Familienerinnerungen - Hermine Wittgenstein - E-Book

Familienerinnerungen E-Book

Hermine Wittgenstein

4,4

Beschreibung

DIE SPANNENDE GESCHICHTE EINER AUSSERGEWÖHNLICHEN FAMILIE Seit Jahrzehnten ist der Name Wittgenstein nicht nur Intellektuellen- und Philosophen-Kreisen, sondern auch der breiteren Öffentlichkeit ein Begriff. Doch während mit diesem Namen in erster Linie der Philosoph Ludwig Wittgenstein, in zweiter Linie der Pianist Paul Wittgenstein, darüber hinaus vielleicht auch deren Vater, der Stahlmagnat Karl Wittgenstein sowie die durch ein Porträt Gustav Klimts bekannte Margaret Stonborough-Wittgenstein verbunden wird, gibt es über weitere Mitglieder der Familie vergleichsweise wenig Literatur. BEEINDRUCKENDE AUFZEICHNUNGEN VON HERMINE ÜBER IHRE FAMILIE Erstmals werden in dieser Edition die bislang unveröffentlichten Aufzeichnungen von Ludwigs ältester Schwester Hermine zugänglich gemacht. Ausführlich und gleichzeitig lebendig beschreibt sie darin die einzelnen Mitglieder der Familie, deren spannende Lebensgeschichten sowie ihre besonderen Eigenschaften, Neigungen und Interessen. Sie erzählt von Schicksalsschlägen und den vielfältigen soziokulturellen Beziehungen, die die Familie mit bekannten Persönlichkeiten wie etwa Paul Engelmann, Ludwig Hänsel und Rudolf Koder pflegte. Eindrucksvoll belegen die neu zugänglichen Schriftstücke außerdem das Kulturverständnis Ludwig Wittgensteins sowie den Einfluss seiner Familie auf seine philosophischen Reflexionen. EIN WERTVOLLES DOKUMENT EUROPÄISCHER ZEITGESCHICHTE Die Chronik beschränkt sich jedoch nicht nur auf private Geschichten der Familie. Die Aufzeichnungen, die Hermine Wittgenstein von August 1944 bis Juli 1947 verfasst, widerspiegeln lebhaft das Bild einer konfliktreichen Zeit "in der Menschen und Dinge gleichermassen vom Untergang bedroht erscheinen" - der Zeit der beiden Weltkriege und des Nationalsozialismus. Mit einem ausführlichen Kommentar und Nachwort sowie zahlreichen Fotos herausgegeben von Ilse Somavilla.

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Hermine Wittgenstein

Familien­erinnerungen

Herausgegeben von Ilse Somavilla

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Vorwort
Familienerinnerungen
I.
II.
III.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
IV.
V.
VI.
VIII.
Kommentar
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
Nachwort
von Ilse Somavilla
Anhang
Literaturverzeichnis
Editorische Notiz
Kommentierung
Dank
Bildnachweis
Fussnoten
Zur Autorin
Impressum

Vorwort

von Ilse Somavilla

Seit Jahrzehnten ist der Name Wittgenstein nicht nur Intellektuellen-, insbesondere Philosophen-Kreisen, sondern auch der breiteren Öffentlichkeit ein Begriff. Doch während mit diesem Namen in erster Linie der Philosoph Ludwig Wittgenstein, in zweiter Linie der Pianist Paul Wittgenstein, darüber hinaus vielleicht auch deren Vater, der Stahlmagnat Karl Wittgenstein sowie die durch ein Porträt Gustav Klimts bekannte Margaret Stonborough-Wittgenstein verbunden werden, gibt es über weitere Mitglieder der Familie vergleichsweise wenig Literatur.

Die Miteinbeziehung der Familie in der Wittgenstein-Forschung wurde zwar in Brian McGuinness’ Biographie Young Ludwig bereits 1988 behandelt, doch beschränkt sich diese, wie der Titel verrät, nur auf die Jahre 1889 bis 1921. 1 Der von Nedo/Ranchetti im Jahre 1983 herausgegebene Bildband war über Jahre vergriffen, ist 2012 aber in einer neuen, überarbeiteten Ausgabe Nedos unter dem Titel Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album (München: C.H.Beck) erschienen, konzentriert sich jedoch vor allem auf Ludwigs Biographie. Weitere Biographien wie die von Ray Monk fokussieren die Verknüpfung von Philosophie und Biographie bei Ludwig Wittgenstein, schenken dem familiären Umfeld aber weniger Beachtung.

Einblicke in die Geschichte der Familie Wittgenstein gewähren der Artikel von Cecilia Sjögren „Die Familie“ 2, die in jüngerer Zeit erschienene Biographie Margaret Stonboroughs von Ursula Prokop 3, der Sammelband zu Paul Wittgenstein, Empty Sleeve4, die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein 5 und der Briefwechsel Wittgenstein-Koder 6, der auf die Bedeutung der Musik für die Familie Wittgenstein eingeht. Diese Arbeiten konzentrieren sich jedoch entweder nur auf einzelne Familienmitglieder (wie Margaret, Paul oder Hermine) oder beinhalten jeweils nur bestimmte Aspekte, ergeben somit nicht ein vollständiges Bild der Geschichte der Familie Wittgenstein mit ihrem vielfältigen soziokulturellen Netzwerk, das sich aus dem inzwischen vorhandenen Material an Schriften der Familie rekonstruieren lässt.

So liegen im Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck mittlerweile ca. 600 Briefe der Familie Wittgenstein (mit Ludwig als Empfänger oder Schreibendem) vor, die, in einer maschinenlesbaren Fassung erfasst, Forschungszwecken zur Verfügung stehen.

Eine Auswahl von 178 Familienbriefen wurde von McGuinness/Ascher/Pfersmann 1996 herausgegeben. 7

Bisher unbekannt sind die im Nachlass von Margaret Stonborough-Wittgenstein 8 aufgetauchten, sich über vier Generationen erstreckenden Briefe sowie Tagebücher der Schwestern Hermine 9 und Margaret, auf die nun zugegriffen werden soll, um den auf verschiedene Art und Weise herausragenden Persönlichkeiten ein Denkmal zu setzen.

Um diese selbst sprechen zu lassen, ist eine Edition ihrer Schriften unerlässlich und somit Basis des angestrebten Projekts, das aus mehreren Teilen – den Familien­erinnerungen Hermines, einer Auswahl von Briefen und Tagebuch-Aufzeichnungen sowie einer wissenschaftlichen Analyse – bestehen soll.

Das umfangreiche Konvolut an Briefen, Tagebüchern und weiteren Schriften dokumentiert die mannigfachen soziokulturellen Beziehungen der Familie, wobei deren großes Interesse an Kunst und Literatur wie auch deren soziales Engagement besonders hervorzuheben sind. Ebenso deutlich zeigt sich die Familienstruktur – die Entwicklung der verschiedenen Identitäten und ihre Beziehung zueinander, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede –, die Rolle der einzelnen Familienmitglieder, wobei frappierende Ähnlichkeiten in Ansichten, Neigungen und Interessen festzustellen sind, so dass der von Ludwig Wittgenstein thematisierte Begriff der „Familienähnlichkeit“ im eigentlichen Sinne des Wortes zutage tritt. Ebenso gewinnen weitere, in der bisherigen Literatur angesprochene Vermutungen oder zum Teil behandelte Themen, die soziokulturellen Beziehungen der Familie betreffend, durch das schriftlich belegte Material an aufschlussreichen Details (über Musik, Literatur, bildende Kunst, über Fragen von Ethik und Religion) an Beweiskraft.

Abgesehen von der Wiedergabe einer „Lebensform“, wie sie in Kreisen des Wien der Jahrhundertwende anzutreffen war, werden auch die in Ludwig Wittgensteins Philosophie als Problemstellungen angesprochenen thematischen Schwerpunkte wie Ethik, Ästhetik und Religion deutlich: anhand der Darstellung der gespannten geistigen und kulturellen Atmosphäre des „fin de siècle“, in der sich Dichter, Denker und Künstler wie Karl Kraus, Adolf Loos, Arnold Schönberg, Otto Weininger u. a. befanden und sich auf ihre jeweils spezifische Art „zu Wort ­meldeten“.

Die Frage stellt sich, wie all diese Bereiche vereinbar und mit Wittgensteins Philosophie zu verbinden sind? Wie lässt sich der Satz aus dem Tractatus „Ethik und Ästhetik sind Eins“ (TLP, 6.421) vor dem Hintergrund dieser Atmosphäre, der kulturgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Zeit verstehen? Und wie lässt er sich aus dem kulturellen und sozialen Ethos der Familie erklären?

Neben der Edition der Texte dient das vorhandene Bildmaterial als eine Ergänzung und besondere Art der Rezeption. Darüber hinaus üben die Fotos jener Zeit eine Funktion des „Zeigens“ aus, da sie für sich sprechen, eine Aura ausstrahlen, die einmalig und im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin) 10 nicht mehr anzutreffen ist. Somit stellen die Bilder neben den Texten eine weitere wertvolle Quelle dar, die ähnlich bleibenden Charakter wie die Schrift-Dokumente haben und in diesem Kontext mitberücksichtigt werden sollen, um die geistige Situation der damaligen Zeit spürbar zu machen. Dieser Aspekt des „Bleibenden“ kann als wertvolles Relikt jener Zeit gesehen werden, wie es heute, wo Bild und Wort einen entschieden flüchtigen Charakter tragen, in dieser Form nicht mehr existiert und somit gerade aus kulturgeschichtlicher Sicht bewahrt werden muss.

Die Relevanz des Projekts besteht in mehrfacher Weise – in kulturgeschichtlicher, historischer und philosophischer Hinsicht bzw. in Hinblick auf Wittgensteins Denken.

Der bei Ludwig Wittgenstein bekannt hohe ethische Anspruch lässt sich als Anspruch der ganzen Familie in eindrucksvoller Weise nachweisen. Sowohl in den ihm vorausgegangenen als auch in den nachfolgenden Generationen stößt man wiederholt auf Äußerungen, die denen des Philosophen auf eine Weise ähneln, als wären sie auf gemeinschaftlicher Basis – durch angeborene oder durch Erziehung geprägte Ansichten sowie durch Gespräche der Geschwister über kulturgeschichtliche Themen untereinander – entstanden.

Somit lassen sich Faktoren, für die Wittgenstein in seiner Philosophie Begriffe wie „Familienähnlichkeit“, „Lebensform“ und „Sprachspiel“ prägte, in den Dokumenten eruieren und im Hinblick auf die spezifische Konstellation der Familie lesen.

Die neu zugänglichen Schriftstücke sind weiters ein wichtiger Beitrag, um das aus seiner familiären Herkunft im Wien der Jahrhundertwende gewachsene Kulturverständnis Ludwig Wittgensteins zu belegen, worauf Janik/Toulmin 11 bereits 1973 hingewiesen haben.

Eines „österreichischen“ Kulturverständnisses, das die vor allem in früheren Jahren, aber auch teilweise noch heute anzutreffende Tendenz, Wittgenstein als angelsächsischen Philosophen zu präsentieren, korrigiert.

***

Zu Beginn bzw. als Einstieg der vorgesehenen Ausgabe von Schriften der Familie Wittgenstein liegen die Familien­erinnerungen von Hermine Wittgenstein vor, die bisher nur als ein Typoskript im Privatdruck erschienen sind und für die weitverzweigten Nachkommen der Familie vervielfältigt wurden.

In diesen Familienerinnerungen beschreibt Hermine nicht nur auf ausführliche und subtile Weise die einzelnen Mitglieder der Familie und deren jeweils besonderen Eigenschaften, Neigungen und Interessen, deren Schicksalsschläge sowie vielfältigen soziokulturellen Beziehungen mit bekannten Persönlichkeiten, sondern zeichnet auch ein lebhaftes Bild einer konfliktreichen Zeit – der Zeit der beiden Weltkriege sowie des Nationalsozialismus, wobei die Familie Wittgenstein erstmals mit ihrer jüdischen Herkunft konfrontiert wurde.

Obwohl Hermine aus sehr persönlicher, damit subjektiver und in mancher Hinsicht kritikwürdiger Weise schreibt, geben ihre Aufzeichnungen eine Aura wieder, die fast verklungen scheint, doch von ihrer Faszination nichts verloren hat – wie die Briefe und Bilder, die aus sich, für sich sprechen, als etwas im Wittgenstein’schen Sinne Zeigendes.

Nicole Immler, die aus kulturhistorischer Sicht und im Rahmen des in den letzten Jahrzehnten zunehmenden Interesses am Topos „Gedächtnisforschung“, insbesondere „Familiengedächtnis“, sich mit Hermines Familienerinnerungen ausführlich beschäftigt hat 12, schreibt in einem weiteren Artikel über das von Hermine nicht Angesprochene bzw. Ausgelassene innerfamiliärer Spannungen und Konflikte. 13

Dieses Nicht-Ausgesprochene sehe ich jedoch in anderen Formen und Möglichkeiten der Mitteilung – den uns zugänglichen Quellen an Briefen, Tagebüchern und Fotos – „unausgesprochen enthalten“. Diese stellen eine Weise der Erinnerung dar, die berührt, ja ergreift und auffordert, bewahrt zu werden.

Hermine Wittgenstein

Familienerinnerungen

Wir schreiben das Jahr 1944. In dieser ernsten Zeit, in der Menschen und Dinge gleichermassen vom Untergang bedroht erscheinen, beginne ich noch rasch einige Familien­erinnerungen festzuhalten, zum Teil um mich selbst daran zu erfreuen, zum Teil um den jüngeren Mitgliedern der Familie ihre Vorfahren näher zu bringen.

Es kann sich dabei nur um eine anspruchslose Aneinanderreihung von Einzelzügen und Einzeltatsachen handeln, um Strohhalme, die, wie das englische Sprichwort sagt, zeigen von welcher Seite der Wind weht. Im vorliegenden Falle sollen sie zeigen von welcher Charakterseite her der Wind wehte. „Straw shows how the wind blows!“

Ich widme diese Niederschrift meinen lieben Nichten und Neffen und ihren Kindern, meinen lieben Grossnichten und Grossneffen. Möchte sie ihnen Freude bereiten!

Wien, im Juni 1944.

Hermine Wittgenstein

I.

Die ersten der eingangs erwähnten Strohhalme, aus denen ich nun ein Mosaik zusammensetzen will, beziehen sich auf die Vorfahren und die Familie meines Vaters.

Meine Grossmutter väterlicherseits hiess mit ihrem Mädchennamen Fanny Figdor, und die erste Kunde über sie, ihren Vater Wilhelm und ihren Bruder Gustav Figdor finde ich in Grillparzers Tagebuch auf seiner Reise nach England im Jahre 1836. Grillparzer trägt an mehreren Tagen ein, was er mit Figdors, Vater und Sohn, in London unternommen habe und er trägt es erfreulicherweise ohne die kleinen Stacheligkeiten ein, die bei ihm nur sehr selten fehlen. Am zweiten Juni ­heisst es dann: „... Musste mit den Beiden in ihre Wohnung nach Islington zum Essen. Fängt an zu regnen. Finde die Tochter. Scheinbar höchst liebeswürdiges Frauenzimmer. Mittagmahl nach englischer Weise, zwei Gerichte, aber vortrefflich, guter Portwein, angenehme Unterhaltung, war höchst liebeswürdig.“

Die Tochter, der diese freundlichen Worte gelten, war Fanny Figdor, nachmals meine Grossmutter, und die ganze Art der Erwähnung der Figdors freut mich sehr, noch mehr aber die Tatsache, dass es bei diesem guten Eindruck geblieben ist; ein seltener Fall bei Grillparzer!

Fanny Wittgenstein geb. Figdor mit den Kindern Anna, Marie und Paul

In seinen Tagebüchern wiederholt sich oft die Situation, dass er zuerst Gefallen an Menschen findet, sich aber bald von ihnen verletzt oder angewidert fühlt, und so das Ganze mit einem Missklang endet. Wie gut, dass das hier nicht der Fall war; über ein Jahrhundert hinweg so etwas lesen zu müssen, wäre bitter! Ein schönes Zeichen der bleibenden Sympathie ist das Stammbuchblatt, das Fannys Bruder Gustav bei diesem Londoner Aufenthalt von der Hand Grillparzers erhielt. Man findet es unter den Gedichten abgedruckt, es lautet:

Für einen jungen Kaufmann.

Ein Kaufmann bin ich auch, ich selbst bin meine Ware;

Doch schenk’ ich nicht davon, ich trachte nach Gewinn.

Wer Herz um Herzen tauscht, dem folg’ ich bis zur Bahre:

Du hast den Preis bezahlt, so nimm mich hin.

Und es zeugt von einer herzlichen Achtung, mit der Grillparzer wahrlich nicht verschwenderisch war.

Wilhelm Figdor und sein Sohn Gustav, von denen oben die Rede war, lebten in Wien als angesehene, ansässige Grosshändler (ein vom Fürsten Metternich eigenhändig unterzeichnetes Empfehlungsschreiben für Wilhelm F. spricht für dessen Angesehenheit) und sie hatten sowohl in London wie in Paris eine Zweigstelle, die von einem Familienmitglied geführt ­wurde. Sie waren Juden, fühlten sich aber, wie man das damals konnte, als Österreicher und wurden auch von Anderen als solche betrachtet. Im Jahre 1836 scheint mein Urgross­vater die englische Zweigstelle geleitet zu haben, und sein Sohn Gustav suchte Grillparzer in London auf. Mittelsmann war vermutlich der jetzt längst vergessene Dichter Ludw. Aug. Frankl, Freund und Hofmeister des jungen Gustav Figdor.

Für mich ist dieser Mann keineswegs unwichtig, denn in ein paar harmlosen, aber offenbar ernst gemeinten Versen, die ein glücklicher Zufall mir erhalten hat, gibt er ein Charakterbild der Schwester seines Freundes, der erst sechzehnjährigen Fanny Figdor, und er zeigt durch allerhand Lichter und Schatten, dass sie schon damals eine ausgesprochene, und zwar eine „kantige“ Persönlichkeit war. Um dieser interessanten Lichter und Schatten willen, – nicht wegen irgendwelcher dichterischen Vorzüge – sollen die Verse in einem Anhang folgen, in den ich alles einreihen möchte, was mir zwar überlieferungswert erscheint, was sich aber nicht gerade auf den Faden dieser Erinnerungen auffädeln lässt. Bekannter als L.A. Frankl sind übrigens die gleichfalls mit Figdors befreundeten Dichter Bauernfeld und Castelli, die noch jetzt einen Namen haben.

Von den Vorfahren der Familie Figdor, die in Kittsee in Ungarn lebten, weiss ich auch, dass einige von ihnen als Subskribenten für ein geschichtliches Werk in hebräischer Sprache aufscheinen, dass also geistige Interessen überhaupt in der Familie heimisch waren.

Wilhelm Figdor, der das Bürgerrecht der Stadt Wien erhielt, war durch viele Jahre Finanzberater der Gemeinde Wien, und ich möchte eine Stelle aus einem ihm gewidmeten Nachruf zitieren:

„In den Wiener Gemeinderat wurde Wilhelm Figdor 1861 gewählt und er gehörte demselben bis 1876 ununterbrochen an. Die grossen Geschäfte, welche er als Chef seines Hauses durchführte, gaben ihm insbesondere in finanziellen Angelegenheiten eine solche Fülle von grossen Gesichtspunkten, dass er dieselben auch in Beziehung auf die finanziellen Fragen der Kommune durch lange Jahre in trefflicher Weise verwertete. Sein Votum in Finanzfragen war daher in den meisten Fällen von entscheidender Bedeutung und er hat sich in dieser Beziehung sehr grosse Verdienste um die Kommune erworben.“

Ein schönes Porträt von Eybl, dem bekannten alt-wiener Maler, zeigt meinen Urgrossvater als einen eleganten Mann mittleren Alters mit sehr ansprechenden, ein wenig pikant-verzwickten Gesichtszügen; sein Sohn Gustav sah ihm körperlich nicht ähnlich, aber sonderbarerweise tauchen die gleichen Gesichtszüge in der dritten Generation bei einem Urgrossneffen, Otto Franz, wieder auf, gepaart mit der gleichen Eleganz, ein Zeichen, dass oft gleichzeitig mit den Gesichtszügen auch andere Eigenschaften von einer Person vererbt werden.

Wilhelm Figdor

Auch Gustav Figdor, der Sohn, war später Gemeinderat und Finanzberater der Gemeinde Wien. Mich interessiert aber hauptsächlich die Tochter Fanny, und das nächste wichtige Schriftstück, das ich besitze und das diese Geschichte in Fluss bringen soll, ist ein – leider undatierter – Brief der damals vierundzwanzigjährigen Fanny Figdor an eine verheiratete Freundin und Verwandte gleichen Namens. Sie gibt darin die Geschichte ihrer Verlobung mit Hermann Wittgenstein, ihrem späteren Gatten, und sie charakterisiert ihn so treffend, dass alles was später von ihm gesagt werden wird, zu diesem Bild passt!

Hermann Wittgenstein in jüngeren Jahren

Hier folgt der Brief:

Theuerste Fanny!

Ich überlaufe Dich mit meinen Briefen wie zudringliche Personen mit ihren Besuchen, allein nicht ich, sondern Du selbst bist an meiner Unbescheidenheit schuld! Denn Deine Güte meinen Brief so schnell beantwortet zu haben und der überaus liebevolle Antheil, den Du an meinen Angelegenheiten nimmst, sind gar zu verführerisch, als dass ich länger hätte zögern können, Dir für beides herzlich zu danken. Ich kann Dir wahrhaftig nicht sagen welche Freude ich gestern mit Deinem lieben Schreiben hatte; aus jeder Zeile haucht mich die wärmste Freundschaft an! Wär’ auch Deine Freude nur auch recht begründet! Allein wir sind noch weit davon und vom gratuli[e]ren ist noch keine Rede. Erst gestern verur­sachte mir diese Ungewissheit eine schreckliche Stimmung. Kurz zuvor, ehe ich Dein liebes Schreiben erhielt, kam ein Billet von Obermeier an Papa gerichtet. Da ich wusste, dass in Betreff einer gewissen Person nach Augsburg geschrieben wurde, so konnte ich mich nicht enthalten, ein wenig in das Billet zu gucken. Es hiess, der Papa möchte sich zu Obermeier verfügen, um in einer interessanten Angelegenheit manches zu vernehmen. Nun ist aber der Papa und Gustav in Baden auf vierzehn Tage und ich war somit der grössten Ungewissheit, Angst, Zweifeln preisgegeben. Denke Dir wie mir zu Muthe war! Gleich darauf erhielt ich Deine lieben Zeilen, die soviel Hoffnung und Freude enthalten; ich wusste nicht, welchen Gefühlen ich mich hingeben sollte.

Dein lieber Mann war auch diesmal, wie er es schon auf unserer Reise war, mein guter Engel. Er nahm sich der Sache an, ging zu Obermeier und brachte mir nach einigen Stunden die beruhigendsten Nachrichten. Madame Obermeier schrieb nämlich, dass sie an ihre beiden Schwiegersöhne geschrieben habe, um über die pecuniären Verhältnisse Auskunft zu erhalten, einstweilen aber Madame Oppenh., die jetzt in Augsburg ist, befragt habe. Madame O. kennt Wittgenstein genau, da er ein intimer Freund ihres Mannes ist, und sagt daher alles Gute von ihm, was seine Persönlichkeit anbelangt. Du kannst Dir denken, wie sehr mich diese Nachrichten beruhigten.

Liebe Fanny! Ich kann mir Dein Erstaunen denken; ist mir’s doch selbst zu Muthe, als spielte ich nur eine Rolle in irgend einem Mährchen, so vom Himmel herabgefallen ist die ganze Sache. Da Dein lieber Mann Dir unsere Schneebergpartie ausführlich erzählt hat, (ich hoffe er wird mir keinen schlechten Ruf gemacht haben) so übergehe ich diese mit Stillschweigen um Dir lieber etwas über den Verlauf der Bekanntschaft und über seine Persönlichkeit zu sagen. Wittgenstein ist ein guter Bekannter von Bernhard und Fritz, da er mit beiden oft in Aachen beisammen war. Gustav, der vor vier Wochen in Pesth war, lernte durch Fritz, Wittgenstein und einen gewissen Herrn Nellison kennen.

Nellison ist einer der ersten Tuchfabrikanten der Niederlande und der ständige Begleiter Wittgensteins, da sie in Geschäftsverbindung stehen. Beide Herren kamen hierher nur auf acht Tage, Gustav, der gerne Fremde sieht, bath den Papa beide einzuladen, was letzterer übrigens ungerne that, da er, wie er sagte, nicht wusste zu was. Sie speisten also beide da. Nellison, der hübsch und sehr lebhaft ist und überhaupt französischen Ton besitzt, überdies neben ­Nanette bei Tisch sass, näherte sich sehr Nanetten und machte ihr sogar ordentlich die Cour. Wittgenstein war daher auf mich hingewiesen. Sein Äusseres machte auf mich gar keinen angenehmen Eindruck, da er einen strengen, kalten, ja sogar schroffen Ausdruck im Gesicht hat. Das Gespräch über die ernsthaftesten Gegenstände hinzugerechnet und Du kannst Dir denken, wie sonderbar mich diese Erscheinung berühren musste, im Vergleich mit unseren, nur auf der Oberfläche der Dinge schwimmenden Herren.

Als beide das zweitemal kamen, war Wittgenstein viel liebenswürdiger und zuvorkommender und mir zusagender. Sie engagi[e]rten mich und Gustav, Samstag die Partie nach Baden über die Brühl zu machen, was wir beide gerne annahmen. Wir fuhren nachmittag um halb drei Uhr fort und kamen um halb zwölf Uhr nachts in Baden an. Eine lange Zeit zur Unterhaltung, jedoch uns erschien sie nicht zu lange. Den folgenden Tag und Montag den halben Tag brachten wir zusammen zu, obgleich in grosser Gesellschaft, da Nanette, Papa, Ferdinand und Paul uns in Baden erwartet hatten. Wittgenstein besuchte uns nach dieser Partie einmal nachmittags, näherte sich mir immer mehr und thaute auf im buchstäblichsten Sinn des Wortes. Ein paar Tage nachher kommt Wittgenstein zum ersten Male ohne seinen Begleiter und zwar zum Speisen. Das war mir rein unbegreiflich; denke Dir meine Überraschung als mir Nanette, als er fort war anvertraute, er habe an demselben Vormittag mit dem Papa gesprochen und förmlich um mich angehalten. Nun kam es denn auf meine Stimme an, – und ich fühlte zum ersten Mal kein positives Widerstreben. Dies war schon viel, ich liess also der Sache ihren Lauf; nach ein paar Tagen machten wir die grosse Partie, wo Dein lieber Mann die schöne Rolle eines Beschützers der Liebenden übernahm; und war es die herrliche Natur, oder die Beweise und Versicherungen der aufrichtigsten Liebe, genug, ich fühlte mich in der Stimmung nicht Nein zu sagen, wenn auch nicht geradezu Ja, da der Papa keine Silbe noch mit mir gesprochen hat, was übrigens, Du wirst es kaum glauben, bis jetzt noch nicht geschehen ist.

Wittgenstein, der schon seine Frist um zehn Tage verlängert hatte, konnte sich hier nicht länger aufhalten, indem seine Geschäfte ihn dringend riefen. Er begnügte sich daher mit den Hoffnungen, die ich ihm gegeben habe und bath um die Erlaubnis schreiben zu dürfen, was der Papa ihm auch gestattete. Von Frankfurt erwarten wir seinen ersten Brief, wenn er in seinen Gefühlen und Ansichten übrigens noch derselbe ist …

Nun bist Du so au fait aller bisherigen Ereignisse wie ich selbst. Ich wollte nur schon wissen, wie Wittgenstein Dir gefallen würde. Dein Urtheil ist ein kompetentes. Die übrigen Mitglieder der Familie spricht er an, denn er hat viel savoir vivre und er hat, (nicht nur nach meinem Urtheil) viel Verstand. Er ist ein Mann von fünf bis sechsunddreissig Jahren und durchaus nicht hübsch. So stehen die Sachen, denke daher in welch gespannter Stimmung ich mich befinde! Auch die kurze Bekanntschaft macht mir sehr bange. Welch weite Kluft liegt zwischen dem gesellschaftlichen Leben und dem ehelichen! Ich wollte ich wäre um zehn Jahre jünger, um einer Menge banger Besorgnisse zu entgehen! Du fragst, ob mich dieser Stein nach England ziehen wird? Nach England wohl nicht aber nach Deutschland …“

Hermann W. war nicht der Mann, sich in seinen Gefühlen und Ansichten zu ändern. Die Ehe wurde im Jahre 1839 geschlossen und Fanny zog mit ihrem Gatten nach Deutschland.

(Zu Fannys Brief sind ein paar Kleinigkeiten zu bemerken: Ich weiss nicht wen die vielen erwähnten Vornamen bezeichnen, unter Nanette aber stelle ich mir, ob mit Recht oder Unrecht, eine eher junge Verwandte vor, die im Haus des früh verwitweten Vaters als Gardedame Fannys lebte. Die Worte „Papa ist in Baden für vierzehn Tage“ spielen auf einen schönen Sommersitz an, den der Vater in Baden besass, auf dem er sich gerne aufhielt und der auch jetzt noch der Familie Figdor gehört. Im Geschmack seiner Zeit, des frühen Biedermeier erbaut und eingerichtet, standen zwei reizende kleine Häuser in einem grossen Garten. Die Möbel waren besonders schön und entgegen dem landläufigen Biedermeier-Stil von fast monumentaler Grösse. Auch die Möbel, die Fanny zu ihrer Ausstattung erhielt, waren sehr geschmackvoll und gediegen; davon zeugen noch ein Sofa, Fauteuils und Sessel, die jetzt meinem Bruder Paul gehören. Ich will sie beschreiben, damit sie, was immer geschehe, als Andenken in der Familie gehütet werden: sie sind im Geschmack des späten Biedermeier gehalten, die Holzteile aus hellem Mahagonyholz, der Überzug grauer Chintz mit breiten Rosenstreifen. Nicht uninteressant finde ich übrigens den Umstand, dass die sehr bedeutende Mitgift Fannys laut Ehevertrag in k.k. Silberzwanzigern vereinbart wurde und wohl auch so ausgezahlt worden ist.)

Hermann Wittgenstein und seine Familie waren Woll­grosshändler und standen hauptsächlich mit England in Geschäftsverbindung. Der Name Wittgenstein ist ein angenommener, die Familie hiess ursprünglich Mayer und war in ihrem Wohnort Korbach im Fürstentum Waldeck sehr angesehen wegen ihrer Wohltätigkeit; ein Altersheim z.B., das ein Mitglied der Familie gegründet hatte, trug den Namen „Mayer’sches Altersheim“. Wann und von welchem Vorfahren der Name geändert wurde, weiss ich nicht. Hermann Wittgenstein hatte als Mitglied seiner Firma oft zu reisen, Güter aufzusuchen wo Schafzucht betrieben wurde, sei es in Ungarn oder Polen, Wollmärkte zu besuchen etc. Das gab ihm Gelegenheit, manches von der Welt zu sehen. Durch seinen Fleiss war es ihm möglich geworden, seiner Frau ein behagliches Dasein zu bieten, und die Ehe wurde eine sehr glückliche.

In Gohlis bei Leipzig, wo das Ehepaar Wittgenstein bis zum Jahre 1851 wohnte, wurden den Beiden zehn Kinder geboren, eine grosse Aufgabe für meine Grossmutter, die ihre Pflichten sehr ernst nahm. – Ich besitze zwei Ölbilder, die meine Grosseltern in den ersten Jahren ihrer Ehe zeigen. Ernst und Energie sind deutlich auf dem Gesicht des Mannes zu lesen, die Frau sieht sanft aus, aber sanft war meine Grossmutter nicht; sie war energisch und eher scharf, auch scharfblickend, denn von ihr stammt das Wort: „Das Zimmer der Hausfrau muss ein strategischer Punkt sein.“ Wenn ich oben ihre Persönlichkeit „kantig“ nannte, so fällt mir jetzt das gut österreichische Wort „hantig“ dazu ein, das Tüchtigkeit mit Schärfe gepaart ausdrückt und das bestimmt zu meiner Grossmutter passt. Sie brauchte auch jedenfalls Energie und Scharfblick in genügendem Mass zur Führung ihres grossen Haushalts.

Joseph Joachim

Im Jahre 1843 nahm das Ehepaar Wittgenstein den zwölfjährigen Joseph Joachim, einen Vetter Fannys, nach Leipzig und in ihr Haus, um dem hochbegabten Knaben die letzte geigerische Ausbildung an dem von Felix Mendelssohn gegründeten Konservatorium angedeihen zu lassen.

Der weitblickende Hermann Wittgenstein brachte den Knaben direkt zu Felix Mendelssohn, der damals auf der Höhe seines kurzen, strahlenden Ruhmes stand und dessen Kreis fast alle grossen Musiker seiner Zeit umfasste. Auf die erstaunte Frage Mendelssohns, was er den kleinen Geiger denn lehren soll? antwortete Hermann W. einfach: „Er soll Ihre Luft atmen!“ Und gewiss ist kaum mit Worten zu erschöpfen, was es für den Menschen und Künstler Joachim bedeutet hat, schon in den Entwicklungsjahren mit einem so erlesenen Kreis in Berührung gekommen zu sein. Felix Mendelssohn fand den Knaben bei genauer Prüfung als Geiger vollendet, verlangte aber, dass er sich nun auch eine absolut harmonische Gesamtbildung aneigne. Er suchte selbst die geeigneten Lehrer für ihn aus und nahm ihn ganz unter seine Fittiche.

Ein Brief von Mendelssohn an Hermann Wittgenstein gerichtet und den dreizehnjährigen Knaben Joachim betreffend, war zuletzt im Besitz meines Onkels Louis Wittgenstein, fand sich aber leider nach seinem Tod nicht vor. Ich schreibe ihn aus der Joachim-Biographie von Moser ab. Er lautet:

Verehrter Herr Wittgenstein!

Ich kann’s nicht unterlassen wenigstens mit einigen Worten Ihnen zu sagen, welch einen unerhörten, beispiellosen Erfolg unser lieber Joseph gestern Abend im philharmonischen Konzert durch seinen Vortrag des Beethovenschen Violinkonzertes gehabt hat. Ein Jubel des ganzen Publikums, eine einstimmige Liebe und Hochachtung aller Musiker, eine herzliche Zuneigung von allen, die an der Musik teilnehmen und die schönsten Hoffnungen auf solch ein Talent bauen, – das alles sprach sich am gestrigen Abend aus. Haben Sie Dank, dass Sie und Ihre Gemahlin die Ursache waren, diesen vortrefflichen Knaben in unsere Gegend zu bringen; haben Sie Dank für alle Freude, die er mir namentlich gemacht hat, und erhalte ihn der Himmel nur in guter fester Gesundheit, alles andere, was wir für ihn wünschen, wird dann nicht ausbleiben – oder vielmehr es kann nicht ausbleiben, denn er braucht nicht mehr ein trefflicher Künstler und ein braver Mensch zu werden, er ist es schon so sicher wie es je ein Knabe seines Alters sein kann oder gewesen ist.

Die Aufregung, in die er schon in der Probe alle Leute versetzt hatte, war so gross, dass ein rasender Applaus anfing, sobald er gestern ins Orchester trat und es dauerte sehr lange, bis das Stück begonnen werden konnte. Dann spielte er aber den Anfang so herrlich, so sicher und rein und trotzdem dass er ohne Noten spielte mit solcher untadeligen Festigkeit, dass das Publikum ihn noch vor dem grossen Tutti dreimal durch Applaudieren unterbrach und dann das halbe Tutti durchapplaudierte; ebenso unterbrachen sie ihn einmal mitten in seiner Kadenz, und nach dem ersten Stück (Satz) hörte der Lärm eben nur auf, weil er einmal aufhören musste und weil den Leuten die Hände vom Klatschen und die Kehlen vom Schreien weh tun mussten. Es war eine grosse Freude das mitanzusehen, und dabei des Knaben ruhige und feste, durch nichts angefochtene Bescheidenheit. Er sagte mir nach dem ersten Stück (Satz) leise: „Ich habe doch eigentlich sehr grosse Angst.“ Der Jubel des Publikums begleitete jede einzelne Stelle das ganze Konzert hindurch; als es aus war und ich ihn die Treppe heruntergebracht hatte, musste ich ihn noch einmal wieder holen, dass er noch einmal sich bedanke, und auch dann dauerte der donnernde Lärm noch bis er lange wieder die Treppe herunter und aus dem Saal war. Ein Erfolg, wie der anerkannteste und berühmteste Künstler nie besser wünschen und besser haben kann.

Der Hauptzweck, der bei seinem ersten Aufenthalt in England nach meiner Meinung zu erreichen war, ist hierdurch auf’s vollständigste erreicht. Alles was sich hier für Musik interessiert ist ihm Freund und wird seiner eingedenk bleiben. Nun wünsche ich was Sie wissen: dass er bald zu vollkommener Ruhe und gänzlicher Abgeschiedenheit vom äusserlichen Treiben zurückkehre, dass er die nächsten zwei bis drei Jahre nur dazu anwende, sein Inneres in jeder Beziehung zu bilden, sich dabei in allen Fächern seiner Kunst zu üben, in denen es ihm noch fehlt, ohne das zu vernachlässigen, was er schon erreicht hat. Fleissig zu componieren, noch fleissiger spazieren zu gehen und für seine körperliche Entwicklung zu sorgen, um dann in drei Jahren ein so gesunder Jüngling an Körper und Geist zu sein, wie er jetzt ein Knabe ist. Ohne vollkommene Ruhe halte ich das für unmöglich; möge sie ihm vergönnt sein zu allem Guten, was der Himmel ihm schon gab.

An Ihre Frau ist der Brief mitgerichtet, also nur noch ein kurzes Lebewohl von Ihrem ergebensten

Ein Brief Hermann W.’s aus etwas späterer Zeit, an seine Frau gerichtet und ebenfalls Joachim betreffend, ist von Wichtigkeit, weil er die Charaktere des Ehepaares sehr gut beleuchtet. Es hatten sich offenbar Schwierigkeiten dadurch ergeben, dass Joachim, der trotz seiner vierzehn Jahre ein reifer Künstler war, sich wie ein Kind der Hausordnung fügen sollte, und ein Zustand von fortgesetzten Reibungen zwischen Fanny W. und ihrem jungen Vetter scheint während der Abwesenheit ihres Gatten zu einem plötzlichen Ausbruch geführt zu haben. Aus der ruhigen, ernsten Antwort des Gatten kann man sich nicht nur den aufgeregten Brief seiner Frau rekonstruieren, sondern überhaupt die ganze Situation, unter der der Mann offenbar schon lange gelitten hatte. Hermann W. versichert in diesem Antwortbrief seiner Frau zuerst, dass er körperlich vollkommen wohl sei, fährt dann aber fort:

„… einen der wunden Flecke meines Herzens aber, berührst Du so fest, dass ich Dir darauf antworten muss: ich lasse in Bezug auf Joseph Deinen Gründen, soweit sie Dich betreffen, volle Gerechtigkeit widerfahren. Du bist nicht zu anhaltenden Opfern für ihn berufen. Du hast soviel gethan wie keiner seiner Verwandten und es ist in Deiner innersten Beschaffenheit begründet, dass eine Trennung unwiderruflich Statt haben muss. Also dagegen ist nichts zu thun, noch weniger zu sagen; aber in Allem andern irrst Du und solltest auf Gegengründe hören.

Weil Joseph’s Wohnen bei uns nicht mehr thunlich ist, muss man ihn nicht eine Reise wider Willen machen lassen, einen Unterricht, den er oder wir für ihn gesucht haben, unterbrechen und Zeit und Geld und Alles in die Schanze schiessen. Das können wir nicht vor uns verantworten, vor den Leuten vielleicht, weil sie nicht erfahren, von wo der Schlag geführt wird. Dagegen glaubst Du, wir könnten es nicht vor den Leuten verantworten, wenn er ein Zimmer für sich in einem Hause erhalte, wo er sein eigenes Clavier, völlige Freiheit und Ruhe habe, wenn er das erhält was ihm Noth thut und was wir ihm nicht geben können. Nun ich gebe nichts auf das, was die Leute sagen; aber in diesem Falle darfst auch Du ruhig sein, denn die lieben Leute werden erfahren, dass wir damit einen Wunsch Joseph’s erfüllen und ein Bedürfnis zugleich.

Liebe Fanny, warte bis ich zurückkomme, dann nehmen wir für Joseph ein Zimmer, wo immer; lasse ihn bis dahin nicht zu schwer seine Abhängigkeit fühlen und später wird er Dir wie mir ein willkommener Gast an unserem Tisch sein. Wir werden ihn gemeinschaftlich erziehen ohne grosse Mühe. Ich bin so wahrhaftig überzeugt von dem was ich schreibe, dass ich mit Beruhigung Deiner Zustimmung entgegenharre und diesen Gegenstand verlasse ...“

Auch eine andere schöne, charakteristische ­Briefstelle bezieht sich auf Joachim. Hermann W. schreibt seiner Frau, wie sehr ihn nach einer langen Reise, auf der er öde Wollmärkte zu besuchen hatte, die Sehnsucht nach Hause ziehe; dann heisst es:

„Ich verfolge dennoch den Markt bis zu Ende und klage weder darüber noch über die Hitze, die mich sehr in Ruhe gelassen, weil ich gar nicht an sie gedacht habe. – Joseph thut sehr unrecht, so ängstlich für seinen Leichnam besorgt zu sein; ich wünsche ihm gewiss alles Gute, allein er sollte doch Rücksicht darauf nehmen, dass der Mensch oft vom Schicksal wie aus Laune von den Armen des Wohllebens auf das Pflaster der härtesten Entbehrungen geworfen wird, wogegen nichts schützt als der Stoicismus, nämlich Abhärtung. Nächst diesem, wenn nicht vor kömmt das Beschäftigtsein: würde ihn irgend ein Gedanke, sei es ein musikalischer, oder jeder andere Gedanke ganz fassen beim Austritt aus seiner Stube, so käme er nach Gohlis und erführe erst von ‚mir schwitzt‘ dass es heiss sei wie ich es eigentlich erst von Dir erfahre.

Jetzt steht es ihm frei, sich zu denen zu stellen, die Untertanen sind von jeder Widerwärtigkeit und deshalb an Leib und Seele gebrochen worden, oder ob er sich denen zugesellen wird, die als Freie aufrecht einhergehen, unbekümmert um Wind und Wetter, an das Ziel denkend, nicht an den Weg. Bald wäre es zuviel davon, besonders weil es nicht hilft; aber fahren wir fort, auf unsere Kinder durch Beispiel und Lehre zu ihrem Glück daraufhin zu wirken.“

(Ganz wenige Briefe von Hermann W. an seine Frau sind uns erhalten geblieben, und ich möchte die übrigen nicht zerpflücken, sondern sie so wie sie sind im Anhang bringen. Der Ausdruck „mir schwitzt“ im obigen Brief unter Anführungszeichen gebracht, dürfte wohl von einem der Kinder herrühren.)

Leider habe ich meinen Grossvater nicht gekannt, ja nicht einmal gesehen, – er starb als ich vier Jahre alt war – und die spärlichen Überlieferungen geben mir keine deutliche Vorstellung von seinem Wesen. Aus seinen Briefen spricht neben der Ehrenhaftigkeit und dem Verstand viel Herzensgüte. Es wurde mir auch oft erzählt, wie zärtlich er seine Töchter liebte und wie schmerzlich es ihm war, wenn eine nach der anderen das Elternhaus verliess, um zu heiraten. Ja, als Anna, die älteste, den Anfang machen sollte, übermannte ihn beim letzten Mittagessen der Schmerz so stark, dass ihm plötzlich die Tränen in die Suppe rollten. Gegen seine Enkel war er gütig und nachsichtig, und es war ihnen – nicht nur wegen der Süssigkeiten, die er für sie in der Tasche trug – wohler in seiner Nähe, als in der Nähe der alles sehenden und vieles tadelnden Grossmutter. Dagegen kann ich ihn mir nicht eigentlich behaglich im Umgang vorstellen, ich spüre immer die etwas steife, würdevolle Art, die meine Mutter später so fremdartig berührte und die meinen Vater, der nichts weniger als steif war, die häuslichen Mittagessen „das Hochamt“ nennen liess.

Seltsamerweise hat mein Grossvater für sich selbst eine Anthologie der ihm liebsten Gedichte angelegt, das heisst er hat sie eigenhändig geschrieben; ich habe aber leider dieses Bändchen, von dem ich mir einen Aufschluss über den Auswählenden verspräche und das mich deshalb lebhaft interessieren würde, noch nicht auffinden können. Ich würde ja alles begrüssen, was mir die einzelnen Wesenszüge meines Grossvaters zu einem Ganzen verschmelzen könnte, und da scheinen mir eigentlich die körperlichen Züge des alternden Mannes, wie sie uns die Photographie zeigt, aufschlussreicher als alles andere: der grosse Ernst, der meiner Grossmutter gleich in der ersten Stunde der gegenseitigen Bekanntschaft einen so starken Eindruck gemacht hat, springt als erstes in die Augen!

Hermann Wittgenstein im Alter

Von diesem Ernst aus betrachtet, erscheint es mir dann nicht mehr so seltsam, dass mein Grossvater vom Augsburger Bekenntnis zum helvetischen übertrat, – überzeugt durch den Superintendenten Gottfried Franz, den Schwiegervater seiner beiden Kinder Anna und Louis, – es zeigt eben, dass er, wie alles andere, auch Religionsfragen sehr ernst nahm. Zum Schluss setze ich die schönen Worte her, mit denen mein Grossvater sein Testament einleitet.

„Nach zurückgelegtem siebenzigsten Lebensjahr ist es nicht sowohl die Unsicherheit der Lebensdauer im Allgemeinen, als die Sicherheit eines verhältnismässig nahen Todes, welche mich die nachstehenden Bestimmungen als meinen letzten Willen treffen lässt. Vorher danke ich meinem Schöpfer, dass dies unter Verhältnissen geschieht, die mir die Sorge um meine Familie, insoweit es sich um eine bescheidene Existenz handelt, abnehmen und so meinen Heimgang wesentlich erleichtern werden.

Ich habe unter andern sorgenvollen Umständen meine Carrière begonnen; auf eigene Kraft angewiesen, war ich nie kleinmütig, habe nie um die Gunst eines Menschen geworben, oder sie empfangen und bestrebt es den Bessern gleich zu thun, war ich niemals von ihnen verachtet.

Ich danke meiner lieben Frau und meinen lieben Kindern für das, was sie zur Verschönerung meines Lebens beigetragen haben, bitte sie die gewohnte Eintracht und Liebe als ein ehrenvolles Denkmal für mich zu bewahren und testiere wie folgt: ...“

***

Man sollte nun denken, dass ich über meine Grossmutter Fanny Wittgenstein mehr zu erzählen wüsste, als über den Grossvater, den ich nie gesehen habe, denn als sie starb, war ich doch schon sechzehn Jahre alt. Ja, gesehen habe ich sie wohl, aber gekannt habe ich sie nicht; jemand kennen heisst über ihn nachdenken, und das war mir nicht gegeben. Überdies entrückte das stark betonte Respektsverhältnis, in dem wir Enkel alle zu dieser Grossmutter standen, sie für mich in eine besonders unnahbare Sphäre!

Wenn ich mich jetzt in alte Zeiten zurückversetze und mir meine Grossmutter vorzustellen versuche, so sehe ich sie als eine ziemlich kleine, sehr bewegliche alte Dame mit scharfen Zügen, scharfer hoher Stimme und lebhaften grauen Augen vor mir. Mich selbst sehe ich als etwa zwölfjähriges Mädchen ihr gegenüber im Fiaker sitzend; sie nimmt mich zum Zuckerbäcker mit, bei dem sie Einkäufe machen will, und das ist lieb gemeint. Ich bin aber in steter Angst, sie könnte mich etwas fragen, was ich gelernt haben müsste, und da ich doch genau weiss, dass ich nicht das geringste gelernt habe, so wird mir nicht wohl in meiner Haut. Mir schmeckt nicht einmal das Gefrorene so recht, das überdies sehr rasch gegessen werden muss, denn meine Grossmutter ist immer in Eile.

Auch aus späterer Zeit habe ich kaum vernünftigere Erinnerungen an sie, aber glücklicherweise sind so viele ihrer Äusserungen, Briefe usw. überliefert, dass es auf mich gar nicht ankommt, um ihr Bild deutlich zu machen. Ihre Menschenkenntnis, ihr klarer Verstand, ihre Freude an Reisen werden in dem Folgenden sichtbar werden, ich will nur noch hinzusetzen, dass sie bis in ihr hohes Alter für ihre vielen musikalischen Schützlinge sorgte, die sie sehr verehrten.

Interessant in zweifacher Hinsicht ist das Testament meiner Grossmutter. Erstens wegen einer Stiftung von dreizehntausend Gulden, die sie aussetzte. Zweck der Stiftung war, wie der Stiftsbrief sagt: „österreichischen jungen Männern, die bereits sechs Universitätssemester studiert haben und Lehrer werden sollen, vor ihrer Anstellung Stipendien zu gewähren.“ Der Stiftsbrief trägt folgendes schöne Motto, das einem Brief von Bismarck, der anscheinend eine ähnliche Stiftung gemacht hat, entnommen ist:

„Dagegen bedarf das höhere Lehrfach auch noch deshalb einer besonderen Unterstützung, weil es in seiner idealen Gesinnung, – ohne welche der Lehrstand seinem mühevollen und selten einträglichen Beruf nicht würde treu bleiben können, – ein sittliches Gegengewicht zu dem Materialismus der Zeit darstellt. Die Erhaltung und Pflege dieser Gesinnung bei der Jugend liegt in den Händen der Lehrer.“

Der zweite interessante Punkt in dem Testament ist folgender: meine Grossmutter, die ihrer unverheirateten Tochter Clara verhältnismässig wenig, ihrer wegen Krankheit entmündigten Tochter Klothilde gar nur den Pflichtteil hinterliess, vermachte den restlichen Teil ihres Vermögens ihren zum Grossteil minderjährigen Enkeln, den Kindern ihrer Töchter, mit Übergehung dieser Töchter, denen sie nur den Fruchtgenuss einräumte. (Die Töchter, um die es sich hier handelte, waren Anna Franz, Marie Pott, Fine Oser, Bertha Kupelwieser, Milly von Brücke und Lydia von Siebert.) Das Vermögen sollte unangetastet bleiben und den Enkeln erst nach dreissig Jahren ausgezahlt werden, ungeschädigt durch eventuelle Unvorsichtigkeiten, die die Mütter inzwischen mit ihrem eigenen Vermögen begangen haben konnten; das war der Sinn dieser Verfügung. In so einem Fall der Übergehung der Eltern zugunsten der minderjährigen Kinder wird das Vermögen bei Gericht deponiert und mündelsicher angelegt, das heisst es kommen für die Anlage nur Staatspapiere, keine Industriepapiere in Betracht und die Anlage darf unter keinen Umständen geändert werden (übrigens gelten auch Grund und Boden als mündelsicher, da aber ihre Verzinsung meist eine äusserst geringe ist, kommt diese Anlageart selten in Frage).

Zur Zeit des Todes meiner Grossmutter, im Jahre 1890, schien der österreichische Staat so unzweifelhaft stabil, dass alle Töchter, – mit Ausnahme von Bertha Kupelwieser, die das Gut Kyrnberg für ihre Kinder kaufte, – die Staatspapiere wählten, und es war auch nur der Wunsch nach einer besseren Verzinsung, der den Vormund der Pott’schen Söhne, meinen Onkel Louis Wittgenstein, zu einer Umgehung der Vorschriften bewog: die Staatspapiere wurden wohl gekauft und bei Gericht deponiert, aber mein Onkel lieh von der Bank Geld auf diese Papiere aus und kaufte dafür gute Industriepapiere, aus deren Erträgnissen er leicht die Zinsen an die Bank zahlen konnte.

Diese beiden Erbteile, das Kupelwieser’sche und das Pott’sche, waren nun die einzigen, die ihren Wert behielten und die Idee der Grossmutter verwirklichen konnten. Die kluge, Vorsehung spielende Frau hatte sich ja verrechnet! In die dreissig Jahre nach ihrem Tod fiel der erste Weltkrieg und zerstörte den Staat, der den schönen mündelsicheren Papieren ihren Wert verleihen sollte. Es kam die Inflation, in der jeder nicht reale Wert dahinschmolz. Auch das Vermögen meiner Grossmutter schmolz wie Butter an der Sonne, und die Zinsen wurden so geringfügig, dass es sich kaum lohnte sie abzuholen. Ich weiss, wie sehr meine Tante Fine Oser (die Schwester meines Vaters) sich jedesmal ärgerte, wenn sie, die inzwischen alt und gebrechlich geworden war, sich gezwungen sah ein Taxi zu nehmen und bei Gericht mehrere Stockwerke hoch zu steigen, um den lächerlich kleinen Betrag persönlich entgegen zu nehmen. Aber man musste dem Zerfallsprozess untätig zusehen, denn die Anlage durfte ja nach dem Gesetz nicht geändert werden, und im Jahre 1920 konnten die Erben endlich die fast wertlos gewordenen Papiere beheben.

Zu erwähnen ist schliesslich noch als schönes Zeichen der Einigkeit unter den Geschwistern, dass die verheirateten Schwestern sich bei der Durchführung des letzten Willens der Mutter nicht an den Buchstaben hielten, sondern gleiche Teile schufen und bloss verfügten, dass das vergrösserte Erbteil Klothildens nicht zu ihren Handen, sondern ihrem Kurator Dr. Albert Figdor, einem Vetter, ausgezahlt wurde.

II.

Die Erwähnung des Testaments der Grossmutter hat mich am Ende des vergangenen Abschnittes in eine spätere Zeit geführt, in der ich noch nicht weitergehen möchte; ich kehre daher zurück bis zu dem Jahr 1854, in dem die Übersiedlung der Familie von Deutschland nach Österreich erfolgt. Hier wurde dauernder Wohnsitz genommen und hier begann mein Grossvater neben dem Kaufmannsberuf sich mit Landwirtschaft zu beschäftigen, Güter zu pachten und zu meliorieren; später wurde das sein Hauptberuf.

In Österreich wurde das elfte Kind geboren und diese elf Kinder sind: mein Vater Carl, geb. 1847, seine Schwestern Anna, geb. 1840, Marie, geb. 1841, Bertha, geb. 1844, Fine, geb. 1848, Clara, geb. 1850, Lydia, geb. 1851, Milly, geb. 1854, und Clothilde, geb. 1855, und seine Brüder Paul, geb. 1842, und Louis, geb. 1845. Das gab eine Reihe der verschiedenartigsten Individualitäten, die sich schon frühzeitig zeigten und die zu charakterisieren später meine Aufgabe sein wird. Keine leichte Aufgabe, aber eine schöne, an die ich mit grosser Liebe gehen werde.

Da ich schon erwähnte, dass Carl mein Vater ist, kann ich ebensogut auch bei den anderen Geschwistern vorgreifend erzählen, welche von ihnen sich vermählten und mit wem, und welche unverheiratet blieben.

Anna, die Älteste, heiratete den Landesgerichtsrat Emil Franz, Marie einen Herrn Pott, dessen Vornamen und Beruf ich nicht kenne, da die Ehe sehr früh geschieden wurde, Bertha den Advokaten Karl Kupelwieser, Sohn des Malers Kupelwieser, Fine den Professor an der Technischen Hochschule Johann Oser (Muck genannt), Milly den Richter Theodor Brücke, Lydia den Offizier Josef Siebert. Paul vermählte sich mit Justine Hochstetter, und Louis mit Marie Franz, der Schwester seines Schwagers Emil Franz. Clara und Clothilde blieben unvermählt.

Das liegt natürlich alles noch in weiter Ferne. Vorläufig sind wir noch in der Kinder- und Jugendzeit der Geschwis­ter Wittgenstein, und aus dieser Zeit habe ich mir von meinen Tanten eine Menge kleiner Episoden erzählen lassen, die viel Raum in diesen Familienerinnerungen einnehmen werden. Am meisten interessierten mich natürlich die auf Carl, meinen Vater, bezüglichen; er und Fine waren die Lustigsten und Temperamentvollsten der ganzen Schar.

Die elf Geschwister Wittgenstein (v.l.n.r.): Bertha, Karl, Josefine, Anna, Marie, Clothilde, Clara, Ludwig, Lydia, Milly, Paul

Die Familie wohnte zuerst Winter und Sommer unweit ­Wiens in dem turmgekrönten alten Schloss Vösendorf, das zu einem vom Vater gepachteten Gut gehörte.

Schloss Vösendorf

Das Schloss war von einem Wassergraben umgeben, auf dem der stets unternehmungslustige Knabe Carl im Waschtrog herumruderte und gelegentlich umkippte. Eine Turmuhr besass das Schloss auch, mit der befasste sich Carl irgendwie in bester Absicht, worauf sie mitten in der Nacht anfing zu schlagen und zum Ärger des Vaters nicht damit aufhören wollte. Eine alte Kalesche stand in einer Remise, die zog Carl heraus, um seine jüngere Schwester Clara und eine zu Besuch gekommene kleine Freundin spazieren zu führen. Aber schon auf der etwas steilen Schlossbrücke warf der Wagen um und die arme Freundin brach sich das Nasenbein. Dieser Umstand sollte unbedingt vor den Eltern verheimlicht werden, und so mussten bis zur glücklicherweise baldigen Abfahrt die Stellung und Beleuchtung, in der die Freundin sich präsentierte, so gewählt werden, dass die geschwollene Nase nicht sichtbar wurde. Tante Clara, die mir das einmal lachend erzählte, glaubte sich zu erinnern, dass die „Tarnung“ gelang.

Dass Carl der Spassmacher war, der alle zum Lachen brachte und der immerfort gebeten wurde: „Carl mach’ uns den und den nach!“, „Carl erzähl’ uns das noch einmal!“, das erfuhr ich von einer alten Hausnäherin und ebenso, dass er bei allen Untergebenen ausserordentlich beliebt war wegen seiner Güte und Herzlichkeit. Er war aber auch unberechenbar in seiner Unternehmungslust, lief z.B. mit elf Jahren eines Nachmittags mit Hinterlassung seiner Bücher aus dem Gymnasium und durch das Neutor davon. Freilich kam er nicht weiter als bis Klosterneuburg, dort war er schon sehr müde und hungrig. Er zog seinen Mantel aus, um recht arm zu erscheinen, stellte sich in die Tür eines Kaffeehauses und erzählte einem Herrn, er sei ein armer Waisenknabe aus Leipzig etc. etc. Der Herr – zufälligerweise der Bürgermeister von Klosterneuburg – durchschaute die Sache sofort, liess dem Knaben Kaffee und Gebäck geben und übergab ihn der Familie des Gemeindedieners, bei der er übernachtete. Mittlerweile war die Polizei schon verständigt, Carl wurde nach Wien gebracht und dem Vater übergeben, nachdem der Polizeikommissär eine sehr eindringliche, aber wenig Eindruck machende Rede gehalten hatte. Carls Brüder besprachen natürlich sehr interessiert den Vorfall und er hörte sie im Nebenzimmer sagen: „Ja, im Zeitalter des Telegraphen ist es nicht so leicht durchzubrennen!“

Interessant wäre es jetzt für mich zu wissen, was in Carl selbst vorgegangen war, was er sich von dem Durchbrennen erwartete und was noch weiter als Vorsatz in ihm schlummerte. Heutzutage würde man bei so einem Vorkommnis vermutlich von Wandertrieb sprechen, damals nannte man es wohl nur eine der vielen Ungezogenheiten, deren der eigenwillige Knabe sich immer wieder schuldig machte. Wenn z.B. Carl als Bub etwas Geld brauchte – einmal um sich einen Glaserdiamanten zu kaufen, dessen Fähigkeit Glas zu schneiden er ergründen wollte – so verpfändete er einfach seine Geige bei einem Geigenmacher, und seine Mutter musste sie dann wieder auslösen. Bei solchen Gelegenheiten hatte sie mit dem Geigenmacher manche böse Auseinandersetzung, und dieser nannte sie dann einmal Fine gegenüber in Zorn „einen ganzen Teufel“. Wahrscheinlich hatte der Mann aber gar nicht das Recht, ein Pfand von einem Knaben zu nehmen!

Meine Tante Fine erzählte mir gerne von der Vösendorfer Zeit, die in der Erinnerung vergoldet erschien. Es gab wohl auch manches Unangenehme, denn die Eltern waren äusserst streng und sparsam, aber die Geschwister liebten einander sehr und hielten einmütig gegen die Eltern zusammen. Carl und Fine, die immer Lustigen, nahmen die Sachen überhaupt nicht tragisch. Clara dagegen war nicht so glücklich veranlagt; sie konnte oft lange weinen, z.B. wenn sie, wie es oft vorkam, ein Kleid anziehen musste, das nicht für sie, sondern für eine der älteren Schwestern gemacht war und das ihr natürlich nicht passte. Die jüngeren Töchter bekamen nämlich erst als sie erwachsen waren eigens für sie angefertigte Kleider, wobei sie auch fleissig mitschneidern mussten, früher übernahmen sie einfach die Kleider der älteren Schwestern, unbekümmert um etwaige Grössenunterschiede. So erinnerte sich Tante Fine, dass ihr Bruder Paul einmal von einem Spaziergang, den er mit ihr in der Stadt unternommen hatte, wütend nach Hause lief, schwörend, nie wieder sei er für so etwas zu haben; alle Leute auf dem Glacis hätten sich über Fines zu kurzes Kleid und ihre dicken Waden lustig gemacht. Auch das kam vor, dass zwei Schwestern zusammen nur einen hübschen Hut besassen, oder nur ein einziges hübsches Kleid, das sie abwechselnd trugen.

Sollte eines der Kinder für irgend ein Vergehen besonders hart gestraft werden, so wurde es in eine ganz lichtlose Kammer gesperrt, von der noch dazu die Sage ging, dass sich Ratten darin aufhielten. In solchen Fällen blieben aber die Geschwister vor der Tür stehen und bemühten sich, den Gefangenen zu trösten und zu zerstreuen. Ja, Carl stemmte einmal sogar ein Stückchen der Tür ab, um Zündhölzer und eine kleine Kerze hinein zu schmuggeln, weil Clara sich im Dunkeln fürchtete. Fine war einmal, weil sie ihr Pensum nicht geübt hatte, von der Mutter ins Klavierzimmer gesperrt worden, das im ersten Stock lag. Ihre Schwester Marie redete ihr vom Nebenzimmer her zu, aus dem Fenster zu springen und warf sogar, um sie zu ermutigen, eine Matratze in den Schlosshof, die aber gar nicht in der gewünschten Richtung fiel. Trotzdem liess Fine sich überreden und sprang hinunter. Ihre Mutter kam gerade dazu und erschrak sehr, sagte aber nur „Geh’ sofort auf dein Zimmer!“ und liess Fine vor sich hergehen, um unauffällig zu beobachten, ob sie denn wirklich gerade gehen könne. – (Ungefähr fünfzig Jahre später, im Jahre 1910, sahen wir, d.h. zwei Töchter von Tante Fine und ich, das Schloss an, von dem wir so viel gehört hatten. Der dortige Verwalter, der uns herumführte, zeigte auf ein Fenster im ersten Stock und sagte: „Dort soll einmal ein Fräulein Wittgenstein heruntergesprungen sein!“ Das wusste man in Vösendorf noch nach so vielen Jahren. Aber auch bei den schönsten Obstbäumen hiess es: „Die hat der Herr Wittgenstein gepflanzt.“)

Bei aller Sparsamkeit war der Zuschnitt des Hauses doch kein ganz einfacher. Wittgensteins hatten Wagen und Pferde, und wenn der Vater zur Stadt fuhr, nahm er manchmal zwei der älteren Töchter mit, um ihnen eine Spazierfahrt zu gönnen. Es wurde dann dem Kutscher Ankovich eingeschärft, sofort und direkt mit den jungen Damen nach Hause zu fahren. Die Mädchen hätten aber so gerne kleine Einkäufe in der Stadt gemacht, besonders wichtig schien es oft, bunte Stickwolle in einem bestimmten Geschäft in der Seilergasse auszusuchen. Wenn also der Vater ausgestiegen war, baten die Mädchen den Kutscher, doch in die Seilergasse zu fahren. Ankovich sagte dann streng und laut: „Der Herr Papa hat befohlen, es muss sofort nach Hause gefahren werden!“, sprachs und fuhr – in die Seilergasse. – Der getreue Ankovich blieb bis zu seinem Tod in der Familie Wittgenstein und führte meine Grossmutter in ihrem Fiaker, als sie schon studierende Enkel hatte. Sie liebte es nicht, wenn diese auf der Strasse rauchten und Ankovich pflegte, wenn er einen von ihnen in dieser Situation sah, ihn schon von weitem durch Zeichen mit der Peitsche auf die Gefahr aufmerksam zu machen.

Im Jahre 1859 zog die Familie W. nach Wien und verbrachte nur mehr den Sommer in Vösendorf. Bei den jährlichen Übersiedlungen gebrauchte die Mutter einen glänzenden Kunstgriff, um die jüngeren, sehr lebhaften Kinder auf der langen Wagenfahrt in Ruhe zu halten: sie stopfte sie eng zusammen in den viersitzigen Wagen und gab jedem von ihnen einen grossen oder zerbrechlichen Gegenstand, z.B. eine Vase oder eine Uhr, zu halten. Da musste wohl oder übel die Unterhaltung aufs Reden beschränkt bleiben.

In eine etwas spätere Zeit spielen zwei weitere, ein wenig ausführlicher behandelte Episoden hinüber, mit denen ich die Jugenderinnerungen meiner Tanten abschliessen will. Tante Fine erzählte mir, dass ihr Vater um das Jahr 1865 ein sehr schönes Gut besessen habe, nämlich Koritschan in Mähren. Er hatte es in ganz herabgewirtschaftetem Zustand von einem Grafen Trauttmansdorff gekauft und so weit hinaufgebracht, dass ihm eine hohe Summe dafür geboten wurde. Mein Grossvater nahm sie an und kaufte dafür das Gut Klenownig in Kroatien, bestochen von dem herrlich fruchtbaren Boden, den er in jener Gegend bemerkt hatte. Er hatte aber nicht bedacht, dass die mangelnde Bahnverbindung die Verwertung aller Produkte unmöglich machen müsse, auch hatte er wahrscheinlich zu gläubig die Berichte und Versprechungen von am Kauf interessierten Personen oder Behörden entgegen genommen. Kurz, die meisten Voraussetzungen erwiesen sich später als unrichtig und der Kauf des Gutes als ein arger Missgriff.

Es waren dort äusserst widerwärtige Zustände und ein trostloses Wirtschaften. Von den Behörden war gar nichts zu erreichen, die Kommissionen sassen oft tagelang auf dem Gut, assen und tranken, und weiter taten sie nichts. Die Arbeiter aus der Gegend waren für kein Geld dazu zu bewegen, eine Arbeit ordentlich und flink auszuführen, und zwar aus folgendem Grund: es herrschte dort nämlich die Sitte, dass immer eine ganze Familie in einem Haus beisammen blieb. Die Söhne, die heirateten, lebten mit ihren Frauen bei ihren Eltern, und das Familienoberhaupt verfügte über das ganze Geld der Familie. Ein dortiger Arbeiter hatte z.B. seinen Lohn einfach seinem Vater abzugeben und daher hatte er auch gar kein Interesse daran, mehr zu verdienen. Sein liebster Lohn war ein Glas Schnaps, das konnte er dann wenigstens nicht abliefern! Die Verkehrsverhältnisse waren unmögliche, die Strassen grundlos, und hatte man Ochsen gemästet, so magerten sie wieder ab, wenn sie, bis zum Bauch im Kot watend, zu einer entfernten Bahnstation getrieben wurden. Kein Verwalter konnte es in Klenownig aushalten, und Onkel Paul, der es mitverwalten sollte, hatte eine böse Zeit. Wie schwer müssen die Berichte an den Vater gewesen sein, in denen nie etwas Gutes stehen konnte.

Tante Fine kannte die Klenowniger Zustände aus eigener Anschauung, denn sie hatte bald nach Ankauf des Gutes eine zeitlang dort gelebt, und zwar während des Krieges 1866. Die Familie Wittgenstein bewohnte damals ein ehemalig Kaunitzsches Schloss in Laxenburg (dasselbe, das viel später noch mein Onkel Paul und meine Tante Clara besassen und bewohnten). Während des Krieges wurde ein sächsisches Regiment in Laxenburg einquartiert und den Offizieren ein Flügel dieses Schlosses zugewiesen. Der äusserst militärfeindliche Vater, der den Offizieren das Schlimmste zutraute, beschloss, die älteren Töchter in Begleitung des Bruders Paul nach dem kürzlich gekauften Klenownig zu schicken. Die Mutter war, so scheint es, mit dem Plan nicht einverstanden, konnte aber ihre Ansicht nicht durchsetzen und versuchte schliesslich ein sonderbares Mittel, um ihn zu vereiteln: sie war im letzten Augenblick, als die Töchter abreisen sollten, absichtlich nicht aufzufinden, sie war in den Park gegangen, überzeugt, dass die Kinder ohne Abschied nicht abreisen würden. Es war aber doch alles schon fest beschlossen, die Billette genommen, und der Vater durch so einen Zwischenfall nicht von seinem Entschluss abzubringen; also blieb nichts übrig, als eben doch ohne Abschied abzureisen! Tante Fine sagte aber, die Mutter habe es jahrelang nicht ganz verziehen oder verwunden.

In Klenownig, dessen frühere Besitzerin eine alte, halb verrückte, menschenscheue Person war, die das Haus ganz allein mit einer Menge Hunden bewohnt hatte, fanden sie, wie Tante Fine sagte, ausser einigen sehr schönen französischen Möbeln nur zahllose Flöhe vor, bei jedem Schritt sah man eine Wolke von Flöhen sich vom Fussboden erheben. Wäsche oder Hauswirtschaftsgegenstände waren keine vorhanden, kein Mensch war zur Bedienung da, und hatte man einmal eine Taglöhnersfrau bewogen, Hausarbeit zu leisten, so stellte sich gleich heraus, dass sie noch nie einen Fussboden ordentlich gereinigt hatte, geschweige denn kochen oder irgend etwas anderes Vernünftiges konnte. Wollte man überhaupt eine Frau zum Reinigen eines Fussbodens „bewegen“, so war dazu eine Vorbereitung nötig: es wurde nämlich in eine Ecke des Zimmers ein Quantum Schnaps gestellt, in der entferntesten Ecke wurde dann mit der Arbeit begonnen; der Schnaps zog die Frau wie ein Magnet zu sich heran, bis sie schliesslich, zugleich mit der letzten Reinigungsbewegung, die ersehnte Herrlichkeit ergreifen konnte.

So etwas war schliesslich noch mit Humor zu erledigen, schlimm aber war es, dass sich z.B. kein Vieh in den Ställen befand, da das gekaufte noch nicht angekommen war; auch die landwirtschaftlichen Geräte fehlten, und den jungen Leuten wurde es bei dieser Wirtschaft angst und bange. Dazu dehnte sich der Aufenthalt in Klenownig länger aus als man vorausgesehen hatte, weil die Bahn infolge Truppentransporten für den Zivilverkehr ganz gesperrt war. Das Geld ging aus und die Geschwister begannen Misstrauen und Feindseligkeit in ihrer Umgebung zu bemerken. In sehr deprimierter Stimmung machten Fine und Paul eines Tages einen Spaziergang auf einen nahe gelegenen Hügel, und siehe da, als sie herunterkamen erwartete sie der Herr Stuhlrichter in eigener Person mit seinem Wagen, um sie freundlich nach Hause zu geleiten. Bald klärte es sich auf, wieso das Blatt sich so gewendet hatte: das für Klenownig gekaufte Vieh war angekommen und die schöne Herde durch das Dorf getrieben worden. Nun war das Ansehen wieder hergestellt und wieder Kredit und Hilfsbereitschaft da.

Bei diesem ersten Aufenthalt zeigte sich aber auch der schlimmste Irrtum, den der Vater bei dem Gutskauf begangen hatte: er hatte nicht gesehen und nicht erfahren, dass die verrückte Vorbesitzerin die Felder seit vielen Jahren nicht mehr hatte düngen oder richtig bearbeiten lassen, dass daher ähnliche Erträge wie die auf den Nachbargütern bemerkten auf Jahre hinaus von Klenownig nicht erhofft werden konnten. Welche Qual für den ernsten, gewissenhaften Vater, sich diese Irrtümer eingestehen zu müssen, sich sagen zu müssen, dass er, wie Hans im Glück, ein herrliches Gut für ein fast wertloses gegeben habe! Der Gedanke hat ihn gewiss Tag und Nacht nicht losgelassen! Zu Hause sprach er kaum darüber, im Gegenteil, er wurde so schweigsam, dass er schliesslich eine zeitlang gar kein Wort mehr sprach. Gerade in dieser schlimmen Zeit sollte er eine Reise unternehmen und Paul und Fine sollten ihn begleiten. Im letzten Augenblick wurde Paul verhindert, weil in Klenownig zu allem Überfluss noch ein Feuer ausgebrochen war, und nun musste Fine allein die Reise mit dem melancholischen Vater antreten; sie hatte die grösste Angst davor. Als sie von Wien fortfuhren, stiegen in ihr Coupé zwei Franzosen ein, die sich sehr begeistert über einen ihrer Meinung nach glänzenden Gutskauf unterhielten. Sie hatten ein Gut in Südungarn gekauft und besprachen mit grossem Optimismus ihre Pläne. Die Verhältnisse schienen ähnlich zu liegen wie in Klenownig, wo ja auch zuerst alles das beste Resultat versprochen hatte. Auf einmal mischte sich der Vater, der sonst nie einen Fremden anredete, ins Gespräch, warnte die Beiden dringend davor, Geld in dieses Gut zu stecken und erzählte den beiden sehr bestürzten Herren ausführlich seine bösen Erfahrungen mit Klenownig. Fine war ganz erstaunt über diese ungewohnte Redseligkeit, ihrem Vater schien es aber sehr gut zu tun, sich einmal mit ganz Unbeteiligten die Sache von der Seele wegreden zu können, auch rettete er gewissermassen seine eigene Ehre vor ihm selbst, wenn auch andere den gleichen Fehler begehen konnten; kurz, er war nach diesem Gespräch wie verwandelt und auf der ganzen Reise sehr zugänglich.

Gewiss machte gerade der Umstand, dass er beim Kauf einen Fehler begangen hatte, den Vater so hartnäckig im Festhalten an Klenownig, – es sollte unbedingt noch der Augenblick eintreten, der ihn in den Augen seiner Kinder rechtfertigte! In seinem Testament hat er angeordnet, dass das Gut nicht verkauft werden dürfe, ehe es ein bestimmtes Erträgnis abwerfe. Die Bewirtschaftung war aber so unrentabel, dass die Söhne sich nicht an diese Bestimmung halten konnten. Das Gut wurde verkauft.

Die folgende letzte Jugenderinnerung erzählte mir Tante Fine als sie gegen fünfundsiebzig Jahre alt war. Sie hatte eben von einer Frau Franz aus Graz eine kleine Photographie geschickt bekommen, die sie mir zeigte: ein Brustbild, das sie, Fine, selbst als bildhübsches, etwa siebzehnjähriges Mädchen darstellte. Das Bild hatte folgende kleine Geschichte: Fine und ihr Bruder Louis waren als ganz junge Leute von ihrer Mutter auf eine Reise mitgenommen worden, deren Ziel Italien sein sollte. In Triest, wo zuerst Aufenthalt genommen wurde, ging die Mutter wegen ihres Kreditbriefes auf die Bank und erfuhr dort zufällig, dass am Nachmittag des nächsten Tages der erste Österreichische Lloyd-Dampfer nach Alexandrien abgehen werde. Das schien ihr so verlockend, dass sie sofort drei Schiffsplätze belegte und ihren Mann nur telegraphisch von der Änderung der Reiseroute benachrichtigte. Sie fuhren also nach Alexandrien und Kairo. Auf einem Nilboot in Kairo besprachen die Geschwister sehr lebhaft ihre Eindrücke, als sie plötzlich hinter sich die Worte hörten: „Ach, das liebe österreichische Deutsch!“ Ein junger Mann in europäischer Kleidung, aber mit einem Fez auf dem Kopf, stellte sich ihnen als Landsmann vor. Es war ein Architekt namens Franz, im Dienste des Khediven und dort in Ägypten Franz-Pascha geheissen; der junge Mann erbot sich, den Geschwistern alles Schöne und Interessante in Kairo zu zeigen, er tat das dann auch mit grossem Eifer und verliebte sich bei dieser Gelegenheit heftig in Fine.

Als er später die Familie Wittgenstein in Wien und Vösendorf besuchte, wurde seine Neigung so stark, dass er schriftlich beim Vater um ihre Hand anhielt. Der Vater fand es, scheints, eine unerhörte Zumutung, zu denken, er werde seine Tochter nach Ägypten verheiraten, auch war sie ja wohl noch zu jung, kurz, er schrieb als Antwort nur das eine Wort „Nein“ ohne jede Begründung. Fine wurde gar nicht gefragt. Der junge Mann war so bestürzt und trostlos und tat den Brüdern Paul und Louis, die sich sehr mit ihm angefreundet hatten, so leid, dass sie ihn nicht allein von Wien wegfahren lassen wollten. Sie begleiteten ihn bis nach Graz, wo seine Eltern wohnten.

Franz-Pascha hat sich später verheiratet, ist hochbetagt in Graz gestorben, und seine Witwe war es, die das kleine Jugendbild, das noch in seinem Besitz gewesen war, an Tante Fine zurücksandte.