17. November 1999

Abbildung 6: Die Geschwister, Helmut Drewermann und Else Schaub, ­geborene Drewermann, 6. August 2012

Die bedeutendste Quelle für diese Biografie ist Eugen Drewermann selbst. Er hat mir während und seit seiner Vortragsreise in den Vereinigten Staaten 1999 über ein Dutzend Interviews mit mehr als zwanzig Stunden Gespräch gewährt (IN-ED, Abb. 5 v. Verf.). Darin beschreibt er nicht nur »Fakten« aus seinem Leben, sondern spricht besonders über die Bedeutung, die er wichtigen Erlebnissen in seinem Leben gegeben hat. Drewermanns Geschwister Helmut Drewermann (IN-HD) und Else Schaub, geb. Drewermann (IN-ES), waren ebenfalls sehr großzügig mit Ihrer Zeit und standen verschiedene Male seit 2000 für Interviews von insgesamt mehr als zehn Stunden und für Korrespondenz per Mail zur Verfügung (Abb. 6 v. Verf.). Erstmals werden wir in dieser Biografie auch von Drewermanns Lebensgefährtin Eva-Maria Deinert hören (BR-EMD). Hinzu kommt eine Reihe von Interviews mit Personen, die Drewermann oder seine Familie kannten. Aus seiner Zeit in Bergkamen vor dem Priesterstudium sprach ich telefonisch, außer wo ausdrücklich anders angegeben, mit: Margarete Brockmann (IN-MB), die von 1950 bis 1966 im Drewermann-Haushalt als Haushaltshilfe gearbeitet hat; Pfadfinderkameraden, die mit Drewermann und seinem Bruder zum Teil auch Messdiener waren: Paul Gornowicz (IN-PG), Heinz Kramer (IN-HK), Willi Steinhoff (IN-WS), und Hans-Peter Mause (IN-HPM). Während eines Besuchs in Bergkamen konnte ich mit einer Reihe von weiteren Personen sprechen, die mit der Drewermann-Familie bekannt waren. Aus Drewermanns Schulzeit am Gymnasium Hammonense, Hamm, sprach ich mit Drewermanns Deutschlehrer Ludwig Fleiter (IN-LF), den ich in seiner Wohnung in Bonn-Bad Godesberg besuchte, sowie mit der Mitschülerin Steffi Roettgen, geb. Zehmisch (IN-SZR), und den Mitschülern Arnulf Kramann (IN-AK), Peter Eilert (IN-PEIL) und Ulrich Weber (IN-UW). Über die Studienzeit im Priesterseminar und an der Theologischen Fakultät sprach oder korrespondierte ich mit: den Studienkollegen und Freunden Hans-Jürgen van der Minde (IN-HJM), Wilfried Göddeke (EM-WG), Gotthard Fuchs (IN-GF) sowie dem Pastoraltheologen Josef Schwermer (IN-JS) der Theologischen Fakultät Paderborn. Mit seinem Kollegen und Freund Peter Eicher (IN-PE), der Theologie an der staatlichen Universität Paderborn3 unterrichtete, sprach ich in seinem Domizil in der Schweiz mehrere Stunden. Eicher war Drewermanns wichtiger Beisitzer im Konflikt mit dem Erzbischof und gab Drewermann große Unterstützung. Beide verbindet eine jahrelange Freundschaft. Aus dem Psychoanalyse-Studium am Lou Andreas-Salome Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Göttingen-Tiefenbrunn hatte ich Gelegenheit, mit dem damaligen Direktor des Instituts, Rudolf Adam (IN-RA), zu sprechen, der Drewermann unterrichtete. Aus dem Bereich der Medien konnte ich mit den Journalisten Michael Albus (IN-MA), Meinolf Fritzen (IN-MF), Jürgen Hoeren (IN-JH) und Volker Panzer (IN-VP) sprechen, sowie mit dem damaligen Fernsehbeauftragten der katholischen Kirche beim ZDF, Eckhard Bieger (IN-EB). Aus der Paderborner St. Georgs-Gemeinde und dem Drewermann-Solidaritätskreis, der sich 1987 bildete, sprach ich mit: Mechthild Goldstein (IN-MG), eine der Mitbegründerinnen des Kreises, die damals katholische Religion auf Lehramt studierte; Mitgliedern und Mitarbeitern des Drewermann-Solidaritätskreis, die ich am 2. 8. 2012 im Hotel Ibis, Paderborn, zu einem Gruppengespräch traf (IN-DSP): Elisabeth Schulte, die über drei Jahrzehnte Drewermanns Predigten, Vorträge und andere Veranstaltungen auf Kassette aufgenommen und zum Selbstkostenpreis kopiert und vertrieben hat; Elisabeth Gehlen, die bei dem Rundbrief des Kreises mitarbeitete und auch in den Medien und bei Protestaktionen aus persönlicher Betroffenheit heraus sprach; Gisela Kranz, die Mitglied der St. Georgs-Gemeinde Paderborn war, in der Drewermann seit 1974 als Priester arbeitete, und die, zusammen mit Irmgard Köhne, Mitschnitte von Predigten und Vorträgen abgeschrieben hat (MM 8); Klaus Pöplow, der evangelisch ist, aber mit seiner späteren Frau Marlis, die katholisch ist, im Kreis tätig war; Josef Külpmann, der vor Drewermann Studentenseelsorger der katholischen Hochschulgemeinde gewesen war und auch gemeinsame evangelisch-katholische Gottesdienste feierte, die Drewermann im Auftrag des Bischofs wieder zerstören sollte, und der später Drewermanns Predigten in der Gefängnisarbeit verwendete; bei dem Gespräch war auch Theresia Gerdiken, die zwar nicht Teil des aktiven Kreises war, Drewermann aber als Priester in der St. Georgs-Gemeinde erlebt hatte und später bei den Wortgottesdiensten und Vorträgen immer dabei war. Gespräche mit Mitarbeiterinnen Drewermanns konnte ich während derselben Reise führen: mit Ingritt Neuhaus (IN-IN), die die ersten Märcheninterpretationen Drewermanns mit originellen Batiken illustriert hat (M1-6); ein gemeinsames Gespräch mit Elisabeth Schulte und Irmgard Köhne (IN-ESIK), während Schulte mir ihre Tonaufnahmen Drewermanns übergab und ich erfuhr, dass Köhne für lange Jahre die handgeschriebenen Manuskripte von Drewermanns Büchern bis 1996 in Computerdateien für den Buchdruck übertrug; kurz konnte ich auch mit der Witwe von Wolfgang Hein, Marie-Louise Hein (IN-MLH), sprechen, der für etwa zwölf Jahre bis in die 1990er Drewermann bei Planung, besonders von Terminen, geholfen hat; schließlich Beate Wienand (IN-BW), die seit zwanzig Jahren bis heute Drewermanns handgeschriebene Manuskripte in Computerdateien für den Buchdruck überträgt. Im Juli 2012 sprach ich mit einer Reihe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der jährlichen Tagung mit Drewermann auf Burg Rothenfels über ihr Interesse an seinem Werk. Unter ihnen ist Dirk Vollmer (IN-DV), der seit 2000 die Veranstaltungen Drewermanns in Paderborn besucht, und heute bei dem Betreiben der Webseite über Drewermann behilflich ist. Andere Namen bleiben hier anonym, um die Personen zu schützen.

Bitten um Gespräche mit den bischöflichen Amtsträgern, die bei dem Konflikt um Drewermanns Reformforderungen entscheidende Rollen spielten, wurden allesamt abgelehnt. Papst Benedikt XVI. antwortete jedoch brieflich (BR-B16). Kardinal Karl Lehmann (EM-KL) und Kardinal Walter Kasper (EM-WK) antworteten kurz per Mail. Generalvikar Kresing, der Erzbischof Degenhardts rechte Hand während des Konfliktes war, sprach kurz mit mir per Telefon, lehnte aber ein weiteres Gespräch ab (IN-BK).

Allen, die zu dieser Biografie beigetragen haben, sei hiermit herzlich für ihre Hilfe auf dem Weg zu dieser Biografie Eugen Drewermanns gedankt! Die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt am Main war außerordentlich hilfreich während meiner Forschungsbesuche bei der Sichtung des breit gestreuten gedruckten Quellenmaterials.

Schließlich stoßen wir in dieser Biografie auf Quellen, die erstmals kurz nach Kardinal Ratzingers Wahl zum Papst Benedikt XVI. bekannt wurden und die die enge Verbindung von Ratzinger und Erzbischof Degenhardt mit den Theologen der Katholischen Integrierten Gemeinde zeigen, welche sich als von Gott speziell erwählt dünken und 1987 ein Buch gegen Drewermann verfassten. Diese Quellen, besonders der Schmeichelband der Integrierten Gemeinde anlässlich der Wahl Ratzingers zum Papst, 30 Jahre Wegbegleitung. Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI. und die Katholische Integrierte Gemeinde, werfen neues Licht darauf, wie die Verurteilung Drewermanns direkt und indirekt von dem heutigen Papst inszeniert und gesteuert wurde (30J). Die Integrierte Gemeinde bzw. die fidelis Stiftungstreuhand GmbH als Rechteinhaberin hat mir jegliche Abdruckerlaubnis von Bildern aus dem Band in dieser Biografie verwehrt. Die Bilder von Veranstaltungen der Integrierten Gemeinde zeigen Ratzinger, Degenhardt sowie fast alle anderen Theologen und Bischöfe, die bei der Verurteilung Drewermanns eine zentrale Rolle spielten, an entscheidenden Momenten des Konflikts »einmütig« zusammen. Das Buch ist nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Die Wortbeschreibung eines Fotos muss daher hier genügen (s. S. 237).

Die Methode

In seinen Auslegungen von kulturell resonanten Stücken der Weltliteratur, seien sie religiös oder säkular, illustriert Drewermann, wie er die jeweiligen Autoren bzw. Urheber in deren Psychologie ernstnimmt. Ein Beispiel dafür bietet das in ein Dutzend Sprachen übersetzte Buch Das eigentliche ist unsichtbar (KP), in dem Drewermann Antoine de Saint-Exupérys Klassiker Der kleine Prinz neu kommentiert. Dort schreibt Drewermann, es sei »unerlässlich”, »den deutlich autobiografischen Zügen des ›Kleinen Prinzen‹ tiefenpsychologisch nachzugehen«. (KP 8) Dabei versucht er, einen objektiven und einen subjektiven Aspekt der Auslegung zu balancieren. Objektiv kann man beobachten, dass es im Leben einer Autorin zwischen dem Werk und der Prägung durch bestimmte Ereignisse und Erlebnisse unbestreitbar gewisse Verbindungen gibt. Doch könne uns letztlich nur der Autor selbst als Subjekt von innen heraus wirklich sagen, ob das Verständnis, dass eine dritte Person davon hat, wirklich der Bedeutung entspricht, die der Autor mit dem äußeren, objektiven Ereignis verbunden hat. Wo immer möglich, wird sich diese Biografie deshalb an der Bedeutung, die Drewermann selbst bestimmten Ereignissen gegeben hat, orientieren.4

Die Grundthemen

Zum Schluss dieser Einführung seien kurz einige Grundthemen im Werk Drewermanns angedeutet, die sein ganzes Leben durchziehen und uns in ihrer Entwicklung begegnen werden:

der Einsatz für Frieden und gegen Krieg,der Ausspruch und Kampf gegen die Entmündigung von Einzelnen durch die Gruppe,der Protest gegen die unmenschliche Verzweckung von Mensch, Tier und Natur, und die Entwicklung von Alternativvorschlägen des Zusammenlebens,die psychologische Aufklärung patriarchaler Strukturen und die Hervorhebung der Stimme von Frauen in religiösen Texten und in der Gesellschaft,der Kampf um die Menschlichkeit der Religion und die Überwindung der Erfahrungslosigkeit des Kirchenglaubens,die Entwicklung einer glaubwürdigen Alternative zwischen Aberglauben und Atheismus im Sprechen von »Gott«,der Glaube, dass »Texte, gerade weil sie nicht historisch sind, eine Wahrheit in sich tragen, die wir brauchen« (WO 223),die Überwindung menschlicher Existenzangst durch eine unendliche Liebe,die Überzeugung, dass Religion nur dann »wahr« ist, wenn sie Heilung und Befreiung vermittelt, und dass das Prophetische nur nachhaltige Veränderung bewirken kann, wenn es nicht mit der Angst argumentiert, sondern zugleich therapeutisch wirkt,die geniale Gabe, religiöse Texte und Meisterwerke der Weltliteratur, Kunst und Musik so zu deuten, dass sie zu uns heute in tiefer existenzieller Relevanz sprechen.

Am 9. November 1992 erhält Drewermann in einer Festveranstaltung an der Universität Tübingen den international bekannten Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche. Hans Küng als Vorsitzender der Herbert-Haag-Stiftung und Haag selbst halten Festansprachen, um die globale Bedeutung von Drewermanns Werk zu würdigen. Ein Zitat aus Drewermanns Rede zur Annahme des Preises leitet uns über zu zwei Hauptthemen im ersten Teil dieser Biografie, die im Zentrum des Ringens seiner Jugend stehen und für ihn eng zusammengehören: die Frage des Krieges und die Frage der Bibelauslegung. »Warum führen Menschen Krieg? Wer dies nicht versteht, versteht die Anfangsseiten der Bibel vom sogenannten Sündenfall überhaupt nicht. Diese Geschichte zu erklären, ist im Grunde die Geschichte meines Lebens. Das will und wollte ich verstehen.« (LF 96)

Teil I Jugend, Kindheit und Familie: Die eigene Stimme finden

1. Wider das Mitläufertum in Kirche und Gesellschaft: Identitätsfindung, Freiheit des Gewissens und Kriegsdienstverweigerung

»Der Krieg kann nur auf eine einzige Weise verhindert werden: durch die Weigerung der davon betroffenen Menschen, in den Krieg zu gehen. … Wir müssen bereit sein, heroische Opfer, wie wir sie widerspruchslos im Kriege hinnehmen, für die Sache des Friedens zu bringen. Es gibt keine wichtigere Aufgabe für mich und keine, die meinem Herzen näher läge.«

Albert Einstein im Jahre 1931, zit. in: Hubert Goenner 2005, 305

»Das eigentliche Problem in der Stellung der katholischen Kirche zum Krieg ist nicht ihr vermeintlicher Militarismus, sondern ihre Unfähigkeit, das Phänomen der Tragik anzuerkennen. … Das Fehlen des Tragischen, ja insgesamt die Verständnislosigkeit für Resignation und für die zwischen Ethik und Resignation spielenden Beziehungen ist die verhängnisvolle Schwäche des neuzeitlichen europäischen Denkens.«

AlbertSchweitzer 1960, 316, zit. in:SP183

Nirgendwo hat sich die Identität Eugen Drewermanns so stark geprägt wie in der Frage der Kriegsdienstverweigerung. Hier fand er seine eigene Stimme. Diese Frage »war essentiell« (IN-ED) in seinem ersten Konflikt mit der katholischen Amtskirche. Deshalb beginnt diese Biografie seines Lebens mit jenem zentralen Thema seiner Jugend. In seinem autobiografischen Essay Was ich denke betont Drewermann die Wichtigkeit der Entwicklung seiner pazifistischen Überzeugungen für sein Leben: Mit der Frage des Krieges hat er »seit den ersten Versuchen eines einigermaßen selbständigen Denkens« gerungen (WD 7). Sein historischer Kontext dafür war die leidenschaftliche Debatte um Wiederbewaffnung und Wehrpflicht im Nachkriegsdeutschland.5 Diese Debatte war das bestimmende Thema seiner Generation. Drewermanns Ablehnung von Krieg und Wehrpflicht hat ihm »am meisten an innerer Arbeit gekostet«. (WD 7) Sie symbolisiert nicht nur den Kampf eines Einzelnen gegen die Autorität der kollektiven Herrschaft des Staates, sondern auch gegen die sich als unfehlbar gebende Autorität der römisch-katholischen Kirche. Immer wieder führt Drewermann die Position der Kirche während der deutschen Wiederbewaffnungsdebatte in den 1950er Jahren als ein Beispiel dafür an, wie ein moralisches Missverständnis von Religion zum Aufruf von Waffengewalt im Namen Gottes führt (vgl. P1 46–7, 69–70; SP 182–3; NG 13; WD 18–21).

In diesem Kapitel verfolgen wir Drewermanns Beschäftigung mit der Frage des Krieges und der Wehrpflicht, um ein Gespür für den inneren Kampf zu erhalten, den er damals bestand. Jener Konflikt legt den Grund für seine spätere Konfrontation mit den psychisch-geistigen Strukturen von Gewalt in Kirche und Staat. Es wird deutlich, wie intensiv Drewermann sich schon als Jugendlicher mit der politischen Situation seiner Tage befasst.

»Meine Phantasie hatte ihre Unschuld verloren«: Der Koreakrieg

Drewermann betrachtet den Koreakrieg, der fünf Tage nach seinem 10. Geburtstag am 25. Juni 1950 ausbricht, als das entscheidende Ereignis, das seine Kindheit zu einem jähen Ende bringt. Schlagzeilen wie »Blutiges Gemetzel um Pusan« im Spätsommer des Jahres (WD 10) lassen ihn besorgt Fragen an seinen Vater richten: Was ist »Gemetzel?« »Ich verband es mit Metzger. Irgendwas kleinschneiden. Aber in dem Zusammenhang verstand ich das nicht. Das Wort in dem Zusammenhang zu nehmen war für mich so grausig. Für meinen Vater, den ich fragte, im Übrigen dann auch. Der sagte: ›Das erklär ich später.‹« (IN-ED) Der Vater, ein ehemaliger Offizier im 1. Weltkrieg, wollte ihn schonen. »Aber ich wollte keine Schonung.« (WD 10) Also setzt er nach: »Kommt ›Schlacht‹ von ›schlachten‹?«

»Hör mit solchen Fragen auf«, erwidert der Vater. Der Zehnjährige kann sich dennoch vorstellen, was geschieht. Bereits damals ist Drewermann ein eifriger Leser. Szenen aus den Nibelungensagen und den Königsbüchern der Bibel stehen ihm vor Augen. »Meiner ganzen Herkunft nach hätte ich ein geborener Militarist sein müssen«, sagt er mit Blick auf diese Literatur sowie die Mischung aus Skrupel und Stolz, die der Vater mit den Erfahrungen als ehemaliger Offizier verband (WD 9). Beim Lesen waren Kampfszenen bisher nur Bilder, nur Fantasie gewesen. Durch den Koreakrieg lernt er jetzt, dass ein Wort wie »Gemetzel« »ganz wörtlich« zu nehmen ist (IN-ED). »Meine Phantasie hatte ihre Unschuld verloren.« (WD 11) »Zum ersten Mal« berührt sie »die Wirklichkeit« und schaudert zurück (WD 11). Mit einer Gruppe von Montagearbeitern, die in jener Zeit im Drewermann-Haus gerade Kost und Logis von seiner Mutter erhalten, diskutiert er weiter über das Pro und Contra des Krieges. Sie teilen die Welt in Gut und Böse auf, sehen sich selbst freilich auf der Seite des Guten und »die Kommunisten« auf der Seite des Bösen. Sie erklären ihm mit der »Dominotheorie«, dass »›wir‹ in Korea eigentlich ›uns selber‹ verteidigten«. (WD 14–15) Ähnlich »antikommunistisch« argumentieren die Kirchenoberen, bis hinauf zum Papst, um im Namen Gottes den Krieg gegen »das Böse« zu rechtfertigen.

Schon auf dem Katholikentag in Bochum vom 31.8–4. 9. 1949 erlebt der junge Drewermann auf der Schlusskundgebung, dass die Kirche »militaristisch die Massen indoktrinierte«. (WD 14)6 Ein Jahr später wütet der Koreakrieg. Bundeskanzler Konrad Adenauer ist zu Gast beim Katholikentag in Passau. Adenauer, der 1922 selbst Präsident des Katholikentages gewesen war, beschwört die Angst in seiner Rede an die deutschen Katholiken: »Meine verehrte Versammlung! Wir gehen einer sehr ernsten und sehr schweren Zeit entgegen. Wir haben vielleicht vor einigen Jahren geglaubt, dass wir nun das Schlimmste hinter uns hätten. Wir müssen uns aber klar sein, dass der Welthorizont sich von neuem verfinstert hat … Der Präsident unseres Katholikentages hat von Frieden gesprochen. Seien Sie bitte überzeugt davon, dass auch die Bundesregierung, und insbesondere ich, der Bundeskanzler … kein größeres Ziel kennt und keinen höheren Wunsch hat, als den Frieden.« (Neue Deutsche Wochenschau 5. 9. 1950) Dann aber schürt Adenauer mit der Angst den Kalten Krieg. Es gelingt ihm, als Katholik im folgenden Jahrzehnt die Mehrheit der Politiker und der Bürger zu überzeugen, dass Frieden nur mit Waffen und Wehrbereitschaft zu erreichen sei.

Auf dem gleichen Kirchentag hört Drewermann den Kölner Kardinal Frings proklamieren: »Nach den Gedanken des Papstes [Pius XII.] ist also eine Kriegführung, die gegen das Unrecht gerichtet ist, nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht aller Staaten … Der echte Friede kann nur auf der Gottesordnung beruhen. Wo immer aber diese angegriffen wird, müssen die Völker auch mit Waffengewalt die zerstörte Ordnung wiederherstellen.« (zit. in: WD 14 aus Karlheinz Deschner 1962, 587) Es ist wesentlich die Segnung von Krieg im Namen Gottes durch höchste Würdenträger der katholischen Kirche, die es Adenauer in den folgenden Jahren ermöglicht, die Wiederbewaffnung Deutschlands und die allgemeine Wehrpflicht durchzusetzen. In der Wehrdebatte im Bundestag wettert er schon am 8. 2. 1952 in schwarz-weißer Manier, dass es für Deutschland »nur eine Rettung für uns alle« gibt: nämlich durch die zu schaffende Bundeswehr »uns so stark zu machen, dass Sowjetrussland erkennt, ein Angriff darauf ist ein großes Risiko für Sowjetrussland selbst.« (Neue Deutsche Wochenschau 12. 2. 1952)

Der Ursprung von Drewermanns Konflikt mit der Amtskirche: Die Wehrpflichtdebatte

Die »zweite Berührung mit der Wirklichkeit« kommt für Drewermann im Jahre 1956, nun aber »nicht mehr in der Phantasie, sondern im Denken. Dieses Jahr bedeutete das Ende meiner Jugend. Mit einem Mal begriff ich, was es hieß, ›erwachsen‹ zu werden: Ich mußte mich entscheiden! Ich war erst sechzehn Jahre alt, aber es sollte genügen, achtzehn Jahre alt zu sein und man würde zur Bundeswehr eingezogen werden«. (WD 18) Diese Entscheidung stürzt den sechzehnjährigen Drewermann in einen tiefen inneren Konflikt, sowohl in Bezug zur Kirche wie auch zu seinen Eltern, besonders dem Vater. Eines ist ihm von Anfang an klar: Nie wird er lernen, »wie man am wirksamsten mechanisch, chemisch, atomar, biologisch oder wie auch immer Menschen töten könnte, möglichst unter Ausschaltung der Gefahr für das eigene Leben. Lieber würde ich mein Leben in Gefängnissen oder in Arbeitslagern verbringen – zur ›Bundeswehr‹ würde ich niemals gehen«. (WD 19; vgl. WG 9–11)

Gleich zu Beginn meines ersten Interviews mit Drewermann, das am 16. November 1999 während seiner Vortragsreise in den Vereinigten Staaten stattfindet, kommt er auf die Wiederbewaffnung und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu sprechen. Dies ist insofern überraschend, als ich ihn eigentlich um die Entwicklung seines Jesusbildes gefragt hatte (vgl. JB). Drewermanns Absage an Gewalt und sein Bild von Jesus als einem Menschen, der aus Gewissensgründen jeder religiösen Sicht die Absage erteilt, die äußere oder innere Gewalt heiligt, gehören von Anfang an zusammen. »Für mich war Jesus sehr intensiv als Gegenüber, als Gesprächspartner real, weil er mir als gütig vermittelt wurde. Und das ist bis heute fast das Einzige, was ich von Jesus glaube, wirklich begriffen zu haben. Wenn ich morgens die Zeitung lese oder abends die Nachrichten höre, entsteht immer wieder der Eindruck, dass man gegen Bomben nur antworten kann mit Bomben, gegen Gewalt nur mit Gegengewalt, gegen das Verbrechen nur mit härteren Strafen. Ich habe noch nie geglaubt, dass auf diese Weise die Welt besser wird. Stattdessen war für mich die Bergpredigt zumindest ein lohnender, verbindlicher Versuch, es einmal anders zu machen. Und dem Mann Jesus kann ich glauben, dass es stimmt.« (IN-ED) Die Worte Jesu in der Bergpredigt werden ihm in der Jugend zum Leitfaden und sind für ihn bis heute nicht als Utopie abzutun.

Drewermann stellt die Ablehnung von Krieg und Kriegsdienst in eine breitere Perspektive seiner Identitätsentwicklung. Dabei bezieht er sich, wie oft, wenn er über sein Leben redet, auf einen bekannten Schriftsteller: »Graham Greene hat einmal gesagt: die wichtigsten Erfahrungen eines Schriftstellers macht er mit 16, 17 Jahren. Dann liegen seine Themen fest. Alles andere ist Kommentar. Das mag ein bisschen übertrieben sein, auch bei Graham Greene. Aber in gewissem Sinne stimmt das bei mir. Die entscheidenden Optionen, dass man Tiere nicht quält, dass man Kriege nicht rechtfertigt, dass Menschen Verstehen und Begleitung verdienen, sind mir in jener Zeit gekommen.« (IN-ED)

Den historischen Rahmen für Drewermanns Identitätsentscheidung gegen den Krieg bildet die Wiederaufrüstungsdebatte im Deutschland der Nachkriegszeit. »Damals war … die Bundesrepublik … in der heftigsten Auseinandersetzung seiner Geschichte begriffen. Es ging damals darum, genau 10 Jahre nach dem Desaster des 2. Weltkriegs, ob Deutschland wiederbewaffnet und in die NATO integriert würde. Nebenbei gesagt, es war 1952 in der Adenauer-Regierung der Europäische Verteidigungsvertrag, der EVG, fertig ratifiziert! Er scheiterte [1954, d. Verf.] lediglich an der Angst der Franzosen vor den Deutschen. Schon 1952 hätten die Amerikaner gerne Westdeutschland … im Kalten Krieg auch militärpolitisch voll integriert. Damals gab es Millionen Menschen natürlich, die dagegen demonstrierten. Auch 1955 war das so. Für mich als Junge spitzte sich die Frage ganz entscheidend auf das Problem der Wehrdienstverweigerung zu.« (IN-ED) Während Drewermann sich entscheidet, dem eigenen Gewissen zu folgen, wird im gleichen Jahr, am 1. Dezember 1955, die afroamerikanische Rosa Parks festgenommen, weil sie darauf besteht, auf ihrem Sitzplatz zu bleiben und sich weigert, ihn an einen weißen Fahrgast zu abzugeben – eine Entscheidung, die die Bürgerrechtsbewegung in den Staaten wesentlich motiviert.

Die Debatte über die Wiederaufrüstung findet in den Jahren 1955 bis 1957 ihren Höhepunkt. Noch sind kaum ein Dutzend Jahre vergangen, seitdem der 2. Weltkrieg Millionen Menschen das Leben gekostet und Europa in Trümmern zurückgelassen hat, da wird Deutschland schon wieder bewaffnet – mit dem ausdrücklichen Segen von katholischen Sprechern im Bundestag. Drewermann verfolgt die rege Debatte durch Radio und Tagespresse aufmerksam mit. Wie vormals bei Reportagen in der Nazizeit berichtet die Deutsche Wochenschau mit Fanfare von der Gründung der Bundeswehr (1. 5. 1955) und der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht (21. 7. 1956). Der deutsche Nachkriegskanzler Konrad Adenauer, ein bekennender Katholik, erklärt während der Debatte im Bundestag über das Wehrpflichtgesetz am 6. Juli 1956: »Ich glaube für mich beanspruchen zu können, dass ich so wie nur irgendeiner hier im Haus ein Gegner des Krieges bin, aber meine Damen und Herren, man muß doch die Welt realistisch sehen.« (Neue Deutsche Wochenschau 11. 7. 1956) Ähnlich argumentieren Regierungschefs immer wieder. So sagt Barack Obama, auf den viele große Hoffnung für eine effektive Friedensdiplomatie setzten, in seiner Rede bei der Annahme des Friedensnobelpreises, er erkenne zwar Martin Luther Kings Gedanken der Gewaltfreiheit an: »Gewalt führt nicht zu dauerhaftem Frieden. Sie löst kein soziales Problem, sie erzeugt nur neue und kompliziertere.« Doch dann schiebt er den Ruf zur Gewaltfreiheit von Menschen wie King einfach beiseite mit dem Hinweis auf die böse Realität, und zwar ganz im Sinne des »christlichen Realismus« des bekannten amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr, den er verehrt (David Brooks 2007): »Aber als Staatschef … kann ich mich nicht nur von ihrem Beispiel leiten lassen. Ich stehe der Welt gegenüber, wie sie ist, und kann … nicht untätig sein. … Die Instrumente des Krieges müssen bei der Sicherung des Friedens eine Rolle spielen.« (Barack H. Obama 2009) Weil angesichts von Gewalt der Krieg, d. h. die systematisierte Gewalt, immer wieder gerechtfertigt wird als die einzige Möglichkeit, Gewalt zu bekämpfen, konzentriert sich Drewermann in seinem Lebenswerk darauf, die Wurzeln des Krieges in der menschlichen Angst offenzulegen und zu zeigen, dass die Eskalation der Gewalt nie im Namen Gottes noch im Namen der Ethik als ein »Gut« gerechtfertigt werden darf, sondern allenfalls als unausweichliche tragische Entwicklung verstanden werden mag (SP).

Die Forderung nach Gewissensfreiheit

Drewermann erinnert sich an den für ihn entscheidenden Moment in der Debatte um die Wehrpflicht im Sommer 1956 im Deutschen Bundestag. Im Radio verfolgt er am 6. Juli 1956 live die aufsehenerregende Rede des CDU-Abgeordneten Peter Nellen aus Münster im Bundestag mit (Deutscher Bundestag 6. 7. 1956, 8841–45 und 8855–56; Peter Nellen 1956). Nellen, der selbst katholische Theologie studiert hat, wendet sich gegen den Rest seiner »christlichen« Partei und fordert ein Recht auf absolute Gewissensfreiheit in Sachen Wehrpflicht. An Nellens Rede beeindruckt Drewermann besonders dessen Hinweis auf die katholische Lehre vom irrenden Gewissen, vom error invincibilis, das in Kirche wie Staat absolut zu respektieren sei, selbst wenn es sich gegen einen von der offiziellen Kirche oder vom Staat als gerecht gesehenen Krieg richte (Deutscher Bundestag 4. 5. 1956, 7550). Das wird Drewermann, der damals ein »sehr intensiv der katholischen Kirche verpflichteter Junge« ist (IN-ED), in den folgenden Jahren die Möglichkeit geben, sich auch innerhalb des katholischen Glaubens auf sein Gewissen zu berufen, um den Kriegsdienst zu verweigern, selbst wenn er dies offiziell nur im Status eines »irrenden Gewissens« tun kann.

Nun wird aber gerade diese Möglichkeit von katholischen Gutachtern, die die deutschen Bischöfe in den Bundestag schicken, allen Katholiken verboten (P1 69, SP 183)! Die Amtskirche schickt den Jesuiten Johannes Hirschmann in den Verteidigungsausschuss des Bundestages, um unmissverständlich klar zu machen, dass kein Katholik sich auf sein Gewissen berufen darf, wenn die Kirche einen Krieg als objektiv gerecht bezeichnet (Johannes Hirschmann 1984, 90–94; vgl. Anselm Doering-Manteuffel 1981, 234–236). Wörtlich sagt Hirschmann in dem Gutachten: »Wir lehnen ja katholischerseits die Gewissensentscheidung derer, die aus einer grundsätzlichen Ablehnung der Kriegsdienstpflicht den Kriegsdienst verweigern, als objektiv irrig ab.« (Deutscher Bundestag 6. 7. 1956, 8837) Denn eine grundsätzliche Ablehnung von Kriegsdienst, wie sie Drewermann vertritt, würde sich auch gegen »gerechte« Kriege richten. Hirschmann fährt fort: »Die katholische Kirche erkennt nur eine Gruppe von Kriegsdienstverweigerern als in ihrem Rahmen stehend an, nämlich diejenigen, die in einem objektiv ungerechten Krieg den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern.« (a. a. O., 8849) Als Hirschmann von Nellen während der Diskussion des Gutachtens gefragt wird, ob der katholische Standpunkt denn wirklich dieser ist: »Ein grundsätzlicher Pazifist, der sich etwa auf die Bergpredigt beruft, wird von der katholischen Moraltheologie nicht anerkannt«, antwortet Pater Hirschmann mit einem entschiedenen »Jawohl!« (a. a. O.)