Feliks E. Dzierżyński - Philipp Ewers - E-Book

Feliks E. Dzierżyński E-Book

Philipp Ewers

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Beschreibung

Nur 49 Jahre alt wurde Feliks Edmundowitsch Dzierżyński (1877–1926), Spitzname "Eiserner Felix". Davon stand er neun Jahre an der Spitze der Tscheka, des Nachrichtendienstes der jungen Sowjetunion, dessen Gründer er auf Geheiß von Lenin war. Diese neun Jahre sicherten ihm seinen Platz in den Geschichtsbüchern, sei es – aus westlicher Sicht – als "Bluthund der Revolution", sei es – aus russischer Sicht – als Held, der entscheidend dazu beitrug, der jungen Sowjetunion das Überleben zu sichern. Und dies zu einem Zeitpunkt, als die meisten Beobachter sicher waren, dass diesem Staat keine Zukunft beschert sei. Wer war der Mensch Feliks E. Dzierżyński, was prägte ihn, wie kam er dazu, diese entscheidende Position im jungen Sowjetstaat zu übernehmen? Was versetzte ihn in die Lage, das ihm anvertraute Amt höchst erfolgreich auszufüllen? Diesen und anderen Fragen geht Philipp Ewers in der vorliegenden Biographie nach, mit der eine der wichtigsten Figuren aus dem Führungskader der jungen Sowjetunion beleuchtet wird. Ein facettenreiches und aus vielen Quellen gespeistes einzigartiges Porträt.

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Philipp Ewers

Feliks E. Dzierżyński

Eiserner Tschekist und gefeierter Held

ORIGINALAUSGABE

edition berolina

eISBN 978-3-95841-556-0

1. Auflage

© 2018 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

Umschlagabbildung: © RIA Novosti archive, Bildnummer 6464

edition berolina

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

FAX 01805/35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

www.buchredaktion.de

Vorwort

Aus westlicher Sicht ist die Sache klar. Feliks Edmundowitsch Dzierżyński war ein finsterer Verbrecher, »Stalins Henker«, auf einer Stufe mit Himmler und Heydrich. Schiebt man einmal die dabei mitschwingenden Vor- und Fehlurteile beiseite und versucht, eine etwas weniger voreingenommene Sicht auf das Leben des »eisernen Feliks« zu gewinnen, wird die Sachlage schnell weniger eindeutig. Was war er denn nun, Held oder Finsterling? Die Frage lässt sich nicht in einem Satz beantworten. Zumal aus anderem Blickwinkel sich differierende Wertungen ergeben, denen zufolge der »erste Tschekist« in vieler Hinsicht bemerkenswerte Erfolge beim Aufbau des Sowjetstaats erzielen konnte. Und das nicht aufgrund des »Headcounts«, der Zahl der angeblich von der Tscheka umgebrachten Unschuldigen. Um in diesem Widerstreit der Meinungen sicheren Grund zu gewinnen, wollen wir auf den folgenden Seiten die unumstößlichen Fakten sammeln und auf der Basis valider Daten ein Bild dieser geschichtlichen Persönlichkeit entwerfen, das den Lebens- und Zeitumständen gerechter wird.

Betrachtet man die sowjetische Nationalgeschichte von ihrem Ende her, so fällt auf, dass die Leninstatuen zumeist stehen blieben, selbst in der von Westblock-U-Boot Jelzin auf Geheiß seiner US-Berater 1991 in die Unabhängigkeit verstoßenen Ukraine (Jelzin rief nach der Unterzeichnung der Kapitulationserklärung der Sowjetunion vulgo Vereinbarungen von Beloweschskaja Puschtscha, als Erstes US-Präsident Bush an, um ihm die freudige Mitteilung persönlich zu übermitteln) – erst nach dem EU-Putsch 2013/14 änderte sich das: Als Zeichen für die gewaltsame Neuorientierung der mit Russland eigentlich traditionell untrennbar verbundenen Ukraine fielen nun die Leninstatuen im ganzen Land. Soweit das Schicksal der Leninstatuen. Dzierżyński selbst fiel schon 1989, unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Ostblocks der Damnatio memoriae zum Opfer, jener aus der Antike bekannten Strategie, durch die Vernichtung sämtlicher Abbilder die Erinnerung an eine bestimmte geschichtliche Persönlichkeit auszulöschen. In Warschau fiel seine Statue, und der nach ihm benannte Platz wurde anderweitig benamst. In Moskau räumten übereifrige Helfershelfer westlicher Okkupationsstrategien 1991 die Statue vor der Lubjanka ab (aber schmolzen sie zumindest nicht ein, sondern archivierten sie). Mit den Abbildern Dzierżyńskis sollte auch die Erinnerung an die Sowjetunion möglichst schnell vernichtet werden. So wie in den östlichen Berliner Stadtteilen nach der Okkupation durch die BRD 1990 ruckzuck sämtliche Spuren der DDR-Vergangenheit beseitigt wurden, von der Zerstörung des Lenin-Denkmals (Good bye, Lenin!), der Umbenennung des gleichnamigen Platzes, bis hin zum Abriss des Palastes der Republik und stattdessen der Reproduktion ex nihilo des Hohenzollernschlosses. In ihrem Übereifer entfernten die Geschichtsfälscher sogar das »Schandmal« der DDR, den »antifaschistischen Schutzwall« rund um Westberlin, fast restlos, so dass für eine »Gedenkstätte« nur noch ein paar wenige Mauer­teile an der Bernauer Straße übrig blieben, die dann zum »Mahnmal« hochgejazzt wurden.

Eines ist von vornherein sicher. Anfang, Entstehung und Überleben der Sowjetunion im ersten Lustrum, im ersten Jahrfünft, in den kritischen ersten Jahren 1917 bis 1922, wären ohne Dzierżyński nicht denkbar. Seine Rolle war zentral in den revolutionären Anfängen der So­wjetunion und dem Ringen um ihren Bestand während des Bürgerkriegs und der ausländischen Interventionen zwischen 1918 und 1920. Vergleicht man diese Phase der Geschichte der Sow­jetunion mit ihrem Ende unter Bresch­new und Gorbatschow, dann wird das gesamte Ausmaß der Erstarrung, der Versteinerung, der Verorthodoxierung von Staat und Gesellschaft deutlich. Am Anfang der Geschichte der Sowjetunion steht, nach Lenins gezielter Nutzung der kaiserlich-deutschen Unterstützung, der ebenso virtuose wie siegreiche Kampf um ihr Überleben in den ersten kritischen Monaten und Jahren, als Feinde von allen Seiten in die junge russische Sowjet­union eindrangen und ihr Überleben mehr als einmal an einem seidenen Faden hing (zur deutschen Unterstützung Lenins vgl. Johannes Seiffert: Die größten Täuschungen der Geschichte. Berlin 2016, sowie Philipp Ewers: Putin verstehen? Russische Außen- und Sicherheitspolitik der Ära Wladimir Putin. Berlin 2016.). Damals waren Persönlichkeiten wie Lenin, Trotzki und Dzierżyński in der Lage, alle Kräfte zu bündeln und am Ende den Sieg zu erringen. Knapp sieben Jahrzehnte später war der von ihnen geschaffene, erste sozialistische Staat der Welt nicht mehr in der Lage, den vielfältigen, multifrontalen, polymorphen, offenen und verdeckten Angriffen des Westblocks standzuhalten. Gefangen in ihrer eigenen Erstarrung und der suboptimal organisierten Kaderauswahl nicht mehr nach Leistung, sondern weitgehend nach Parteidienstjahren, mangelte es an fähigen Anführern auf allen Ebenen. Das versammelte Personal erwies sich als unfähig, die staatlichen Strukturen als unzureichend, um ein Überleben dieser Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts weiterhin zu gewährleisten. Während die chinesischen Genossen mit Deng Xiaoping einen Denker und Visionär an der Spitze hatten, der seit 1978 dar­auf hinarbeitete, die exzessive (und per se zerstörerische und keineswegs kreative) Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsweise dem Sozialismus dienstbar zu machen, sie also zu kanalisieren, zu domestizieren und somit für die Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu nutzen, verbunden mit der weiterhin führenden Rolle der Partei und sozialistischer Gesellschaftsstrukturen, fand der Sowjetsozialismus in den achtziger Jahren keinen Ausweg mehr aus der Negativspirale wirtschaftlichen und politischen Niedergangs Richtung Kapitulation. Angesichts der schwer und opferreich erkämpften Errungenschaften sozialistischer Gesellschaften ist es umso beschämender, wie leichtfertig sie am Ende dahingegeben wurden, wie gering der Widerstand gegen die gesamtgesellschaftliche Kapitulation war. Einer Kapitulation gegenüber dem triumphierenden Kapitalismus, der jauchzenden Hochfinanz und den Salut schießenden imperialistischen Streitkräften, die sich dann umgehend ans Werk machten, die Überlassenschaften des Sozialismus auf Kapital- und NATO-Kurs zu bringen. Natürlich unter Ausschluss Russlands, das – unabhängig von der dort gerade vorherrschenden Gesellschaftsform – vom Westblock unabänderlich als Erz- und Erbfeind betrachtet wird, mit dem es nichts anderes als Zwist und Konkurrenz beziehungsweise erbarmungslosen Kampf bis aufs Messer geben kann.

Feliks Dzierżyński war ein Kämpfer, er war einer der entscheidenden Faktoren, die das Überleben der Oktoberrevolution und der von ihr hervorgebrachten neuen sowjetischen Gesellschaftsform in den Jahren nach 1917 sicherten, also in jener kritischen ersten Phase, als der junge Sowjetstaat mehr als einmal kurz vor seinem Ende zu stehen schien. Fast ein Viertel seines Lebens, insgesamt elf Jahre, hatte er im Gefängnis beziehungsweise in Verbannung zubringen müssen. Seine Mitkämpfer verliehen ihm den Titel »eiserner Feliks«, angesichts seiner vielfältigen Verdienste im Kampf um die künftige Geschichte der Sowjetunion und angesichts seiner unbeugsamen Haltung gegenüber den Schicksalsschlägen, die sein eigenes Leben, aber auch das seines Staates betrafen. Seit seinem 17. Lebensjahr widmete sich Dzierżyński dem Kampf für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse im damaligen russischen Zarenreich. Als Agitator der Proletarier in Kaunas und Wilna in Litauen begann er seine Karriere, die ihn schon bald zum Berufsrevolutionär werden ließ, der sein Leben im Kampf gegen das verbrecherische Zarenregime einsetzte und der sich unermüdlich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der »kleinen Leute«, der »Vergessenen« engagierte.

Diese Zielgruppe spielte zuletzt bekanntlich im US-Wahlkampf 2016 eine entscheidende Rolle, als Kandidat Trump versprach (eine der durchschaubarsten Wahlkampflügen aller Zeiten), sich für die »Zurückgelassenen«, die von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängte ehemalige weiße Mittelschicht, einzusetzen. Das brachte ihm den Wahlsieg ein – Zeichen dafür, wie groß die kritische Masse in den Industriestaaten des Westblocks mittlerweile geworden ist; in der BRD könnte man hierzu den Wahlerfolg der AfD heranziehen, die mit sage und schreibe 92 Abgeordneten im neuen »Bundestag« der Wahlperiode 2017–2021 sitzt. Dieses »Versprechen« hinderte Trump natürlich keine Sekunde lang daran, unmittelbar nach seiner Amtseinführung die Umverteilungspolitik seiner Amtsvorgänger Obama & Co. nahtlos fortzusetzen und die depravierte ehemalige Mittelklasse noch weiter zu depravieren und ihrer letzten Besitzstände zu berauben, so im Dezember 2017 durch die »Steuerreform«, die in Wahrheit eine weitere Umverteilungsrunde von unten nach oben bedeutete; aber auch durch die Reform der Krankenversicherung, die Millio­nen von US-Amerikanern diese Form der staatlichen Absicherung entzog.

Dzierżyński lernte Lenin beim 4. Parteikongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSA) persönlich kennen, der 1906 in Stockholm stattfand – die Kongresse mussten im Ausland stattfinden, da die Partei vom Zaren verboten worden war. In den Jahren danach wurde er zum engen Mitarbeiter Lenins. So ist es kein Wunder, dass Dzierżyński persönlich in die Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution 1917 in Petrograd involviert war. Unmittelbar nach der Revolution wurde er zum Vorsitzenden der Allrussischen außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Sabotage und Korruption (Bсероссийская чрезвычайная комиссия по борьбе с контрреволюцией, спекуляцией и саботажем, kurz: Tscheka) ernannt. Diese setzte sich mit den zahlreichen Feinden der jungen Sowjetrepublik auseinander, und das mit adäquaten Mitteln, was Dzierżyński unter Bolschewiken den Nimbus eines Helden, im Westblock den Ruf eines ruchlosen Verbrechers einbrachte. Ab März 1919 leitete er das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (Народный комиссариат внутренних дел, im Westblock mit seiner Abkürzung NKWD bekannt und als »verbrecherische Organisation« geschmäht), führte aber seine Arbeit an der Spitze der Tscheka parallel weiter. Er nahm eine führende, entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der Revolutionsherrschaft im gesamten russischen Staatsgebiet und in den angeschlossenen Sowjetrepubliken ein. Im April 1921 wurde er zusätzlich zum Minister für Transportwesen ernannt. Gerade Transport und Verteilung strategisch wichtiger Güter wie Lebensmittel, Treibstoff und Waffen hatten sich als kritisch für die Sowjetunion herausgestellt. Auch hier brachte er sein Organisationstalent und seine Fähigkeiten als Motivator und Lenker eines Riesenapparats zur Geltung. Zudem wurde er Vorsitzender des Obersten Wirtschaftsrates der Sowjetunion (Вы́сший сове́т наро́дного хозя́йства) und leistete in dieser Funktion entscheidende Hilfe bei der beschleunigten Industrialisierung des in vielen Bereichen rückständigen Landes. Insbesondere kümmerte er sich um die Metallindustrie, die Flugzeugindustrie und die Landmaschinenherstellung. Er setzte sich zeitlebens für eine Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung ein und galt als großer Förderer der höheren Schulbildung in der Sowjetunion.

Seit den Anfängen der Sowjetunion gehörte er zu den gewählten Delegierten zahlreicher Parteikongresse. Er war aktiv beteiligt an einer Reihe von staatsbildenden Initiativen zu Beginn der Sowjetrepublik, als das gesamte Staatswesen ad hoc entwickelt und aktiviert werden musste, und zeichnete sich als Leiter der Kommission zur Verbesserung der Lebensverhältnisse von Kindern (комиссия по улучшению жизни детей) aus. Diese Tätigkeit unterstreicht einmal mehr seine im Westen komplett ignorierten humanistischen Ideale. Seine umfassenden Tätigkeiten an der Spitze der Sowjetunion fanden ein unerwartetes Ende durch seinen frühen, allzu frühen Tod am 20. Juli 1926, im Alter von gerade mal 48 Jahren. Wie es in seinem Nachruf hieß, hatte er in den Folterkammern des Zarentums, im sibirischen Exil, während der Jahre in zaristischen Zuchthäusern, der Untergrundtätigkeit und als Regierungsmitglied immer in vorderster Front gestanden und sich dabei aufgerieben. Das elitäre Wachregiment »Feliks Dzierżyński« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, am Ende eine Einheit in Divisionsstärke mit fast 11.000 Mann, wurde natürlich am 2. Oktober 1990 wie der Rest der DDR aufgelöst, zusätzlicher Beleg für den historischen Umschwung, der mit dieser Zeitenwende einherging. Die Erinnerung an Feliks Dzierżyński lebt weiter. Eher positiv besetzt in weiten Teilen des Ostblocks, umfassend negativ besetzt in weiten Teilen des Westblocks. Dieses Buch setzt sich zum Ziel, eine neutralere, gerechtere Sichtweise auf Leben und Werk zu ermöglichen.

Zimmerwald, im Frühjahr 2018

Philipp Ewers

Kindheit, Jugend und revolutionäre Anfänge

Feliks Edmundowitsch Dzierżyński wird in eine Intellektuellenfamilie geboren. Sein Vater, Edmund Dzierżyński, gehört einem verarmten Zweig des polnischen Kleinadels an und arbeitet als Lehrer. Seine Mutter Helena, geborene Januszewska, entstammt einer Akademikerfamilie. Ihr Vater ist Professor am Eisenbahninstitut Sankt Petersburg, ihre beiden Brüder Transportingenieure. Von den insgesamt zehn Dzierżyński-Brüdern erhalten nur Edmund und Felician eine höhere Schulbildung. Edmund studiert an der Fakultät für Physik und Mathematik der Universität Sankt Petersburg und legt das Examen 1863 ab. Drei Jahre später zieht er mit seiner Familie ins 1.500 Kilometer entfernte südrussische Taganrog am Asowschen Meer. Er unterrichtet dort Physik und Mathematik am Gymnasium (heute Tschechow-Literaturmuseum). Der Aufenthalt im Kurort mit dem milden subtropischen Klima und seiner seit dem Mittelalter ansässigen griechisch-italienischen Minderheit – dort begann der Aufstieg Giuseppe Garibal­dis zum italienischen Einigungshelden – soll Edmunds Gesundheit fördern. Dieser leidet an Schwindsucht, die harte Arbeit setzt seiner Gesundheit zu. Nach neun Jahren im Süden zieht er 1875 mit seiner Familie zurück in die Heimat, auf die Dzierżyńovo-Güter am Rande der Nalibozkaja Heide, einem heute über achthundert Quadratkilometer großen Naturschutzgebiet Weißrusslands. Dort lässt er sich von einem seiner Neffen, dem Architekten Justyn Dzierżyński, ein neues Anwesen errichten.

Das kleine Gutshaus am Ufer des Usa-Flusses wurde 2005, sechzig Jahre nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, auf Wunsch Alexander Lukaschenkos rekonstruiert und ist seitdem alljährlich Schauplatz der Vereidigungszeremonie für neue Truppengenerationen des weißrussischen KGB. Dort wird am 30. August 1877 Feliks Dzierżyński geboren. Vater Edmund ist sozial engagiert und unterrichtet in seiner Freizeit unentgeltlich die Kinder der armen Landbevölkerung, die ansonsten überhaupt keine Chance auf Schulbildung hätten. Er bringt ihnen Lesen und Schreiben bei. Den im Elend lebenden Eltern dieser Kinder bietet er an, im Falle von Auseinandersetzungen mit den Landbesitzern, den Kulaken und der Polizei mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Edmund stirbt 1882 an Erschöpfung, im Alter von gerade mal 42 Jahren. Er hinterlässt eine Witwe mit nicht weniger als acht Kindern. Die Familie lebt von nun an von der kleinen Witwenrente sowie von den geringen Erträgen des Landbesitzes. Helenas Mutter, Kazimiera Januszewska, unterstützt die Familie ebenfalls regelmäßig mit einem kleinen Betrag. Beim Tod seines Vaters ist Feliks erst fünf Jahre alt. Bereits zuvor sind die Dzierżyński-Kinder dazu erzogen worden, konzentriert zu arbeiten, Dinge allein zu erledigen und einander zu helfen. Helena bemüht sich redlich, ihren acht Kindern nach dem Tod des Vaters eine freundliche und warmherzige Atmosphäre zu schaffen und sie gesund und mental stark großzuziehen. Im Sommer unternehmen ihre Söhne lange Bootstouren auf der Usa, einem Nebenfluss des Niemen (Memel), oder gehen auf lange Wanderungen in der Nalibozkaja Heide. Feliks hat viele Freunde unter der Dorfjugend, er ist ein begabtes und sensibles Kind, das dennoch mit den einfachen Landbauernlümmeln gut klarkommt. Er liebt Tiere und hält die anderen Kinder immer wieder davon ab, einem ihrer Lieblingsspiele nachzugehen, wehrlose Tiere wie Katzen, Karnickel oder Hasen zu quälen. Er liebt die Natur, liebt die langen Wanderungen durch die Wälder der Umgebung, sich an heißen Tagen ins Flusswasser zu stürzen und am Ufer der Usa auch manche Stunde beim Fischen und Krabbenfangen zuzubringen.

Der Kontakt mit den gleichaltrigen Dorfkindern vermittelt ihm, dass das Leben der ärmeren Dorfbevölkerung hart und entbehrungsreich ist. Vermutlich schon zu diesem Zeitpunkt entwickelt er ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Seine Mutter Helena setzt alles daran, bei ihm und ihren anderen Kindern gleichermaßen die körperliche, moralische und intellektuelle Entwicklung zu fördern. Sie ist naturgemäß die Person, die den größten Einfluss auf den jungen Feliks ausübt. In Briefen an seine Lieblingsschwester Aldona bringt er rückblickend immer wieder zum Ausdruck, wie sehr sich die mütterliche Liebe beispielgebend und wohltuend auf sein Leben ausgewirkt habe. Politisch sind die Zeiten von vielen Irrungen und Wirrungen geprägt, der polnische Aufstand von 1863, der vom Zarenregime blutig niedergeschlagen wurde, ist zwei Jahrzehnte später, während der Kindheit und Jugend von Feliks, noch sehr präsent in der Bevölkerung dieses Teils des ehemaligen polnischen Königreichs.

Viele Jahre später schreibt Dzierżyński 1914 in einem Brief an seine Ehefrau, dass er sich nur zu gut an die Nächte in dem kleinen Dzierżyński-Landhaus erinnere, als die Mutter Geschichten vorlas oder erzählte und der Wind ums Haus heulte. Es ging dabei auch um die sozialen Ungerechtigkeiten, die drückenden Steuerlasten für die armen Bauern. Diese Geschichten hinterließen in den Kindern, und insbesondere bei Feliks, bleibenden Eindruck. Er schreibt, er fühlte sich damals persönlich angegriffen, wenn er die Geschichte von Übergriffen der Obrigkeit hörte. Dominierend in diesen Briefen ist allerdings die große Liebe zur Mutter, die alle Dzierżyński-Kinder prägte. Sie habe ihre Seelen mit Liebe gefüllt und in ihrem Herzen für immer einen prominenten Platz. Mit sechs Jahren beginnt für Feliks der Ernst des Lebens, die Mutter ist seine erste Lehrerin, sie bringt ihm zunächst Polnisch, dann ein Jahr später auch Russisch bei. Sie wird unterstützt von seiner älteren Schwester Aldona, die mithilft, ihn fürs Lyzeum vorzubereiten, das er mit zehn Jahren beginnt, im Jahre des Herrn 1887. Zu diesem Zweck zieht die Familie in die Metropole Wilna, Hauptstadt Litauens.

Die Sommer verbringt die Familie weiterhin in Dzierżyńovo. Feliks sieht die heimatlichen Güter letztmalig im Sommer 1892. Noch im Gefängnis und Tausende von Kilometern entfernt in der Verbannung im äußersten Sibirien, am Rande des Polarkreises wird ihn immer die Erinnerung an die Idylle, das kleine Paradies am Usa-Fluss begleiten. Er sehnt die Zeiten herbei, da die autokratische, repressive Zarenherrschaft beendet sein würde und er endlich wieder nach Hause gehen könnte. 1889 wechselt er auf ein Internat, das er bis 1895 zusammen mit seinen Brüdern besucht. Was ihn dort besonders stört, ist die staatlich verordnete Gesinnungsschnüffelei, die ständigen Fahnenappelle und permanente prozaristische Indoktrination. Die zaristische Geheimpolizei Ochrana versucht angesichts der zu diesem Zeitpunkt steigenden Unzufriedenheit und anschwellenden Unruhen, bereits die Heranwachsenden unter ihre Kontrolle zu bringen beziehungsweise mögliche Systemgegner möglichst früh zu entdecken. (Diese Strategie ähnelt jener der BRD- beziehungsweise Westblock-Geheimdienste bis zum heutigen Tage, die ebenfalls schon in den Schulen Gesinnungsschnüffelei betreiben.) Während seiner Internatszeit entwickelt er schnell den Ruf des unangepassten und kritischen Zeitgenossen, der sich für ungerecht bestrafte Mitschüler einsetzt. Mehr als einmal kann seine Familie nur knapp den drohenden Schulverweis abwenden. Während seiner Schulzeit ist Dzierżyński ein fleißiger Leser. Er kennt die polnischen und russischen Klassiker wie die von Adam Mickiewicz, Maria Konopnicka, Ludwik Kondratowitsch, Boleslaw Prus, Alexander Puschkin, Michail Lermontow und Nikolai Nekrassow. Ebenso beschäftigt er sich mit den Werken von Nikolai Gogol und Michail Saltykow-Schtschedrin sowie mit Wissarion Belinski und Ale­xander Herzen. In Wilna begegnet er aber auch dem dortigen Industrieproletariat der aufstrebenden Industriemetropole. Es stellen sich ihm die natürlichen Fragen: Warum müssen so viele Arbeiter hart arbeiten und manchmal Hungers sterben, während einige wenige Ausbeuter ein Luxusleben führen? Ab der siebten Klasse des Lyzeums (mit siebzehn Jahren beziehungsweise 1894) ist Feliks ein bekennender Atheist; der Gottglauben, zu dem ihn seine Mutter erzogen hatte, hält der sozialen Wirklichkeit im Zarenreich nicht stand. Er sucht ab diesem Zeitpunkt nach Wegen, um der schreienden sozialen Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten. Da linke Literatur verboten ist, stellt es sich für Feliks als schwierig heraus, an solche Werke heranzukommen, in denen er Antworten auf seine vielen Fragen vermutet. Da er in diesem Stadium seines Lebens noch keinen Anschluss an die organisierte Linke gefunden hat, muss er sich eigenständig auf diesem Gebiet vorantasten, ohne Anleitung, ohne Hilfe. Mit der Zeit kann er sich wenigstens Auszüge der Werke von Marx, Engels und Lenin beschaffen und bekommt so erste Vorstellungen einer alternativen Zukunft für die marode Gesellschaft im Zarenreich.

Ebenfalls in diesen Monaten erhält Dzierżyński Kontakt zu illegalen Studiengruppen von Mit-Gymnasiasten, Untergrund-Lesezirkel, in denen diese jungen Menschen sich dem Studium der sozialistischen Klassiker widmen. So eröffnet sich ihm erstmals die Gelegenheit, unter anderem das Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels zu lesen, den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats von Engels, Georgi Plechanows Zur Frage derEntwicklung der monistischen Geschichtsauffassung sowie das Erfurter Programm der insgeheim schon damals auf Konfrontationskurs zum Kommunismus befindlichen, reaktionären Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Im Gegensatz zu vielen seiner nationalistischen Landsleute ist Dzierżyński überzeugter Internationalist, er fühlt sich dem Klassenkampf in Russland genauso verbunden wie den Auseinandersetzungen zu Hause in Litauen und Polen. Im Kontakt mit den Untergrund-Studierzellen und den Arbeitern der großen Industriewerke Wilnas wird Dzierżyński schnell zu einem gewieften Agitator und einem wirkungsvollen Redner. Doch auch die Techniken und Strategien der Illegalität gehen ihm in Fleisch und Blut über. Durch strenge Disziplin in Fragen der Untergrundarbeit gelingt es ihm, seine »bürgerliche« Existenz als Internatsschüler zu wahren. Für seine Tätigkeit in der Illegalität benutzt er den Tarnnamen »Jakub«.

Im Untergrund findet er schnell Anschluss an eine größere Gruppe sozial interessierter Zeitgenossen, zu denen der Arbeiterdichter Andrzej Gulbinowicz gehört. Dieser beschreibt ihn rückblickend als wissbegierigen, intelligenten jungen Mann, der sich bei Treffen weniger durch langatmige Redebeiträge, sondern durch kurze, knappe Bemerkungen auszeichnete. Willig habe er die verschiedensten Aufgaben übernommen und unermüdlich am Ausbau des Untergrundnetzwerks gearbeitet. Bei einem geheimen Treffen der Arbeiterjugend Wilnas in den nahe gelegenen Gediminas Bergen schwört Dzierżyński 1894, sein Leben dem Kampf um soziale Gerechtigkeit zu weihen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen und sich für die Freiheit des Volkes einzusetzen. Und während der sieben Jahre ältere Lenin 1895 mit 25 Jahren in Sankt Petersburg die Liga zur Emanzipation der Arbeiterklasse gründet (die Keimzelle der späteren Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei RSA), tritt Dzierżyński im Herbst 1895 im Alter von 18 Jahren der Sozialdemokratischen Partei Litauens (SDL) bei. Zu diesem Zeitpunkt benutzt er das Alias »Jacek«. Im Oktober 1895 zieht seine Großmutter Kazimiera Januszewska nach Wilna, um sich stellvertretend für die mit den weiteren sieben Kindern beschäftigte Mutter um Feliks zu kümmern, dessen immer größere Ausmaße annehmendes Engagement in der linken Untergrundszene die Familie beunruhigt. Sie bezieht ein Haus in der Poplawska-Straße und nimmt die schulpflichtigen Kinder bei sich auf. Feliks und seine Brüder sind froh, das verhasste Internat verlassen zu können und wieder eine normale Schule zu besuchen. Doch das hält Feliks nicht davon ab, mit seinen illegalen Unternehmungen aufzuhören. Im Gegenteil. Er richtet im Hinterhof des großmütterlichen Hauses eine kleine Untergrunddruckerei ein. Zusammen mit anderen Mitstreitern plakatiert er immer wieder nachts das gesamte Stadtgebiet von Wilna mit aufrührerischen Pamphleten. Dank der strikt eingehaltenen Disziplin fliegt die Druckerei im Hinterhof des großmütterlichen Hauses niemals auf. Die zaristische Geheimpolizei schafft es nicht, die Quelle dieser Pamphlete zu orten, zu ihrem großen Ärger. Eine weitere geheime Druckerei wird im Untergeschoss der Bernhardinerkirche in Wilna eingerichtet. Eine seiner Mitstreiterinnen, Maria Woitkiewitsch-Krschischanowskaia, erinnert sich rückblickend, wie sie nächtelang Flugblätter und Plakate druckten. Sie hätten immer wieder Pausen gemacht, um zu lauschen, ob sie herumschleichende Schritte von Geheimpolizisten hörten. Wenn es still blieb, hätten sie weitergedruckt. Das Ganze sei ziemlich nervenaufreibend gewesen, da klar war, dass bei einer Entdeckung der Druckerei Verbannung oder Schlimmeres drohte. Eine dritte Geheimdruckerei wurde direkt über einer Polizeistation eingerichtet. Auch diese konnte erfolgreich geheim gehalten werden.

Im Dezember 1895 nimmt Feliks mit achtzehn Jahren als Abgesandter der litauischen Untergrundbewegung an einer geheimen Zusammenkunft illegaler Studentengruppen in Warschau teil. Man trifft sich, um gemeinsam polnische Klassiker und polnische Geschichte zu studieren, was beides vom Zarenregime verboten wurde. Gemeinsam soll der Kampf gegen das autoritäre Zarenregiment vorangetrieben werden. Es dominieren nationalistisch gesinnte Delegierte, und Dzierżyński als einer der wenigen Internationalisten fühlt sich zunehmend isoliert in den polnischen Chauvinismus propagierenden Zirkeln, wie sein Mitstreiter Bronislaw Kociutski in seinen Memoiren schreibt. Einige Wochen später, im Frühjahr 1896, organisiert Dzierżyński den ersten geheimen Kongress sozialdemokratischer Studenten in Wilna. Es wird ein Ausbildungsplan für die künftigen Untergrund-Aktivisten verabschiedet. Mitten in diesen hektischen Tagen erreicht ihn die Nachricht, dass sich der Gesundheitszustand seiner geliebten Mutter dramatisch verschlechtert habe. Er unterbricht seine illegalen Aktivitäten, um sie zu Behandlungsreisen nach Warschau zu begleiten. Ihr körperlicher Verfall macht ihm sehr zu schaffen. So oft wie möglich besucht er sie im Krankenhaus. Seiner Lieblingsschwester Aldona schreibt er, er hoffe, die Mutter werde in einem Monat wieder völlig gesund sein. Aber das Gegenteil trifft ein, und Helena Dzierżyńska stirbt wenige Wochen später. Da er ihr versprochen hat, einen guten Schulabschluss zu machen, verdoppelt er seine schulischen Anstrengungen. Angesichts der kräftezehrenden nächtlichen illegalen Aktivitäten treibt er dabei Raubbau an seiner eigenen Gesundheit.

Mit dem Tod der Mutter fällt die letzte Barriere, die Dzierżyński bisher davon abhielt, seinen Traum zu verwirklichen: die Schule zu verlassen und hauptberuflicher Revolutionär zu werden. Er sagt also im April 1896 der Schule adieu, aber nicht ohne vorher dem reaktionärsten aller Pauker, einem Lehrer namens Masikow, eine ordentliche Standpauke gehalten zu haben. Da Dzierżyński vorher mit seinen Überzeugungen hinter dem Berg gehalten hatte, kam das für das Lehrerkollegium ziemlich überraschend. Vom Gesichtspunkt der Illegalität her war es natürlich eine Riesendummheit, gegenüber der Obrigkeit seine antizaristischen und antikapitalistischen Überzeugungen offenzulegen. Aber da er sofort in den Untergrund gehen wollte, ließ sich Dzierżyński die Gelegenheit nicht entgehen, dem verhassten Lehrerklüngel einmal richtig die Meinung zu sagen. Durch Vermittlung seiner Tante Sofia Pilar erhielt er trotz seines rebellischen Auftritts ein Abgangszeugnis, so dass ihm nicht die gesamte klassische Arbeitswelt als Zukunftsweg von vornherein verstellt war. Die Familie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, aus dem heißblütigen Jungrevolutionär doch noch ein »würdiges Mitglied der Gesellschaft« zu machen. Doch stattdessen verlegt er sich darauf, die Arbeitermassen in Wilna zu agitieren. Er setzt sich für ihre Interessen ein, verleiht ihren Anliegen eine Stimme, formuliert Petitionen, Aufrufe, Forderungen. Seine ungekünstelte, unverstellte Art verschafft ihm schnell den Respekt und die Sympathie seiner Zuhörer. Andererseits erwirbt er sich so auch die ersten Sporen auf dem langen Weg zum Berufsrevolutionär als jemand, der nur für die Sache lebt, Tag und Nacht dafür arbeitet und der Hoffnung auf einen Zeitenwechsel, der das Zarenregime hinwegfegen würde, immer wieder leuchtende Ausdruckskraft verleiht. Für ihn stellt die bis zu diesem Zeitpunkt noch unentschiedene Arbeiterschaft im zaristischen Russland den entscheidenden Faktor dar, dessen Aktivierung bei künftigen revolutionären Auseinandersetzungen den Ausschlag geben könnte.

Zu Dzierżyńskis engsten Freunden in dieser Lebensphase zählen Aleksander, Wincenty und Mikolaj Birinczyk, seine Co-Agitatoren, die jedoch im Gegensatz zu ihm aus einer Arbeiterfamilie stammen. Dazu Waclaw Balcewicz, ein Schuhmacher und revolutionärer Sozialdemokrat (eigentlich ein Widerspruch in sich), sowie Andrzej Gul­binowicz. Dzierżyński und seine Mitstreiter setzen sich bei ihrer Untergrundtätigkeit großen Gefahren aus. Die Stadt ist von zaristischen Spionen und Agents Provocateurs durchsetzt, die zaristische Geheimpolizei Ochrana hat ein engmaschiges Überwachungsnetz aufgebaut. Die Arbeiterschaft in Wilna ist zudem meist in Kleinbetrieben beschäftigt über die Stadt verteilt, ihre Agitation ist zeitaufwendig und energieverschleißend. Ihnen ein sozialistisches Bewusstsein zu verschaffen, stellt sich als anspruchsvolle Aufgabe heraus. Gleichzeitig bekämpfen Dzierżyński und seine Kampfgenossen die Polnische Sozialistische Partei (PSP), die von der politischen Rückständigkeit der Arbeiterschaft bisher profitiert hat und die deren Uneinigkeit nach Kräften fördert. Den gewerkschaftlichen Maifeiertag begehen die Arbeiter Wilnas in geheimen Versammlungen der Sozialdemokraten außerhalb der Stadt. Die Behörden haben jegliche offizielle Feier verboten. In der Zentralbibliothek Litauens ist ein Redetext Dzierżyńskis erhalten, den er bei einer dieser Feiern vorgetragen hat. Er zeigt sich darin als erfahrener Propagandist, dem die Vertiefung der politischen Bildung der Arbeiter Hauptanliegen ist und der sie in die revolutionäre Bewegung einbinden will. Der konkurrierenden PSP wirft er Chauvinismus, die Förderung von Uneinigkeit unter den Arbeitern verschiedener Herkunft und völlige Ignorierung der Klasseninteressen vor. Er betont, dass nur eine möglichst weite Teile der Arbeiterschaft umfassende proletarische Bewegung im künftigen Klassenkampf etwas bewegen könne.

Am 1. Mai 1896 findet der Gründungskongress der Sozialdemokratischen Partei Litauens (SPL) in der Wohnung ihres Mitstreiters Dr. Andrius Domaszewicz statt. Auch hier sorgt die Nationalitätenfrage für heftige Auseinandersetzungen. Der marxistische, revolutionäre Flügel der SPL, vertreten durch Dzierżyński, Aleksander Birinczyk, Waclaw Balcewicz, J. Janulewicz, G. Malewski und andere, spricht sich für eine kosmopolitische Ausrichtung der Partei aus, frei von nationalistischen oder gar chauvinistischen Tönen. Domaszewicz und Alfons Morawski, die Parteivorsitzenden, sind anderer Meinung und wollen ein eher kleinbürgerliches und nationallitauisches Parteiprogramm verabschieden. Dzierżyński ist einer von neunzehn anwesenden Vertretern der Parteijugend. Er und seine internationalistischen Mitstreiter sind eindeutig in der Minderheit.

In Wilna und Kaunas arbeitet Dzierżyński verstärkt daran, die Verbindungen zu den russischen Sozialdemokraten auf- und auszubauen. Nach dem Tod seiner Mutter Anfang 1896 zieht er für einige Zeit zu seiner Schwester Aldona. Im Januar 1897 bezieht er ein eigenes Zimmer im Arbeiterbezirk rund um die Zaretschnaia-Straße in Wilna, wo er allerdings nur wenige Wochen bleibt. Die revolutionären Unruhen im Frühjahr und Sommer 1897 versetzen die Polizei in Wilna in Alarmzustand. Besonders auf den umtriebigen Agitator »Jacek« hat sie es abgesehen, doch es gelingt ihr lange Zeit nicht, ihn zu fassen. Da der Organisationsgrad der SPL in Kaunas, dem anderen großen Industriezentrum Litauens, noch unbefriedigend ist, wird Dzierżyński dorthin entsandt, um die Strukturen neu aufzubauen. Ab März 1897 hält er sich daher hauptsächlich in Kaunas auf. Er meldet sich dort unter falschem Namen als Student an. Zu seinem Erschrecken muss er feststellen, dass der Anteil an Spitzeln und Agents Provocateurs in Kaunas noch deutlich höher ist als in Wilna. Die Polizei hat vor kurzem die konkurrierende nationalistische PSP-Zelle in Kaunas zerschlagen. Zudem ist in den Fabriken und Werkstätten eine bunte Mischung aus dem Vielvölkerstaat Russland beschäftigt, Litauer, Weißrussen, Juden, Polen, Russen und Letten. Die beiden großen Fa­briken, der Tilmans-Konzern und die Rekos-Werke, haben mehrere Hundert Beschäftigte, der Rest verteilt sich auf Kleinbetriebe.

Um das Vertrauen der Arbeiterschaft von Kaunas zu gewinnen, beginnt Dzierżyński als Buchbinder zu arbeiten. Daraus generiert er auch sein neues Alias »Perepljotschnik« (переплётчик, deut. Buchbinder). Bei dieser Tätigkeit erwirbt er Kenntnisse, die auch für die illegale Existenz sehr nützlich sind. Beispielsweise das perfekten Fälschen amtlicher Dokumente, das Herstellen von Verstecken für Dokumente (in gebundenen Büchern mit entsprechenden Lücken). Außerdem kann er Papier und andere Druckmaterialien leichter beschaffen als auf dem freien Markt. So verdient er seinen Lebensunterhalt, ohne auf Zuwendungen der ärmlichen Partei angewiesen zu sein. Um sich ein bisschen Geld hinzuzuverdienen, bringt er Arbeiterkindern Lesen und Schreiben bei.

Auch in Kaunas setzt er sich für eine enge Verbindung und Zusammenarbeit mit der Arbeiterbewegung in Russland ein. Nur durch eine konzertierte Aktion aller im russischen Zarenreich versammelten Nationalitäten (also Litauern, Letten, Esten, Polen et cetera) könnten die Voraussetzungen für einen Sturz der Autokratie und des kapitalistischen Ausbeutersystems geschaffen werden. Er bildet zu diesem Zeitpunkt Nachwuchskader für die Partei aus. Diese Männer und Frauen bilden künftig das Rückgrat der illegalen Organisationsstrukturen vor Ort. Sein engster Mitarbeiter in Kaunas ist Józef Olechnowicz. Dieser hilft Dzierżyński dabei, schon Anfang April 1897, wenige Wochen nach seiner Ankunft, die erste und einzige Ausgabe der Untergrundzeitschrift Kownienski Robotnik(Kaunas’ Arbeiter) zu veröffentlichen. Bei seinen zwischenzeitlichen Besuchen im heimatlichen Wilna brachte er ein Exemplar der Ausgabe mit. Andrzej Gulbinowicz erinnert sich, dass die ersten Seiten noch klar und lesbar handgeschrieben waren, die folgenden schon eng gedrängt und kleiner. Dzierżyński habe dazu erklärt, dass er unter Zeitdruck die gesamte Ausgabe selbst habe schreiben, vervielfältigen und verteilen müssen. Damals mussten Fabrikarbeiter noch dreizehn bis vierzehn Stunden am Tag für einen Hungerlohn arbeiten.

Kurz darauf produziert Dzierżyński die Broschüre Maifeiertag der Arbeiter, die er ebenfalls in Kaunas und Wilna verteilt und in der er zur Zusammenarbeit der Arbeiter aller Länder aufruft. Er schreibt auch für die in Wilna erscheinende Zeitschrift Echo życia robotniczego(Echo des Arbeiterlebens) und für den Robotnik Litewski (Litauischer Arbeiter), die außerhalb Russlands produziert werden. In einem Essay mit dem Titel »Die Schmidt-Werke« fordert er, dass die politische Freiheit der Dreh- und Angelpunkt im Kampf gegen die Regierung werde. Nach dem Sturz der zaristischen Gewaltherrschaft werde die Zeit kommen, anstehende Probleme offen und ehrlich zu diskutieren, für eine Allgemeinbildung der Arbeiterklasse zu sorgen und damit die Solidarität und die Stärke der Arbeiterbewegung zu stärken. Der Sturz des Zarentums müsse notwendigerweise mit einem Sturz des kapitalistischen Ausbeutersystems einhergehen. Die Belegschaften der Fabriken, der Bergwerke und der Eisenbahn, die Bauern und alle anderen Arbeiter müssten zusammenstehen und ihre Betriebe in ihre Hände bringen. Die Welt bewege sich gerade machtvoll Richtung Sozialismus, daher sollten die Arbeiter in Wilna und Kaunas nicht hinter ihren Kameraden anderswo zurückbleiben.

Dzierżyński engagiert sich bei den vielen spontanen, unkoordinierten Streiks jener Monate in Kaunas. Er versucht, die verschiedenen Streikgruppierungen miteinander ins Gespräch zu bringen, ihre Aktionen zu koordinieren und so eine durchschlagendere Gesamtwirkung zu erzielen, unter anderem durch die Formulierung gemeinsamer Ziele und Forderungen. Bei einem der von Dzierżyński organisierten Streiks im Kaunas-Vorort Aleksota konnte immerhin eine Reduzierung der täglichen Arbeitsstunden von vierzehn auf elf Stunden erreicht werden. Seine Überlegungen zum Thema Streik und zur Optimierung dieses Kampfinstruments in der Klassenauseinandersetzung veröffentlichte Dzierżyński in einem Zeitungsartikel mit der Überschrift »Wie sollen wir kämpfen?«. Minutiöse Vorbereitung, Verhinderung spontaner Zusammenkünfte und die Vermeidung spontaner »Zerstörungsorgien« von Maschinen und Ausrüstung (damit würden die Arbeiter ja ihre eigenen Arbeitsmittel zerstören) seien entscheidend. In Kaunas verhielt sich Dzierżyński generell sehr vorsichtig, was seine Aktivitäten und illegalen Unternehmungen anging. Er vermied die Begegnung mit einmal erkannten Agents Provocateurs konsequent beziehungsweise versuchte ihre Diversionsansätze zu kontern, denn die Strategie der zaristischen Geheimpolizei Ochrana wurde damals entsprechend aggressiv umgesetzt: Durch falsche »Streikführer« mit idiotischen Forderungen und Zerstörungen von Industrieanlagen wurden die Anliegen der Arbeiterschaft sowie die Arbeit der sozialistischen Parteizellen diskreditiert.

Doch es war natürlich ein ungleicher Kampf zwischen dem gigantisch aufgeblähten Apparat der allmächtigen, omnipräsenten zaristischen Geheimpolizei auf der einen und Einzelkämpfern wie Dzierżyński auf der anderen Seite. Die Ochrana bekommt schon nach wenigen Wochen mit, dass da in Kaunas jemand versucht, systematische sozialistische Streikwellen zu organisieren, und nimmt ihn entsprechend ins Fadenkreuz. Mitte Juli 1897 ist es so weit: Ein weiterer Agent Provocateur schafft es, Dzierżyński zu lokalisieren und lädt zum nächsten illegalen Treffen auch die Ochrana ein. Dzierżyński wird verhaftet und ins Gefängnis von Kaunas gebracht. Die Durchsuchung seines Zimmers ergibt, dass er legale und illegale Literatur zu Themen wie Wirtschaft, Krisen, Streiks, Sozialismus besitzt. Zudem fallen der Geheimpolizei seine handschriftlichen Unterlagen zu den von ihm organisierten Streiks, seine selbst erstellten Statistiken über die Zahl und die Beschäftigten der großen Industriebetriebe in Kaunas, seinem Netzwerk an Helfern et cetera in die Hände. Außerdem wird sein kleiner Bestand an Leihbüchern beschlagnahmt: Er besaß bis zu fünf Ausgaben einzelner populärer wissenschaftlicher Sachbücher und linker Romane, die er in einem kleinen Katalog erfasst hat, samt den Namen der Ausleihenden. Daraufhin kommt es wenige Wochen später zu einer erneuten Verhaftungswelle in Kaunas, bei der nun alle in den Unterlagen Dzierżyńskis gefundenen Helfershelfer und Sympathisanten verhaftet werden. Da Dzierżyński zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig ist, kann er vorerst nicht aufgrund der von der Ochrana zusammengestellten Vorwürfe verurteilt werden. Die zaristische Polizei benutzt die Zeit der Untersuchungshaft, um den Insassen Dzierżyński nach Kräften zu drangsalieren. So muss er wiederholt Tage in der Strafzelle ohne Essen und Wasser verbringen. Oft wird er bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt. Dabei wird ihm der Kiefer mehrfach gebrochen, der nicht mehr richtig zusammenwächst.

Endlose Verhöre mit Drohungen, Unterstellungen, Erpressungen und Versprechungen schließen sich an. Dzierżyński soll alle seine Kontakte preisgeben, damit das ganze Netzwerk an Untergrundagitatoren ausgehoben werden kann. Trotz der psychischen und physischen Attacken widersteht Dzierżyński den zaristischen Folterknechten und gibt keinen seiner Genossen preis. Während seiner Haft ist er sogar noch in der Lage, Artikel zu verfassen und diese mit Hilfe von sympathisierenden Wächtern und anderen Gefangenen aus dem Zuchthaus hinauszuschmuggeln. So erscheinen im Echo życia robotniczego Schilderungen seines furchtbaren Gefängnisalltags. Noch aus dem Gefängnis setzt er sich für eine Vereinigung der Litauischen mit der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ein.

Am 10. Juni 1898, nach einem Jahr Leidenszeit und kurz vor Prozessbeginn, wird Dzierżyński vom Direktor des Gefängnisses informiert, dass er per Ukas des Zaren ohne gerichtliche Anhörung zu drei Jahren Verbannung verurteilt worden sei. Diese solle er im Gouvernement Wjatka (heute Kirow) verbringen und schon drei Tage später abreisen. Aldona wartet am 12. Juni den ganzen Tag auf ihn vor dem Gefängnis. Endlich, um Mitternacht öffnet sich das gigantische Gefängnistor. Die Gefangenen müssen aneinandergekettet Richtung Bahnhof marschieren, begleitet von berittenen Wachsoldaten. Aldona erkennt ihren Bruder nur mit Mühe wieder. Er ist bleich und dünn, hält den Kopf aber aufrecht. Er lächelt ihr zu, sie will zu ihm gehen, wird jedoch von den berittenen Wachposten zurückgetrieben. Sie geht den ganzen Weg zum Bahnhof neben dem Zug der Elenden her, bis diese in den heruntergekommenen Waggons verschwinden, die sie in die Verbannung bringen. Die politischen Gefangenen werden in Zellen mit Schwerkriminellen, mit Mördern und Gewalttätern gesperrt. Nach einer Zwischenstation im Gefängnis von Kaluga geht es per Schiff weiter. Allerdings ist das keine Erleichterung. Die Verpflegung auf dem Schiff ist schlecht, es gibt nicht einmal genügend Wasser, die Zellen sind noch enger als in den Gefangenenwaggons. Einige kranke und ältere Gefangene sterben während des Transports.

Das Schiff fuhr die Oka und die Wolga hinunter, dann die Kama wieder hinauf. Auf dem Weg wurden immer mehr politische Gefangene eingesammelt. Am 27. Juli 1898 kommt das Schiff in Wjatka an. Gouverneur Klingenberg weist Dzierżyński die Kleinstadt Nolinsk als Verbannungsaufenthaltsort zu. Doch zunächst verzögert sich die Weiterreise, da der Wasserstand des Flusses in der Sommerhitze zu gering geworden ist. Alle anderen Gefangenen mit anderen Verbannungsorten sind schon weitergereist. Dzierżyński harrt noch im Gefängnis Wjatka aus, dessen Zustände aller Beschreibungen spotten. Er erkrankt und bietet in seiner Verzweiflung an, den Weitertransport nach Nolinsk selbst zu finanzieren. Dem stimmt der Gouverneur zu, erfreut, die Last loszuwerden. Am 14. August 1898 wird Dzierżyński aus dem Gefängnis entlassen und kann einen Tag später mit einem kleinen Dampfschiff zu seinem Zielort reisen. Auf dem Weg dorthin trifft er einen polnischen Landsmann, den Eisenbahn-Ingenieur Zawiza, der am Neubau der Bahnstrecke Wjatka‒Moskau beteiligt ist und ihm mit Geld und Kleidung aushilft. Nolinsk war damals ein Städtchen mit knapp 5.000 Einwohnern. Ob sich sein Weg dort mit dem eines anderen Manns kreuzte, der in der späteren Sowjetunion zu hohen Staatsämtern gelang, konnte bislang nicht eruiert werden ‒ von niemand anderem als Wjatscheslaw Skrjabin ist die Rede, Kampf- und späterer Familienname: Molotow. Dessen Eltern gehört neben dem Kaufhaus auch der größte Betrieb am Ort, die Tabakfabrik Nolinsk. Jung-Wjatscheslaw wird wenige Jahre später als Nestbeschmutzer mit knapp 15 Jahren versuchen, die ersten Arbeiterstreiks in den familieneigenen Betrieben zu organisieren. Doch davon ist er noch weit entfernt, als Dzierżyński in die Stadt kommt.

Neben dem Kaufhaus und der Tabakfabrik gibt es in der Stadt noch eine Bibliothek und ein Krankenhaus. Während einer Nachbehandlung seiner Erkrankung lernt Dzierżyński dort eine andere junge Verbannte kennen, Margarita Nikolajewna, mit der ihn von Stund an ein lebenslanger Kontakt verbinden sollte. Am 1. Dezember 1898 beginnt Dzierżyński, ein Tagebuch zu führen, das sich in sowjetischen Archiven erhalten hat. Auch Margarita erwähnt er darin, beschreibt ihre emotionale Herangehensweise an die Dinge und fragt sich, ob er es schaffen würde, zusammen mit ihr eine sozialistische Zelle in Nolinsk aufzubauen. Als ersten Schritt richten sie gemeinsam den sogenannten »Mittwochs-Zirkel« aus, bei dem sich die Verbannten treffen, um politische Fragen, aktuelle Ereignisse und neue Bücher zu besprechen.

Mittlerweile ist ihm auch ein Arbeitsplatz in der Skrjabin’schen Tabakfabrik zugewiesen worden, wo er als Textildrucker beschäftigt wird. Die Arbeitszeit dauert – wie auf dem Land üblich – von morgens um sechs bis abends um zwanzig Uhr, also vierzehn Stunden, eine kurze Pause miteinberechnet. Die Löhne sind miserabel, der in der Fabrik allgegenwärtige Tabakstaub lässt seine Augen tränen und erzeugt eine Art Asthma bei ihm. Angesichts seiner schon bald wieder intensiven Agitationsarbeit fällt er den Behörden und der Polizei, unter deren enger Beobachtung er steht, erneut auf und verliert seinen Arbeitsplatz daraufhin bald wieder. Durchsuchungen seines Zimmers schließen sich an, er wird nun rund um die Uhr überwacht und abgehört. Er ist gezwungen, seine Unterkunft öfter zu wechseln, und bittet seine Schwester deshalb zwischendurch, ihm nicht an eine bestimmte Adresse, sondern postlagernd ans Hauptpostamt Nolinsk zu schreiben. Es ist verboten, ihm Geld zu schicken, so lebt er einzig von den Erträgen der kleinen Jobs und Aufträge, die er ab und an bekommt. Er lebt daher ständig von der Hand in den Mund. Seine Erkrankung tritt wieder auf, hinzukommt ein Trachom, das sich so sehr verschlimmert, das ihm die Erblindung droht. Erneut wird er ins örtliche Krankenhaus eingewiesen. Auch dort überwacht ihn die Polizei. Schließlich wird er von der Polizei im Dezember 1898 aus dem Krankenhaus abgeführt und ins vierhundert Kilometer nördlich von Nolinsk gelegene Kaigorodskoie verbracht.

Zu Beginn des Jahre 1899 findet sich Dzierżyński somit in der nördlichsten Ecke des Gouvernements Wjatka wieder, bei Temperaturen, die bis auf minus vierzig Grad Celsius fallen. Wie sich im Frühjahr während der Schlammperiode (rasputiza) herausstellt, ist es bei angenehmeren Temperaturen auch nicht besser, da die Feldwege, die Kaigorodskoie mit der Außenwelt verbinden, zu unüberwindlichen Schlammwüsten werden. Im Sommer ist es dagegen unerträglich heiß, mit Temperaturen, die vierzig Grad Celsius erreichen. Das Dorf ist umgeben von Sümpfen, die bei Hitze einen unerträglichen Gestank verbreiten, und zusätzliche Mückenplagen terrorisieren seine Bewohner. Es ist ein gottverlassener Ort, die meiste Zeit des Jahres von der Außenwelt abgeschnitten. Die einzigen sozialen Zen­tren des rund hundert der typischen russischen Holzhäuser (Isba) umfassenden Ortes sind die Kirche und das Dorfgasthaus. Das menschenfeindliche Klima setzt der angegriffenen Gesundheit Dzierżyńskis weiter zu. Es gibt weit und breit keinen Arzt, nirgendwo sind Medikamente zu bekommen. Auch hier lebt Dzierżyński von der Hand in den Mund. Am schlimmsten für ihn ist jedoch die Trennung von den Kampfgenossen und der politischen Arbeit. Die Kleinbauern von Kaigorodskoie erweisen sich gegenüber seinen Versuchen sozialistischer Agitprop immun. Dzierżyński schreibt in einem Brief an Margarita Ende Januar 1899, dass er sich an einem Tiefpunkt seines Lebens befinde. Doch trotz der anhaltenden Augenbeschwerden liest er alles, was er in die Finger bekommt, und zeigt sich generell optimistisch, dass einmal auch wieder andere Zeiten anbrechen werden.

Am 5. November 1898 hatte er an Aldona geschrieben, dass die Verbannung ihn keinesfalls in seinen Überzeugungen ändern werde. Aus seinen Briefen an Margarita geht hervor, dass er die Werke von Karl Marx, vor allem Das Kapital zu diesem Zeitpunkt intensiv studiert. Er beschäftigte sich mit Fragen der Profitmaximierung in kapitalistischen Wirtschaftsorganisationen und der Mehrwerttheorie. Dabei liest er auch durchaus Marxismus-kritische, bürgerliche Autoren wie John Stuart Mill, Bulgakow und russische Liberale, um sich auch mit den Argumentationsstrukturen der Gegenseite vertraut zu machen. Ihn interessiert die Kategorie der Moral als soziales Phänomen. Er sieht sie als Produkt der sozialen Entwicklung an, als Übergang von wirtschaftlichen zu sozialen Beziehungen der Menschen untereinander. Diese sind dabei naturgegebenermaßen abhängig von der Entwicklung der Produktivkräfte und ihrer technischen Ausprägungen. Nicht das Bewusstsein entscheide über die menschliche Existenz, sondern die soziale Existenz entscheide über das Bewusstsein, so seine Überzeugung.