Feinde in meinem Kopf - Anja Walczak - E-Book

Feinde in meinem Kopf E-Book

Anja Walczak

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Beschreibung

Fahrt ins Ungewisse "Ich bin 33, dynamisch, erfolgreich. Und ich habe ein sogenanntes Meningeom. Es drückt aufs Gehirn. Aber ich kann noch denken und fühlen. Noch? Ich merke jedenfalls, dass ich nichts merke von einem faustgroßen Tumor im Kopf. So einen blöden Alptraum hatte ich noch nie." Zweimal innerhalb von acht Jahren erhält die Fernsehredakteurin Anja Walczak die erschütternde Diagnose: Hirntumor. Beide Male kämpft sie sich mit eisernem Willen und gnadenlosem Galgenhumor wieder zurück ins Leben. Und heute sagt sie:"Der Spruch "Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach kommt einer Kapitulation gleich"". Niemals aufgeben, heißt die Devise. Ein positives Buch für jede Art von Krise. "Ich habe durch meine Krankheit mehr Kraft gewonnen als an Kraft verloren." (Anja Walczak)

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Seitenzahl: 246

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Anja Walczak

Feinde in meinem Kopf

Eine wahre Geschichte, die Mut macht

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www.nym­phen­bur­ger-ver­lag.de

© für die Originalausgabe und das eBook:

2017nymphenburgerin der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten.

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel, unter Verwendung

eines Fotos von Andreas Löffler

Satz und eBook-Produktion:

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.Buch-Werkstatt.de

ISBN 978-3-485-06141-4

Mein Leben vor der Geisterbahn

Unser Ersatzteillager hält einiges auf Vorrat für uns bereit. Ist ein Bein kaputt, gibt es ein zweites. Hat ein Rechtshänder Probleme, seine rechte Hand zu nutzen, kann er lernen, mit links zu schreiben. Wir haben zwei Nieren und können eine davon sogar spenden. Mit einer Lungenhälfte zu leben, ist bedrohlich, aber möglich.

Doch was ist, wenn wir kopflos sind? Eine Kopferkrankung gehört zu den unsichtbaren Erkrankungen. Welche Zeitbombe im Kopf tickt, können wir bestenfalls erahnen, wenn sich der Nachbar mal wieder wie ein Irrer aufführt. Auch ich kann nach zwei Kopf-Operationen, epileptischen Anfällen und 31 Bestrahlungen weder Gedanken lesen noch hellsehen. Ich tappe also weiterhin im Dunkeln. Doch ich kann meine Fahrt durch diese Geisterbahn beschreiben. Wie schnell findet man den Ausgang, wenn die Monster lebendig werden? Und wie fühlt es sich an, irre zu sein?

Jung, dynamisch, erfolgreich. Was von diesem Slogan traf auf mich zu?

Jung? Beim ersten Tumor im Kopf zählte ich 33 Jahre. Eindeutig zu jung.

Dynamisch? Auf jeden Fall. Als Reporterin für Funk und Fernsehen jagte ich nach Schlagzeilen im Lokaljournalismus.

Erfolgreich? Meine Auftragslage war super. Und ich hatte große Pläne im Kopf. Doch noch viel mehr im Schädel, wie sich später herausstellen sollte.

Ehrgeiz trieb mich dazu, mich für ein dreimonatiges Praktikum im Ausland zu bewerben. Ich wollte zu einer Zeitung nach New York, dort nicht nur Kaffee kochen, sondern meine dürftigen Englischkenntnisse aufhübschen.

Im Vorfeld der Bewerbung – bei einem Zigarettenhersteller, der das Abenteuer finanziert – hatte ich nichts dem Zufall überlassen. Ich lernte mehr als ein Jahr lang megaviele Englischvokabeln und hatte zum Smalltalk einen Privattrainer engagiert. Schließlich war das perfekte Bewerbungsschreiben in der Landessprache verfasst. Was dann passierte, traf mich tief. Denn perfekt war nicht perfekt genug. Eine Absage. Vielleicht weil ich Nichtraucher bin? Sicher nicht, denn diese Frage war im Vorfeld gar nicht gestellt worden. Doch die Niederlage, mich nicht ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu lassen, war harmlos gegen den Schiffbruch, der mich kurze Zeit später ereilen sollte. Ein unbekannter Sponsor hatte mir stattdessen ein Ticket ins Land der Tumore spendiert. Die Reise: ein Horrortrip mit Abenteuern ganz anderer Art. Kann man aussteigen, wenn man erfährt, dass die Fahrt lebensbedrohlich ist? Ich war gezwungen, den Notausgang zu finden. Und das so schnell wie möglich. Hätte ich vorher gewusst, dass die Reise mehr als acht Jahre dauern würde, hätte ich mich wohl gleich von Bord gestürzt. Plötzlich war ich Opfer. Ein unangenehmer Seitenwechsel. Jahrelang hatte ich über Schicksalsschläge der anderen berichtet. Plötzlich stand ich selbst dem Ungeheuer namens Schicksal gegenüber.

Meine Fahrt ins Neuro-Land dauerte also länger als drei Monate und führte nicht über New York. Immerhin lernte ich eine neue Fremdsprache kennen: nicht Englisch, sondern Fachchinesisch.

Montag, 19. 12. 2005

Die Handtasche

»Hallo! Frau Walczak! Können Sie mich verstehen?« Verschwommen erkenne ich einen Mann in Signalfarben. Ist es ein Notarzt? Offenbar liege ich auf einer Trage in einem Rettungswagen. Ich höre das Martinshorn. Träume ich? Alles wirkt so unwirklich.

»Frau Walczak, Sie hatten einen epileptischen Anfall und sind zusammengebrochen. Hatten Sie so etwas schon mal?«

»Nein«, höre ich mich antworten.

»Wir fahren Sie jetzt ins Krankenhaus. Dort werden Sie durchgecheckt. Bleiben Sie ganz ruhig!«

Das sagt sich so leicht. Warum wache ich nicht auf? Ich kenne doch Alpträume zur Genüge. Aus denen wache ich spätestens JETZT auf. Hat bisher immer geklappt. Warum diesmal nicht? Ich erstarre. Wo ist meine Handtasche? Die Warnung meiner Oma wühlt mich noch mehr auf. Hat sie mich nicht schon immer davor gewarnt? »Kind, passe auf deine Handtasche auf!« Soll sie jetzt etwa recht bekommen? Wo ist sie – meine Handtasche? Geklaut? Handy, Papiere, Geld – alles drin. Wer weiß, wer jetzt gerade dank meiner Geldkarte im Shoppingrausch mit meinem guten Namen Schuhregale leerräumt? Ich gerate in Panik, will aufstehen. Ich muss den Täter stoppen oder wenigstens die Karte sperren lassen. Wie hoch ist mein Dispo?

Irgendwie geht aufstehen nicht. Bin ich gelähmt? Was habt ihr mir verabreicht? Ich merke, ich bin an etwas angeschlossen. Ein Tropf? Ich versuche, mich zu konzentrieren. Mein Gefühl sagt, ich bin im falschen Film. Nebel des Grauens? Jedenfalls nehme ich alles wie im Nebel wahr. Ich sehe viel, aber keine Handtasche.

Die nächsten Minuten erscheinen mir wie eine Ewigkeit voller Angst und Schrecken. Plötzlich der Geistesblitz. Ich greife neben mich und fühle Leder. Das ist sie ja! Das muss sie sein! Die Schlaufe meiner Handtasche. Ich wende mich nach rechts. Mein Kopf schaut nach unten. Da steht sie – meine Tasche. Endlich sehe ich wieder klar! Erschöpft drehe ich mich zurück auf meinen Rücken. Jetzt stört mich auch das Geratter auf der Holperstraße nicht mehr. Erleichterung! Sie ist bei mir. Man hat sie mir nicht geklaut, Oma! Verblüffend, denke ich, es gibt auch ehrliche Menschen, selbst im Alptraum.

Was ist eigentlich passiert? Während der Rettungswagen lauthals durch die Straßen tönt, versuche ich mich zu erinnern. Ich suche ein Alibi für die Tatzeit. Ist es Tag? Ist es Nacht?

Langsam kommen die Erinnerungen zurück. Ich weiß, ich war heute arbeiten. Ich weiß auch, ich hatte viel zu tun – Recherchen, Telefonate, Fakten zusammentragen, Organisatorisches für den nächsten Dreh beim Mitteldeutschen Rundfunk. Ich erinnere mich, dass ich gegen 19 Uhr das Funkhaus verlassen habe. Da saß nur noch unsere Studioleiterin am Computer in der Redaktion – wie so oft. Sie arbeitet viel und lange. Zum Abschied rief sie mir hinterher: »Du bist ja mal wieder spät dran. Schönen Feierabend!« Dass dieser Plan nicht aufgehen sollte – wer hätte das geahnt?

Ich war in Eile. Noch schnell in den Supermarkt, Einkäufe erledigen. Was lag im Einkaufswagen? Keine Ahnung. Aber ich weiß noch, dass ich ein Päckchen Kaffee aus dem Regal nehmen wollte. Ich sehe das Bild vor mir, wie ich zum Regal gehe. Und dann? Filmriss. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist.

Mein Steißbein schmerzt. Ich kombiniere. Ich muss also hingefallen sein. Glück gehabt. Auf den Po gefallen. Es hätte ja auch der Kopf sein können. Wir erreichen das Krankenhaus. Ich werde liegend in die Notaufnahme gerollt. Während des Transports starre ich die weiße Decke an, alles in Bewegung um mich herum – ungewohnte Perspektive, viele mir unbekannte Helfer huschen durch die Gegend. Das Einzige, was Ruhe ausstrahlt, ist meine Handtasche. Ich passe ab sofort mit Argusaugen auf sie auf, Oma! Und ich denke an Omas Lieblingsserie. »In aller Freundschaft« fühlt sich plötzlich total real an. Hat da eigentlich schon mal ein Patient seine Handtasche gesucht? Ich muss Oma mal fragen.

Meine Retter wirken routiniert, schnell, aber nicht hektisch. Kurze, klare Ansagen. Für alle hier – Alltag. Nur für mich nicht. Ich muss mich noch an meine Nebenrolle gewöhnen, ich hatte keine Chance, mich vorzubereiten. Ich frage mich wieder und wieder: Ist das hier echt? Dieses Gefühl von Realitätsverlust wird sich in den kommenden Stunden noch verstärken.

Wenig später warte ich auf einem Stuhl im Krankenhausflur auf mein Untersuchungsergebnis. Ich bin allein auf weiter Flur. Mein Kopf ist durchleuchtet worden. Die Computertomographie, kurz CT, war eine Premiere für mich. Nach einer Filmpremiere gäbe es jetzt die Premierenfeier. Doch im Krankenhaus ist der rote Teppich weiß.

Hab ich mich eigentlich bei dem Notarztteam bedankt? Ich weiß es nicht mehr. Wie hieß der Notarzt? Wie sahen die Retter überhaupt aus? Ich würde sie nicht wiedererkennen. Wie kann ich jetzt schon nicht mehr wissen, was eben war? Haben die aber einen undankbaren Job, denke ich. Sind Lebensretter, und wenn es allen so geht wie mir, wird sich wohl nie jemand bei ihnen bedanken. War denen das bei ihrer Berufswahl bewusst? Und noch was: Irgendwer muss die Retter ja alarmiert haben. Auch dieser Mensch wird wohl nie ein Dankeschön erhalten. Wie schade. Ich hätte mich gern bei ihm bedankt, vor allem dafür, dass er meine Handtasche nicht geklaut hat.

Was wohl mein Lieblingsfreund Micha und meine Lieblingseltern gerade machen? Wenn ich ihnen nachher erzähle, was mir heute passiert ist – staunen werden sie. Warum bin ich eigentlich umgefallen?

Auf jeden Fall habe ich Glück gehabt. Ich male mir aus, was hätte sein können, wenn mir das beim Autofahren passiert wäre. Ich lebe, ich bin nicht schwer verletzt, und durch mich ist niemand anderes verletzt worden. Aber vor allem bin ich froh, dass meine Handtasche bei mir ist.

Ein junger Arzt ruft mich auf. Gut sieht er aus. Ich versuche, mir sein Gesicht einzuprägen, damit ich mich nachher wenigstens an ihn erinnere. »Wie heißen Sie?«, will ich fragen, da sagt er es schon. Er ist mir sympathisch. Nur leider schützt mich das vor seiner Diagnose nicht. »Frau Walczak, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welche wollen Sie zuerst hören?« Ich muss schmunzeln. Auch Ärzte haben offensichtlich Humor.

»Die schlechte«, antworte ich – in der Aussicht darauf, dass das Drama dann wenigstens ein Happy End haben wird. »Sie haben einen Tumor im Kopf. Faustgroß ist er. Er liegt auf der linken Seite ihres Gehirns. Es ist ein Wunder, dass Sie nicht schon früher umgefallen sind.« Der Faustschlag sitzt. Aber ich stehe noch. Jetzt könnte der Alptraum nun wirklich mal aufhören.

»Und die gute?« Vielleicht sagt er ja: »April, April«. Nur leider weiß ich es ganz genau, heute ist nicht der 1. April. »Der Tumor kann und sollte operiert werden. Er sieht gutartig aus.« Spontan fällt mir der Werbeslogan ein: Alles muss raus!

»Wen sollen wir benachrichtigen? Sie müssen jetzt im Krankenhaus bleiben.« Was? Nein! Wieso bleiben? Diese Ansage passt mir gar nicht. Ich habe in den nächsten Tagen so viele Drehs, Termine, Weihnachten steht vor der Tür und überhaupt. Das geht JETZT nicht. Trotz, Überforderung, Wut. Wut darüber, dass ich einfach nicht aufwache.

»Informieren Sie bitte meinen Lieblingsfreund!« Die Telefonnummer von Micha fällt mir auf Anhieb ein. Völlig verblödet bin ich also nicht – trotz des Tumors. Noch nicht? Auch dass Micha heute Spätschicht hat, weiß ich prompt. Bei ihm dauern die Schichten schon mal bis Mitternacht. Er ist Sportredakteur bei der Zeitung. All das weiß ich. Und ich weiß, auch wenn ich mich im Moment sehr alleine fühle, sie ist bei mir. Ich klammere mich an meine Handtasche.

FAZITDESTAGES

Ich habe ein sogenanntes Meningeom – so groß wie eine Faust in meinem Kopf. Es drückt aufs Gehirn. Aber ich kann noch denken und fühlen. Noch? Ich merke jedenfalls, dass ich nichts merke von einem faustgroßen Tumor im Kopf. So einen blöden Alptraum hatte ich noch nie. Immerhin gibt es auch im Alptraum Lichtblicke. Meine Handtasche hat mich nicht im Stich gelassen.

Acht Jahre, sechs Monate und 18 Tage später, Montag, 7. 7. 2014

Hautausschlag

8:30 Uhr – mein Handy klingelt im Auto. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Meine Hausärztin, die auch meine Freundin ist, ruft an. Schön, dass sie sich meldet. Bei ihr dürfte das Ergebnis aus der Radiologie von meiner Nachkontrolle angekommen sein. Jetzt wird sie unkompliziert – wie so oft – auf diesem Weg Entwarnung geben. Vor ein paar Tagen ist mein Kopf wieder durchleuchtet worden – mit Hilfe der sogenannten Magnetresonanztomographie, kurz MRT. Hier erspähen Radiologen krankhafte Organveränderungen im Kopf. Wenn was wäre, versteht sich.

Inzwischen ist die Kopf-OP acht Jahre her. Der Tumor war vollständig entfernt worden. Also, was sollte jetzt noch sein? Es gibt Ärzte, die meinen, wenn ein Tumor nach fünf Jahren nicht wieder da ist, dann gilt man als geheilt. Also war ich fünf Jahre lang artig nachkontrollieren. Dann hatte ich den rausoperierten Riesentumor quasi zu den Akten gelegt. Ich wollte die Schublade nicht wieder aufziehen. Einmal Tumor mit allen Nachwirkungen hatte mir gereicht. Auch ein Krimi darf ein gutes Ende haben. Kein Interesse an einem Mehrteiler. Ich wollte einfach wieder »normal« und nicht mehr »neuro« sein. Doch dann – nach drei Jahren Untersuchungspause packte mich eine ganz mysteriöse Unruhe. Angst? Könnte da wieder was in meinem Kopf sein, was nicht da hingehört?

Also gut, eine Untersuchung noch – zur Beruhigung, hab ich mir gesagt. Und dann den Schlussstrich ziehen. So war der Plan. Mein Plan.

Meine Ärztin am Telefon: »Anja, fährst du gerade Auto?«

»Ja.«

Sie: »Auf Arbeit?«

Ich: »Ja.«

Sie: »Du musst heute unbedingt mal zu mir in die Praxis kommen.«

Ich: »Ja.«

Sie: »Wann kommst du?«

Ich: »Am Nachmittag nach meinem Dreh.«

Sie: »In Ordnung. Ich bin bis 19 Uhr da.«

Das Blut schießt mir ins Gesicht. Ich fühle, es kann nur etwas Schlimmes bedeuten. Bei allen vorherigen Kontrollen hat sie mir immer kurz und bündig mitgeteilt: »Anja. Es ist alles o.k. Keine Sorge!« Und jetzt? Ich muss zu ihr kommen. Sie hat gefragt, ob ich Auto fahre? Was ist los? Mir ist schlecht. Bitte, bitte, lass es nicht wieder so schlimm sein wie vor acht Jahren. Ich hoffe auf eine Kleinigkeit, die auf dem kurzen Dienstweg nicht zu erklären ist – schon gar nicht am Telefon.

Was, wenn ich doch wieder operiert werden muss? Vor acht Jahren war das ALLES schrecklich. Nun laufen Bildfetzen durch meinen Kopf: wochenlange Demenz, Riesennarbe, blaues Gesicht, Notdurft verrichten im Bett, Kuscheltierklau, alter Mann will bei mir schlafen, Vierbett-Poker, das Kind ohne Haare.

Warum träume ich schon wieder alp? Ich parke mein Auto in der Tiefgarage im Funkhaus. Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren. Schließlich ist alles vorbereitet. Ich will nicht das Handtuch werfen. Warum auch? Ich weiß doch noch gar nicht, was ist. Ich werde den Dreh durchziehen!

Mein Kamerateam wartet und auch die Hauptdarsteller. Und dabei hab ich gerade heute so ein schönes Thema. Ich bin auf dem besten Weg, beruflich das umzusetzen, was mir Spaß macht. Eine Serie über Hunde. An meiner Seite ein richtig guter Kameramann und ein hervorragender Tonassistent. Als Hauptdarsteller ein Hundetrainer mit seinem Vierbeiner »Socke«, einem schwarzen Labrador-Border Collie-Mix mit einer weißen Pfote – daher der Name. Wir haben einen Termin in einer Schule in Weißenfels. Dem Trainer gelingt es dort mit Hilfe von »Socke«, geistig behinderte Kinder zu besonderen Leistungen anzuspornen. Durch den Hund passieren kleine Wunder. Kinder, die sonst kaum sprechen, artikulieren Kommandos und steuern ihre Motorik besser.

Nur meine Freude darüber ist heute getrübt. Ich bin nicht richtig bei der Sache. Lass die doofen Gedanken nicht zu, Anja! Egal was ist, du kannst es doch nicht ändern, was deine Ärztin dir nachher mitteilt. Und nachher ist eben auch erst nachher. Konzentriere dich, zieh das wie ein Profi durch! Weder Mensch noch Tier merken, wie es mir geht. Ich bin der Schauspieler des Tages! Zurück im Funkhaus produziere ich den Beitrag fertig, sodass er ausgestrahlt werden kann.

17:30 Uhr – ich stehe in der Warteschlange zur Anmeldung bei meiner Ärztin. Vor mir jammert ein Patient so laut über seinen Hautausschlag, dass es wirklich jeder hören kann. Was für ein Luxusproblem, denke ich. Soll ich lautstark kontern, dass ich vielleicht wieder einen Tumor im Kopf habe? Ich hätte so gerne Hautausschlag. Kann man in der Warteschlange Krankheiten tauschen?

»Anja. Da ist wieder was.« Sie hat es tatsächlich gesagt. Mein MRT sei bedenklich. Faustschlag Nummer zwei. Es ist nicht ein Tumor, nein es sind diesmal sogar mehrere. Nicht ein großer, wie beim letzten Mal, stattdessen kleinere, verteilt in der linken Kopfhälfte. Drei zeigt das MRT. Meine Hausärztin hat mir bereits einen Beratungstermin bei den Spezialisten in der Klinik von damals.

»Ich will nicht wieder in dieses Krankenhaus«, wehre ich ab. Meine schlechten Erfahrungen vom ersten Mal sind mir noch immer mit Schrecken im Bewusstsein. Dort war ich vor acht Jahren operiert worden. Erfolgreich zwar, aber das Prozedere während des Genesungsprozesses habe ich als Katastrophe in Erinnerung. Freie Arztwahl, denke ich. Und diesmal hab ich eine Wahl. Ich will in eine andere Klinik in Halle, weil diese in meinem Freundeskreis einen besseren Ruf hat. »Gut, dann besorge ich dir da auch noch einen Termin, du hörst dir beide Meinungen an und entscheidest.« Und sie schiebt nach:

»Anja, ich möchte jetzt nicht, dass du noch Auto fährst. Hörst du, das ist zu gefährlich.«

»Geht klar«, höre ich mich sagen.

»Hätte ich das eher gewusst, hätte ich dich in Schwerin nicht mitlaufen lassen«, sagt sie noch. Unglaublich. Vorgestern erst war das. Da war meine Welt noch in Ordnung. Jetzt kommt mir das eine Ewigkeit her vor. Dabei spüre ich den 15-Kilometer-Lauf noch in den Knochen. Alles ging gut – selbst mit diesen Tumoren im Kopf. Merkwürdig. Ich hatte weder Kopfschmerzen noch Seheinschränkungen, Benommenheit oder Gleichgewichtsstörungen. Das können Hinweise auf Tumore sein.

Kurz träume ich mich zurück. Der sogenannte »Schweriner Fünf-Seen-Lauf« ist ein herrlicher Naturlauf. Eine meiner besten Freundinnen, meine Lieblingsantje, ist auch mitgelaufen. Wir fühlten uns unschlagbar. Und nun? So fit und doch im Kopf verseucht? Bin wirklich ich gemeint oder ist das Ganze eine böse Verwechslung? Diese Fortsetzung passt mir gar nicht. Filme werden wiederholt. Aber diesen Film würde ich ausschalten, wenn ich könnte. Kann mich mal bitte jemand kneifen? Mit einem Mal liegen zwischen vorgestern und heute Welten.

Ich setze mich ins Auto und fahre nach Hause.

FAZITDESTAGES

Trotz, Überforderung, Wut. Wieder mal darüber, dass ich einfach nicht aufwache. Und Wut, dass ich keinen Hautausschlag habe.

Zwei Wochen später, Montag, 21. 7. 2014, Klinikum zwei

Flirt im OP

Es ist sechs Uhr. Eine Schwester kommt ins Zimmer, um mich zu wecken. Doch ich bin längst wach. Was einem in der Nacht vor einer OP alles durch den Kopf geht? War das meine letzte Nacht? Werde ich nach der OP wieder aufwachen? Kann ich dann sprechen? Bin ich gelähmt? Was ist, wenn ein kleiner Fehlgriff im Kopf große Folgen für mich und meine Umwelt haben wird? Oder bleibt es nur bei harmlosen Nebenwirkungen, die zum Beispiel lauten: Heiserkeit und Schluckbeschwerden? Schlimm, was ich mir am Tag vor der Operation so alles anhören musste. Beim Aufklärungsgespräch saß ich wie gefesselt auf einem Stuhl. Gegeißelt von den Worten einer Ärztin. Eigentlich wollte ich nicht zuhören. Doch gelähmt wie der Hase vor der Schlange habe ich es nicht geschafft, mir die Ohren zuzuhalten. Dann wurde ich genötigt, den »Beipackzettel« zu lesen. Am Ende war es so, als hätte ich mein Todesurteil unterschrieben. Könnte ich noch schnell in Berufung gehen?

Ich Kontrollfreak habe Angst vor erneutem Kontrollverlust. Aber selbst wenn ich diese Kröte schlucken muss, bin ich doch froh, dass es überhaupt Möglichkeiten gibt, etwas gegen die Tumore zu tun. Ich lebe in keinem Entwicklungsland, unser Gesundheitssystem funktioniert – meistens jedenfalls. Tatsächlich, es ist alles irgendwie geregelt. Man muss nur den Kopf frei dafür haben. Also lasse ich andere meinen Kopf freimachen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.

Was erwartet mich in den nächsten Stunden? Wenn ich das richtig verstanden habe, werden mir Schläuche durch den Mund in den Hals geschoben. Ich werde bewusstlos auf einem OP-Tisch liegen. Ein Mensch, der mich nicht kennt und den ich nicht kenne, wird mir den Kopf aufsägen. Wird das Team der für mich Unsichtbaren tatsächlich an jeden Tumor herankommen? Wird es gelingen, das Böse zu entfernen? Wie lange brauche ich zurück ins Leben? Wird es überhaupt wieder ein Leben sein?

Tatsache ist: Egal, worüber ich mir jetzt den Kopf voller Tumore zerbreche – ich habe keinen Einfluss auf das, was passieren wird. Die Entscheidung zur Operation ist gefallen und war letztlich meine eigene. Immerhin – ich könnte jetzt aufstehen und einfach nach Hause gehen. Aber ich weiß, das würde mein Hauptproblem nicht lösen.

Ich überlege, welcher Tag ist heute? Beruhigend, es ist weder der 1. April noch Freitag der 13. Wird an solchen Tagen überhaupt operiert? Ein Baum kommt mir in den Sinn. Mein Kraftbaum? Gestern Abend habe ich ihn besucht. Auf dem Gelände des Klinikums gibt es einen Garten. Dort wächst ein Ginkgo-Baum. Wunderschön, wundersam, wunderbar. Er strahlt Kraft aus. Bin ich abergläubisch?

Ich schaue auf meinen Nachttisch. Die Glückskarte meiner Lieblingsmama zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. Da steht: »Alles Gute ab sofort!« Daneben liegt ein Überweisungsträger der »Deutschen Hirntumorhilfe«. Hing in einem Infoständer des Krankenhauses. Wenn alles gut geht, hab ich mir gesagt, dann überweise ich was als Dankeschön. Hätte ich das nicht lieber vorher machen sollen? Ich beschließe zu überleben. Dann flüstere ich meinem Kuschelteddy ins Ohr: »Halte die Stellung, ich bin gleich wieder da!« Ja, auch Erwachsene klammern sich ganz besonders in Krankenhäusern ans Kinderspielzeug.

Da klingelt mein Telefon. Meine Mama wünscht mir Glück. So früh hat sie mich noch nie angerufen. Mamas können großartig sein! Mir kommen die Tränen, aber wir scherzen. Ich weiß, auch sie weint leise. Doch sie überspielt das, will mir Mut machen. Dann ziehe ich die vorgeschriebene OP-Kleidung an. Ein Nachthemd nahezu in weiß (leider kein Brautkleid), das an den Seiten zugebunden wird, einen Netzschlüpfer und Stützstrümpfe. Ziemlich trist, aber praktisch. Im OP-Bereich ist jeder gleich. Da gibt es kein Kleid von Dior. Ob nicht trotzdem mal ein Designer was Aufmunterndes entwerfen könnte? Wie wäre es mit Comicfiguren als Aufdruck? Das könnte Todgeweihte auf dem Gang zum Schafott lächeln lassen. Vor dem Zimmer warte ich auf meine Hinrichtung. Wie ein Tiger im Käfig, aber in OP-Kleidung mit langweiligem Nachthemd, Netzschlüpfer und Stützstrümpfen laufe ich rastlos den Krankenhausflur auf und ab. Meine Zimmergenossin, die auch nicht mehr schlafen kann, begleitet mich. Sie hat ihre OP schon hinter sich. Erfolgreich. Das macht mir Mut, selbst wenn sie nicht am Kopf operiert worden ist. Es begegnen uns andere Frühaufsteher. Die tragen zwar auch kein Kleid von Dior, aber wenigstens nicht so ein verräterisches OP-Nachthemd wie ich. Wildfremde Menschen wünschen mir Glück. Das finde ich voll lieb.

Die Rührung erlischt, als eine Schwester an uns vorbeistürmt – ohne Gruß. Stattdessen ruft sie lautstark in das menschenleere Zimmer im Kommandoton: »Frau Walczak!« Antreten? Sollte ich jetzt Gewehr bei Fuß stehen? Ich folge folgsam der Kommandantin zum Appell ins Zimmer. Doch sie schaut durch mich durch. Ist die blind? Das geht ja gut los, denke ich. Dann nehme ich ihren nächsten Befehl entgegen: »Legen Sie sich ins Bett!« Artig wie ein Kind, das Angst hat, die Mutti zu verärgern, tue ich, was sie sagt. Dabei gefällt mir auch nicht, dass ich nun durch die Gegend geschoben werde. Ich kann doch laufen.

Noch? Laufen? Wahrscheinlich gibt es im Krankenhaus eine Vorschrift zum Laufverbot vor Operationen. Irgendein schlauer Professor hat bestimmt schon eine Statistik erstellt, wie nützlich das sei. Sicherlich haben sich zuvor ganz viele Patienten auf dem Weg zum OP-Saal verlaufen, sind abgehauen, hingefallen, haben sich die Köpfe gestoßen und mussten letztlich wegen ganz anderer Beschwerden operiert werden, die nicht über die Krankenkassen abgerechnet werden können. Ich suche das Gute im Schlechten. Meine Zimmergenossin hat mir ihre Daumen hochgehalten zum Abschied. Während mich die Kommandantin gelangweilt durch die Gegend schiebt, fange ich an, mich zu freuen. Nicht auf die OP, sondern darüber, dass mich dieses unfreundliche Frauenzimmer jetzt eine gefühlte Ewigkeit durch das halbe Krankenhaus kutschieren muss. Schade nur, ich bin nicht schwer genug. Die Schwester ist übrigens nicht blind, auch wenn ich unsichtbar für sie bin, sie findet den Weg. Oder kennt sie ihn im Schlaf? Ankunft im OP-Trakt. Wir stehen im Stau. Zwei weitere Betten samt Patienten mit Begleitschwestern parken vor uns. Die Schwestern fangen an, sich zu unterhalten. Eine ist genervt, weil sie eigentlich »Besseres« zu tun hätte, als hier »ewig rumzustehen«. Die andere erzählt, dass sie am Wochenende in ihrem neu gebauten Pool baden war. Nur mit uns Patienten will irgendwie keiner reden. Ob es da auch eine Vorschrift gibt, uns wie Luft zu behandeln? Oder eine Professoren-Studie, dass Schwestern lieber gar nichts sagen sollten, als eventuell Traumata bei uns auszulösen? Eine Ärztin hat mich im Vorfeld nach Bewusstseinsveränderungen gefragt. Bin ich jähzornig? Mit Tumoren im Kopf hätte ich einen Freibrief dafür. Jetzt wäre also meine Chance, die Kommandantin mit meinem Kopfkissen zu erschlagen, und jeder Richter würde mich freisprechen.

Plötzlich steht der Retter in der Not neben meinem Bett. Und er spricht. Mit mir! Anästhesisten haben also kein Redeverbot. Wir kennen uns eigentlich nur dienstlich. Trotzdem oder gerade deshalb habe ich Vertrauen zu ihm. Zur Begrüßung reicht er mir seine Hand. Sie ist angenehm warm. Meine dagegen eiskalt. Er fragt, wie es mir geht. Dabei lächelt er mir aufmunternd zu. Ein Lächeln, das es in sich hat. Ich präge es mir ein, dieses Bild von meinem Superman. Sein »bis gleich« klingt so, als wären wir in ein paar Minuten zum Kaffeekränzchen verabredet. Ich fühle mich schlagartig wohler. Genau ihn hatte ich mir zum »Einschläfern« gewünscht. Klar gibt es kein Anrecht auf den Anästhesisten seines Vertrauens. Aber es hat sich doch ergeben. Wie das Leben so spielt.

Als ich wusste, dass ich in diesem Krankenhaus operiert werde, hab ich ihn informiert, eben weil er hier arbeitet, und prompt hat er Dienst. Zufall?

Bislang waren wir uns nur geschäftlich begegnet. Jetzt spüre ich, wie wohltuend es sein kann, Privates und Dienstliches miteinander zu vermischen. Vor Kurzem, als ich noch in gutem Glauben war, gesund zu sein, habe ich ihn für eine Reportage des MDR-Fernsehens als Redakteurin bei Notarzteinsätzen zwei Tage lang bei seiner Arbeit begleitet. Heute ist er mein Notarzt. Ich will über das Hier und Jetzt nicht nachdenken. Ich will mir nicht vorstellen, dass er mich in meinem Jetzt-Zustand nicht mehr als attraktive Frau sieht (falls er das überhaupt jemals getan hat), sondern als ungeschminkte, ausgelieferte Patientin, die nichts Besseres verdient hat als ein Koma und so ein langweiliges Nachthemd. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, dass es ihn kalt lässt, wenn mein Kopf aufgesägt wird. Doch ich weiß, es ist für ihn Alltag.

Sollte ich jetzt beten? Ich bin eigentlich Atheist. Trotzdem glaube ich an … ich weiß nicht woran. Ich wünsche mir, dass jemand auf mich aufpasst. Eine Herde von Schutzengeln vielleicht? Auf dieser Gratwanderung zwischen Utopie und Realität wird mir bewusst, wer jetzt mein real existierender Schutzengel ist: der Anästhesist meines Vertrauens. Es kommt Bewegung in die Schlange. Ich werde zu einer fenstergroßen »Durchreiche« geschoben. So eine, die mich an die Standard-DDR-Durchreichen zwischen Küche und Wohnzimmer in Halle-Neustadts Plattenbauten erinnert. Wo man das Essen durchgereicht hat – nur, dass hier eben größere Portionen durchgeschoben werden.

Die Kommandantin lässt mich stehen, ohne sich zu verabschieden, geschweige denn, mir Glück zu wünschen. Ob man nicht Roboter erfinden sollte, die ihre Arbeit übernehmen können? Da erwarte ich wenigstens kein Mitgefühl.

Doch da ist ER wieder. Und ER spricht mit mir. MEIN Anästhesist. Von meinem Bett soll ich nun durch die Durchreiche zu ihm krabbeln auf das dortige OP-Bett. Nach diesem Bett-Hopping liege ich also im Vorbereitungsraum zur OP. Ich mustere die drei vermummten Männer, die sich geschäftlich um mich kümmern. Ich dagegen darf hier faul herumliegen. Lediglich eine Decke soll ich mir überziehen. Alles macht einen sterilen Eindruck, nur mein Superman nicht. Er sieht auch mit Mundschutz samt Häubchen attraktiv aus. Zwischen allerhand medizinischen Geräten arbeitet das Dreierteam Hand in Hand – nicht hektisch, aber konzentriert. Dabei lächeln mich die Augen des Anästhesisten an. Was Superman sagt, sagt er im Plauderton. Er beschreibt wie beiläufig das, was er tut – so als wäre ich noch immer die Journalistin, die ihn fragend beim Notarztdreh begleitet.

Leider ist er schon vergeben, das fühle ich. Immerhin gilt das für uns beide. Egal, ich will ihn ja nicht heiraten. Ich will bloß wieder aufwachen. Und er ist ein Grund dafür. Schließlich soll er mich nicht in schlechter Erinnerung behalten.

Komisch, bis vor Kurzem dachte ich noch, dass für gewöhnlich ältere Herren mit jungen Schwestern flirten. Was für ein Trugschluss! Das hab ich nun also mit den Greisen gemein – nur, dass unser Altersunterschied nicht so krass sein dürfte. Doch die Ausgangslage für einen Flirt ist ebenso ungünstig.

Unter der Decke soll ich jetzt mein Nachthemd ausziehen. Das kommt mir absurd vor, weil die Intimsphäre, spätestens wenn ich gleich bewusstlos sein werde, sowieso flöten geht. Dennoch bin ich froh darüber – klar, ich will mich nicht vor einem Mann, den ich attraktiv finde, auf Bestellung entkleiden.

Es ist so weit. Die Vorbereitungen sind geschafft. Nun gibt mir Superman die entscheidende Spritze. Ich höre mich noch sagen: »Eigentlich wäre jetzt ein Sektfrühstück für uns alle das Richtige.«

Ich sehe noch: Die drei Männer reagieren erheitert. Und der Wunsch meines Anästhesisten ist mir noch im Ohr: Ich solle jetzt was Schönes träumen. Zum Abschied zwinkert er mir zu. Falls er mich eingeschläfert hat und ich nie wieder aufwachen sollte, war es ein sehr angenehmer Abgang.

FAZITDESTAGES

Ich befinde mich auf Messers Schneide. Ich werde operiert und spüre nichts davon. Ich träume nicht mal was. Ist so der Tod? Bin ich ein Bausteinkasten ohne Sinne? Ich würde gerne bei der Operation Mäuschen spielen. Unterhalten sich die Kopfspezialisten auch über ihren neuen Pool? Gehen sie zwischendurch Mittagessen? Was ist, wenn einer auf Toilette muss? Werde ich das je erfahren? Ich weiß nur, dass ich Angst habe, wieder aufzuwachen. Denn meine Erinnerungen an meine erste Kopf-OP – mittlerweile acht Jahre her – sind schrecklich.

Zurückgespult: 4. 1. 2006, Klinikum eins

Ich erwache aus der Narkose und nehme wie umnebelt wahr, dass ich hier nicht im Himmelreich auf Wolken gebettet bin. Schmore ich stattdessen in der Hölle? Ich liege, ein Fluchtgedanke kommt mir in den Sinn, doch mein Gefühl warnt mich, dass Bewegung jetzt falsch wäre. Ich fühle mich gefesselt, überall Schläuche. Kabelsalat? Laute Pieptöne, unverständliches Gemurmel. Menschen in steriler Schutzkleidung. Marsmännchen? Kosmonauten? Oder ist die Pest ausgebrochen?