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In ihrem fünfzehnten Fall wird die cleverste Privatermittlerin Amerikas von der Vergangenheit eingeholt … Jeder Mensch macht Fehler – auch Kinsey Millhone. Die Ehe mit ihrem ersten Mann Mickey war die vielleicht größte Dummheit der Privatdetektivin. Als sie unter den Gegenständen aus einem versteigerten Lager einen nie zugestellten Brief findet, muss sie ihre Vergangenheit infrage stellen: Denn Mickey war vielleicht unschuldig an dem Verbrechen, das ihre Ehe zerstörte … Kinseys Nachforschungen führen sie tief in die Schatten der Siebziger – zu korrupten Cops, alten Kriegstraumata und einem Mordfall, der nie richtig aufgeklärt wurde. Als ihr Ex-Mann dann noch mit Kinseys Waffe angeschossen wird, steht sie plötzlich selbst unter Verdacht. Um ihren Namen reinzuwaschen, muss sie die Wahrheit ans Licht bringen – und dabei alles riskieren … »Kinsey Millhones bislang spannendstes Abenteuer.« Booklist Der fünfzehnte Band einer der erfolgreichsten Krimiserien überhaupt, der unabhängig gelesen werden kann – ein fesselnder Ermittlerkrimi für Fans von Patricia Cornwell und Michael Connelly. »Endlich bekommen wir einen Einblick in Kinseys Vergangenheit und verstehen, warum sie sich Männern gegenüber so verhält, wie sie es tut.« – Amazon-Leser
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Seitenzahl: 543
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jeder Mensch macht Fehler – auch Kinsey Millhone. Die Ehe mit ihrem ersten Mann Mickey war die vielleicht größte Dummheit der Privatdetektivin. Als sie unter den Gegenständen aus einem versteigerten Lager einen nie zugestellten Brief findet, muss sie ihre Vergangenheit infrage stellen: Denn Mickey war vielleicht unschuldig an dem Verbrechen, das ihre Ehe zerstörte … Kinseys Nachforschungen führen sie tief in die Schatten der Siebziger – zu korrupten Cops, alten Kriegstraumata und einem Mordfall, der nie richtig aufgeklärt wurde. Als ihr Ex-Mann dann noch mit Kinseys Waffe angeschossen wird, steht sie plötzlich selbst unter Verdacht. Um ihren Namen reinzuwaschen, muss sie die Wahrheit ans Licht bringen – und dabei alles riskieren …
eBook-Neuausgabe November 2025
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »›O Is for Outlaw« bei Henry Holt, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Gefährliche Briefe (O wie Opfer)« im Goldmann Verlag.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1999 by Sue Grafton
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Svetolk, Constantin Seltea und AdobeStock/Mark Hannah
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)
ISBN 978-3-69076-398-1
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Sue Grafton
Kriminalroman – Ein Fall für Kinsey Millhone 15
Aus dem Amerikanischen von Ariane Böckler
dotbooks.
Für meine kleine Enkelin Kinsey mit einem Herzen voller Liebe
Liebe Leserin, lieber Leser,
eine kleine Anmerkung, um den Zeitrahmen dieser »Alphabet-Krimis« zu definieren. Falls Sie mitunter vermutet haben, mir seien Fehler bei der Berechnung von Altersangaben und Daten unterlaufen, sollten Sie wissen, dass A is for Alibi: Nichts zu verlieren im Mai 1982 spielt, B is for Burglar: In aller Stille im Juni 1982, C is for Corpse: Abgrundtief im August 1982 und so weiter. Da die Bücher in chronologischer Reihenfolge stehen, verläuft Kinsey Millhones Leben wesentlich langsamer als das unsere. Infolgedessen sitzt Ms. Millhone in einer Zeitschleife fest. Ohne eigenes Verschulden lebt und arbeitet sie momentan im Jahr 1986 und hat daher weder Zugang zu Handys, dem Internet oder bestimmten Hightech-Geräten, die Privatdetektive heutzutage einsetzen, wenn sie nach Vermissten suchen, Hintergrundinformationen ermitteln und Finanzdaten sammeln. Sie verlässt sich stattdessen auf Hartnäckigkeit, Fantasie und Einfallsreichtum; das Handwerkszeug des althergebrachten Schnüfflers in der Tradition der hartgesottenen Detektive. Vielleicht kommt eines Tages der Moment, an dem ich einen Knick in die erzählte Zeit mache und ihr erlaube, sang- und klanglos in die Gegenwart zu springen, zu hüpfen und zu hopsen, ohne sie dabei dem normalen Alterungsprozess zu unterwerfen.
Zunächst möchte ich jedoch als ihre Biografin Themen des Tagesgeschehens oder die Erwähnung von Ereignissen vermeiden, die auf bestimmte Daten festgelegt sind. Sie werden – wenn überhaupt – nur wenige Hinweise auf gerade »angesagte« Musik, Filme, Trends, Moden oder aktuelle Geschehnisse finden. Dieses Buch ist insofern eine Ausnahme, als es Bezug auf den Vietnamkrieg und Vorgänge nimmt, die einige Jahre vor den hier beschriebenen Begebenheiten liegen. Da es die Geschichte erfordert, bevölkere ich historische Episoden mit verschiedenen erfundenen Figuren. Auch projiziere ich bestimmte fiktive Personen in akademische Institutionen und politische Umfelder, in denen ihre Existenz von ihren »echten« Gegenstücken sicherlich abgestritten werden würde. In meinen Augen ist das Gute an erfundenen Geschichten, dass Tatsachen ausgeschmückt werden und die Realität verschönert wird. Und davon abgesehen – wie mein Vater zu sagen pflegte: »Ich weiß, dass es alles wahr ist, weil ich es selbst erfunden habe.«
Sue Grafton
Wie die meisten Anwälte bestätigen werden, bedeutet der lateinische Ausdruck pro bono grob übersetzt für Blödmänner und bezeichnet Arbeit, die man gratis macht. Nicht dass ich Juristin wäre, aber normalerweise bin ich so schlau, meine Dienste nicht zu verschenken. In diesem Fall lag mein Klient im Koma, was es knifflig machte, eine Rechnung zu stellen. Natürlich könnte man die Situation auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Hin und wieder taucht ein Element aus einer alten Geschichte auf, ein Punkt auf der Tagesordnung des Lebens, den man schon vor Jahren für abgehandelt hielt. Auf einmal steht er wieder ganz oben auf dem Blatt und ringt um Aufmerksamkeit, obwohl man ganz und gar nicht darauf vorbereitet ist.
Zuerst kam ein Anruf von einem Fremden, und dann tauchte ein Brief auf, der vierzehn Jahre zuvor abgeschickt worden war. So erfuhr ich, dass ich ein krasses Fehlurteil gefällt hatte. Beim Versuch, es wieder gutzumachen, setzte ich schließlich mein Leben aufs Spiel.
Ich hatte gerade einen großen Auftrag beendet und war nicht nur erschöpft, sondern besaß auch ein dickes Bankkonto, und so war ich nicht dazu aufgelegt, zusätzliche Arbeit anzunehmen. Ich hatte mir ein bisschen Urlaub ausgemalt, vielleicht eine Reise irgendwohin, wo es billig war, wo ich in der Sonne faulenzen und den neuen Krimi von Elmore Leonard lesen konnte, während ich einen Rum-Cocktail mit einem Papierschirmchen in einem Stück Obst schlürfte. Das war ungefähr der Horizont, bis zu dem sich meine Fantasien erstreckten.
Der Anruf kam um acht Uhr morgens am Montag, den 19. Mai, während ich im Fitnessstudio war. Ich hatte wieder mit Krafttraining angefangen: Montag, Mittwoch und Freitagmorgen nach meinem Sechs-Uhr-Lauf. Ich weiß nicht, wo nach zweijähriger Unterbrechung die Motivation herkam, aber vermutlich hing es mit Gedanken an die Sterblichkeit zusammen, in erster Linie meine eigene. Im Frühling hatte ich eine langwierige Verletzung meiner rechten Hand erlitten, da mir ein Typ zwei Finger ausgerenkt hatte, um mich von seinem Standpunkt zu überzeugen. Ich war zuvor schon einmal verletzt worden, als eine Kugel meinen rechten Arm traf, und in beiden Fällen war es mein Impuls gewesen, mich auf die Kraftmaschinen zu stürzen. Damit Sie jetzt nicht glauben, ich sei Masochistin oder neigte zu Unfällen, sollte ich erklären, dass ich mein Geld als Privatdetektivin verdiene. In Wirklichkeit tragen normale Detektive keine Schusswaffe bei sich, werden nur selten verfolgt und erleiden auch kaum je eine Verletzung, die gravierender wäre als ein Schnitt an einem Blatt Papier. Mein eigenes Berufsleben ist ähnlich langweilig wie das aller anderen Leute. Ich berichte nur um der geistigen Erhellung willen von den Ausnahmen. Die Ereignisse zu verarbeiten hilft mir dabei, einen klaren Kopf zu bewahren.
Diejenigen unter Ihnen, die mit meinen persönlichen Daten bereits vertraut sind, können diesen Absatz überspringen. Für die noch Uneingeweihten: Ich bin weiblich, 36 Jahre alt, zwei Mal geschieden und lebe in Santa Teresa, Kalifornien, 150 Kilometer nördlich von Los Angeles. Zur Zeit habe ich ein kleines Büro in den Räumen der Anwaltskanzlei Kingman und Ives. Lonnie Kingman ist mein Anwalt, wenn sich die Gelegenheit ergibt, und die Verbindung zu seiner Firma erschien mir sinnvoll, als ich ein Büro suchte. Ich war zur Nomadin geworden, nachdem man mich kalt lächelnd in hohem Bogen aus meinem letzten Job geworfen hatte – ich betrieb Ermittlungen für die California Fidelity Insurance bei Versicherungsfällen infolge von Brandstiftung und fahrlässiger Tötung. Mittlerweile bin ich seit zwei Jahren bei Lonnie, aber es liegt mir nicht unbedingt fern, kleinliche Rachegelüste gegen die CFI zu hegen.
Im Lauf der Monate, seit ich wieder mit Gewichten trainierte, hatte sich mein Muskeltonus verbessert, und ich hatte an Kraft zugelegt. An diesem speziellen Morgen arbeitete ich mich durch die gewohnten Körperteile: jeweils zwei Runden à fünfzehn Wiederholungen Beinstrecken, Beincurlen, Bauchcrunches, Rückenbeugen, Zugstange, Bankdrücken und Butterfly sowie Schulterdrücken und verschiedene Übungen für Bizeps und Trizeps. Dadurch gestärkt und euphorisch, betrat ich mit dem gewohnten Blick auf den Anrufbeantworter wieder meine Wohnung. Das Lämpchen blinkte, ich ließ meine Sporttasche auf den Boden fallen, warf die Schlüssel auf den Tisch und drückte den Abspielknopf, während ich mit der anderen Hand nach Block und Stift angelte, falls ich mir etwas notieren musste. Wenn ich nicht im Büro bin, lasse ich von Lonnies Auftragsdienst alle Anrufe in meine Wohnung umleiten. So kann ich im Notfall den ganzen Tag im Bett liegen und mit der Außenwelt verhandeln, ohne mich anzuziehen.
Die Stimme war männlich, etwas rau, und die Nachricht lautete folgendermaßen: »Miss Millhone, hier is Teddy Rich. Ich rufe aus Olvidado wegen was an, das Sie interessieren könnte. Es is jetz acht Uhr morgens. Montag. Hoffentlich nich zu früh. Rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit haben. Danke.« Er nannte eine Telefonnummer mit der Vorwahl 805, und ich schrieb sie pflichtbewusst auf. Es war erst acht Uhr dreiundzwanzig, also hatte ich ihn nur knapp verpasst. Olvidado ist eine Stadt mit 157 000 Einwohnern, knapp fünfzig Kilometer südlich von Santa Teresa am Highway 101. Grundsätzlich interessiert an Dingen, die mich »interessieren« könnten, wählte ich die Nummer, die er angegeben hatte. Das Klingeln hielt so lange an, dass ich schon damit rechnete, sein Anrufbeantworter würde sich einschalten, doch schließlich meldete sich Mr. Rich persönlich. Ich erkannte ihn an seiner markanten Stimme.
»Hi, Mr. Rich. Hier ist Kinsey Millhone aus Santa Teresa. Sie hatten bei mir angerufen.«
»Hey, Miss Millhone. Schön, von Ihnen zu hören. Wie geht’s?«
»Gut. Und Ihnen?«
»Bestens. Danke der Nachfrage und danke, dass Sie so schnell zurückrufen. Das weiß ich zu schätzen.«
»Klar, kein Problem. Was kann ich für Sie tun?«
»Tja, ich hoffe eher, dass ich etwas für Sie tun kann«, erwiderte er. »Ich bin Händler für Altwaren aus Lagerbeständen. Sagt Ihnen das etwas?«
»Leider nein.« Ich zog mir einen Stuhl heraus und setzte mich, da mir klar war, dass Ted Rich sich für seine Erklärung viel Zeit nehmen würde. Ich hatte ihn bereits als Vertreter oder aggressiven Telefonverkäufer eingeordnet, jemanden, der bis über beide Ohren in seine eigenen unbedeutenden Reize verliebt ist. Ich wollte nicht haben, was er verkaufte, aber ich beschloss, ihn wenigstens bis zum Ende anzuhören. Die Branche des Altwarenhandels aus Lagerbeständen war mir neu, und ich gab ihm Punkte für Originalität.
Er sagte: »Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen. Ich biete schlicht und einfach für den Inhalt von Selbstbedienungslagern, wenn die monatliche Gebühr überfällig ist.«
»Ich wusste nicht, dass man das bei säumigen Zahlern so handhabt. Klingt aber vernünftig.« Ich holte das Handtuch aus meiner Sporttasche und frottierte mir damit den Kopf. Meine Haare waren vom Training noch feucht, und mir wurde zusehends kälter. Ich sehnte mich danach, mich unter die Dusche zu stellen, bevor meine Muskeln steif wurden.
»Ist es auch. Wenn die Lagereinheit von ihrem Eigentümer länger als sechzig Tage ignoriert wird, wandert der Inhalt zur Versteigerung. Wie soll die Firma sonst ihre Verluste abdecken? Leute wie ich kommen hin, bieten blind auf den Inhalt und zahlen dann Beträge zwischen 200 und 1.500 Dollar, immer in der Hoffnung auf einen Knüller.«
»Wie zum Beispiel was?« Ich fasste nach unten, band meine Sauconys auf und streifte sie von den Füßen. Meine Sportsocken rochen grauenhaft, dabei trug ich sie doch erst seit einer Woche.
»Tja, meistens kriegt man Mist, aber hin und wieder hat man Glück und stößt auf etwas Gutes. Werkzeug, Möbel; Sachen, die man in bare Münze verwandeln kann. Jetzt sind Sie sicher neugierig, was das mit Ihnen zu tun hat.«
»Das frage ich mich tatsächlich«, erwiderte ich milde und wappnete mich gegenüber seinem Werbespruch. Für wenige Pennys am Tag können auch Sie herrenloses Gerümpel erstehen, um Ihre Wohnung vollzumüllen.
»Na gut. Also, jedenfalls letzten Samstag habe ich für zwei Lagerfächer geboten. Keines von beiden hat viel gebracht, aber dabei fielen mir ein paar Pappkartons in die Hände. Ich sah den Inhalt durch, und dabei stieß ich auf mehrere persönliche Schriftstücke mit Ihrem Namen. Jetzt wollte ich Sie fragen, wie viel es Ihnen wert ist, sie zurückzubekommen.«
»Was für Schriftstücke?«
»Schauen wir mal. Moment. Offen gestanden habe ich nicht damit gerechnet, so früh von Ihnen zu hören, sonst läge alles schon auf dem Schreibtisch parat.« Ich hörte, wie er im Hintergrund mit Blättern raschelte. »So, jetzt. Da wären ein Abschlusszeugnis von der Santa Teresa Junior High School und eine ganze Menge schulische Erinnerungsstücke: Zeichnungen, Klassenfotos und Zeugnisse von der Woodrow-Wilson-Grund- schule. Sagt Ihnen das irgendwas?«
»Und mein Name steht auf diesen Papieren?«
»Kinsey Millhone, oder? Millhone mit Doppel-L. Hier ist noch eine Geschichtsarbeit mit dem Titel ›Die Mission von San Juan Capistrano‹ zusammen mit einem Modell der Mission aus Eierkartons. Vierte Klasse, bei Mrs. Rosen. Sie hat Ihnen eine Vier plus gegeben. ›Kein schlechter Aufsatz, aber das Projekt ist dürftig dargestellt‹, meint sie. Ich hatte auch mal so eine Lehrerin. Ein Miststück sondergleichen«, sagte er beiläufig. »Ach, und hier ist noch etwas. Laut Abschlusszeugnis haben Sie die Santa Teresa High School am 10. Juni 1967 verlassen. Na, wie schlage ich mich bis jetzt?«
»Nicht schlecht.«
»Tja, sehen Sie?«
»Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, aber wie haben Sie mich gefunden?«
»Kinderspiel. Ich habe lediglich bei der Auskunft angerufen. Der Name Millhone ist ungewöhnlich, also denke ich mir, es ist wie in dem alten Sprichwort: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und so. Ich bin davon ausgegangen, dass Sie irgendwo in der Nähe wohnen. Sie hätten natürlich heiraten und Ihren Namen ändern können. Das Risiko musste ich einkalkulieren. Egal, die Frage ist jedenfalls, was halten Sie davon, diese Sachen wiederzubekommen?«
»Mir ist unbegreiflich, wie die Sachen in Olvidado gelandet sind. Ich habe nie dort unten ein Lagerfach gemietet.«
Er begann Ausflüchte zu machen. »Ich habe nichts von Olvidado gesagt. Ich besuche in ganz Kalifornien solche Versteigerungen. Hören Sie, ich möchte ja nicht aufdringlich klingen, aber wenn Sie bereit sind, ein paar Scheine rüberzulassen, können wir es vielleicht arrangieren, dass Sie den Karton wiederkriegen.«
Ich zögerte, verärgert von seinem plumpen Manöver Ich musste an meinen Kampf in Mrs. Rosens Klasse zurückdenken, daran, wie niedergeschmettert ich angesichts der Note gewesen war, nachdem ich mir so viel Mühe gegeben hatte. In Wirklichkeit besaß ich so wenige persönliche Andenken, dass mir jede Ergänzung willkommen war. Ich wollte zwar nicht viel bezahlen, aber ich wollte die Sachen auch nicht unbesehen sausen lassen.
Also sagte ich: »Die Schriftstücke können nicht viel wert sein, da ich nicht einmal gemerkt habe, dass sie weg sind.« Ich mochte ihn jetzt schon nicht, dabei hatte ich ihn noch nicht einmal kennen gelernt.
»Hey, ich bin nicht zum Streiten aufgelegt. Ich habe nicht vor, Sie auszunehmen oder irgendwas in der Richtung. Wenn Sie über den Wert diskutieren wollen, machen wir das eben. Ist Ihre Entscheidung«, meinte er.
»Am besten denke ich darüber nach und rufe Sie wieder an.«
»Tja, das ist es ja gerade. Wenn wir uns mal treffen würden, könnten Sie einen Blick auf die Sachen werfen und sich entscheiden. Woher wollen Sie sonst wissen, ob Ihnen das Zeug irgendetwas wert ist? Sie müssten zwar hier runterfahren, aber ich nehme mal an, dass Sie motorisiert sind.«
»Das ließe sich schon machen.«
»Wunderbar«, sagte er. »Also, wie sehen Ihre Pläne für heute aus?«
»Heute!«
»Es geht nichts über schnelle Entschlüsse, finde ich.«
»Wozu die Eile?«
»Keine Eile, außer dass ich den Rest der Woche Termine habe. Ich verdiene mein Geld, indem ich Sachen umsetze, und meine Garage quillt schon über. Also, haben Sie heute Zeit oder nicht?«
»Ich könnte es vermutlich schaffen.«
»Gut, dann treffen wir uns so bald wie möglich und sehen, ob wir uns einig werden. Bei mir in der Nähe ist ein Coffeeshop. Ich gehe jetzt rüber und bleibe etwa eine Stunde. Sagen wir, zwischen halb und Viertel vor zehn. Und wenn Sie nicht auftauchen? Ich muss sowieso an der Müllkippe vorbeifahren, also juckt mich das nicht.«
»Was hatten Sie sich denn vorgestellt?«
»Geldmäßig? Sagen wir dreißig Dollar. Wie hört sich das an?«
»Sagenhaft«, antwortete ich und ließ mir von ihm den Weg beschreiben. So ein Widerling.
Ich duschte und schlüpfte in meine gewohnte Kluft aus Blue Jeans und T-Shirt, dann tankte ich meinen VW auf und fuhr in südlicher Richtung auf die 101. Die Fahrt nach Olvidado dauerte fünfundzwanzig Minuten. Ich nahm die Ausfahrt Olvidado Avenue und bog an deren Ende nach rechts ab. Einen halben Block vom Freeway entfernt stand ein großes Einkaufszentrum. Das Gelände ringsum, das ursprünglich der Landwirtschaft gewidmet war, wurde nach und nach in ein Feld voller neuer und gebrauchter Autos umgewandelt. Bänder mit flatternden Plastikfahnen zeichneten Zeitformen über den Asphalt, wo aufgereihte Fahrzeuge in der milden Maiensonne glitzerten. Ich sah einen haiförmigen Mini-Zeppelin, der am Boden angebunden war und zehn Meter hoch in der Luft schwebte. Seine Bedeutung entzog sich mir, aber was weiß ich schon über solche Sachen?
Die Geschäfte gegenüber dem Einkaufszentrum verteilten sich offenbar gleichmäßig auf Imbisslokale, Spirituosenläden und Copy-Shops, die Passbilder anboten. Es gab sogar ein Etablissement, das sofortigen juristischen Beistand versprach. Die machten kurzen Prozess: Bankrott $99. Scheidung $99 ... Scheidung mit Kindern $99 + Registrierungsgebühr ... se habla español. Der Coffeeshop, von dem er gesprochen hatte, schien der einzige Familienbetrieb in der Gegend zu sein.
Ich stellte mein Auto auf den Parkplatz und drängte mich in das Lokal, wobei ich die Gäste musterte und nach jemandem suchte, der auf seine Beschreibung passte. Er hatte erwähnt, dass er fast einsneunzig sei und attraktiv wie ein Filmstar, aber dann hatte er vor Lachen geschnaubt, was mich veranlasste, etwas anderes anzunehmen. Er sagte, er werde die Tür im Auge behalten, bis ich käme. Ich entdeckte einen Mann, der grüßend die Hand hob und mich zu seiner Nische winkte. Sein Gesicht war ein breites, gerötetes Viereck, und der Sonnenbrand zog sich in das V seines offenstehenden Arbeitshemds aus Jeansstoff hinein. Das dunkle Haar trug er glatt zurückgekämmt. Ich erkannte die Einkerbungen an seinen Schläfen, wo zuvor die Baseballkappe gesessen hatte, die nun auf dem Tisch neben ihm lag. Er hatte eine breite Nase, herabhängende Augenlider und Tränensäcke unter den Augen. Ich konnte vereinzelte Barthaare ausmachen, die er bei seiner Morgenrasur übersehen hatte. Seine Schultern waren bullig, und die Unterarme mit den aufgekrempelten Hemdsärmeln wirkten massig. Er hatte eine dunkelbraune Windjacke abgelegt, die jetzt ordentlich gefaltet über der Lehne der Sitzbank hing.
»Mr. Rich? Kinsey Millhone. Wie geht’s?« Wir schüttelten uns über dem Tisch die Hände, und ich merkte, dass er mich mit der gleichen Liebe zum Detail musterte, die ich soeben ihm gewidmet hatte.
»Nennen Sie mich Teddy. Nicht schlecht. Schön, dass Sie gekommen sind.« Er sah auf die Uhr, während ich mich ihm gegenüber auf die Bank gleiten ließ. »Dummerweise habe ich nur noch fünfzehn, zwanzig Minuten Zeit, bevor ich wegmuss. Tut mir Leid wegen der Hektik, aber ich habe gleich nach unserem Gespräch einen Anruf von einem Knaben in Thousand Oaks bekommen, der einen Kostenvoranschlag für sein Dach braucht.«
»Sie sind Dachdecker?«
»Von Beruf, ja.« Er griff in die Hosentasche. »Hier ist meine Karte, für den Fall, dass Sie mal was gerichtet haben wollen.« Er zog ein schmales Kunstlederetui hervor und nahm einen Stapel Visitenkarten heraus. »Meine Spezialität sind neue Dächer und Reparaturen.«
»Und was noch?«
»Hey, ich kann alles machen, was Sie brauchen. Heißschwabbeln, Abreißen, Absengen, alle Arten von Ausbesserungen, Struktur, Schiefer, Tonziegel, was Sie wollen. Renovieren und Prophylaxe sind mein Spezialgebiet. Ich könnte Ihnen ein Sonderangebot machen – sagen wir zehn Prozent Rabatt, wenn Sie noch diesen Monat anrufen. In was für einem Haus wohnen Sie denn?«
»Zur Miete.«
»Dann haben Sie ja vielleicht einen Vermieter, der etwas am Dach gerichtet haben will. Behalten Sie die Karte ruhig. Nehmen Sie so viele, wie Sie wollen.« Er hielt mir eine Hand voll Visitenkarten hin, aufgefächert und mit der Schrift nach unten, als wolle er einen Zaubertrick vorführen.
Ich nahm mir eine und betrachtete sie. Die Karte trug seinen Namen, die Telefonnummer und eine Postfachadresse. Seine Firma hieß OVERHEAD ROOFING, und die Buchstaben bildeten ein breites, umgekehrtes V, wie die Firstlinie eines Daches. Sein Firmenmotto war: »Wir decken jede Art von Dach.«
»Einprägsam«, bemerkte ich.
Er hatte mit ernster Miene auf meine Reaktion gewartet. »Die hab ich mir gerade erst drucken lassen. Auf den Namen bin ich selbst gekommen. Früher hieß es ›Ted’s Roofs‹. Sie wissen schon, einfach, schlicht und mit persönlicher Note. Ich hätte mich ja auch ›Rich Roofs‹ nennen können, aber das hätte womöglich einen falschen Eindruck erweckt. Ich war zehn Jahre im Geschäft, aber dann kam die Trockenheit, und der Markt ist versiegt ...«
»Sozusagen«, warf ich ein.
Er lächelte und zeigte eine kleine Lücke zwischen den unteren Schneidezähnen. »Hey, das ist gut. Ihr Humor gefällt mir. Was jetzt kommt, amüsiert Sie sicher auch: Ein paar Jahre keinen Regen, und schon halten die Leute ihr Dach für ›Granit‹. Verstehen Sie? Granit – wie ›garantiert‹?«
»Wirklich witzig«, sagte ich.
»Jedenfalls ging’s mir miserabel. Ich musste komplett dichtmachen und Konkurs beantragen. Meine Frau hat mich postwendend verlassen, der Hund ist gestorben, und dann wurde auch noch mein Lieferwagen geschrammt. Ich war restlos ruiniert. Jetzt, wo schlechtes Wetter ins Haus steht, dachte ich, ich fange noch mal frisch an. ›Overhead Roofing‹ ist auch eine Art Wortspiel.«
»Tatsächlich«, sagte ich. »Und was ist mit dem Altwarenhandel aus Lagerbeständen? Wie sind Sie darauf gekommen?«
»Ich musste ja irgendwas tun, als die Dachdeckerei abgestürzt ist. Offengestanden«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu, »wollte ich versuchen zu retten, was zu retten war. Ich hatte etwas Geld beiseitegelegt, von dem meine Frau und die Gläubiger nichts wussten, und das habe ich benutzt, um neu anzufangen. Man braucht fünf- oder sechstausend, wenn man es vernünftig anpacken will. Ein- oder zweimal wurde ich aufs Kreuz gelegt, aber ansonsten habe ich mich ganz gut geschlagen, wenn ich das selbst behaupten darf.« Er machte die Kellnerin auf sich aufmerksam und hielt mit einem Seitenblick auf mich seine Kaffeetasse in die Höhe. »Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?«
»Klingt gut. Und wie lange machen Sie das schon?«
»Ungefähr ein Jahr«, antwortete er. »Man nennt uns Sammler oder Schließfachzocker, manchmal auch Wiederverkäufer oder Schatzsucher. Es funktioniert so, dass ich in den Zeitungen nach Versteigerungen Ausschau halte. Außerdem habe ich ein paar Mitteilungsblätter abonniert. Man weiß ja nie, was man findet. Vor zwei Wochen habe ich zweihundertfünfzig bezahlt und ein Bild entdeckt, das über fünfzehnhundert Mäuse wert war. Ich war total begeistert.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Natürlich gibt es bei der Geschichte Regeln, wie überall sonst auch. Man kann den Inhalt des Fachs nicht besichtigen, darf nicht vor Beginn der Versteigerung hineingehen, und es gibt kein Geld zurück. Wenn man sechshundert Dollar zahlt und nichts als einen Haufen alter Zeitschriften findet, hat man eben Pech gehabt. So ist das Leben et cetera.«
»Können Sie davon leben?«
Er nahm eine andere Sitzhaltung ein. »Nicht direkt. Es ist lediglich ein Hobby zwischen den Dachdeckeraufträgen. Das Schöne daran ist, dass es nichts Schriftliches gibt, daher kann mich meine Ex auch nicht um Unterhalt anhauen. Sie war schließlich diejenige, die sich aus dem Staub gemacht hat, also kann sie mich mal, sage ich.«
Die Kellnerin erschien mit der Kaffeekanne in der Hand an unserem Tisch, schenkte ihm nach und stellte mir eine frische Tasse hin. Teddy und die Kellnerin schäkerten miteinander. Ich nutzte den Augenblick, um Milch in meinen Kaffee zu gießen, und riss die Ecke eines Zuckerpäckchens ab, obwohl ich normalerweise keinen nehme. Alles, um die Zeit zu füllen, bis sie mit ihrer Plauderei fertig waren. Ehrlich gesagt hatte ich den Eindruck, dass er scharf auf sie war.
Nachdem sie gegangen war, wandte Teddy seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. Der Pappkarton stand auf dem Sitz neben ihm. Er bemerkte meinen Blick. »Ich sehe Ihnen doch an, dass Sie neugierig sind. Wollen Sie mal reinlinsen?«
»Klar«, sagte ich.
Ich beugte mich zu dem Karton hinüber, aber Teddy streckte die Hand aus und verlangte: »Geben Sie mir zuerst fünf Dollar.« Dann lachte er. »Sie hätten Ihr Gesicht sehen sollen. Nur zu. War bloß ein Witz. Machen Sie ruhig.« Er wuchtete die Schachtel auf den Tisch und schob sie zu mir herüber. Sie war sperrig, aber nicht schwer, und obendrauf lag eine Staubschicht. Der Deckel war zugeklebt gewesen, aber ich erkannte, wo das Paketband zerschnitten und die Laschen zurückgeklappt worden waren. Ich stellte den Karton neben mich auf den Sitz und öffnete ihn. Der Inhalt schien hastig zusammengewürfelt worden zu sein, ohne dass irgendeine Ordnung beachtet worden wäre. Im Grunde wirkte er wie die letzte Kiste, die man bei einem Umzug packt; Sachen, die man nicht wegzuwerfen wagt, aber mit denen man eigentlich nichts anzufangen weiß. Ein solcher Karton konnte vermutlich zehn Jahre lang unbemerkt bei einem im Keller stehen, und nichts würde einen je veranlassen, auch nur nach einem der darin liegenden Gegenstände zu suchen. Verspürte man aber andererseits das Bedürfnis, den Inhalt durchzusehen, würde man feststellen, dass man immer noch zu sehr an den Sachen hing, um das ganze Sammelsurium in den Müll zu werfen. Wenn man das nächste Mal umzog, würde man die Kiste zu den anderen Kisten im Möbelwagen stellen und nach und nach genug Gerümpel ansammeln, um einen ... na ja, kleinen Lagerraum zu füllen.
Ich erkannte auf den ersten Blick, dass ich die Sachen haben wollte. Neben den Andenken aus der Grundschulzeit entdeckte ich das Abschlusszeugnis der High School, das er erwähnt hatte, mein Jahrbuch, mehrere Schulbücher, und – weitaus wichtiger – zahlreiche Ordner mit kopierten Blättern aus meinen Kursen an der Polizeischule. Dreißig Dollar waren gar nichts für diesen Schatz an Erinnerungen.
Teddy musterte mein Gesicht und versuchte, die Dollarzeichen in meiner Reaktion abzuschätzen. Ich ertappte mich dabei, wie ich dem Blickkontakt auswich, um das Ausmaß meines Interesses zu verbergen. Um Zeit zu gewinnen, fragte ich: »Wer hatte das Schließfach eigentlich gemietet? Das haben Sie, glaube ich, noch nicht erwähnt.«
»Ein Mann namens John Russell. Ist das ein Freund von Ihnen?«
»Als Freund würde ich ihn nicht bezeichnen, aber ich kenne ihn«, sagte ich. »Eigentlich ist der Name ein Insiderwitz – eine Art Pseudonym. ›John Russell‹ ist eine Figur aus einem Roman von Elmore Leonard, Man nannte ihn Hombre.«
»Tja, ich habe versucht, ihn ausfindig zu machen, hatte aber nicht viel Glück. Viel zu viele Russells hier in der Gegend. Zwei Dutzend Johns, zehn oder fünfzehn Jacks, aber keiner von ihnen war der Richtige, danach habe ich mich nämlich erkundigt.«
»Da haben Sie ja einiges an Zeit investiert.«
»Das können Sie mir glauben. Zwei Stunden habe ich rumtelefoniert, bevor ich es aufgegeben und mir gesagt habe: Du spinnst. Ich habe die ganze Gegend abgeklappert: Perdido, L.A. County, San Bernardino, Santa Teresa County, bis rauf nach San Luis. Der Typ ist nirgends aufzutreiben, also schätze ich, dass er entweder gestorben oder in einen anderen Bundesstaat gezogen ist.«
Ich trank einen Schluck Kaffee und verkniff mir jeden Kommentar. Mit Milch und Zucker schmeckte der Kaffee wie ein Bonbon.
Teddy legte den Kopf schief und sah mich nachdenklich an. »Und Sie sind also Privatdetektivin? Mir ist aufgefallen, dass Sie unter Millhone, Ermittlungen, eingetragen sind.«
»Genau. Ich war zwei Jahre lang Polizistin. Dadurch habe ich auch John kennen gelernt.«
»Der Typ ist Bulle?«
»Jetzt nicht mehr, aber damals schon.«
»Darauf wäre ich nie gekommen ... ich meine, wenn man sich den Schrott anschaut, mit dem er dieses Fach vollgestopft hat. Ich hätte ihn eher für eine Art Penner gehalten. Das war jedenfalls mein Eindruck.«
»Da gibt’s eine Menge Leute, die ganz Ihrer Meinung wären.«
»Aber Sie gehören nicht dazu, oder?«
Ich zuckte die Achseln und sagte nichts.
Teddy musterte mich mit scharfem Blick. »Was bedeutet Ihnen dieser Mann?«
»Warum fragen Sie?«
»Ach, kommen Sie. Wie heißt er wirklich? Vielleicht kann ich ihn für Sie aufspüren, wie bei einem Vermisstenfall.«
»Wozu die Mühe? Wir haben uns seit Jahren nicht gesprochen, und er ist mir egal.«
»Aber jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Weshalb das Pseudonym?«
»Er war Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre beim Rauschgiftdezernat. Damals sind einige große Drogenringe aufgeflogen. John hat verdeckt ermittelt, daher war er immer paranoid, was seinen echten Namen betraf.«
»Klingt nach einem Irren.«
»Mag sein«, sagte ich. »Was war sonst noch in dem Fach?«
Er winkte ab. »Das meiste war unbrauchbar. Ein Rasenmäher, ein kaputter Staubsauger. Dann noch eine große Kiste Küchenutensilien: ein Nudelholz, eine riesige hölzerne Salatschüssel mit mindestens einem Meter Durchmesser, ein Satz Keramikschüsseln ... wie heißt das? Dieser Fiesta-Schrott. Dafür habe ich einen Batzen Kleingeld bekommen. Eine Skiausrüstung, Tennisschläger; nichts davon in Bestzustand. Außerdem ein altes Fahrrad, ein Motorradmotor, eine Radabdeckung und ein paar Autoersatzteile. Ich vermute, Russell war eine Art Hamster und konnte sich von nichts trennen. Ich habe das meiste davon auf dem Flohmarkt hier verscherbelt – der war gestern.«
Meine Stimmung verdüsterte sich. Die riesige hölzerne Schüssel hatte meiner Tante Gin gehört. Die Fiesta-Keramik war mir gleichgültig, obwohl die auch von ihr gewesen war. Aber ich wünschte, ich hätte die Gelegenheit gehabt, das Nudelholz zu erstehen. Tante Gin hatte mit seiner Hilfe immer Zimtschnecken gebacken – eine ihrer wenigen häuslichen Fertigkeiten – und damit den Teig ausgerollt, bevor sie Zimt und Zucker darauf streute. Darauf musste ich verzichten; es hatte keinen Sinn, sich nach etwas zu sehnen, was bereits vergeben war. Seltsam, dass mir ein Gegenstand auf einmal dermaßen viel bedeutete, nachdem ich jahrelang nicht mehr an ihn gedacht hatte.
Er nickte zum Karton hin. »Dreißig Mäuse, und er gehört Ihnen.«
»Zwanzig. Er ist kaum so viel wert. Es ist alles Schrott.«
»Fünfundzwanzig. Kommen Sie. Für die Reise in die Vergangenheit. Die Sachen sehen Sie sonst nie wieder. Der Affektionswert und so. Greifen Sie lieber zu, solange Sie Gelegenheit dazu haben.«
Ich zog einen Zwanziger aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.
»Niemand sonst gibt Ihnen auch nur zehn Cents dafür.«
Teddy zuckte die Achseln. »Dann werfe ich alles weg. Wen juckt’s? Fünfundzwanzig, das ist mein letztes Wort.«
»Teddy, wenn Sie zur Müllkippe fahren, kostet Sie das fünfzehn, also fahren Sie damit um fünf Dollar besser.«
Er starrte das Geld an, warf mir einen hastigen Blick zu und nahm den Schein dann mit einem übertrieben angeekelten Seufzer über sich selbst an sich. »Zum Glück mag ich Sie, sonst wäre ich jetzt stinksauer.« Er faltete den Zwanziger längs und steckte ihn ein. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Welche?«
»Was Ihnen dieser Kerl bedeutet.«
»Nichts Besonderes. Er war früher einmal ein Freund von mir – nicht, dass Sie das irgendetwas anginge.«
»Oh, na klar. Schon kapiert. Jetzt ist er ›ein Freund‹. Inneressante Entwicklung. Sie müssen dem Typen ganz schön nahegestanden haben, wenn Ihre Sachen bei ihm geblieben sind.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Er tippte sich gegen die Schläfen. »Logisches Denken. Analytisch, verstehen Sie? Ich wette, ich könnte auch als Schnüffler arbeiten, genau wie Sie.«
»Na klar, Teddy. Keine Frage. Offen gestanden habe ich ein paar Kisten bei John untergestellt, als ich am Umziehen war. Mein Zeug muss dann zwischen seines geraten sein, als er Santa Teresa verlassen hat. Übrigens, welche Lagerfirma war es?«
Sein Gesichtsausdruck wurde verschlagen. »Warum wollen Sie das wissen?«, fragte er in leicht spöttischem Ton.
»Weil ich mich frage, ob John noch irgendwo in der Gegend ist.«
Teddy schüttelte den Kopf. Er war mir weit voraus. »Auf keinen Fall. Vergessen Sie’s. Das wäre nichts als Zeitverschwendung. Ich meine, sehen Sie’s mal so. Wenn der Typ einen falschen Namen benutzt hat, dann hat er vermutlich auch eine falsche Adresse und Telefonnummer angegeben. Wozu bei der Firma nachfragen? Die sagen Ihnen auch nichts.«
»Ich bin mir sicher, dass ich die Daten bekommen könnte. Schließlich bin ich darin Profi.«
»Sie und Dick Tracy.«
»Ich will doch nur den Namen wissen.«
Teddy lächelte. »Wie viel ist er Ihnen wert?«
»Wie viel er mir wert ist?«
»Ja, machen wir ein kleines Geschäft. Zwanzig Dollar.«
»Seien Sie nicht albern. Ich bezahle Ihnen nichts dafür. Das ist doch lächerlich.«
»Also, machen Sie mir ein Angebot. Ich bin ein vernünftiger Mensch.«
»Schwachsinn.«
»Ich sage nur, eine Hand wäscht die andere.«
»So viele Lagerfirmen kann es hier in der Gegend ja nicht geben.«
»Fünfzehnhundertelf, wenn Sie die benachbarten Bezirke miteinbeziehen. Für zehn Dollar sage ich Ihnen, in welcher kleinen Stadt sie ist.«
»Ausgeschlossen.«
»Kommen Sie. Wie wollen Sie es denn sonst herausfinden?« »Mir fällt bestimmt etwas ein.«
»Wollen wir wetten? Fünf Dollar, dass Sie es nicht schaffen.«
Ich sah auf die Uhr und schlüpfte von der Sitzbank. »Ich wünschte, wir könnten weiterplaudern, Teddy, aber Sie haben ja Ihren Termin, und ich muss wieder an die Arbeit.«
»Vielleicht rufen Sie mich an, wenn Sie es sich anders überlegt haben. Dann können wir ihn gemeinsam suchen. Wir könnten uns zusammentun. Ich wette, Sie könnten jemanden mit meinen Verbindungen gebrauchen.«
»Und wie.«
Ich nahm den Karton, gab noch ein paar höfliche Laute von mir und kehrte zum Auto zurück. Ich stellte ihn auf den Beifahrersitz und stieg dann auf der Fahrerseite ein. Instinktiv verriegelte ich beide Türen und atmete heftig aus. Mein Herz hämmerte, und ich spürte, wie mir im Kreuz der Schweiß ausbrach. »John Russell« war das Pseudonym eines ehemaligen Rauschgiftfahnders aus Santa Teresa namens Mickey Magruder ... meines ersten Exmannes. Was zum Teufel wurde hier gespielt?
Ich rutschte im Auto nach unten und musterte den Parkplatz aus meiner Position auf halber Höhe. Hinten auf dem Platz bemerkte ich einen weißen Lieferwagen, dessen Ladefläche mit der Art von Eimern und Planen vollgestellt war, die ich einem Großdachdecker zuschreiben würde. Ein überdimensionaler Werkzeugkasten stand gleich hinter der Fahrerkabine, und eine ausziehbare Aluminiumleiter war anscheinend an die andere Seite montiert, da ihre beiden Antirutschfüße etwa dreißig Zentimeter vorstanden. Ich schob mir den Rückspiegel zurecht und wartete, bis Ted Rich aus dem Coffeeshop kam, die Baseballkappe auf dem Kopf und die Windjacke übergezogen. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und pfiff vor sich hin, während er auf den Lieferwagen zuging und seine Schlüssel herausfischte. Als ich hörte, wie sein Wagen ansprang, bückte ich mich einen Moment lang, um nicht in sein Blickfeld zu kommen. Sowie er vorbeigefahren war, setzte ich mich wieder auf und sah zu, wie er nach links abbog und sich in den Verkehr einreihte, der auf die Freeway-Auffahrt in südlicher Richtung zufloss.
Ich wartete, bis er weg war, dann stieg ich aus dem VW und trottete zu der Telefonzelle neben der Einfahrt zum Parkplatz. Ich legte seine Visitenkarte auf die schmale, metallene Ablage, hievte das Telefonbuch nach oben und sah unter den behördlichen Einträgen nach. Ich fand die Nummer, die ich suchte, kramte etwas Kleingeld aus den Tiefen meiner Umhängetasche, warf Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer des Postamts, das auf Rich’s Visitenkarte genannt war. Es klingelte zwei Mal, dann ertönte eine Bandansage, die mir die üblichen Beschwichtigungsfloskeln vortrug. Sämtliche Anschlüsse seien momentan besetzt, aber die Anrufe würden in der Reihenfolge ihres Eintreffens entgegengenommen werden. Der Ansage zufolge war mir das Postamt ausgesprochen dankbar für meine Geduld, was beweist, wie wenig man mich dort kannte.
Als sich endlich eine leibhaftige Angestellte meldete, nannte ich ihr die Postfachnummer von Overhead Roofing, vielleicht auch eingetragen unter dem Namen Ted’s Roofs. Binnen Minuten hatte sie im Mietvertrag für sein Fach nachgesehen und mir die dazugehörige Anschrift verraten. Ich bedankte mich und drückte auf die Gabel. Dann steckte ich noch eine Münze in den Schlitz und wählte die Telefonnummer, die auf der Visitenkarte stand. Wie erwartet nahm niemand ab, obwohl sich Richs Anrufbeantworter prompt einschaltete. Es freute mich, zu hören, dass Ted Rich Olvidados geprüfter Meisterdachdecker Nummer eins für feuerfeste Materialien war. Die Ansage verkündete auch, der Mai sei der Monat des Wetterschutzes, was mir bisher entgangen war. Viel wichtiger fand ich allerdings, dass Teddy nicht zu Hause war und offenbar auch sonst niemand.
Ich kehrte zum Auto zurück, kramte einen Stadtplan von Olvidado aus dem Handschuhfach und suchte die Straße im Verzeichnis am Rand. Indem ich die Koordinaten nach Ziffer und Buchstabe entlangfuhr, machte ich die Adresse ausfindig. Sie lag nicht weit von meinem Standort entfernt. O Seligkeit. Ich drehte den Zündschlüssel um, legte den Rückwärtsgang ein, und kaum fünf Minuten später stand ich schon im Leerlauf vor Teddys Haus, in dem auch sein Dachdeckergeschäft untergebracht war.
Sechs Häuser weiter entdeckte ich einen Parkplatz. Dort blieb ich zunächst im Auto sitzen, während mein guter und mein böser Engel um die Inbesitznahme meiner Seele rangen. Mein guter Engel erinnerte mich daran, dass ich Besserung gelobt hatte. Er zählte die Gelegenheiten auf, bei denen mir mein altbekanntes schlimmes Benehmen nichts als Kummer und Schmerz – wie er es formulierte – eingebracht hatte. Das war zwar alles gut und schön, aber wie mein böser Engel erklärte, war dies im Grunde die einzige Chance, die sich mir böte, um an die ersehnten Informationen zu kommen. Wenn Rich den Namen der Lagerfirma »geteilt« hätte, wäre ich dazu gar nicht gezwungen gewesen, also war es im Grunde alles seine Schuld.
Momentan war er gerade unterwegs nach Thousand Oaks, um irgendjemandem einen Kostenvoranschlag für sein Dach zu machen. Die Fahrt hin und zurück würde etwa eine halbe Stunde dauern, dazu kam noch eine weitere halbe Stunde fürs Schwafeln, weil Männer eben auf diese Art ihre Geschäfte abschließen. Wir beiden hatten uns um zehn getrennt. Jetzt war es Viertel nach zehn, also würde er (wenn ich Glück hatte) erst in einer Dreiviertelstunde zurückkommen.
Ich nahm meine Dietriche aus der Tasche, die unter dem Stapel verschiedener Klamotten, die ich dort parat habe, auf dem Rücksitz lag. Wenn ich jemanden observiere, benutze ich sie oft, um mein Aussehen zu verändern. Jetzt zog ich einen dunkelblauen Overall hervor, der angemessen professionell aussah. Auf dem Aufnäher am Ärmel, den ich mir nach meinen Angaben hatte sticken lassen, stand Santa Teresa City Service, was vermuten ließ, dass ich bei den Stadtwerken arbeitete. Ich nahm an, den Bürgern von Olvidado würde aus der Entfernung nichts auffallen. Indem ich mich auf dem Fahrersitz wand, zog ich den Overall über Jeans und T-Shirt. Ich machte den vorderen Reißverschluss zu und steckte die Dietriche in die eine Hosentasche. Dann griff ich nach dem Klemmbrett mit seinem Büschel nichts sagender Papiere, schloss das Auto hinter mir ab und ging bis zu Ted Richs gekiester Einfahrt. Nirgends am Haus standen irgendwelche Fahrzeuge.
Ich stieg die Stufen hinauf und klingelte an der Vordertür. Ich wartete, blätterte in den Zetteln auf meinem Klemmbrett und machte mir eine offiziell aussehende Notiz mit dem an einer Kette befestigten Stift. Ich klingelte erneut, doch niemand machte auf. Quelle surprise. Ich trat ans vordere Fenster und hielt mir eine Hand über die Augen, während ich durch die Scheibe spähte. Abgesehen davon, dass keine Spur des Bewohners zu sehen war, sah das Haus nach einem Mann aus, der es gewohnt war, allein zu leben, eine Vermutung, die durch eine mitten im Esszimmer prangende Harley Davidson auf den Punkt gebracht wurde.
Unauffällig sah ich mich um. Es war kein Mensch auf dem Gehsteig, und nichts wies auf Nachbarn hin, die von gegenüber aufgepasst hätten. Trotzdem runzelte ich die Stirn und machte eine Riesenshow aus meiner Verblüffung. Ich sah auf die Uhr, um zu demonstrieren, dass zumindest ich rechtzeitig zu unserer imaginären Verabredung gekommen war. Ich stieg die vorderen Stufen wieder hinab und ging die Einfahrt entlang zum hinteren Teil des Hauses. Der Garten war eingezäunt, und die Büsche waren hoch genug gewachsen, um die Stromleitungen zu berühren, die sich an der Grundstücksgrenze entlangzogen. Der Garten lag verlassen vor mir. Beide Halbtüren der Doppelgarage waren geschlossen und mit massiven Vorhängeschlössern versehen.
Ich stieg die Stufen zur hinteren Veranda hinauf und sah mich noch einmal um, um festzustellen, ob schon irgendwelche Nachbarn eifrig die Nummer des Überfallkommandos wählten. Von meiner Ungestörtheit überzeugt, äugte ich durchs Küchenfenster. In den Räumen, die in Sichtweite lagen, brannte kein Licht. Ich probierte den Türgriff. Abgesperrt. Ich starrte das Schlage-Schloss an und fragte mich, wie lange es dauern würde, bis es meinen Dietrichen nachgab. Als ich auf Kniehöhe hinabblickte, fiel mir auf, dass die untere Türhälfte eine großzügige, selbst gebaute Klappe für Haustiere besaß. Tja, was hatten wir denn da? Ich fasste nach unten, versetzte der Klappe einen Stoß und blickte auf ein Stück Küchenlinoleum. Ich dachte daran, wie Ted Rich von seiner Scheidung und dem Tod seines geliebten Köters gesprochen hatte. Die Öffnung der Hundetür kam mir allemal groß genug vor.
Ich legte das Klemmbrett aufs Verandageländer und ließ mich auf alle viere herab. Mit meinen einsachtundsechzig und vierundfünfzig Kilo hatte ich nur geringfügige Schwierigkeiten beim Bemühen, einzudringen. Die Arme über dem Kopf, den Körper diagonal abgeknickt, begann ich mich durch die Öffnung zu schieben. Nachdem ich es geschafft hatte, Kopf und Schultern durch die Tür zu zwängen, hielt ich inne, um mich kurz davon zu vergewissern, dass niemand sonst anwesend war. Mein einseitiger Blick erfasste lediglich den Essplatz aus Chrom und Resopal, der voller schmutzigem Geschirr stand, und die große Plastikuhr an der Wand darüber. Ich rutschte vorwärts und drehte meinen Körper, damit ich den Rest des Raumes sehen konnte. Jetzt, wo ich halb durch die Hundetür hindurch war, dämmerte mir, dass ich Rich hätte fragen sollen, ob er sich einen neuen Hund angeschafft hatte. Zu meiner Linken, in Augenhöhe, konnte ich eine Zwei-Liter-Wasserschüssel und einen großen Plastiknapf sehen, der mit Hundetrockenfutter gefüllt war. Gleich daneben lag ein rohlederner Knochen mit Bissspuren, die ihm offenbar von einer Kreatur zugefügt worden waren, mit der nicht gut Kirschen essen war. Eine halbe Sekunde später erschien das Objekt meiner Spekulationen auf dem Schauplatz. Vermutlich hatte ihn der Lärm aufgeschreckt, und nun kam er um die Ecke geschlittert, um zu sehen, was los war. Ich bin von Natur aus nicht hundebegeistert und kann kaum eine Rasse von der anderen unterscheiden – abgesehen von Chihuahuas, Cockerspaniels und anderen eindeutigen Arten. Der Hund war groß, vielleicht fünfunddreißig Kilo schlankes Fleisch an einem grobknochigen Skelett. Was zum Teufel hatte er getrieben, als ich an der Tür geklingelt hatte? Er hätte doch wenigstens herzhaft bellen können, um mich zu vertreiben. Der Hund war mittelbraun, hatte ein breites Gesicht, einen dicken Kopf und kurzes, glattes Fell. Er besaß einen massigen Brustkorb, und sein Schwanz hatte das Format einer haarigen, fünfzehn Zentimeter langen Gloria Cubana. Ein Streifen struppiger Haare stand sein Rückgrat entlang in die Höhe, als wäre er permanent empört. Er blieb abrupt stehen und stand dann wie angewurzelt da, seine Miene eine gelungene Mischung aus Verwirrung und Ungläubigkeit. Ich konnte das Fragezeichen beinahe sehen, das sich über seinem Kopf bildete. Seiner Erfahrung nach versuchten bestimmt nur wenige Menschen, sich durch seinen Privateingang zu quetschen. Ich hörte auf, mich weiter voranzuschieben, um ihm Zeit zu lassen, die Situation zu verarbeiten. Anscheinend stellte ich keine unmittelbare Bedrohung dar, weil er weder einen Satz machte, noch bellte, noch mich grausam in Kopf und Schultern biss. Im Gegenteil, er schien zu spüren, dass nun eher höfliches Benehmen von ihm erwartet wurde, obwohl ich ihm ansah, dass es ihm schwerfiel, herauszufinden, was angebracht war. Er stieß einen jaulenden Laut aus, ließ sich auf den Bauch fallen und kroch über den Fußboden auf mich zu. Ich blieb, wo ich war. Eine Zeit lang lagen wir uns mit den Gesichtern direkt gegenüber, während ich seinen fleischigen Atem ertrug und er über das Leben sinnierte. Irgendwie enden Hunde und ich immer in solchen Verhältnissen.
»Hi, wie geht’s?«, fragte ich schließlich in einem Ton, von dem ich hoffte, dass er freundlich klang (aus Sicht des Hundes).
Er legte den Kopf auf die Pfoten und warf mir einen besorgten Blick zu.
Ich sagte: »Hör mal, ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich ganz hier reinschlüpfe, weil nämlich jede Minute euer Nachbar aus dem Fenster schaut und entdeckt, wie mein Hintern aus der Hundetür hängt. Falls du irgendwelche Einwände hast, dann sprich jetzt oder schweig auf ewig.«
Ich wartete, doch der Hund fletschte nicht einmal die Zähne. Indem ich mich auf die Ellbogen stützte, kroch ich ganz hinein und säuselte »braver Hund«, »so ein liebes Tierchen« und ähnlich arschkriecherische Phrasen. Sein Schwanz begann hoffnungsfroh auf den Boden zu klopfen. Vielleicht war ich der kleine Kamerad, den ihm sein Dad als Spielgefährten versprochen hatte.
In der Küche angelangt, begann ich mich aufzurichten. Dies verwandelte mich in den Augen des Hundes in eine Bestie, die womöglich angefallen werden musste. Er sprang auf, den Kopf gesenkt, die Ohren angelegt, und setzte zu einem versuchsweisen Knurren an, durch das sein gesamter Brustkorb zu vibrieren begann wie ein Schwarm Bienen auf Wanderschaft. Ich ließ mich wieder in meine ursprüngliche unterwürfige Stellung herabsinken. »Braver Junge«, murmelte ich und senkte demütig den Blick.
Ich wartete, während der Hund den Umfang seiner Verantwortlichkeit auslotete. Das Knurren verstummte bald. Ich versuchte es noch einmal. Mich auf Hände und Knie zu stützen schien akzeptabel zu sein, aber sowie ich versuchte, ganz aufzustehen, setzte das Knurren wieder ein. Es stand völlig außer Zweifel, dass es dieser Hund ernst meinte.
»Du bist aber streng«, sagte ich.
Ich wartete ein paar Momente und probierte es erneut. Diesmal brachte mir der Versuch ein wütendes Bellen ein. »Okay, okay.« Der große Junge ging mir langsam auf die Nerven. Theoretisch befand ich mich nah genug an der Hundetür, um eine Flucht zu bewerkstelligen, aber ich traute mich nicht, mich mit dem Kopf voran hindurchzuzwängen und mein Hinterteil schutzlos darzubieten. Ich hatte aber auch Angst davor, mit den Füßen zuerst hinauszuschlüpfen, da der Hund womöglich meinen Oberkörper anfiel, während ich in der Öffnung feststeckte. Unterdessen tickte die Küchenuhr wie eine Zeitbombe und zwang eine Entscheidung herbei. Rückzug oder Angriff? Ich sah Ted Rich vor mir, wie er die Landstraße in meine Richtung entlangbrauste. Irgendetwas musste ich tun. Nach wie vor auf allen vieren kroch ich einen Schritt voran. Der Hund sah wachsam zu, machte aber keine Drohgebärden. Langsam schlich ich über den Küchenfußboden und auf die Vorderseite des Hauses zu. Der Hund trottete neben mir her. Seine Krallen klickten auf dem schmutzigen Linoleum, und seine gesamte Aufmerksamkeit galt meiner schwerfälligen Fortbewegung. Langsam wurde mir klar, dass ich die Sache nicht richtig durchdacht hatte, aber ich war so auf mein Ziel fixiert gewesen, dass ich mir die dafür nötigen Mittel gar nicht vollständig vor Augen gehalten hatte.
Wie ein Kleinkind durchquerte ich in meinem Spielanzug das Esszimmer, passierte das Motorrad und gelangte ins Wohnzimmer. Dieser Raum war mit Teppichboden versehen, enthielt aber sonst wenig Interessantes. Ich kroch den Flur entlang, den Hund stets an meiner Seite. Sein Kopf hing so tief herab, dass sein Blick auf gleicher Höhe mit meinem war. Vermutlich sollte ich gleich hier erklären, dass das, was ich da machte, nicht dem gewohnten Verhalten eines Privatdetektivs entsprach. Es war eher typisch für jemanden, der einen Kleindiebstahl im Sinn hatte, doch ich war zu stur und ungeduldig, um legale Mittel einzusetzen (vorausgesetzt, mir wären welche eingefallen). In Polizeikreisen wäre mein Tun als Hausfriedensbruch, Einbruch und (angesichts der Dietriche in meiner Hosentasche) Besitz von Einbruchswerkzeug klassifiziert worden ... Kalifornisches Strafgesetzbuch, Artikel 602, 4 5 9 beziehungsweise 4 66. Ich hatte zwar (noch) nichts gestohlen, und der Gegenstand, auf den ich aus war, war rein geistiger Natur, aber es war trotzdem illegal, sich durch eine Hundetür zu zwängen und einen fremden Flur entlangzukriechen. Wenn man mich auf frischer Tat ertappte, würde ich verhaftet und verurteilt werden und womöglich meine Lizenz und damit meine Existenzgrundlage verlieren. Na toll. Und das alles wegen eines Mannes, den ich nach nicht einmal neun Monaten Ehe verlassen hatte.
Das Haus war nicht groß; ein Bad und zwei Schlafzimmer, dazu Wohnzimmer, Esszimmer, Küche und Waschküche. Ich muss sagen, aus einem halben Meter Höhe ist die Welt reichlich langweilig. Alles, was ich sah, waren Stuhlbeine, Teppichschlaufen und sich endlos hinziehende staubige Fußleisten. Kein Wunder, dass Haustiere, wenn man sie allein lässt, anfangen, auf die Teppiche zu pinkeln und die Möbel anzuknabbern. Ich kam an einer Tür zur Linken vorbei, die wieder in die Küche führte, auf deren einer Seite die Waschküche lag. Als ich an der nächsten Tür zur Linken anlangte, kroch ich hinein und sah mich um, während ich im Geiste mit dem Schwanz wedelte. Ungemachtes Doppelbett, Nachttisch, Kommode, Hundekorb und schmutzige Klamotten auf der Erde. Ich machte kehrt und kroch in das Zimmer gegenüber. Rich benutzte es als Fernsehzimmer und Heimbüro. An der Wand zu meiner Rechten hatte er eine Reihe verbeulter Aktenschränke und einen verkratzten Eichenschreibtisch stehen. Außerdem gab es einen Fernsehsessel und einen Fernseher. Der Hund stieg mit schuldbewusster Miene auf den Sessel und musterte mich, um festzustellen, ob ich ihm den haarigen Po versohlen würde. Ich lächelte ihm aufmunternd zu. Von mir aus konnte der Hund tun und lassen, was er wollte.
Ich kroch zum Schreibtisch hinüber. »Ich stehe jetzt auf, weil ich was nachsehen muss, also krieg nicht gleich die Krise, okay?« Mittlerweile war dem Hund langweilig, und er gähnte so intensiv, dass ich hinten in seiner Kehle ein leises Quietschen vernahm. Vorsichtig richtete ich mich zu knieender Stellung auf und suchte die Schreibtischplatte ab. Da, auf einem Papierstapel, lag die Erfüllung meiner Gebete: ein Packen von Schriftstücken, darunter die Quittung für Richs Zahlung an die San Felipe Self-Storage Company, datiert auf Samstag, den 17. Mai. Ich steckte mir den Zettel in den Mund, ließ mich wieder auf alle viere herab und kroch zur Tür. Da der Hund jegliches Interesse verloren hatte, konnte ich den Flur rasch hinter mich bringen. Ich kroch schnell vorwärts, dann um die Ecke und patschte über den Küchenfußboden. Als ich die Hintertür erreicht hatte, griff ich nach dem Knopf und zog mich hoch. Derartige Übungen fallen mir auch nicht mehr so leicht wie früher. Die Knie meines Overalls waren voller Staub, und ich klopfte mit angeekelter Miene ein paar Flusen ab. Ich nahm die Quittung aus dem Mund, faltete sie zusammen und steckte sie in die Hosentasche.
Als ich durch die Hintertür spähte, um sicherzugehen, dass die Luft rein war, sah ich, dass mein Klemmbrett immer noch auf dem Verandageländer lag, wo ich es zurückgelassen hatte. Ich schimpfte mich gerade selbst dafür aus, dass ich es nicht an einem weniger auffälligen Ort abgelegt hatte, als ich das Geräusch aufspritzender Kiesel hörte und die Schnauze von Richs Lieferwagen in meinem Blickfeld auftauchte. Er hielt an, zog die Handbremse und öffnete die Tür. Bis er ausgestiegen war, hatte ich sechs Riesenschritte nach hinten gemacht und mich praktisch in fliegender Hast durch die Küche in die Waschküche geflüchtet, wo ich hinter die offene Tür schlüpfte. Rich hatte die Tür des Lieferwagens zugeschlagen und machte sich jetzt offenbar auf den Weg zur hinteren Veranda. Ich hörte ihn die Stufen herauftrampeln. Es entstand eine Pause, in der er etwas vor sich hin zu murmeln schien. Wahrscheinlich hatte er mein Klemmbrett gefunden und fragte sich, wo es herkam.
Der Hund hatte ihn natürlich gehört und war blitzschnell aufgestanden und so schnell er konnte zur Hintertür gerast. Mein Herz pochte so laut, dass es klang wie der Wäschetrockner, der sich gerade mit einer Ladung nasser Handtücher abmühte. Ich konnte meine linke Brust gegen die Vorderseite des Overalls vibrieren sehen. Ich möchte es zwar nicht beschwören, aber ich glaube, ich habe meine Unterhose ein ganz klein wenig nass gemacht. Außerdem fiel mir auf, dass das untere Ende meines Hosenbeins durch den Türspalt sah.
Ich hatte es kaum geschafft, mich zu verbergen, als Rich geräuschvoll zur Hintertür hereintrat und das Klemmbrett auf die Arbeitsfläche warf. Er und der Hund tauschten eine rituelle Begrüßung aus. Von Seiten des Hundes bedeutete dies jede Menge freudiges Bellen und Hopsen; von Rich aus eine Reihe von Ermahnungen und Befehlen, von denen keiner eine irgendwie geartete Wirkung zu haben schien. Der Hund hatte mein Eindringen vergessen, abgelenkt von der Begeisterung darüber, sein Herrchen wieder zu Hause zu haben.
Ich hörte, wie Rich durchs Wohnzimmer und weiter den Flur entlangging. Von dort aus betrat er sein Büro und schaltete den Fernseher an. Unterdessen musste der Hund von einem leisen Flüstern der Erinnerung gekitzelt worden sein, da er sich auf die Suche nach mir machte, die Nase dicht am Boden. Versteck spielen ... was für ein Spaß ... und ratet mal, wen er gefunden hat. In null Komma nichts hatte er meinen Overall entdeckt. Nur um zu zeigen, wie schlau er war, schien er tatsächlich ein Auge gegen den Spalt zu drücken, bevor er an dem Stoff zerrte. Er schüttelte den Kopf vor und zurück und knurrte begeistert, während er an meinem Hosenbein zerrte. Ohne nachzudenken, steckte ich den Kopf aus der Tür und legte einen Finger auf die Lippen. Hoch erfreut fing er zu bellen an, wodurch er mich freigab, und tänzelte dann vor und zurück, in der Hoffnung, ich würde mit ihm spielen. Ich muss sagen, es war peinlich zu sehen, wie ein Köter von fünfunddreißig Kilo sich auf meine Kosten dermaßen amüsierte. Rich, dem der Grund dafür verborgen geblieben war, brüllte seinem Hund Befehle zu, woraufhin das Tier unentschlossen dastand und zwischen Gehorsam gegenüber seinem Herrchen und der Freude über seine Entdeckung schwankte. Rich rief erneut nach ihm, und mit einer Reihe überschwänglicher Jaullaute sprang er davon. Als er wieder im Fernsehzimmer angekommen war, wies Rich ihn an, sich hinzusetzen, und offenbar gehorchte er. Ich hörte ihn noch einmal bellen, um sein Herrchen darauf hinzuweisen, dass Amüsement winkte.
Ich riskierte keine weitere Verzögerung. Mit – wie ich hoffte – absolut lautlosen Bewegungen schlich ich an die Tür und öffnete sie einen Spalt weit. Ich stand kurz vor dem Entkommen, als mir mein Klemmbrett einfiel, das auf der Arbeitsfläche lag, wo Rich es hingeworfen hatte. Ich nahm mir die Zeit, danach zu greifen, und schlüpfte dann zur Hintertür hinaus, die ich vorsichtig hinter mir wieder schloss. Ich schlich die Stufen hinab und eilte links die Einfahrt entlang, während ich mir lässig mit dem Klemmbrett auf den Schenkel klopfte. Mein Impuls war eigentlich, zu rennen, sowie ich die Straße erreicht hatte, doch ich zwang mich zu gemäßigter Gangart, da ich keine Aufmerksamkeit auf meinen Abmarsch lenken wollte. Es gibt nichts Auffälligeres als jemanden in Zivilkleidung, der die Straße entlangrennt, als würde er von wilden Tieren verfolgt.
Die Rückfahrt nach Santa Teresa verlief ohne Zwischenfälle, obwohl ich mittlerweile dermaßen unter Adrenalin stand, dass ich mich bewusst darum bemühen musste, nicht zu rasen. Irgendwie sah ich überall Polizisten: zwei an einer Kreuzung, wo sie den Verkehr regelten, weil eine Ampel kaputt war; einer, der hinter einem Gebüsch neben der Auffahrt zum Freeway lauerte; und ein weiterer, der am Straßenrand hinter einem Fahrer anhielt, der resigniert auf den bevorstehenden Strafzettel wartete. Nachdem ich aus der Gefahrenzone entkommen war, achtete ich nicht nur peinlichst darauf, das Gesetz zu befolgen, sondern ich rang außerdem um ein Gefühl der Normalität, was immer das auch war. Das Risiko, das ich in Teddys Haus eingegangen war, hatte meine Wahrnehmung verändert. Ich hatte mich von der Realität gelöst und mich zugleich enger an sie gebunden, so dass mir das »wirkliche Leben« jetzt flau und seltsam glanzlos erschien. Polizisten, Rockstars, Soldaten und Berufskriminelle erleben alle die gleiche Verschiebung – den Sturz aus hochjauchzender Unbezwingbarkeit in unüberwindliche Mattigkeit –, weshalb sie auch dazu neigen, ihre Freizeit mit Leuten aus derselben Branche zu verbringen. Wer sonst könnte den Rauschzustand begreifen? Situationsbedingte Stimulantien beflügeln und putschen einen auf und lassen einen weit über den eigenen mickrigen Verstand hinaus abheben. Hinterher muss man sich mit Reden abreagieren, das Erlebte noch einmal durchmachen, bis die Spannung sich gelöst hat und alle Geschehnisse wieder ihr gewohntes Format annehmen. In mir wallte immer noch dieser Kick, und mein Blick flimmerte. Zu meiner Linken pulsierte der Pazifik. Die Seeluft wirkte so spröde wie eine Glasscheibe. Wie Feuerstein auf Fels erzeugte die spätmorgendliche Sonne auf den Wellen eine Reihe von Funken, bis ich schon fast erwartete, dass der gesamte Ozean in Flammen aufginge. Ich schaltete das Radio ein und suchte einen Sender mit dröhnender Musik. Dann kurbelte ich die Wagenfenster herunter und ließ mir vom Wind das Haar zerzausen.
Sobald ich nach Hause kam, stellte ich den Pappkarton auf den Schreibtisch, zog die Quittung der Lagerfirma aus der Hosentasche und warf den Overall in die Wäsche. Ich hätte nie auf diese Weise in Teddys Haus einbrechen dürfen. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht? Ich war verrückt, vorübergehend unzurechnungsfähig, aber dieser Mann hatte mich wirklich zur Weißglut gebracht. Ich hatte nichts als eine kleine Information verlangt, und die besaß ich nun. Freilich hatte ich keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte. Auf Kontakt zu meinem Ex konnte ich weiß Gott verzichten.
Wir hatten uns im Streit getrennt, und ich hatte meine Erinnerungen an ihn gewissenhaft ausgelöscht. Gedanklich hatte ich jeglichen Verweis auf diese Beziehung getilgt, so dass ich es mir jetzt kaum gestattete, mir seinen Namen ins Gedächtnis zu rufen. Meine Freunde wussten, dass ich mit einundzwanzig geheiratet hatte, aber sie wussten nichts davon, wer er war, und hatten keine Ahnung von dem Anlass für die Trennung. Ich hatte den Mann in eine Kiste gesteckt und ihn auf den Grund meines emotionalen Ozeans absinken lassen, wo er seither dahinschmachtete. Während mein zweiter Mann Daniel mich betrogen und meinen Stolz massiv verletzt hatte, hatte er seltsamerweise mein Ehrgefühl nicht derart angegriffen wie Mickey Magruder. Auch wenn ich mitunter nachlässig gegenüber dem Strafgesetzbuch bin, gehe ich nicht leichtfertig mit Recht und Gesetz um. Mickey hatte die Grenze überschritten und versucht, mich mitzureißen. Ich war überstürzt ausgezogen und hatte in Kauf genommen, den größten Teil meiner Besitztümer aufzugeben, als ich zur Tür hinausmarschierte.
Die Überdosis an chemischen Substanzen sickerte nach und nach aus meinem Kreislauf heraus und ließ Beklommenheit eindringen. Ich ging in die Kochnische und beruhigte mich mit der rituellen Zubereitung eines Sandwichs, indem ich Jif Extra Crunchy Peanut Butter auf zwei Scheiben herzhaften Siebenkornbrots strich. Ich ordnete sechs Scheiben Gewürzgurke wie große grüne Tupfen auf der dicken karamellfarbenen Schmiere an. Das fertige Sandwich halbierte ich diagonal und legte es auf eine Papierserviette, während ich das Messer ableckte. Ein Vorzug des Singledaseins besteht darin, dass man niemandem erklären muss, warum man in Stresssituationen seltsame Gelüste entwickelt. Ich riss eine Dose Cola light auf und aß an der Küchentheke, auf einem Hocker sitzend und über eine Ausgabe der TIME gebeugt, die ich von hinten bis zur Mitte las. Irgendwie interessiert mich nie etwas von dem, was vorne steht.
Als ich fertig war, knüllte ich die Papierserviette zusammen und warf sie in den Müll. Dann ging ich an meinen Schreibtisch. Ich war bereit, die Schachtel mit Erinnerungen durchzugehen, obwohl mir halb davor graute, was ich darin finden würde. So vieles aus der Vergangenheit ist in irgendwelchem Krimskrams eingefangen. Die meisten Menschen werfen mehr Informationen über sich selbst weg, als sie bewusst aufbewahren. Unsere Erinnerung an die Vergangenheit wird nicht nur durch unsere fehlerhafte Wahrnehmung erinnerter Ereignisse verzerrt, sondern durch jene verdreht, die wir vergessen haben. Das Gedächtnis ist wie ein kreisendes Sternenpaar: Einer ist sichtbar, der andere dunkel, und die Flugbahn dessen, was man sehen kann, ist stets von der Schwerkraft dessen beeinträchtigt, was verborgen bleibt.
