F is for Fugitive: Sie kannte ihn flüchtig - Sue Grafton - E-Book
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F is for Fugitive: Sie kannte ihn flüchtig E-Book

Sue Grafton

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Beschreibung

In ihrem sechsten Fall verlässt die eigenwillige Privatdetektivin bekanntes Terrain …  Floral Beach ist ein unscheinbares Nest an der Küste Kaliforniens, das sich höchstens durch seinen malerischen Sandstrand auszeichnet – und Kinsey Millhone ist dort, um nach Leichen zu graben. Auf Bitten eines sterbenden Mannes besucht die einzelgängerische Privatdetektivin den Küstenort, um einen siebzehn Jahre alten Mordfall neu aufzurollen: Denn der Verbrecher, der für den Mord an der allseits beliebten Jean Timberlake eingesessen hat, ist aus dem Gefängnis ausgebrochen und verschwunden – nicht ohne zuvor sein Geständnis zu widerrufen. Bei ihren Ermittlungen sticht Kinsey in ein Wespennest aus Lügen und Familiengeheimnissen – und muss schon bald erkennen, dass das Verbrechen in Floral Beach nach fast zwei Jahrzehnten nun wieder auf mörderische Weise lebendig wird … »Kinsey Millhone steht in einer Reihe mit den Giganten des Ermittlerkrimis« Times Literary Supplement Der sechste Band einer der erfolgreichsten Krimiserien überhaupt, der unabhängig gelesen werden kann – ein packender Ermittlerkrimi für Fans der Bestsellerserien von James Patterson und Val McDermid. Im siebten Band erfährt Kinsey Millhone ausgerechnet an ihrem 33. Geburtstag, dass sie auf der Abschussliste eines gesuchten Killers steht … »Kinsey Millhone ist eine sehr interessante, glaubwürdige, ganz einfach menschliche Figur.« – Amazon-Leser  »Sue Graftons Bücher sind so gut, dass sie das Schreiben von Krimis leicht aussehen lässt.«– Amazon-Leserin

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Seitenzahl: 360

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Floral Beach ist ein unscheinbares Nest an der Küste Kaliforniens, das sich höchstens durch seinen malerischen Sandstrand auszeichnet – und Kinsey Millhone ist dort, um nach Leichen zu graben. Auf Bitten eines sterbenden Mannes besucht die einzelgängerische Privatdetektivin den Küstenort, um einen siebzehn Jahre alten Mordfall neu aufzurollen: Denn der Verbrecher, der für den Mord an der allseits beliebten Jean Timberlake eingesessen hat, ist aus dem Gefängnis ausgebrochen und verschwunden – nicht ohne zuvor sein Geständnis zu widerrufen. Bei ihren Ermittlungen sticht Kinsey in ein Wespennest aus Lügen und Familiengeheimnissen – und muss schon bald erkennen, dass das Verbrechen in Floral Beach nach fast zwei Jahrzehnten nun wieder auf mörderische Weise lebendig wird …

eBook-Neuausgabe August 2025

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1989 unter dem Originaltitel »F is for Fugitive« bei Henry Holt, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1990 unter dem Titel »Sie kannte ihn flüchtig« bei Fischer sowie 2000 in einer Neuausgabe unter dem Titel »F wie Fälschung« bei Goldmann.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1989 by Sue Grafton

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1990 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendungvon ShutterstockJacob Penman, Sirbourman

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)

 

ISBN 978-3-98952-988-5

 

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Sue Grafton

F is for Fugitive: Sie kannte ihn flüchtig

Kriminalroman – Ein Fall für Kinsey Millhone 6

Aus dem Amerikanischen von Christine Frauendorf-Mössel

 

dotbooks.

Kapitel 1

 

Das Ocean Street Motel in Floral Beach, Kalifornien, liegt, wen wundert’s, an der Ocean Street, nur einen Steinwurf von der Kaimauer entfernt, die hier drei Meter tief zum Pazifik hin abfällt. Der Strand ist mit Fußspuren übersät, ein breites, beiges Band, das die Flut täglich neu glättet. Der öffentliche Zugang zum Strand führt über eine Betontreppe mit Metallgeländer. Ein ins Wasser gebauter hölzerner Angelsteg ist am Ufer vor dem grellblau gestrichenen Haus der Hafenmeisterei verankert.

Vor siebzehn Jahren hatte man Jean Timberlakes Leiche am Fuß dieser Kaimauer gefunden, doch die exakte Stelle war von meinem Standort aus nicht zu sehen. Damals hatte Bailey Fowler, Jeans Ex-Freund, sich des Totschlags an dem Mädchen für schuldig bekannt. Mittlerweile hatte er seine Meinung geändert. Jeder gewaltsame Tod ist der Höhepunkt einer Geschichte und zugleich die Einleitung einer weiteren. Mir fiel die Aufgabe zu herauszufinden, wie das Ende dieser Story wahrheitsgemäß aufgezeichnet werden musste. Kein einfaches Unterfangen nach all den Jahren.

Die Einwohnerzahl von Floral Beach ist so niedrig, dass sie auf keinem Ortsschild zu lesen steht. Die Stadt ist sechs Straßenzüge lang und zwei Straßen breit, welche sich allesamt eng an einen Steilhang schmiegen, der von Unkraut überwuchert ist. An der Küstenstraße liegen etwa zehn Unternehmen kommerzieller Art: drei Restaurants, eine Geschenkboutique, ein Spielsalon, ein Obst- und Gemüseladen, ein T-Shirt-Geschäft mit Skateboardverleih, eine Eisdiele und eine Gemäldegalerie. Gleich um die Ecke, an der Palm Street, gibt es eine Pizzeria und einen Waschsalon. Mit Ausnahme der Restaurants schließen alle Geschäfte um fünf Uhr abends. Die meisten Häuser der Stadt sind einstöckige Holzbauten aus den dreißiger Jahren mit blassgrün oder weiß gestrichenen Lattenfassaden. Die Grundstücke sind klein und eingezäunt, und hinter vielen Zäunen liegen Motorboote, von denen manche in besserem Zustand zu sein scheinen als die Anwesen, zu denen sie gehören. Es gibt auch einige verputzte, kastenförmige Apartmenthäuser mit Namen wie »Sea View«, »Tides« oder »Surf and Sand«. Die ganze Stadt wirkt eigentlich wie der weniger repräsentative Teil einer anderen Stadt, aber auch vage vertraut, wie ein schäbiges Seebad, das man aus der Kindheit zu kennen glaubt.

Das Motel selbst ist dreistöckig, grellgrün gestrichen und besitzt über die ganze Front einen Bürgersteig, der schließlich im buschigen Gras endet.

Man hatte mir ein Zimmer mit Balkon in der zweiten Etage gegeben. Vom Balkon konnte ich links bis zur Ölraffinerie mit dem hohen Maschendrahtzaun und zahlreichen Warnschildern und rechts ungefähr vierhundert Meter weit bis zur Port Harbor Road sehen. Am Hang über der Port Harbor Road liegt ein großes Ferienhotel mit Golfplatz, doch die Gäste, die dort wohnen, würden nie hier herunterkommen, trotz der niedrigen Übernachtungspreise.

Es war Spätnachmittag, und die Februarsonne ging mit einer Geschwindigkeit unter, die wider jedes Naturgesetz zu sein schien. Die Brandung donnerte monoton, und die Wellen schlugen an den Strand, als würden reihenweise Seifenwasserkübel über dem Sand ausgegossen. Der Wind frischte auf, nahezu lautlos, vermutlich weil es in Floral Beach kaum einen Baum gibt.

Die Möwen hatten sich zur Abendmahlzeit versammelt und saßen am Straßenrand, um das aufzupicken, was aus den Mülleimern überquoll. Da es Dienstag war, waren nur wenige Touristen unterwegs, und selbst die paar Unentwegten, die den Strand um die Mittagszeit aufgesucht hatten, waren bei Abkühlung der Temperaturen geflohen.

Ich ließ die gläserne Schiebetür offen und kehrte zum Tisch zurück, an dem ich meinen vorläufigen Bericht tippte.

Mein Name ist Kinsey Millhone, ich bin Privatdetektivin mit einer Lizenz des Staates Kalifornien und arbeite normalerweise in Santa Teresa, einer Stadt gut hundertfünfzig Kilometer nördlich von Los Angeles. Floral Beach liegt weitere eineinhalb Autostunden entfernt an der Küste. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, war zweimal verheiratet, bin kinderlos und momentan nicht gebunden, ein Zustand, der vorerst anhalten wird, denn mir geht’s bestens. Vorübergehend bin ich bei meinem Vermieter Henry Pitts einquartiert, denn meine Garagenwohnung wird gerade renoviert. Mein Aufenthalt im Ocean Street Motel wird von Bailey Fowlers Vater bezahlt, der mich einen Tag zuvor engagiert hatte.

Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade in mein neu ausgestattetes Büro bei der »California Fidelity« eingezogen, einer Versicherungsgesellschaft, die mir als Gegenleistung für meine Dienste die Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. Die Wände waren strahlend weiß gestrichen, der Teppichboden war graublau (eine kurzflorige Wollqualität zum Preis von 25 Dollar pro Quadratmeter, wohlgemerkt ohne Arbeitskosten). Ich weiß das, weil ich beim Verlegen des Teppichs einen Blick auf den Lieferschein werfen konnte. Mein Aktenschrank stand inzwischen wieder an seinem Platz, und mein Schreibtisch war wie üblich an die Balkontür gerückt, ein neuer Wasserspender war installiert worden und versorgte mich je nach Knopfdruck mit kaltem oder heißem Wasser. Das Ambiente war erste Klasse, und mir ging’s bestens, nachdem ich mich weitgehend erholt hatte von den Verletzungen, die ich mir bei meinem letzten Fall eingehandelt hatte. Da ich selbstständig bin, bezahle ich meinen Beitrag zur Arbeitsunfähigkeitsversicherung praktisch noch vor der Miete.

Royce Fowler machte den Eindruck eines ehemals robusten Mannes, der plötzlich gealtert war. Ich schätzte ihn auf Mitte siebzig. Er war etwa einsachtzig groß, aber seine einst imposante Statur konnte man nur noch ahnen. An der Art, wie sein Anzug an ihm schlotterte, war unschwer zu erkennen, dass er vor kurzem mindestens fünfzehn Kilogramm an Gewicht verloren haben musste. Er sah aus wie ein Farmer, ein Cowboy oder Hafenarbeiter, jedenfalls wie jemand, der es gewohnt war, den Elementen zu trotzen. Sein weißes, bereits schütteres Haar trug er streng aus der Stirn gekämmt, über den Ohren waren noch gelblich braune Strähnen sichtbar. Er hatte stahlblaue Augen, spärliche Brauen und Wimpern, und seine blasse Haut war von geplatzten Äderchen durchzogen. Er benutzte einen Stock, und die großen Hände, die er über dem Knauf gefaltet hielt, waren von Leberflecken übersät und erstaunlich ruhig. Eine Frau, die ich für eine Pflegerin oder eine bezahlte Hilfe hielt, hatte ihm in den Sessel geholfen.

Er sah so krank aus, dass er kaum in der Lage zu sein schien, selbst Auto zu fahren.

»Ich bin Royce Fowler«, hatte er zur Begrüßung erklärt. Seine Stimme klang rau und fest. »Das ist meine Tochter Ann. Meine Frau wäre gerne mitgekommen, aber sie ist krank, und ich habe ihr geraten, zu Hause zu bleiben. Wir leben in Floral Beach.«

Ich stellte mich ebenfalls vor und schüttelte beiden die Hand. Eine Familienähnlichkeit war für mich nicht erkennbar. Seine Züge waren in jeder Beziehung prägnant: große Nase, hohe Backenknochen, kantiges Kinn, während sie eher unscheinbar wirkte. Sie hatte dunkles Haar und leicht vorstehende Schneidezähne, die man in ihrer Kindheit hätte regulieren müssen. Vor meinem geistigen Auge leuchtete kurz das Bild von Floral Beach mit leicht heruntergekommenen Sommerhäusern und menschenleeren, von Lieferwagen gesäumten Straßen auf. »Sie sind extra meinetwegen in die Stadt gekommen?«, fragte ich.

»Ich hatte einen Termin im Krankenhaus«, erwiderte Fowler brummig. »Meine Krankheit können sie da nicht heilen, aber mein Geld nehmen sie trotzdem. Ich dachte, wir sollten gleich mit Ihnen reden, wenn wir schon mal in der Stadt sind.«

Royce Fowlers Tochter rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, sagte jedoch kein Wort. Ich schätzte sie grob auf ungefähr vierzig und fragte mich insgeheim, ob sie bei den Eltern lebte. Bisher war sie meinen Blicken hartnäckig ausgewichen.

Small Talk ist nicht meine Stärke, daher schaltete ich sofort auf einen geschäftsmäßigen Ton um: »Was kann ich für Sie tun, Mr. Fowler?«

Er lächelte bitter. »Mein Name scheint Ihnen nicht viel zu sagen.«

»Er kommt mir irgendwie bekannt vor«, gestand ich. »Aber vielleicht helfen Sie mir auf die Sprünge?«

»Mein Sohn Bailey ist vor drei Wochen in Downey irrtümlich verhaftet worden. Die Polizei hat ziemlich schnell gemerkt, dass sie den Falschen erwischt hatten, und sie haben ihn nach ein paar Stunden wieder freigelassen. Aber dann hat man ihn nochmals überprüft. Tja, und seine Fingerabdrücke haben gepasst. Vorgestern Abend wurde er zum zweiten Mal verhaftet. «

Beinahe hätte ich gefragt: »Gepasst wozu?« Aber dann erinnerte ich mich. Ich hatte einen Artikel im Lokalteil der Zeitung gelesen. »Ach ja«, sagte ich. »Er ist vor sechzehn Jahren in San Luis ausgebrochen?«

»Richtig. Nach seiner Flucht hatte ich nie wieder was von ihm gehört, ich dachte, er wäre längst tot. Der Junge hat mir damals fast das Herz gebrochen, und ich schätze, die Sache ist noch nicht ausgestanden.«

Die Männerhaftanstalt bei San Luis Obispo umfasst einen Bereich mit geringen Sicherungsvorkehrungen für alte Männer und einen Bereich der mittleren Sicherungsstufe mit vier Blocks für je sechshundert Häftlinge. Bailey Fowler war offenbar während eines Arbeitseinsatzes geflohen und auf einen Güterzug gesprungen, der damals noch zweimal täglich am Gefängnis vorbeiratterte.

»Wie kam es, dass man ihn geschnappt hat?«

»Aufgrund eines Haftbefehls gegen einen Peter Lambert, das war der Name, unter dem er gelebt hat. Er sagt, er sei festgenommen worden, man habe seine Fingerabdrücke abgenommen und ihn in eine Zelle gesperrt, bis man merkte, dass man den Falschen erwischt hatte. Soviel ich verstanden habe, hat irgendein ehrgeiziger Detective darauf einen Tritt in den Hintern bekommen und deshalb Baileys Abdrücke durch ein neumodisches Computersystem gejagt, das sie seit kurzem hier haben. So sind sie draufgekommen, dass er gesucht wurde. Durch einen miesen Zufall.«

»Pech für ihn«, sagte ich. »Was hat er vor?«

»Ich habe ihm einen Anwalt besorgt. Jetzt, da er wieder hier ist, will ich, dass man seine Unschuld beweist.«

»Sie wollen Berufung gegen das Urteil einlegen?«

Ann schien nahe dran, etwas zu sagen, doch der alte Mann kam ihr zuvor.

»Bailey hat nie einen Prozess gekriegt. Er hat sich auf eine Absprache eingelassen. Hat sich auf Anraten dieses Idioten von einem Pflichtanwalt schuldig bekannt.«

»Tatsächlich?« Ich fragte mich, weshalb Mr. Fowler damals keinen Anwalt für seinen Sohn engagiert hatte und welche Beweise die Staatsanwaltschaft haben mochte. Normalerweise lässt sich der Staatsanwalt nur auf Absprachen ein, wenn seine Beweisführung auf schwachen Beinen steht. »Was hat der neue Anwalt denn dazu gesagt?«

»Er will sich erst äußern, wenn er die Akten gelesen hat. Aber ich möchte, dass er jede nur erdenkliche Hilfe kriegt. Und weil’s in Floral Beach keinen Privatdetektiv gibt, sind wir zu Ihnen gekommen. Wir brauchen jemanden, der die Ärmel aufkrempelt, die Sache anpackt und herausfindet, ob’s da noch Möglichkeiten gibt. Einige Zeugen sind gestorben, andere sind fortgezogen. Es ist alles ein heilloses Durcheinander. Ich will, dass mit einem harten Besen ausgekehrt wird. «

»Und wie schnell brauchen Sie mich?«

Royce rutschte unruhig hin und her. »Reden wir erst mal über Geld.«

»Gern«, erwiderte ich, zog den Standardvertrag heraus und reichte ihn über den Schreibtisch. »Dreißig Dollar pro Stunde plus Spesen. Außerdem brauche ich einen Vorschuss.«

»Kann ich mir denken«, sagte er gereizt, doch er sah mich dabei nicht unfreundlich an. »Und was kriege ich dafür?«

»Kann ich nicht sagen. Wunder jedenfalls nicht. Ich schätze, es hängt davon ab, wie kooperativ sich die Polizei verhält.«

»Auf die würde ich nicht zählen. Bei der Polizei mag man Bailey nicht. Hat ihn nie gemocht. Und mit der Flucht hat er sich nicht gerade neue Sympathien erworben. Damals standen diese Typen doch wie Idioten da.«

»Wo sitzt er ein?«

»Los Angeles. Im Bezirksgefängnis. Nach unseren Informationen soll er morgen nach San Luis gebracht werden.«

»Konnten Sie mit ihm sprechen?«

»Ja, gestern. Ganz kurz.«

»Das muss ein Schock für Sie gewesen sein.«

»Ich dachte, mein Verstand setzt aus ... Ich dachte, mich hätte der Schlag getroffen.«

»Bailey hat Pop gegenüber immer behauptet, er sei unschuldig«, erklärte Ann.

»Ist er auch!«, fuhr Royce sie an. »Er hat’s von Anfang an gesagt. Unter keinen Umständen hätte er Jean je umgebracht.«

»Ich will nicht streiten, Pop. Ich erklär’s nur ihr.«

Royce entschuldigte sich nicht, doch sein Ton war verändert. »Ich habe nicht mehr lange Zeit«, fuhr er fort. »Und ich will das aus der Welt haben, bevor ich abtrete. Finden Sie raus, wer sie umgebracht hat, und Sie kriegen eine Prämie.«

»Das ist nicht nötig«, wehrte ich ab. »Einmal die Woche bekommen Sie einen schriftlichen Bericht, und wir können uns unterhalten, sooft Sie wollen.«

»Also gut. Mir gehört ein Motel in Floral Beach. Dort können Sie, solange Sie möchten, kostenlos wohnen. Essen Sie mit uns. Ann kocht. «

Sie warf ihm einen Blick zu. »Vielleicht will sie gar nicht mit uns essen.«

»Dann soll sie das sagen. Niemand zwingt sie zu was.«

Ann wurde rot, schwieg jedoch.

Nette Familie, dachte ich. Ich konnte es kaum erwarten, den Rest kennen zu lernen. Normalerweise übernehme ich einen Fall nicht, ohne mit dem Klienten selbst gesprochen zu haben, doch die Sache reizte mich, und ich brauchte den Job, nicht des Geldes wegen, sondern zur Stabilisierung meiner Psyche. »Wie sieht Ihr Zeitplan aus?«

»Sie können morgen anfangen. Der Anwalt ist in San Luis. Er sagt Ihnen schon, was er braucht.«

Ich füllte den Vertrag aus und sah zu, wie Royce Fowler unterschrieb. Dann setzte ich meine Unterschrift darunter, gab ihm den Durchschlag und behielt das Original für meine Akten. Der Scheck, den er daraufhin aus seiner Brieftasche zog, war bereits auf meinen Namen ausgestellt und lautete über zweitausend Dollar. Der Mann hatte Gottvertrauen, das musste man ihm lassen. Ich warf einen Blick auf die Uhr, als die beiden mein Büro verließen. Die ganze Transaktion hatte kaum mehr als zwanzig Minuten gedauert.

Ich machte früh im Büro Schluss und brachte meinen Wagen zur Inspektion in die Werkstatt. Ich fahre einen vierzehn Jahre alten VW-Käfer, eines jener schlichten beigefarbenen Modelle mit stattlichem Beulensortiment. Er rattert und rostet, ist jedoch bezahlt und verbraucht wenig Benzin. Von der Werkstatt aus ging ich zu Fuß nach Hause. Es war ein perfekter Februarnachmittag, sonnig, klar und mit angenehmen Temperaturen. Seit Weihnachten hatten uns Winterstürme in regelmäßigen Abständen heimgesucht, die Berge glänzten in sattem Grün, und die Waldbrandgefahr war bis zum Hochsommer gebannt.

Ich wohne in Strandnähe in einer schmalen Seitenstraße parallel zum Cabana Boulevard. Mein Garagenapartment, das während der Weihnachtsfeiertage eine Bombe dem Erdboden gleichgemacht hatte, war wieder aufgebaut worden. Henry allerdings hatte sich, was die Baupläne betraf, mächtig geziert. Er und sein Bauunternehmer hatten wochenlang die Köpfe zusammengesteckt, doch bislang hatte Henry sich geweigert, mir auch nur eine Blaupause zu zeigen.

Da ich mich selten zu Hause aufhalte, ist es mir ziemlich gleichgültig, wie es dort aussieht. Meine einzige Sorge war, dass Henry das Apartment zu großzügig und luxuriös wieder herrichten ließ und ich mich verpflichtet fühlen würde, ihn entsprechend zu bezahlen. Gegenwärtig beträgt meine Miete zweihundert Dollar im Monat, das ist unglaublich wenig heutzutage. Da mein Wagen bezahlt ist und die Bürokosten von der California Fidelity bestritten werden, kann ich von einem bescheidenen monatlichen Einkommen recht gut leben. Eine Wohnung, die für meinen Geldbeutel eine Nummer zu groß ist, kann ich nicht brauchen. Aber natürlich gehört das Anwesen Henry, und er kann schließlich damit machen, was er will. Am besten kümmerte ich mich um meine Angelegenheiten und ließ ihn in Ruhe.

Kapitel 2

 

Ich schloss das Tor auf und ging um den Neubau herum zu Henrys Terrasse an der Rückseite des Hauses. Er stand am Zaun und hielt ein Schwätzchen mit unserem Nachbarn, während er die Terrasse sprengte. Ohne sich zu unterbrechen, blickte er flüchtig in meine Richtung, und die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Ich denke nie an ihn als einen alten Mann, obwohl er am Valentinstag in der vergangenen Woche seinen zweiundachtzigsten Geburtstag gefeiert hat. Henry ist groß und schlank, er hat ein schmales Gesicht mit intensiv blauen Augen. Sein volles weißes Haar trägt er zur Seite gekämmt, er hat noch die eigenen Zähne und sieht das ganze Jahr über sonnengebräunt aus. Er ist intelligent und warmherzig, und seine Neugier hat mit dem Alter kein bisschen nachgelassen. Früher hat er als Bäcker in einem Großbetrieb gearbeitet. Und er kann es immer noch nicht lassen, Brote und Brötchen, Kekse und Kuchen zu backen, die er in der Nachbarschaft gegen Waren und Dienstleistungen eintauscht. Seine augenblickliche Lieblingsbeschäftigung ist es, Kreuzworträtsel zu entwerfen für all die Heftchen, die man in Supermärkten vor der Kasse kaufen kann. Er ist stolz auf sein Geschick, Geld zu sparen. Zum Erntedankfest hat er zum Beispiel einen zehn Kilogramm schweren Truthahn für nur sieben Dollar ergattert, musste dann allerdings fünfzehn Leute einladen, die ihm dabei halfen, das Tier zu verzehren. Zu seinen Fehlern müsste man vermutlich seine Leichtgläubigkeit zählen und seine Neigung, immer dann passiv zu bleiben, wenn er für seine eigenen Interessen kämpfen sollte. Ich fühle mich in gewisser Weise als seine Beschützerin, was ihn sicher amüsieren würde, denn ich vermute, dass er sich umgekehrt als mein Beschützer sieht.

Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, mit ihm unter einem Dach zu wohnen. Mein Aufenthalt in seinem Haus war vorübergehend, ich würde dort nur so lange wohnen, bis mein Apartment wieder hergestellt war, also ungefähr noch einen Monat. Kleinere Schäden an seinem Haus waren schnell beseitigt worden, abgesehen von der Sonnenveranda, die zusammen mit der Garage zerstört worden war. Ich hatte einen eigenen Hausschlüssel und konnte kommen und gehen, wie es mir passte. Doch gelegentlich erfasste mich eine Art Platzangst.

Ich mag Henry. Sehr. Es gibt keinen gutmütigeren Menschen, aber ich lebe seit über acht Jahren allein und bin es nicht gewohnt, jemanden um mich zu haben. Es machte mich nervös, beinahe so, als erwarte er etwas von mir, dem ich nicht entsprechen konnte. Absurderweise hatte ich angesichts meiner Nervosität auch noch Schuldgefühle.

Als ich die Hintertür des Hauses aufschloss, stieg mir Essensgeruch in die Nase: Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten, vermutlich ein Hühnchengericht. Auf einem Metallregal lag aufgetürmt frisch gebackenes Brot. Der Küchentisch war für zwei gedeckt. Henry hatte kurzzeitig eine Freundin gehabt, die seine Küche neu eingerichtet hatte. Sie hatte die Hoffnung gehegt, bald auch über sein Erspartes verfügen zu können. Sie meinte, die Zwanzigtausend in bar würden sich auf ihrem Konto besser ausnehmen. Dank meiner Initiative wurden ihre Pläne durchkreuzt, und alles, was bis dato von ihr übrig geblieben war, waren die Küchenvorhänge aus grünbedrucktem Baumwollstoff, die mit grünen Schleifchen zurückgebunden waren, Henry benutzte die passenden Stoffservietten mittlerweile als Taschentücher. Wir sprachen nie von Lila, doch gelegentlich fragte ich mich, ob er mir im Stillen meine Einmischung in diese Romanze nicht verübelte. Gelegentlich lohnt es sich ja, um der Liebe willen einen Narren aus sich zu machen. Wenigstens weiß man dann, dass man lebt und gewisser Gefühle fähig ist, selbst wenn letztlich nur Herzbeklemmungen bleiben.

Ich ging durch die Diele und zu dem kleinen Schlafzimmer an der Rückseite des Hauses, das vorübergehend mein Reich war. Allein die Tatsache, im Haus zu sein, erfüllte mich mit einer gewissen Unruhe, und ich dachte erleichtert an den bevorstehenden Ausflug nach Floral Beach. Von draußen hörte ich ein Quietschen, als der Wasserhahn zugedreht wurde, und ich stellte mir Henry vor, wie er den Gartenschlauch aufrollte. Die Fliegengittertür klappte zu, und im nächsten Augenblick hörte ich Henrys Schaukelstuhl ächzen, das Rascheln seiner Zeitung, als er den Sportteil aufschlug, den er stets als Erstes zu lesen pflegte.

Am Fußende des Bettes lag ein kleiner Stapel sauberer Kleidungsstücke. Ich ging zur Kommode und starrte in den Spiegel. Ich sah etwas komisch aus, kein Zweifel. Mein Haar ist dunkel, ich schneide es alle sechs Wochen mit der Nagelschere. Und so sieht es auch aus ... zerrupft und dilettantisch. Vor kurzem hat jemand meinen Schopf mit dem Hinterteil eines Hundes verglichen. Ich fuhr mir mit der Hand durch das struppige Haar, aber das half auch nichts. Zwischen meinen Augenbrauen stand eine unzufriedene Falte, die ich mit dem Finger glattstrich. Braune Augen, dichte Wimpern. Meine Nase funktioniert und ist erstaunlich gerade, wenn man bedenkt, dass das Nasenbein schon zweimal gebrochen war. Ich bleckte die Zähne wie ein Schimpanse und war einigermaßen zufrieden mit dem, was ich sah. Make-up verwende ich kaum. Vermutlich könnte ich besser aussehen, wenn ich irgendetwas mit meinen Augen anstellte – mehr Wimperntusche, Augenbrauenstift, Eye-Shadow in zwei Nuancen –, aber dann müsste ich das Zeug ständig benutzen, die reine Zeitverschwendung. Ich war bei einer alleinstehenden Tante aufgewachsen, deren Kenntnisse über Schönheitspflege sich in der Anwendung von Cold Creme unter den Augen erschöpften. Man hat mir nie beigebracht, mich wie ein Mädchen zu benehmen, und so stelle ich mit meinen zweiunddreißig Jahren noch immer mein nacktes Gesicht zur Schau, frei von kosmetischen Tricks und derlei Feinheiten. Schön kann man mich zwar nicht nennen, aber mein Gesicht erfüllt seinen Zweck, indem es hilft, meine Vorder- und Rückseite deutlich voneinander zu unterscheiden. Doch meine äußere Erscheinung war keinesfalls der Grund für meine innere Unruhe. Worin also lag das Problem?

Ich ging zur Küche zurück und blieb auf der Schwelle stehen. Henry hatte sich wie jeden Abend einen Drink eingeschenkt: Black Jack mit Eis. Er warf mir einen flüchtigen Blick zu, sah mich dann plötzlich genauer an und fragte: »Stimmt was nicht?«

»Ich habe heute einen Auftrag in Floral Beach gekriegt. Ich werde vermutlich eine Woche bis zehn Tage fort sein.«

»Ist das alles? Gut. Du hast Luftveränderung nötig.« Damit wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Zeitung zu und blätterte den Lokalteil durch.

Ich blieb stehen und starrte auf seinen Hinterkopf. Ich musste an ein Gemälde von Whistler denken. Und plötzlich dämmerte es mir. »Henry, fängst du an, mich zu bemuttern?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Es ist so ein komisches Gefühl, hier zu sein.« »Inwiefern?«

»Das weiß ich nicht. Gedeckter Tisch ... und so weiter.«

»Ich esse gern. Manchmal sogar zwei-, dreimal am Tag«, erwiderte er gelassen. Er hatte das Kreuzworträtsel im unteren Teil der Witzseite entdeckt und griff nach dem Kugelschreiber.

»Du hast versprochen, niemals irgendwelche Umstände zu machen, wenn ich bei dir einziehe.«

»Ich mach keine Umstände.«

»Oh, doch.«

»Die Umstände machst du. Ich habe kein Wort gesagt.«

»Und was ist mit der Wäsche? Du hast sie ordentlich zusammengefaltet und auf das Fußende von meinem Bett gelegt.«

»Wirf sie auf den Boden, wenn sie dir dort nicht passt.«

»Komm, Henry. Ich habe gesagt, dass ich mich um die Wäsche selbst kümmere, und du warst einverstanden.«

Henry zuckte mit den Schultern. »Gut, dann bin ich also ein Lügner. Was soll ich dazu sagen?«

»Hör auf damit. Ich brauche keine Mutter.«

»Du brauchst jemand, der auf dich aufpasst. Das sage ich seit Monaten. Du vernachlässigst dich sträflich. Du isst nicht richtig. Lässt dich zusammenschlagen. Deine Wohnung fliegt in die Luft. Ich hab dir geraten, dir einen Hund zu halten, aber du hörst nicht. Und jetzt hast du mich, und wenn du mich fragst, du hast’s nicht besser verdient.«

Wie merkwürdig! Ich fühlte mich wie eines jener Küken, das sich zu einer Katzenmutter verirrt hatte. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich fünf Jahre alt war. Weil ich keine richtige Familie hatte, hatte ich mich darauf eingestellt, alleine zurechtzukommen. Dieser Mann war zweiundachtzig. Wer konnte vorhersagen, wie lange er noch lebte? Vermutlich würde er genau dann sterben, wenn ich mich gerade an seine Fürsorge gewöhnt hatte.

»Ich brauche weder Vater noch Mutter. Ich brauche dich als Freund.«

»Ich bin ein Freund.«

»Dann hör endlich mit diesem Unsinn auf. Es macht mich verrückt.«

Henry lächelte nachsichtig, als er auf die Uhr sah. »Du hast vor dem Essen gerade noch Zeit zu joggen, wenn du jetzt aufhörst, hier herumzumaulen.«

Das brachte mich zur Vernunft. Ich hatte tatsächlich gehofft, vor Einbruch der Dunkelheit noch laufen zu können. Mittlerweile war es bereits halb fünf, und ein Blick aus dem Küchenfenster sagte mir, dass nicht mehr allzu viel Zeit blieb. Ich hörte auf, herumzunörgeln, und zog meine Joggingsachen an.

Am Strand herrschte eine seltsame Stimmung. Sturmwolken hatten den Horizont sepiabraun gefärbt. Das stumpfe Ocker der Berge bildete einen merkwürdigen Kontrast, und der Himmel war von einem giftigen Orangerot überzogen. Es sah aus, als brenne Los Angeles lichterloh hinter einem Zauberdampf aus kupferfarbenem Rauch, der an den Rändern in dunkelbraune Tönungen überging. Ich lief den Fahrradweg entlang, der den Sandstrand säumte.

Die Küstenlinie von Santa Teresa verläuft in westliche und in östliche Richtung. Auf der Landkarte sieht es aus, als ob die zerklüftete Küste eine plötzliche Linksbiegung macht und eine kurze Strecke ins Meer hinausführt, bevor die Strömung sie zur Umkehr zwingt. Die Inseln waren im Hintergrund als Silhouetten sichtbar, und auf der dazwischenliegenden Wasserstraße glitzerten die Lichter der Bohrtürme, die hier zahlreich aus dem Meer ragten. Es ist traurig, aber wahr, dass Öltürme mittlerweile eine seltsame eigene Ästhetik entwickelt haben und ihr Anblick für uns so selbstverständlich geworden ist wie die Tatsache von Satelliten in der Erdumlaufbahn.

Nach etwa zwei Kilometern kehrte ich um. Die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet. Es wurde allmählich empfindlich kalt, die Luft roch nach Salz, die Brandung donnerte gegen den Strand. Hinter der Brandungszone lagen Boote vor Anker; der Yachthafen des armen Mannes. Der Verkehr auf der Straße war ein Trost, denn die Autoscheinwerfer beleuchteten den Grasstreifen zwischen Bürgersteig und Fahrradweg. Ich versuche, täglich zu joggen, nicht aus Passion, sondern weil meine Kondition mir mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Zusätzlich machte ich dreimal wöchentlich Hanteltraining, was ich jedoch wegen gewisser Verletzungen vorübergehend hatte unterbrechen müssen.

Als ich nach Hause zurückkam, hatte sich meine Stimmung gebessert. Wenn man außer Atem ist, halten sich weder Angst noch Depressionen. Mit der Anstrengung und dem Schweiß stellt sich Optimismus ein. Wir aßen in freundschaftlicher Atmosphäre zu Abend, und anschließend ging ich in mein Zimmer, um meine Reisetasche für Floral Beach zu packen. Über meinen neuen Fall hatte ich mir noch keine weiteren Gedanken gemacht. Ich nahm mir die Minute Zeit, um eine Akte anzulegen und sie mit Bailey Fowlers Namen zu beschriften. Dann blätterte ich die Zeitungen durch, die im Abstellraum lagerten, und schnitt jenen Teil heraus, in dem über Fowlers Verhaftung berichtet wurde.

Dem Artikel konnte ich entnehmen, dass Bailey Fowler gerade wegen bewaffneten Raubüberfalls verurteilt worden war - die Strafe war zur Bewährung ausgesetzt worden -, als seine siebzehnjährige Freundin erwürgt aufgefunden wurde. Einwohner des Ferienortes hatten ausgesagt, dass der damals dreiundzwanzigjährige Fowler seit Jahren immer wieder mit der Drogenszene zu tun gehabt hatte, und man vermutete, dass er das Mädchen umgebracht habe, weil es sich angeblich mit einem seiner Freunde eingelassen hatte. Mit seinem Schuldbekenntnis hatte Bailey sich sechs Jahre Haft im Staatsgefängnis eingehandelt. Er hatte noch nicht ganz ein Jahr seiner Strafe verbüßt, als ihm die Flucht gelang. Er verließ Kalifornien und nahm den falschen Namen Peter Lambert an. Nach etlichen Jobs als Verkäufer trat er in eine Konfektionsfirma mit Filialen in Arizona, Colorado, Neu-Mexiko und Kalifornien ein. 1979 wurde er Leiter der Unternehmensgruppe im Westen und zog nach Los Angeles, wo er seither gelebt hatte. Die Zeitung berichtete, dass seine Kollegen es kaum fassen konnten, dass er je mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Sie beschrieben ihn als hart arbeitenden, fähigen, offenen und redegewandten Mann, der sich aktiv an Kirchen- und Gemeindearbeit beteiligte.

Das Schwarzweißfoto von Bailey Fowler zeigte einen etwa vierzigjährigen Mann, der ungläubig in die Kamera starrte. Er hatte ausdrucksvolle Züge, eine feinere Version seines Vaters mit derselben energischen Kinnpartie. Daneben war das verkleinerte Polizeifoto zu sehen, das vor siebzehn Jahren bei seiner Verurteilung wegen des Mordes an Jean Timberlake aufgenommen worden war. Schon damals war er ein hübscher Junge gewesen, und er sah auch jetzt noch gut aus.

Seltsam, dachte ich, dass man einen neuen Menschen aus sich machen konnte, indem man sich einfach eine neue Identität zulegte. Ich fragte mich allerdings, ob die Verbüßung der gesamten Haftstrafe eine ebenso läuternde Wirkung auf Bailey Fowler gehabt hätte wie der tägliche Lebenskampf. Von Familie war nirgends die Rede, sodass ich davon ausgehen konnte, dass Bailey Fowler unverheiratet geblieben war. Vorausgesetzt Baileys neuer Anwalt erwies sich nicht als ein besonders gerissener Jurist, musste er nicht nur die verbleibenden Jahre seiner ursprünglichen Strafe, sondern zusätzliche sechzehn Monate bis zwei Jahre wegen seiner Flucht verbüßen. Bei seiner Entlassung wäre er dann siebenundvierzig Jahre alt. Es war anzunehmen, dass er diese kostbaren Jahre nicht kampflos hergeben würde.

In der Zeitung vom Tage fand ich einen Folgeartikel, den ich ebenfalls ausschnitt, mit einem Foto des ermordeten Mädchens aus dem Jahrbuch der Highschool. Sie war zu jenem Zeitpunkt in der Abschlussklasse gewesen. Ihr dunkles Haar umrahmte vorteilhaft ihr Gesicht und fiel vom Mittelscheitel in einer sanften Welle in den Nacken. Sie hatte helle Augen und dichte, schwarze Wimpern, einen großen, sinnlichen Mund. Die Andeutung eines Lächelns schien zu sagen, sie wisse mehr, als der Betrachter ahnte.

Ich legte die Zeitungsausschnitte in die Akte und diese in das Außenfach meiner Reisetasche. Auf dem Weg aus der Stadt wollte ich noch meine Reiseschreibmaschine aus dem Büro holen.

Am darauffolgenden Morgen war ich bereits um neun Uhr unterwegs und fuhr die Passstraße über die San Rafael Mountains hinauf. An der höchsten Stelle des zweispurigen Highways warf ich einen Blick nach rechts und war wie immer fasziniert von der sich endlos fortsetzenden Hügelkette, die hier, unterbrochen von schroffem Fels, nordwärts führt. Der Fels verleiht der kargen Landschaft seine typische verwaschen graublaue Tönung. Das Land hatte sich hier gehoben, sodass die Schiefer- und Sandsteinkämme wie ein Grat herausragen, den man die Transverse Ranges nennt. Geologen ziehen daraus den Schluss, dass sich Kalifornien westlich der Sankt-Andreas-Spalte in den vergangenen dreißig Millionen Jahren ungefähr fünfhundert Kilometer weit nördlich entlang der Pazifikküste vorgeschoben hat. Die Pazifische Platte reibt sich noch immer am Kontinent und beschert den Küstenregionen ein Erdbeben nach dem anderen. Die Tatsache, dass wir im täglichen Einerlei kaum einen Gedanken an diese Vorgänge verschwenden, ist entweder Beweis für unsere moralische Stärke oder purer Wahnsinn. Die einzigen Erdbeben allerdings, die ich je erlebt habe, waren Erschütterungen, die das Geschirr auf dem Regal klirren ließen oder die Kleiderbügel im Schrank zu einem lustigen Klangkonzert veranlassten. Das ist nicht beängstigender, als morgens von jemandem geweckt zu werden, der zu höflich ist, deinen Namen zu rufen. Die Bewohner von San Francisco, Coalinga und Los Angeles können gewiss andere Geschichten erzählen, aber in Santa Teresa (vom großen Beben im Jahr 1925 abgesehen) haben wir schwache, freundliche Erdbeben, die kaum mehr anrichten, als das Wasser in unseren Swimmingpools überschwappen zu lassen.

Die Straße führte in sanfter Neigung ins Tal hinab und kreuzte nach gut zehn Kilometern den Highway 101. Gegen halb elf nahm ich die Ausfahrt nach Floral Beach und fuhr in westlicher Richtung durch eine liebliche grüne Hügellandschaft dem Meer entgegen. Ich konnte den Pazifik riechen, lange bevor ich ihn sah. Schreiende Möwen kündigten ihn an, und doch war ich wieder einmal überrascht vom Anblick dieser weiten, glatten blauen Fläche. Schließlich bog ich nach links auf die Hauptstraße von Floral Beach ein. Rechts lag die Küste. Schon auf eine Entfernung von drei Blocks war das Motel sichtbar, das einzige dreistöckige Gebäude an der Ocean Street. Ich stellte den Wagen auf dem Kurzzeitparkplatz vor dem Empfang ab, nahm meine Reisetasche und ging hinein.

Kapitel 3

 

Das Empfangsbüro war klein, und die Theke versperrte den Zugang zu einem Trakt, in dem ich die Privatwohnung der Fowlers vermutete. Beim Übertreten der Schwelle hatte ich ein leises Klingelzeichen ausgelöst.

»Komme sofort!«, rief jemand aus dem Hintergrund. Die Stimme klang nach Ann.

Ich trat an die Theke und sah nach rechts. Durch eine geöffnete Tür erkannte ich flüchtig ein Krankenhausbett. Ich hörte Stimmengemurmel, aber niemand war zu sehen. Schließlich hörte ich gedämpft das Rauschen einer Toilettenspülung und das laute Knacken von Abflussrohren. Im nächsten Augenblick erfüllte der widerlich süßliche Geruch von Raumspray die Luft. Nichts Natürliches hat je so gerochen.

Es vergingen mehrere Minuten. Eine Sitzgelegenheit war nirgends verfügbar, sodass ich stehen blieb, wo ich war, und mich in dem kleinen Raum umsah. Goldbrauner Teppichboden, die Wände waren mit wild gemasertem Kiefernholz verkleidet. Ein Bild mit Birken in leuchtend oranger und gelber Herbstfärbung hing über einem Couchtisch aus Ahorn, auf dem ein Stapel Prospekte über Floral Beach und Umgebung auslag. Ich blätterte die Prospekte durch und griff schließlich nach dem Werbeblatt eines Thermalhotels, der Eucalyptus Mineral Hot Springs, an dem ich auf der Herfahrt vorbeigekommen war. Der Werbetext versprach Moor- und Thermalbäder zu »vernünftigen Preisen«, was immer das heißen mochte.

»Jean Timberlake hat nachmittags nach der Schule dort gejobbt«, sagte Ann hinter mir. Sie stand im Türrahmen, in einer blauen Hose mit weißer Seidenbluse, und machte einen gelösteren Eindruck als in Gegenwart ihres Vaters. Ihre Haare waren frisch gewaschen und fielen in weichen Wellen auf die Schultern, was den Blick von ihrem leicht fliehenden Kinn ablenkte.

Ich legte den Prospekt zurück. »Und was hat sie dort gemacht?«

»Ausgeholfen. Als Zimmermädchen. Für uns hat sie auch ein paar Tage pro Woche gearbeitet. «

»Sie haben sie gut gekannt?«

»Gut genug«, antwortete Ann. »Sie war mit Bailey befreundet, seit er zwanzig geworden war. Sie kam damals gerade in die Highschool.« In Anns rehbraune Augen trat ein abwesender Ausdruck.

»Dann war sie wohl ein bisschen jung für ihn, oder?«

Ann lächelte flüchtig. »Vierzehn.« Jeder weitere Kommentar wurde von einer Stimme aus dem Hintergrund abgeschnitten.

»Ann, ist da jemand? Du wolltest doch gleich wiederkommen. Was gibt’s denn?«

»Sie möchten sicher Mutter kennen lernen«, murmelte Ann, und ihr Ton verriet Skepsis. Sie öffnete die Klapptür in der Theke für mich.

»Wie geht es Ihrem Vater?«

»Nicht gut. Gestern war ein harter Tag für ihn. Heute Morgen ist er ein paar Stunden auf gewesen, aber er wird schnell müde. Ich habe ihm geraten, sich wieder hinzulegen.«

»Sie haben wirklich alle Hände voll zu tun.«

Ann warf mir einen gequälten Blick zu. »Ich musste Urlaub nehmen.«

»Was machen Sie denn normalerweise?«

»Ich bin Psychologin an der Highschool. Aber wer weiß, wann ich an meinen Arbeitsplatz zurückkehren kann.«

Ich ließ sie ins Wohnzimmer vorausgehen, wo Mrs. Fowler mittlerweile von vielen Kissen gestützt aufrecht in ihrem Krankenhausbett saß. Sie war eine grauhaarige korpulente Frau, deren dunkle Augen hinter dicken Brillengläsern in plumpem Plastikgestell unnatürlich groß wirkten. Sie trug ein weißes Krankenhaushemd, das im Rücken geschlossen wurde. Der Halsausschnitt war einfach und ließ die Aufschrift »San Luis Obispo Country Hospital« in Blockschrift erkennen. Ich fand es seltsam, dass sie diesen Aufzug einem eigenen Nachthemd mit Bettjäckchen vorzog. Möglicherweise benutzte sie ihre Krankheit als Druckmittel. Ihre Beine lagen auf der Bettdecke wie Fleischklumpen mit Fettschicht. Die dicken Füße waren nackt und ihre Zehen grau.

Ich trat ans Bett und streckte ihr die Hand entgegen. »Hallo, wie geht es Ihnen? Ich bin Kinsey Millhone«, begann ich. Wir schüttelten uns die Hand. Ihre Finger waren kalt und fühlten sich gummiartig an wie gekochte Rigatoni. »Ihr Mann hat schon angedeutet, dass es Ihnen nicht gut geht«, fuhr ich fort.

Sie hob das Taschentuch vor den Mund und brach prompt in Tränen aus. »O Kenny, entschuldigen Sie. Ich kann nicht anders. Seit Bailey wieder aufgetaucht ist, bin ich völlig durcheinander. Wir hatten ihn für tot gehalten, und jetzt lebt er! Seit Jahren bin ich krank, aber das hat mir den Rest gegeben.«

»Ich verstehe, wie Ihnen zu Mute sein muss. Aber ich heiße Kinsey.«

»Sie heißen wie?«

»Mein Vorname ist Kinsey. Man hat mich nach meiner Mutter benannt. Ich dachte, Sie hätten mich falsch verstanden und vorhin ›Kenny‹ gesagt.«

»Ach herrje! Entschuldigen Sie. Ich bin fast taub, und meine Augen sind auch miserabel. Ann, Liebes, hol doch einen Stuhl. Was sind das für Manieren?« Damit griff sie nach einem Papiertaschentuch und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Halb so schlimm«, wehrte ich ab. »Ich habe die ganze Fahrt von Santa Teresa hierher im Auto gesessen und stehe ganz gern ein bisschen.«

»Kinsey ist die Privatdetektivin, die Pop gestern engagiert hat.«

»Weiß ich«, entgegnete Mrs. Fowler. Dann begann sie an ihrer Baumwolldecke herumzuzupfen, als machten Themen sie nervös, die sie nichts angingen. »Eigentlich hatte ich gehofft, mittlerweile angezogen und zurechtgemacht zu sein, aber Ann hatte angeblich so viel zu tun. Ich nehme sie ja nur ungern mehr als unbedingt nötig in Anspruch, aber seit meine Arthritis so schlimm geworden ist, kann ich manches einfach nicht mehr alleine. Sehen Sie nur meinen Aufzug an! Ich bin übrigens Ori. Das ist die Kurzform von Oribelle. Sie finden sicher, dass ich unmöglich aussehe.«

»Überhaupt nicht.« Lügen gehen mir leicht über die Lippen. Und auf eine mehr oder weniger kam es nicht an.

»Ich bin Diabetikerin«, fuhr Oribelle fort, als hätte ich sie danach gefragt. »Schon ein Leben lang, und das hat natürlich seinen Tribut gefordert. Durchblutungsstörungen in Armen und Beinen, eine Nierenschwäche, geschwollene Füße und jetzt auch noch Arthritis.« Sie hielt mir zum Beweis eine Hand hin. Ich erwartete die geschwollenen Knöchel eines Preisboxers zu sehen, konnte jedoch zu meinem Erstaunen keine Missbildungen erkennen.

»Ein hartes Schicksal«, murmelte ich.

»Trotzdem will ich mich nicht beklagen«, sagte Oribelle. »Wenn ich was nicht ausstehen kann, dann Menschen, die mit ihrem Schicksal nicht fertig werden.«

»Mutter, wolltest du vorhin nicht eine Tasse Tee?«, warf Ann ein. »Was ist mit Ihnen, Kinsey? Auch eine Tasse?«

»Nein, danke. Für mich nicht.«

»Für mich auch nicht, Liebes. Ich habe keine Lust mehr auf Tee. Aber mach dir ruhig eine Tasse, Ann.«

»Ich setze Wasser auf.«

Damit entschuldigte sich Ann und verließ das Zimmer. Ich stand da und wünschte, es ihr gleichtun zu können. Was ich von der Wohnung sah, wirkte wie das Empfangsbüro: goldbrauner Teppichboden, Möbel im Stil der Kolonialzeit. Gegenüber dem Fußende des Bettes ein Jesusbild an der Wand. Jesus mit ausgestreckten Händen und nach oben gewandtem Blick ... vermutlich war Oris Geschmack Ursache seines schmerzlichen Ausdrucks. Sie fing meinen Blick auf.

»Das Bild hat Bailey mir geschenkt. So war der Junge eben.«

»Sehr hübsch«, erklärte ich und benutzte die Gelegenheit, Ori auszufragen. »Wie ist er nur in diese Mordsache verwickelt worden?«

»Das war nicht seine Schuld. Er ist in schlechte Gesellschaft geraten. Er war kein guter Schüler in der Highschool, und hinterher konnte er keinen Job finden. Dann hat er Tap Granger kennen gelernt. Mir ist dieser Kerl von Anfang an zuwider gewesen. Die beiden waren unzertrennlich und haben dauernd was angestellt. Royce hat getobt!«

»War Bailey damals schon mit Jean Timberlake befreundet?«

»Ich glaube schon«, antwortete sie unsicher. Nach so langer Zeit schien sie sich nicht mehr genau erinnern zu können. »Jean war ein liebes Mädchen ... was immer auch über ihre Mutter geredet wurde.«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon auf dem Nachttisch, und sie griff nach dem Hörer. »Motel«, meldete sie sich. »Hm, richtig. Diesen oder nächsten Monat. Augenblick, ich sehe mal nach.« Sie zog das Buch für die Hotelreservierungen zu sich heran und einen Bleistift zwischen den Seiten hervor. Ich beobachtete, wie sie den Monat Mai aufschlug. Oris Ton klang plötzlich ganz professionell. Die jammernde Krankenstimme war wie ausgewechselt. Sie leckte die Bleistiftspitze an und machte sich Notizen und redete über Vor- und Nachteile von Doppelbetten und getrennten Betten.

Ich nutzte die Gelegenheit und machte mich auf die Suche nach Ann. Eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes führte auf einen Korridor, von dem rechts und links die Zimmer abgingen. Zu meiner Rechten am Ende des Flurs gab es eine Treppe. Links hörte ich Wasser rauschen. In der Küche wurde offenbar ein Teekessel aufgesetzt. Anscheinend hatte man einfach die Wände zwischen einigen Zimmern herausgerissen und dadurch einen geräumigen, aber verwinkelten und unübersichtlichen Wohntrakt erhalten. Ich warf einen Blick in den Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors. Er entpuppte sich als Esszimmer mit Bad. Den Durchgang zur Küche bildete ein Alkoven, der ursprünglich wohl als Garderobe vorgesehen war. Ich blieb auf der Schwelle stehen. Ann stellte Tassen und Unterteller auf ein großes Hoteltablett aus Aluminium.

»Kann ich helfen?«

Ann schüttelte den Kopf. »Sehen Sie sich ruhig ein wenig um, wenn Sie möchten. Daddy hat das Haus praktisch mit eigenen Händen gebaut, nachdem er Mutter geheiratet hatte.«

»Hübsch«, sagte ich.

»Nicht mehr, aber damals war es für sie wohl ideal. Haben Sie schon einen Zimmerschlüssel gekriegt? Sie wollen sicher Ihr Gepäck nach oben bringen. Ich glaube, Mutter hat die Nummer zweiundzwanzig im ersten Stock für Sie vorgesehen. Das Zimmer hat Meerblick und eine Kochnische.«

»Danke. Das wäre großartig. Ich bringe meine Sachen dann gleich rauf. Ich hoffe, noch heute Nachmittag mit dem Anwalt sprechen zu können.«

»Ich glaube, Pop hat um Viertel vor zwei einen Termin für Sie bei ihm vereinbart. Er wird mitkommen wollen, vorausgesetzt, er fühlt sich danach. Mein Vater lässt sich das Heft nicht gern aus der Hand nehmen. Ich hoffe, das geht in Ordnung.«

»Nein, das finde ich gar nicht in Ordnung. Ich mache das lieber allein. Was Bailey betrifft, sind Ihre Eltern voreingenommen, und ich mache mir gern selbst ein Bild von der Angelegenheit.«

»Gut. Das verstehe ich. Ich versuche, ihm das auszureden.« Das Wasser im Teekessel begann zu kochen. Ann nahm Teebeutel aus einer rot-weißen Büchse auf der Anrichte. Die Küche war altmodisch, mit einem Linoleumfußboden, beige-grün gewürfelt wie eine Luftansicht von abgemähten Wiesen und Luzernenfeldern. Der Gasherd war weiß und chromverziert, die unbenutzten Flammen durch zurückklappbare Platten geschützt. Das schmale Spülbecken aus weißer Keramik wurde von zwei stabilen Füßen getragen. Der kleine Eisschrank mit abgerundeten Ecken und einer vom Alter gelblich verfärbten Emailschicht hatte vermutlich ein Gefrierfach von der Größe einer Brotbüchse.