Wjatscheslaw Molotow - Philipp Ewers - E-Book

Wjatscheslaw Molotow E-Book

Philipp Ewers

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Beschreibung

Wjatscheslaw Molotow (1890–1986) war fast 15 Jahre sowjetischer Außenminister, größtenteils unter dem von ihm verehrten Josef Stalin. Als dessen engster Vertrauter gehörte er in den dreißiger Jahren zum mächtigsten Herrschaftszirkel der Sowjetunion. Molotow war kaltblütiger Machtvollstrecker, der die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft genauso befürwortete wie die Massenexekutionen der Stalinschen Säuberungen. Im August 1939 wurde der von ihm und dem NS-Regime ausgehandelte Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet. Molotow nahm im Anschluss an allen wichtigen Konferenzen der vierziger Jahre teil und wirkte aktiv am Aufbau der Weltordnung des Kalten Krieges mit. Philipp Ewers spürt dem Leben dieses außergewöhnlichen Politikers nach. Wer war der Mann, den schon Lenin als "Eisenarsch" titulierte? Wie gelang sein Aufstieg zur Nummer zwei in der Sowjethierarchie? Und wie konnte er als der Einzige aus dem engsten Führungszirkel seit den 1910er Jahren die Ära Stalin und die Jahre danach überleben? In der einzigen auf Deutsch lieferbaren Biographie zeichnet Ewers ein facettenreiches und aus vielen Quellen gespeistes Porträt des machtbewussten Aufsteigers, der zu den einfl ussreichsten Poli tikern der Welt des Kalten Krieges zählte.

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Philipp Ewers

Wjatscheslaw Molotow

Realpolitik und Exzess

ORIGINALAUSGABE

edition berolina

eISBN 9783958415508

1. Auflage

© 2017 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

Umschlagabbildung: © picture alliance / dpa

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

FAX 01805/35 35 42

(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

www.buchredaktion.de

Gewidmet

Michail Sergejewitsch »Giwi« Tolstych

und

Arsen Sergejewitsch »Motorola« Pawlow

Meinst du, die Russen wollen Krieg?

Befrag die Stille, die da schwieg

im weiten Feld, im Pappelhain,

Befrag die Birken an dem Rain.

Dort, wo er liegt in seinem Grab,

den russischen Soldaten frag!

Sein Sohn dir darauf Antwort gibt:

Meinst du, die Russen woll’n,

meinst du, die Russen woll’n,

meinst du, die Russen wollen Krieg?

Jewgeni Jewtuschenko (1961)

Molotow ist ein außergewöhnlich fähiger Mann (…), der in einer Reihe mit diplomatischen Großmeistern vom Range eines Mazarin, Talleyrand und Metternich steht.

Winston Churchill (Memoiren)

Vorwort

Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow (* 9. März 1890; † 8. November 1986) – der Name ist im deutschsprachigen Raum noch gut bekannt: Dominant war die Rolle, die er in der sowjetischen Geschichte gerade im Hinblick auf Deutschland und Österreich über viele Jahrzehnte spielte. Untrennbar ist sein Name bis heute mit dem von der Westblockpresse und -Geschichtsschreibung als »infam« etikettierten »Hitler-Stalin-Pakt« verbunden, den er mit Hitlers Außenminister Ribbentrop 1939 aushandelte. Gleichzeitig verschwindet bis heute der Mensch Molotow hinter den geschichtlichen Schlagzeilen, und es ist über ihn persönlich kaum etwas bekannt. Wer weiß schon, dass ihm Stalin in jungen Jahren die Freundin Marussia ausspannte, dass Stalin ihn später zwang, sich von seiner Ehefrau Polina scheiden zu lassen, und diese nach Kasachstan verbannte wegen angeblicher zionistischer Spionageumtriebe?

Als einer der wenigen aus der Gründergeneration der So­wjet­union überlebte er die Stalinschen Säuberungen der dreißiger Jahre, handelte als Außenminister in den vierziger Jahren die Nachkriegsweltordnung mit den USA und Großbritannien aus, zählte zu den Gründungsvätern der UNO, wurde dann von Stalin geschasst, um nach dessen Tod wieder in Amt und Würden zu kommen, nur um Ende der fünfziger Jahre vom neuen starken Mann, Chruscht­schow, erneut entmachtet zu werden. Abgeschoben erst in die Mongolei, dann nach Wien, wurde er schließlich mit einer kärglichen Rente in den Ruhestand geschickt. Er überlebte die meisten seiner Widersacher und starb mit 96 Jahren in der Endphase der So­wjet­union, in der von Molotow (zu Recht) sehr misstrauisch betrachteten Ära Gorbatschow, der ihn mit seiner Mischung aus Naivität und Gutmenschentum, mit Sprunghaftigkeit und Unentschlossenheit sehr an seinen früheren Widersacher Chruscht­schow erinnerte, mit dem er schon drei Jahrzehnte zuvor manchen Strauß ausgefochten hatte.

Ziel des vorliegenden Buches ist es, hinter den bekannten Geschichtsdaten den Menschen Molotow zu entdecken, der jeweiligen Motivation für seine manchmal schwer nachvollziehbaren Handlungen auf die Spur zu kommen, kurzum: das Individuum Molotow hinter der historischen Fassade sichtbar zu machen.

Ich wünsche Ihnen eine erhellende Lektüre und verspreche neue Einsichten in alte Tatbestände.

Kislowodsk, Herbst 2017

Philipp Ewers

Kindheit und Jugend

Der Mann, der unter dem Kampfnamen »Molotow« in die Geschichte einging, wird 1890 als Wjatscheslaw Michailowitsch Skrjabin im Dorf Kukarka (heute: Sowjetsk), Kreis Jaransk, Gouvernement Wjatka (heute: Oblast Kirow) als Sohn eines kaufmännischen Angestellten geboren. Kukarka ist zu diesem Zeitpunkt ein Zentrum der holzverarbeitenden Industrie im zaristischen Russland. Dort wird unter anderem ein Großteil der in Russland verkauften Pferdeschlitten hergestellt. Sein Vater, der leitende Angestellte Michail Prochorowitsch Skrjabin, verdient im Jahr 720 Rubel, gehört also schon zur Schicht der Besserverdienenden, wenn man ihn mit der Masse der verelendeten Landbevölkerung vergleicht, die unter dem Zaren am Hungertuch nagt. (Zum Vergleich: Der Vater von Weltkriegsgeneral Schukow verdient als selbständiger Schuhmacher im selben Zeitabschnitt gerade einmal 90 Rubel im Jahr. – Siehe: Philipp Ewers: Marschall Schukow. Der Mann, der Hitler besiegte. Berlin 2017, S. 19.) Fabrikarbeiter in den Industriezentren Moskau und Sankt Petersburg verdienen damals schon um die 300 Rubel im Jahr. Molotows Mutter Anna Jakowlewna entstammt der reichen Kaufmannsfamilie Nebogatikow, der das größte Kaufhaus in Kukarka gehört. Molotows Vater ist Buchhalter dort.

Wjatscheslaw ist das neunte von zehn Kindern, von denen drei im Säuglingsalter sterben. Er überlebt, genauso wie eine Schwester und fünf Brüder. Die dunkle Seite des väterlichen Charakters stellen Alkoholismus und Gewalttätigkeit gegenüber den Kindern dar. Aufgrund einer ernsthaften Erkrankung (die genauen Umstände sind bis heute unbekannt) muss Wjatscheslaw mit acht Jahren eine Brille tragen und leidet seitdem an einem latenten Stottern. Zu seiner weiteren Verwandtschaft gehört der Komponist Alexander Skrjabin, dem er sehr ähnlich sieht, dessen Neffe zweiten Grades er ist. Auch Wjatscheslaw zeigt Ansätze zu musikalischer Begabung, er erlernt das Geigespielen und wird es sein restliches Leben lang weiter praktizieren. Sein älterer Bruder Nikolai wird ebenfalls Komponist, erreicht aber nicht die Berühmtheit des Namensvetters, ändert dennoch, um jede Verwechslung auszuschließen, seinen Nachnamen in »Nolinsk«.

Wjatscheslaw geht zunächst kurzzeitig in die örtliche Grundschule. Nach dem Umzug seiner Familie ins nahe gelegene Verwaltungszentrum Nolinsk besucht er ab dem siebten Lebensjahr die dortigen Schulen, einschließlich des Gymnasiums. Nolinsk ist zu diesem Zeitpunkt ein Auffangbecken für deportierte russische Regimekritiker. Bei den Zwischenprüfungen, die der zwölfjährige Wjatscheslaw auf dem Gymnasium ablegen muss, fällt er im ersten Anlauf durch. Er hatte – wie er rückblickend erzählt – von seiner Mutter eine kleine Ikone zugesteckt bekommen und sich auf deren wundertätige Kräfte verlassen, statt einfach den geforderten Stoff zu lernen. Seitdem ist er vom Götterglauben abgekommen und bleibt für den Rest seines Lebens überzeugter Atheist. Ein erneuter Umzug steht an: Die nächste weiterführende Schule ist im reichlich zweihundert Kilometer entfernten Kasan. Die Mutter bringt ihn und einen seiner Brüder dorthin – an der dortigen Schule sind schon die drei anderen Brüder eingeschrieben. Nach dem Ende des ersten Kasaner Schuljahres kehrt die Mutter nach Nolinsk zurück, die Buben bleiben in der Obhut einer Cousine der Mutter, der als Hebamme tätigen Lydia Petrowna Tschirkowa. Diese ist mit Alexei Kulesch, einem gebürtigen Ukrainer und prominenten Mitglied der 1898 in Minsk gegründeten RussischenSozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSA, Росси́йская социа́л-демократи́ческая рабо́чая па́ртия/Rossiskaja social-demokratitscheskaja rabotschaja partija) verheiratet. Die RSA spaltet sich auf ihrem zweiten, in Brüssel begonnenen, dann nach Polizeimaßnahmen nach London verlegten Parteitag 1903 in einen Mehrheits- (Bolschewiki) und einen Minderheitsflügel (Menschewiki) auf. Kulesch entscheidet sich für die Bolschewiki und betreibt in deren Sinne in Kasan politische Arbeit.

Der verlorene Krieg gegen Japan (1904/05)

Zu diesem Zeitpunkt ist die politische Großwetterlage für Russland schon seit längerem nicht günstig. Im Krimkrieg (1853–1856) gedemütigt, ohne Aussicht, wie andere europäische Mächte damals, zusätzliche Kolonien zu erlangen (das russische Alaska wird 1867 an die USA verkauft, da sich der damalige Zar außerstande glaubt, die auf einem anderen Kontinent gelegene Kolonie auf Dauer gegen das US-Expansionsstreben halten zu können), besinnt sich Russland auf Naheliegenderes, wie eine verstärkte Einflussnahme im benachbarten China. 1891 wird mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn begonnen, die die unendlichen sibirischen Weiten erschließen und gleichzeitig die strategische Position Russlands an der chinesischen Grenze verbessern soll. China ist zu diesem Zeitpunkt durch Kriege mit Japan und durch die Besetzung von Landesteilen durch europäische Mächte geschwächt. In Absprache mit anderen europäischen Staaten besetzt Russland 1897 den chinesischen Hafen Port Ar­th­ur (Dalian) und beteiligt sich im Jahr 1900 an der Niederschlagung des »Boxeraufstands«. Zu diesem Zweck stationiert es nicht weniger als 100.000 Soldaten in China und darf diese gemäß den internationalen Vereinbarungen auch nach dem Ende des Aufstands dort belassen. Das chinesische Engagement Russlands führt zur Konfrontation mit der aufstrebenden Macht Asiens, dem auf Expansionskurs befindlichen Japan, das ebenfalls China als künftige Einflusssphäre und Region wirtschaftlicher Ausbeutung erkoren hat. Auf der formell zu China gehörenden Halbinsel Korea kommt es zum ersten direkten Aufeinandertreffen Russlands und Japans. Russland reklamiert den Holzhandel der waldreichen Halbinsel für sich, gemäß den Konzessionen, die es sich von China erteilen lässt. Doch denselben Plan verfolgt auch Japan. Die diplomatischen Geplänkel verschärfen sich im Ton, schließlich fordert der japanische Botschafter in China Ende 1903 ultimativ den Abzug aller russischen Truppen aus China und die formale Anerkennung der japanischen Hoheit über China, worauf sich Russland natürlich nicht einlassen will.

Ein halbes Jahr später eröffnet der Angriff der japanischen Marine auf im Hafen von Port Arthur liegende russische Kriegsschiffe den Russisch-Japanischen Krieg (Februar 1904–September 1905). Im Vorfeld hatten britische Spione den Japanern die russischen Minenverlegungspläne des Hafengebiets zugespielt. Die im Hafen liegenden russischen Schiffe wehren sich zwar verzweifelt, sind aber letztlich unterlegen. Dennoch wähnt man sich auf russischer Seite den Japanern haushoch überlegen. Zur Überraschung des russischen Militärs entwickeln sich die nun folgenden Land- und Seeschlachten aber nicht wie vorhergesehen. Statt glänzender russischer Siege über das scheinbar provinziell zurückgebliebene Japan hagelt es Niederlagen, die in der katastrophalen Vernichtung der russischen Flotte während der Seeschlacht bei Tsushima gipfeln. Japan zwingt Russland schließlich zum Abzug aus China. Russland muss sämtliche Expansionspläne hinsichtlich des Reiches der Mitte aufgeben. Japan etabliert sich als führende asiatische Militärmacht, die den Ruhm verbuchen kann, eine europäische Großmacht militärisch besiegt zu haben. Bei den Friedensverhandlungen zwischen Russland und Japan im US-Hafen Portsmouth ist es Amerika, das sich als »ehrlicher Makler« anbietet, dabei aber durchaus eigene Interessen verfolgt. Denn in parallel geführten Geheimverhandlungen anerkennt die US-Regierung die japanische Vorherrschaft in China und Korea und lässt sich dafür von Japan die Anerkennung der US-Vorherrschaft über die kurz zuvor eroberten Philippinen (wo die spanischen Besatzungstruppen durch amerikanische ersetzt wurden) paraphieren. Dessen ungeachtet erhält US-Präsident Theodore Roosevelt für seine »Friedensbemühungen« 1906 den Friedensnobelpreis.

Die Revolution von 1905

Das Jahr 1905 hält noch mehr Prüfungen für Russland bereit. Ausgehend vom Petersburger Blutsonntag, als am 22. Januar 1905 eine friedliche Arbeiterdemonstration für bessere Arbeitsbedingungen, Agrarreformen, die Abschaffung der Zensur sowie die Einrichtung eines Parlaments von Soldaten zusammengeschossen wird und Hunderte von Toten zu beklagen sind, entwickelt sich in den folgenden Monaten eine Reihe von Unruhen und Aufständen, die das russische Kaiserreich erschüttern. Die schmähliche Niederlage in Fernost verschärft die Situation noch durch die Frustration der Militärs auf der einen und die Wut des Volkes auf die unfähigen Regierenden auf der anderen Seite. Ein Generalstreik lähmt für einige Tage das gesamte öffentliche Leben; streikende Matrosen auf dem in Odessa eingelaufenen, erst kurz zuvor in Dienst gestellten Panzerkreuzer Potemkin wehren sich gegen unmenschliche Zustände auf den kaiserlichen Kriegsschiffen. Doch auch der aus dem Exil zurückgekehrte Oppositionsführer Wladimir Iljitsch Lenin vermag es nicht, der Aufstandsbewegung die nötige Durchschlagskraft zu verleihen, und verlässt daher Ende 1905 Russland sicherheitshalber wieder. Zar Nikolaus II. reagiert auf die Unruhen mit dem »Oktobermanifest« (offiziell: Manifest über die Verbesserung der staatlichen Ordnung/Высочайший Манифест Об усовершенствовании государственного порядка), in dem er dem Volk die Einführung bürgerlicher Rechte und einer gesetzgebenden Versammlung gewählter Volksvertreter (»Duma«) verspricht (aber nicht zu halten gedenkt). Nachdem sich die Lage beruhigt, nimmt er den Großteil der Reformen 1907 wieder zurück und löst das gerade gewählte Parlament wieder auf.

Als neues außenpolitisches Ziel nimmt Russland nach dem Debakel in Fernost nun den Balkan ins Visier. Die unter osmanischer Besatzung stehenden slawischen Völker des Bal­kans sollen unter russischer Führung befreit und vereint werden. Doch damit läuft Russland in eine Konfrontation mit Österreich-Ungarn, das auf dem Balkan die Vorherrschaft beansprucht und im Zuge des weiteren Zerfalls des Osmanenreichs dort die Führung übernehmen will. In einem mit Russland abgesprochenen Akt besetzt es das zuvor schon österreichischer Verwaltung unterstehende Bosnien-Herzegowina. Russland soll als Gegenleistung dafür freie Durchfahrt durch den Bosporus erhalten. Doch das Osmanische Reich verweigert sich nach britischer Intervention dem abgesprochenen Handel, und Russland steht erneut düpiert da. Russland sucht nun die Annäherung an Frankreich und Großbritannien, womit sich die Konstellation herausbildet, mit der der Erste Weltkrieg aufseiten der Entente geführt wird. 1907 wird mit dem Vertrag von Sankt Petersburg erneut eine bereits 1887 getroffene Vereinbarung bestätigt: Russland und Großbritannien grenzen ihre Einflusssphären gegeneinander ab und sichern sich gegenseitigen Verzicht auf Einmischung in die Angelegenheiten der anderen Einflusssphäre zu.

Das ist der politische Hintergrund, vor dem sich die weitere schulische Ausbildung Wjatscheslaws abspielt. Der Fünfzehnjährige hat eine besondere Vorliebe für Mathematik, erfreut seine Eltern zum Abschluss des sechsten Schuljahrs durch ausgezeichnete Noten, sogar in insgesamt zwölf von vierzehn Fächern. Doch neben den schulischen Aktivitäten nimmt ein neues außerschulisches Thema immer mehr Raum in seinem Leben ein. Die revolutionären Vorstellungen ihres Kasaner Ziehvaters, Alexei Kulesch, stoßen bei Wjatscheslaw und seinem Bruder Nikolai auf fruchtbaren Boden. Kurz vor den Sommerferien lernt Wjatscheslaw noch in Kasan Alexander Arossew (1890–1938) kennen, mit dem ihn eine enge Freundschaft bis zu dessen Ermordung im Zuge der Stalinschen Säuberungen der dreißiger Jahre verbinden wird. Arossew ist Mitglied der kurz zuvor gegründeten Partei der Sozialrevolutionäre (Партия социалистов-революционеров, kurz: Sozialrevolutionäre, SR), die für eine genossenschaftliche Organisation der bisher noch von Großgrundbesitzern auf der einen und sklavenähnlich gehaltenem Landproletariat auf der anderen Seite dominierten russischen Landwirtschaft – mit einer kleinen Mittelschicht aus wohlhabenden Bauern, den Kulaken, dazwischen – plädiert. Die Sozialrevolutionäre schließen die Benutzung terroristischer Anschläge zur Förderung ihrer politischen Anliegen ausdrücklich ein und werden daher von der zaristischen Geheimpolizei, der »Ochrana«, scharf verfolgt.

Wjatscheslaw fährt während der Sommerferien 1905 zurück ins heimatliche Nolinsk. Auch diese Kleinstadt wird von Unruhen heimgesucht. Es entsteht eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in konservative Kreise auf der einen und Zirkel von revolutionär gestimmten Gruppierungen auf der anderen Seite, die sich für eine grundlegende Veränderung in Politik und Gesellschaft engagieren. Der fünfzehnjährige Wjatscheslaw nimmt Kontakt zu sozialdemokratischen Kreisen in seiner Heimatstadt auf. Seiner Familie, welche auf den wirtschaftlichen Erfolgen vorheriger Generationen aufbauen kann, gehört unter anderem eine Tabakfabrik, in der in den 1890er Jahren der spätere Sowjetstar Felix Edmundowitsch Dserschinski für einige Monate während einer Deportation arbeitete, bevor er ins hintere Sibirien weitergeschickt wurde. In dieser Tabakfabrik versucht Wjatscheslaw 1905 erstmals, einen Streik zu organisieren. Seine Onkel, die die Fabrik leiten, finden das naturgemäß wenig komisch. Alexei Kulesch wird zu diesem Zeitpunkt von Kasan nach Nolinsk deportiert (er kommt wenige Jahre später, wie Ferdinand Lassalle, bei einem Duell um). Zu dem Zirkel, der sich schnell um Kulesch bildet, gehört auch Alexei Wasnezow. Dieser ist als Bombenbauer ausgebildet (für Anschläge) und erläutert dem jungen Wjatscheslaw die Unterschiede zwischen Bolschewiki und Menschewiki innerhalb der RSA. Seine Tante Lydia (die Frau Kuleschs) unterstützt die Bolschewiki-Linie (pro Boykott), im Gegensatz zu den Menschewiki, die für eine Wahlteilnahme sind. Wjatscheslaw ist zu diesem Zeitpunkt noch unentschlossen. Er wird nun mit der Produktion und der Verteilung eines Flugblatts zur Dumawahl beauftragt, seiner ersten »illegalen« Parteitätigkeit. Zu diesem Zeitpunkt kennt er von den Schriften führender RSA-Mitglieder nur Plechanow; Lenin hat er noch nicht gelesen und empfindet sich selbst auch noch nicht als Bolschewik. Zurück in Kasan, engagiert sich Wjatscheslaw im Herbst 1906 bei der Revolutionären Studentenorganisation (RSO), zu deren Gründungsmitgliedern er zählt. Wjatscheslaw schreibt später, die RSO sei eine überparteiliche Organisation gewesen, in der Vertreter der RSA, Sozialrevolutionäre und Anarchisten Seite an Seite zusammenarbeiteten. Federführend sind laut Ochrana-Akte die Sozialrevolutionäre, deren von Studenten dominierte Kasaner Zelle kurze Zeit später, 1908, von der zaristischen Geheimpolizei zerschlagen wird. Das Zentralkomitee der RSO wird von Wjatscheslaw und drei Kollegen geleitet. Zu diesen gehören sein Freund Arossew, Nikolai Malzew (der ebenfalls von den Sozialrevolutionären kommt und mit dem Wjatscheslaw in den kommenden Jahren eng zusammenarbeiten wird) sowie Viktor Tichomirnow, Wjatscheslaws Konsemester, allerdings ein Jahr älter als er. Viktor entstammt einer reichen (und kinderreichen) Großgrundbesitzerfamilie aus Kasan, deren Geld er benutzt, um gemeinsam mit Wjatscheslaw die RSO zu betreiben. Wjatscheslaw wird in der Folge Tutor des jüngsten Bruders von Viktor, German Tichomirnow, den er unter seine Fittiche nimmt.

Wjatscheslaw legt sich jetzt den Tarnnamen »Djadja« (»Onkel«) zu. Um ihre Ideen unters Volk zu bringen, beginnt die RSO bald, eine eigene Zeitung zu publizieren, Nascha Schisn (Unser Leben) genannt. Kader der RSO gehen in die Fabriken und Universitätsinstitute, um die Arbeiter und Studenten in und um Kasan zu agitieren. Geplant ist, eine »Allrussische Revolutionäre Union der Sekundarschulen und Institute« zu gründen. Wjatscheslaw selbst steht ab Mai 1908 unter dauerhafter Überwachung durch die Ochrana. Er kümmert sich während der nächsten Monate um die Verteilung revolutionären Schrifttums, engagiert sich in öffentlichen Diskussionen, veranstaltet Treffen und übernimmt es auch, zusätzliche Spenden vonseiten der Arbeiterschaft Kasans zu erbitten – ein gutes praxisnahes Training für künftige Berufsrevolutionäre. Zudem kümmert er sich um die Betreuung der nach Kasan deportierten politischen Gefangenen. Zum Jahresbeginn 1909 gelingt es der Ochrana erneut, einen Spitzel in der Kasaner RSO zu platzieren. Das macht sich bald bemerkbar. Am 19. März 1909 werden Viktor Tichomirnow und ein Großteil der RSO-Mitglieder verhaftet. Wjatscheslaw wird zwei Tage später zusammen mit einem Großteil der restlichen Mitglieder geschnappt, nur Arossew gelingt es, zu entkommen. Bei der Durchsuchung von Wjatscheslaws Unterkunft werden Unterlagen gefunden, die seine führende Rolle bei der Organisierung und Finanzierung der RSO belegen sowie seine nach wie vor existenten Verbindungen zur RSA. Die Reaktion der Schulbehörde lässt nicht lange auf sich warten. Dem neunzehnjährigen Wjatscheslaw sowie Malzew und dem im April verhafteten Arossew wird der weitere Schulbesuch untersagt. Wjatscheslaw und Malzew erhalten nach kurzer Zeit auf Bitten ihrer Eltern die Begnadigung. Wjatscheslaw bleibt insgesamt zwei Monate hinter Gittern und verpasst auf diese Weise das Schuljahresend-Examen. Zu Beginn der Sommerferien im Juni 1909 wird er zu zwei Jahren Exil im nordrussischen Wologda verurteilt. Seine Familie beantragt, ihn in die Obhut der Familie zu entlassen und dann ins Ausland abzuschieben, was abgelehnt wird. In einer Stellungnahme des zaristischen Innenministeriums heißt es, hätte es sich um Arbeiter gehandelt, wären sie umgehend ins Ausland abgeschoben worden, denn es sei nutzlos, zu versuchen, Arbeiter umzuerziehen. Bei Schülern und Studenten hingegen, Mitgliedern der Intelligenzija, bestünde noch Hoffnung, dass das Exil im stillen Norden und die gute Luft dort ihre heilsame Wirkung entfalten und die »verlorenen Seelen« doch noch gerettet werden können. Wjatscheslaw muss zusammen mit seinen Mitstreitern und Mitverurteilten, Arossew, Malzew und Tichomirnow, in den abgelegenen russischen Norden. Viktor Tichomirnow erhält jedoch wenig später – vielleicht der Tatsache geschuldet, dass seine Eltern bei weitem reicher waren als die der anderen Gruppenmitglieder – die Erlaubnis, zusammen mit seinem Bruder Alexander ins Ausland zu gehen. Dort nimmt er umgehend Kontakt mit Lenin auf, dem Anführer der bolschewistischen Fraktion der RSA, der sich die gesamte Gruppe zugehörig fühlt. Wjatscheslaw gelingt es, trotz zaristischer Postzensur, während der gesamten Exilzeit den Kontakt zu den Emigrierten aufrechtzuerhalten. In Totma (Oblast Wologda) findet er für sich und Arossew eine Unterkunft (die die Deportierten aus eigener Tasche bezahlen müssen, ihnen ist nur der Aufenthalt vor Ort bindend vorgeschrieben, alles andere müssen sie selbst organisieren).

Wjatscheslaw beginnt umgehend, in der örtlichen öffentlichen Bibliothek seine Kenntnisse des radikalen und revolutionären Schrifttums zu vertiefen. Er verdient sich etwas Geld hinzu, indem er mit drei anderen Deportierten in den örtlichen Cafés musiziert. Etwa zur selben Zeit (1908 bis 1910) hält sich Stalin im Rahmen seiner verschiedentlichen Verbannungen in Totma und Solwitschegodsk auf, allerdings sind bis heute keine Unterlagen gefunden worden, die belegen würden, dass Wjatscheslaw und er sich damals schon begegneten. Um seine Schulausbildung abschließen zu können, bedarf Wjatscheslaw der staatlichen Erlaubnis, an einer Abiturprüfung teilzunehmen. Diese wird ihm nach mehreren vergeblichen Anträgen endlich im April 1910 erteilt. Er reist hierfür in die regionale Hauptstadt Wologda und nimmt dort als externer Kandidat an den Prüfungen teil. Eigentlich ist seine Aufenthaltserlaubnis in Wologda auf einen Monat beschränkt, doch es gelingt ihm, diese wiederholt zu verlängern. So schreibt er sich auch für eine zusätzliche Latein-Prüfung ein – nutzt die Zeit aber hauptsächlich, um in der besser sortierten Bibliothek von Wologda sein Studium von Geschichte und Literatur voranzutreiben. So rezipiert er intensiv Miljukows Geschichte der russischen Ökonomie, um die Grundlagen der Misere seiner Zeit besser zu verstehen. Auch Arossew und Malzew erhalten wenig später eine Genehmigung, ihre Schulbildung in Wologda fortzusetzen, womit die alte Kasaner Gruppe wieder beisammen ist. Trotz Verbannung nehmen sie ihre illegale Arbeit wieder auf und agitieren nun die zahlreich in der Gegend vorhandenen Eisenbahnarbeiter und andere Industriearbeitergruppierungen.

Wjatscheslaw wird von der Ochrana zunehmend ernster genommen als ideologischer Gegner des Zarenstaats. So heißt es über ihn in einer Zusammenfassung des Jahres 1911, er habe zwar trotz großer Anstrengungen noch nicht viel erreicht in Wologda, jedoch habe er sich als gefährlicher Streiter für die RSA bewiesen, der unermüdlich Treffen organisiere und Spenden eintreibe, sowohl für die Parteiarbeit wie auch für verurteilte Parteimitglieder und Deportierte. Der 21-jährige Wjatscheslaw, der zu diesem Zeitpunkt den Tarnnamen »Wegun« benutzt, hat sich erst langsam – im Gegensatz zu den offiziösen Sowjetdarstellungen, die Molotows Jugend (in der Phase vor seinem Sturz) als Bilderbuchkarriere eines Bolschewiken präsentieren – über die RSO der RSA und den Bolschewiki angenähert; zudem bewegt er sich lange fast ausschließlich in Studentenkreisen und nur ausnahmsweise unter echten Proletariern. Dennoch hat er im Selbststudium seine Kenntnisse der ökonomischen Kapitalismuskritiken vorangetrieben und sich vehement für die Einigkeit unter den Revolutionären und gegen fraktionelle Aufsplitterung eingesetzt, was ihn auch künftig auszeichnen wird.

Wjatscheslaws Deportationsstrafe endet im Juni 1911. Die Behörden beschließen, ihn auch nach seiner Rückreise nach Nolinsk unter Beobachtung zu halten. Arossew trifft es härter. In seinem Fall beschließen die zaristischen Behörden, ihn für weitere drei Jahre an den Rand des Polarkreises zu deportieren, und diesmal in den hohen Norden nach Archangelsk. Allerdings wird es ihm nach einiger Zeit gelingen, zu fliehen und sich nach Frankreich und Belgien durchzuschlagen, wo er bis 1917 im Exil lebt. Der 21-jährige Wjatscheslaw quartiert sich zunächst bei seiner Familie in Nolinsk ein (er wird bis dahin von seinem Vater finanziell unterstützt). Doch schon bald bricht er nach Saratow auf, wo er sich mit seinem Mitstreiter Tichomirnow trifft, dessen Deportationsstrafe ebenfalls abgelaufen ist. Von dort aus reist Wjatscheslaw weiter nach Sankt Petersburg, wo er sich am Polytechnischen Institut immatrikuliert. 1912 trennen sich die beiden Parteiflügel der RSA offiziell, bilden fortan zwei selbständige Parteien, die sich vom Namen her allerdings nur durch jeweils die angefügten Anhänge (Bolschewiki oder Menschewiki) unterscheiden – die Bolschewiki werden dann 1918 ihren Namen in Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki), KPR (B), ändern.

Das Polytechnische Institut in Sankt Petersburg gilt zu diesem Zeitpunkt als Hochburg der Radikalen innerhalb der Universitätsstrukturen in der russischen Hauptstadt. Dennoch – oder deswegen? – sind die Studienplätze dort heißbegehrt und entsprechend umkämpft. Wjatscheslaw erhält seinen Studienplatz dank einer großzügigen Spende seiner Onkel mütterlicherseits an das Institut, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, dass ein Studium den renitenten Herrn Neffen wieder auf die rechte, staatstragende, bürgerlich-karrieristische Laufbahn zurückbringen wird. Er beginnt sein Studium 1911 an der dortigen Fakultät für Schiffbau, wechselt aber bald zur Ökonomischen Fakultät, wo er die nächsten fünf Jahre bleiben wird. Ein Stipendium des Gouvernements Wjatka erlaubt es ihm, die Studiengebühren zu bezahlen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Fakultät liegt mitten im Wyborg-Distrikt der Stadt, einem Arbeiterbezirk, wo er auch – wenig standesgemäß – seine Unterkunft nimmt, in der Rakovi Pereulok, der Aal-Gasse. 1917 gilt der Bezirk als Hochburg der Bolschewiken – es wird also kein Zufall gewesen sein, dass Wjatscheslaw sich gerade hier niedergelassen hat. Und noch einen Vorteil hat seine Unterkunft in der stillen Seitengasse: Im Haus nebenan ist die Redaktion der bolschewistischen Parteizeitung Praw­da (Wahrheit) untergebracht, für die Wjatscheslaw schon nach kurzer Zeit zu arbeiten beginnt. Er betreibt nebenbei die Gründung neuer bolschewistischer Studentengruppen an den Hochschulinstituten der Stadt und deren Vereinigung unter einem zentralen Komitee der Sankt Petersburger Studentenorganisationen. Doch Rückschläge bleiben nicht aus. Die Studentenbewegung ist von Polizeispitzeln unterwandert (das erinnert an die BRD 1968), und im November 1912 wird das bolschewistische Komitee der RSA, in dem Wjatscheslaw mitarbeitet, verhaftet. Er entgeht in letzter Minute der Verhaftung und taucht erstmals unter. Doch lässt er sich von der staatlichen Verfolgung nicht entmutigen und gehört schon Anfang 1913 zu den Mitbegründern einer neuen studentischen Aktivitätsgruppe namens Zarnitsa (Sommergewitter). In dieser Phase seines Lebens benutzt er den Tarnnamen »Nikolai Iwanow Smirnow«. Bei der nächsten Verhaftungswelle am 1. April 1913 wird er zusammen mit den übrigen Mitgliedern des Vereinigten sozialdemokratischen Studentenkomitees festgenommen und für drei Monate der Stadt Sankt Petersburg und weiterer Großstädte und Regionalzentren verwiesen. Die RSA-Fraktion des Polytechnischen Instituts veröffentlicht am 30. September 1913 eine Resolution, in der sie gegen reaktionäre Regierungsaktionen, Pogrome und den grassierenden Antisemitismus (zu diesem Zeitpunkt läuft gerade wieder ein Prozess gegen einen jüdischen Angeklagten wegen angeblichen Ritualmords an einem Christenbaby) protestiert.

Wjatscheslaw schreibt mittlerweile für die Prawda und das bolschewistische Monatsblatt Proswetschenie (Aufklärung), das seit Dezember 1911 in unregelmäßigen Abständen erscheint. Seit 1912 gehört er auch zu den Aktivisten, die in der 1910 gegründeten RSA-Zeitschrift Swesda (Stern) pu­blizieren. Die Prawda ersetzt dann ab April 1912 die mittlerweile von der zaristischen Zensur verbotene Swesda. Finanzier und heimlicher »Manager« von Swesda und Prawda ist niemand anderer als sein langjähriger Freund Viktor Tichomirnow, der in Lenins Auftrag die publizistischen Verbreitungskanäle der bolschewistischen Fraktion erweitern soll. Als Mitarbeiter der Prawda kommt Wjatscheslaw in engeren Kontakt mit Lenin, dem im Exil weilenden Bolschewiken-Chef, der über eine Handvoll von Vertrauten die Partei beziehungsweise die Fraktion in ihren verschiedenen Tätigkeitsfeldern steuert. So setzt sich Wjatscheslaw im Juni 1912 mit Lenin in Verbindung, um vom bewunderten und gefürchteten Bolschewiken-Chef Artikel für die Prawda anzufordern, der es zu diesem Zeitpunkt an fähigen Autoren und Autorinnen fehlt. Im Juli erhält er von Lenin einige Texte und teilt diesem mit, wann diese erscheinen werden. Jung-Wjatscheslaw nimmt sich einige Freiheiten gegenüber dem zwanzig Jahre älteren Lenin heraus, kritisiert beispielsweise freimütig, wenn ihm dessen Texte zu »monoton« vorkommen. Lenin gerät darob in Zorn über den »frechen« jungen Mann in der Prawda-Führung, der sich erdreistet, auch Artikel von ihm abzulehnen, und in anderen großzügig herumredigiert. Er schreibt am 1. August 1912 an Wjatscheslaw, dass er bekanntlich jede Menge Geduld bewiesen habe hinsichtlich der redaktionellen Eingriffe der neuen Führungskader der Prawda im Allgemeinen und Wjatscheslaws im Besonderen. Allerdings fehle ihm das direkte Feedback der Redakteure, warum in seinen Texten teilweise herumredigiert würde beziehungsweise warum diese teilweise komplett abgelehnt würden.

Stalin, zu diesem Zeitpunkt neues Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewiken (was er bis zu seinem Lebensende bleiben sollte), ist dort für die Prawda zuständig und bekommt ebenfalls einiges von Lenins Unmut ab. Obwohl wenig später verhaftet, setzt er auch aus dem Gefängnis heraus seine Arbeit fort und kommt dadurch in näheren Kontakt mit Wjatscheslaw, mit dem ihn die Überzeugung verbindet, dass das Blatt – im Gegensatz zur Auffassung Lenins – eine konziliante Linie gegenüber anderen RSA-Fraktionen fahren soll. Als Stalin sich Ende 1912 nach Wien absetzt, um so einer erneuten Verhaftung und Deportation zu entgehen, und dort an seinem Aufsatz Marxismus und die nationale Frage arbeitet, nutzt Lenin die Gelegenheit, das Management der Praw­da umzustrukturieren. Er entzieht Stalin die Zuständigkeit für die Prawda. Wjatscheslaw zieht sich erneut Lenins Zorn zu, als er behauptet, dass sie in Russland näher an den Bedürfnissen der russischen Arbeiter dran seien als die Exilführung unter Lenin und diese daher besser beurteilen könnten. Insgesamt 280 Artikel Lenins werden zwischen 1912 und 1914 veröffentlicht, etwa 50 abgelehnt. Bei einer Sitzung des bolschewistischen Zentralkomitees in Krakau Ende Dezember 1912 beschäftigt sich das Gremium unter Leitung Lenins hauptsächlich mit der aus Lenins Sicht unbefriedigenden Arbeit des Redaktionsstabs der Prawda. Da Wjatscheslaw als Exponent der redaktionellen Linie gilt, lässt Lenin ihn absetzen und durch Katalina Samilowna ersetzen. Wie lange Wjatscheslaw daran zu knapsen hat, zeigt sich daran, dass er als Herausgeber der 1937er Auflage von Lenins Gesammelten Werken die entsprechenden Briefe im Archiv verschwinden lässt, ohne sie abzudrucken.

Lenin kann zufrieden sein, seine »pädagogischen Maßnahmen« erreichen ihr Ziel – schon im Februar 1913 erklärt Wjatscheslaw öffentlich, dass jegliche konstruktive Zusammenarbeit mit den Menschewiki ausgeschlossen sei. Daher lässt ihn Lenin nach einer angemessenen Wartezeit im Herbst 1913 in Gnaden als Prawda-Chefredakteur reinstallieren, zumal damals das gesamte bisherige Redaktionsteam gerade wieder verhaftet worden ist. Wjatscheslaw signiert 1911 seine ersten Artikel in Studentenblättern noch mit »Alexei Lutschinin«, 1912 und einen guten Teil des Jahres 1913 nutzt er den wenig tarnenden Decknamen »Alexei Rjabin«. Für die Prawda zeichnet er als »Wjatscheslaw Michailow«, bleibt also seinen Taufnamen noch sehr nahe. Dann kommen neu die Tarnnamen »A. Swanow« und »A. Turbin« hinzu. Der hier und da in Bolschewiken-Blättern auftauchende Tarnname »Akim Prostota« (»Achim Dullheimer«) kann ihm dagegen nicht sicher zugewiesen werden. Neben ihrer Bedeutung unter Sicherheitsaspekten sollen die unterschiedlichen Tarnnamen auch eine größere Menge an Beiträgern simulieren als tatsächlich vorhanden sind. Seinen ab 1916 auftauchenden Tarnnamen »Molotow« (abgeleitet von Molot: »Hammer«), der später sein Familienname wird, entnimmt Wjatscheslaw, wie er in späteren Jahren beschreibt, einer Literaturzeitschrift des 19. Jahrhunderts. Unter dem Titel Sowremennik (Современник/Zeitgenosse) beginnt Ale­xander Puschkin (1799–1837) im Jahr 1836 die Herausgabe der Zeitschrift, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und gleichzeitig herausragende nationale und internationale Literatur in Russland zu verbreiten. Dort erscheint 1861 die Novelle Molotow des herausragenden Nachwuchsautors Nikolai Gerassimowitsch Pomialowski (1835–1863). Pomia­lowski, der bereits mit 28 Jahren stirbt, beschreibt in diesem und anderen Werken seine von Härte und Missbrauch geprägte Jugend sowie die Schwierigkeit, einen Platz in der Welt zu finden. Offenbar empfindet das Wjatscheslaw als seinem eigenen Schicksal zumindest so ähnlich, dass er den Namen des Protagonisten als dauerhaften Tarnnamen wählt. Möglicherweise nicht unwichtig ist, dass die Geschichte ein Happyend hat, samt Liebesglück und Ehe – vielleicht der Lebenswunsch des zu diesem Zeitpunkt noch mitten in den Entwicklungs- und Revolutionswirren befindlichen 26-jährigen Wjatscheslaw. Dass es über die zufällige Nähe der beiden Namen zum Metallsektor irgendeinen Zusammenhang mit dem Tarnnamen von Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili alias »Stalin« (»der Stählerne«) gegeben habe, streitet Molotow zeitlebens ab. Dagegen verweist er offen darauf, dass die Aussprache des Namens »Molotow« für ihn als fortdauernd von einem latenten Stottern geplagten Menschen leichter gewesen sei als der weitaus schwieriger auszusprechende Name »Skrjabin«.

Die Artikel, die er für die Prawda schreibt, widmen sich unterschiedlichsten Themen. Von der Notwendigkeit, eine Krankenversicherung für die Arbeiter und Bauern nach deutschem Vorbild zu schaffen, über die Probleme bei der Eröffnung der Universität Tiflis bis hin zu solchen, die sich ideologisch mit den rechten und rechtsextremen Bewegungen in Russland befassen. Allerdings verfasst er in dieser Phase noch keine Leitartikel für die Prawda. Doch macht er mit Originalität auf sich aufmerksam. So schreibt er nach einer Regierungserklärung, in der beklagt wurde, dass Russland sich bezüglich der Wirtschaftskraft nur auf Platz zehn der industrialisierten Länder wiederfinde – und damit hinter Ländern wie Dänemark und Griechenland –, das sei grundfalsch, Russland stehe bekanntlich auf Platz eins in der zivilisierten Welt, und zwar was schlechte Ernten, hungernde Landbevölkerung und staatliche Unterdrückung angehe. Er thematisiert auch die sich kontinuierlich öffnende Schere zwischen den stagnierenden Löhnen und den immer weiter steigenden Preisen. Außerdem warnt er schon zu diesem frühen Zeitpunkt vor der akuten Kriegsgefahr in Europa. Zum dreißigsten Todestag von Karl Marx verfasst er noch eine kurze Beschreibung der Entstehungsgeschichte des Kommunistischen Manifests. Die Prawda gerät zu diesem Zeitpunkt immer stärker unter staatliche Zwangsmaßnahmen, muss mehrfach den Namen wechseln und wird schließlich im Juli 1914 komplett verboten. Die Polizei verhaftet Molotow im April 1914, ein letzter Artikel mit seinem Namen als Autor erscheint im Juni 1914, vermutlich aus dem Gefängnis geschmuggelt. Im Rückblick äußert sich Molotow stolz über seine Rolle in der vorrevolutionären bolschewistischen Presse, das habe zu seinen wichtigsten Beiträgen zur Vorbereitung der Oktoberrevolution gehört.

Die Zeitenwende wirft ihre Schatten voraus mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914. Deutschland und Österreich-Ungarn stehen (zunächst) den von ihnen angegriffenen Ländern Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Großbritannien und Russland gegenüber. In allen betroffenen Ländern fegt die Welle (künstlich geschürter) patriotischer Gefühle die kritische Einstellung der Arbeiterschaft zu Staat, Politik und Gesellschaft hinweg. Das Gefühl, mit der Waffe in der Hand das eigene Vaterland verteidigen zu müssen, macht sich breit. Die Ernüchterung folgt erst mit einiger Verzögerung, als die ersehnten militärischen Erfolge ausbleiben und gleichzeitig die massiven Folgen des Krieges für die Gesellschaft, aber auch für jeden Einzelnen sowie die Familien sichtbar werden, in den immer länger werdenden Listen an Gefallenen und den immer zahlreicher aus den Krankenhäusern zurückkehrenden Invaliden, die an der Front zu Krüppeln geschossen wurden. Ein weiterer Aspekt sind die zunehmend thematisierten, gigantischen Profite, welche die Rüstungsfirmen und Waffenkonzerne mit dem Krieg einfahren, zulasten der den Krieg finanzierenden Bevölkerung. Doch zunächst fällt die russische Streikbewegung zu Kriegsbeginn in sich zusammen. Niemand will sich dem Vorwurf aussetzen, die Einsatzfähigkeit der Armee im internationalen Ringen gegen das Kaiserreich Deutschland und das Kaiserreich Österreich-Ungarn zu gefährden. Von den wirtschaftskonformen Massenmedien entsprechend konditioniert, marschieren die Industriearbeiter, die arme Landbevölkerung und Heerscharen von Büroangestellten, sofern sie nicht zur Armee eingezogen werden, wieder brav zu ihren Arbeitsstätten und leisten klaglos ihren Zwölfstundendienst, um so ihren Beitrag zu Ruhm und Ehre ihres Landes zu erbringen. Gleichzeitig verschärft die zaristische Regierung die Repressionen gegen die verbliebenen Reste der Arbeiterbewegung. Die These der Bolschewiken, im Rahmen des »revolutionären Defätismus« statt den Kriegsgegner Deutschland lieber die zaristische Regierung und den Zarismus weiter zu bekämpfen, stößt in der damaligen Situation auf wenig Anklang. Zu Kriegsbeginn im August 1914 von der Partei nach Moskau entsandt, um die brachliegenden Parteistrukturen dort zu revitalisieren, trifft Wjatscheslaw auf seinen alten Freund Malzew, der seit 1911 an der Universität in Moskau studiert. Um seine Einberufung in die zaristische Armee zu vermeiden, dient Molotow zu diesem Zeitpunkt – auch als Tarnmaßnahme – tagsüber im Zivilbereich als Verwaltungsangestellter der russischen Union der Städte und Gemeinden. Da er keine eigene Unterkunft in Moskau findet, kommt er zunächst bei Lenins jüngster Schwester Maria Uljanowa unter. Mit ihrer Hilfe reorganisiert er die noch vorhandenen Reste der bolschewistischen Gruppierung im Lefortowo-Viertel Moskaus. Die Ochrana muss wenig später feststellen, dass die Ankunft Molotows und seiner vier Sankt Petersburger Kollegen zu einer nachhaltigen Verstärkung der »Unruhestifter« von der bolschewistischen Front in Moskau geführt habe.

In mehreren Pamphleten und Flugblättern wendet sich die von Molotow geführte Lefortowo-Gruppe der Moskauer Bolschewisten gemäß Parteilinie gegen den »Burgfrieden« im Land und spricht sich für eine demokratische Repu­blik aus. Zum Mai-Feiertag 1915 fordert die Gruppe erhaltenen Flugblättern zufolge nichts weniger als die Schaffung der »Vereinigten Staaten von Europa« in Form revolutionärer, demokratischer Staaten, die den Kampf gegeneinander sofort einstellen sollen. Denn letztlich seien es Arbeiter eines Landes, die an der Front auf Arbeiter eines anderen Landes schössen, statt sich im gemeinsamen Klassenkampf gegen die ausbeuterischen Gruppierungen der Bourgeoisie und des Finanzkapitals zusammenzuschließen. Obwohl der 25-jährige Wjatscheslaw und andere Führungsmitglieder der Moskauer Bolschewiken Anfang Juni 1915 aufgrund der Angaben eines eingeschleusten Agent Provocateur verhaftet werden, gelingt es dennoch, die Moskauer Bolschewistengruppen weiter auszubauen und gerade in den großen Moskauer Waffenfabriken Parteizellen zu bilden. Im September 1915 wird Molotow zu drei Jahren Verbannung verurteilt. Zugewiesen wird ihm das Dorf Mansurka im Gouvernement Irkutsk, tief im hinteren Sibirien, an der Grenze zur Mongolei, über fünftausend Kilometer von Moskau entfernt. Die zaristischen Behörden hoffen, auf diese Weise den »Unruhestifter« Molotow zu neutralisieren, scheitern damit aber genauso wie später Chruscht­schow.

Im Gefängnis zu Irkutsk ist er in einer Acht-Mann-Zelle untergebracht, und wie den anderen Gefangenen wird ihm nur in unregelmäßigen Abständen Essen gebracht. Alle persönlichen Gegenstände und vor allem das für die Deportierten überlebenswichtige Geld werden beschlagnahmt. Der anschließende Fußmarsch von Irkutsk nach Mansurka dauert einen Monat. Während andere Gefangene unter den Folgen der Inhaftierung und des anstrengenden Marsches leiden, zeigt sich Molotow in ersten Briefen an Familie und Freunde aus dem Verbannungsort schon wieder ganz unternehmungslustig. Er beklagt die harschen Repressionen seitens der Regionalregierung und bittet dringend um die Übersendung marxistischer Literatur, da die örtliche Bibliothek kurz vor Ankunft der Deportierten geschlossen worden sei, schreibt, dass er die Monate am hinteren Ende des zaristischen Imperiums dem weiteren Studium der marxistischen Fachliteratur zu widmen gedenke. Für die kommenden langen Wintermonate bittet er um Übersendung warmer Kleidung. Insgesamt sehe er der Zukunft hoffnungsvoll entgegen, er sei guten Mutes, und er gedenke, sich nach Kräften gegen die hier drohenden chronischen Atemwegserkrankungen zu wappnen. Der Jahreswechsel 1915/16 wird von den Deportierten mit Gesang und geistigen Getränken gefeiert, man intoniert die »Marseillaise« und »Die Internationale«. Nachdem er wider Erwarten und wider seiner Intentionen doch im Winter krank darniedergelegen hat, gelingt es Molotow im Frühjahr 1916 bei steigenden Temperaturen, mit einem von der Partei übersandten falschen Ausweis seinem Verbannungsort zu entkommen und über Kasan nach Petrograd (ehemals Sankt Petersburg) zu gelangen. In Kasan trifft er den mittlerweile aus dem Exil zurückgekehrten Tichomirnow, erhält von diesem einen weiteren falschen Pass sowie Informationen Lenins aus erster Hand (Tichomirnow hatte den Bolschewistenchef im Exil getroffen) und reist gemeinsam mit seinem alten Freund weiter in die russische Hauptstadt an der Newa. Die dortige Parteigruppierung, nach der Verhaftungswelle 1915 neu aufgebaut, ist inzwischen angesichts der scharfen staatlichen Repression wieder zerfallen. Molotow macht sich mit den neu eingetroffenen Genossen daran, die Parteistrukturen wieder aufzubauen und die Her­ausgabe einer Zeitschrift vorzubereiten. Allerdings wachen die zaristischen Behörden diesmal sehr genau über die Szene, und so muss Molotow seinen Wohnsitz zeitweise ins über tausend Kilometer entfernte Orjol verlegen, wo er bei den Eltern eines Studienkollegen vom Polytechnischen Institut unterkommt. Zurück in Petrograd, macht er sich – nun als hauptamtlicher, von der Partei bezahlter Funktionär – einmal mehr daran, die von staatlichen Unterdrückungswellen geschwächten Parteistrukturen zu revitalisieren. Daneben fungiert er als Herausgeber der Untergrundzeitschrift Sowremenni Mir (Zeitgenössische Welt) und schreibt Artikel für das einzige zu diesem Zeitpunkt legale Bolschewisten-Blatt namens Voprosy Strachowania (вопросы страхования/Versicherungsanzeiger). Die Zeitschrift ist ein Überbleibsel der 1912 bis 1914 von den Bolschewisten in Konkurrenz zu den Menschewiki vorangetriebenen Bewegung, die für eine Krankenversicherung für Arbeiter kämpfte.

Mit Alexander Schljapnikow (1885–1937) kommt nun ein erfahrener Agitator und Organisator aus dem Ausland zurück nach Petrograd, um den weiteren Auf- und Ausbau der Parteistrukturen voranzutreiben. Sein Auftrag ist es, das Russische Büro des Bolschewistischen Zentralkomitees ins Leben zu rufen und zu leiten. Er soll als verlängerter Arm der Exilführung um Lenin dafür sorgen, dass die Organisationen vor Ort kein allzu großes Eigenleben entfalten, was damals die große Sorge Lenins ist. Er beruft Molotow als Mitglied des örtlichen Petrograder Zentralkomitees der Bolschewisten ins Russische Büro. Molotow, der zu diesem Zeitpunkt seinen richtigen Familiennamen Skrjabin wieder benutzt, um Artikel damit zu zeichnen (Anzeichen der Auflösungserscheinungen des zaristischen Staates), wird mit der Betreuung von Publikationen (also Propaganda) und Sekretariatsaufgaben betraut, muss diese allerdings wenig später an Jelena Stassowa abgeben, als diese erfahrene Funktionärin nun ebenfalls aus dem Exil zurückkehrt. Der 26-jährige Wjatscheslaw ist nach zehn Jahren aktiver Parteiarbeit nunmehr ebenfalls ein schon erfahrener Funktionär und somit gut vorbereitet, bei den kommenden dramatischen Ereignissen eine bedeutende Rolle zu übernehmen.

Der Erste Weltkrieg und seine Vorgeschichte

Es scheint mir sinnvoll, an dieser Stelle in der gebotenen Kürze die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs zu skizzieren, die direkt und indirekt zur Entstehung der Oktoberrevolution, dem tiefsten Einschnitt in der tausendjährigen russischen Geschichte, aber auch in der Weltgeschichte, führt. Der Zündfunke für das europäische beziehungsweise weltgeschichtliche Geschehen stammt vom Dauerbrandherd auf dem Balkan. Im Oktober 1912 erklären die Staaten des von Russland geförderten Balkanbunds aus Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro dem bis zum Balkan reichenden Osmanischen Reich den Krieg und können die Armee des Sultans in mehreren Schlachten schlagen. Nach einem Waffenstillstand im Mai 1913 verzichtet die Türkei auf einen Großteil ihrer europäischen Gebiete. Streit gibt es bei der Aufteilung der Beute. Deutschland und das auf dem Balkan dominante Österreich (zu seinen Kronländern gehören Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina) forcieren (wie 1999 der Westblock mit dem Kosovo – die Bilder gleichen sich bis ins Detail) die Gründung des albanischen Staates, um den Serben den Mittelmeer-Zugang zu versperren. Im Juni 1913 kommt es zum Folgekrieg zwischen Bulgarien, das sich einen größeren Beuteanteil sichern will, und den anderen Staaten des Balkanbunds. Bulgarien verliert die Schlachten gegen die verbündeten Gegner und muss alle zuvor gemachten Eroberungen wieder abtreten. Die kurzen, aber blutigen Kriege fordern Hunderttausende von Opfern unter Soldaten und Zivilisten. Bulgarien und das Osmanische Reich, auf Revanche sinnend, verbünden sich mit Deutschland und der Balkanmacht Österreich. Sie engagieren sich im bald folgenden Ersten Weltkrieg auf der Seite der Mittelmächte. In Deutschland, Österreich, der Türkei, Frankreich und Großbritannien verschärfen die Rüstungslobbyisten während dieser Zeit ihre Bemühungen um lukrativen internationalen Zwist und erreichen damit wie gewünscht die Vervielfachung der bereitgestellten Mittel für die allgemeine Aufrüstung sowie eine steigende Kriegshysterie.

Die fatalen Bündnisautomatismen

Zurück zu Russland: Geschwächt durch die katastrophale Niederlage gegen Japan 1905, ohne ausreichende Mittel, um seine antiquiert organisierte und ausgerüstete Armee entsprechend zu modernisieren, fürchtet Russland absehbare Auseinandersetzungen mit Deutschland (das die bündnis­politischen Verträge mit Russland seit den 1890er Jahren nicht mehr erneuert) und Österreich-Ungarn (das schon seit Jahren militärische Planungen gegen Serbien und dessen Schutzmacht Russland forciert). Serbien proklamiert 1903 den Zusammenschluss aller slawischen Völker auf dem Balkan (hauptsächlich auf Kosten Österreich-Ungarns), was von der K.-u.-k.-Monarchie mit allen Mitteln bekämpft wird – Handelssanktionen, Integration Bosnien-Herzegowinas, Verstärkung der antiserbischen Propaganda, Vorbereitung militärischer Schläge gegen Serbien, wie sie vom österreichischen Generalstab wiederholt gefordert werden und dabei auf den Widerstand des Thronfolgers Franz Ferdinand stoßen. Ausgerechnet der wird am 28. Juni 1914 in Sarajevo (angesichts von unfassbar leichtsinnigen bis nicht vorhandenen Vorsichtsmaßnahmen) von dem jungen Bosnier Gavrilo Princip ermordet.

Die serbische Regierung kondoliert offiziell, bedauert den Anschlag und weist im gleichen Atemzug darauf hin, dass es sich bei den Verschwörern um Bosnier und somit um österreichische Staatsbürger gehandelt habe. Die Ungarn innerhalb der K.-u.-k.-Monarchie sprechen sich strikt gegen Kriegsvorbereitungen Richtung Serbien aus. Sie befürchten bei einem Sieg über Serbien und einer Integration des Landes in die Doppelmonarchie eine Stärkung der slawischen Bevölkerungsfraktion zuungunsten der Ungarn. Deutschland stellt Österreich jedoch am 6. Juli 1914 per Telegramm einen »Blankoscheck« für die weitere Vorbereitung eines Feldzugs gegen Serbien aus. Das österreichische Ultimatum wird am Donnerstag, den 23. Juli 1914, abends um 18 Uhr nach Belgrad übermittelt mit der Aufforderung, binnen 48 Stunden die Annahme zu erklären, andernfalls werde man die diplomatischen Beziehungen abbrechen (es handelt sich dabei also noch nicht um eine Kriegsandrohung). Das Ultimatum enthält die Forderung, jegliche antiösterreichische Propaganda zu unterdrücken sowie die Mitwirkung von staatlichen Stellen Österreich-Ungarns bei der Fahndung nach Beteiligten des Attentats auf serbischem Gebiet zu gestatten, Beteiligte sofort aus dem serbischen Staatsdienst zu entlassen und so weiter. Der Ministerrat Russlands sagt Serbien daraufhin einen Tag später, am Freitag, den 24. Juli 1914, zu, sich bei den europäischen Großmächten (der »Pentarchie« aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland, Frankreich und Großbritannien) für einen Aufschub des Ultimatums einzusetzen. Um dieser Aktion Nachdruck zu verleihen, kündigt Russland gleichzeitig – wie von Berlin und Wien prognostiziert und erwünscht – die Mobilmachung seiner Truppen an. Serbien überreicht dem österreichischen Botschafter in Belgrad am Samstag, den 25. Juli, abends 17.55 Uhr (fünf Minuten vor Ablauf des Ultimatums, so viel Gegenbrüskierung muss sein) die Antwort auf das Ultimatum, zuvor hatte Serbien nachmittags bereits vorsichtshalber die Mobilisierung seiner Armee angekündigt, die vier Tage später abgeschlossen ist. Serbien nimmt zum Erstaunen Wiens sämtliche Bedingungen des Ultimatums an, bis auf die Mitwirkung österreichischer Stellen an den juristischen Ermittlungen gegen die Urheber des Attentats auf serbischem Gebiet. Im österreichischen Außenministerium lehnt man die serbische Annahme des Ultimatums jedoch als ungenügend ab – man hat sich schon vorab für den Krieg gegen Serbien entschieden.

Die internationale Ausweitung des Konflikts ist vorprogrammiert, da es verschiedene Bündnisautomatismen gibt, die nun greifen: Russland hat dem slawischen Bruderland Serbien Beistandsgarantien für den Fall eines österreichischen Angriffs gegeben. Sollte Russland daher nun Österreich-Ungarn angreifen, ist wiederum Deutschland aufgrund der Sicherheitszusagen zum Krieg gegen Russland verpflichtet, wodurch wiederum Frankreich an der Seite Russlands gegen Deutschland in den Krieg ziehen müsste. Da die deutschen Offensivvorbereitungen gegen Frankreich (Schlieffen-Plan) einen Vormarsch durch das neutrale Belgien vorsehen, müsste in diesem Fall Großbritannien als Verbündeter Belgiens dem Aggressor Deutschland den Krieg erklären. Und so kommt es auch. Das Attentat von 1914 kommt vielen Interessengruppen wie gerufen, so dass sich die Frage stellt, ob dieses zumindest mittelbar nicht sogar von diesen Kreisen gezielt vorbereitet oder wenigstens begünstigt wurde. Man wiegt sich auf deutscher Seite in der Sicherheit, dass das bekanntermaßen rückständige Russland einen Krieg gegen hochgerüstete Länder wie Deutschland und Österreich-Ungarn nicht wagen beziehungsweise im Zweifelsfall garantiert verlieren wird. Angesichts der wenig später öffentlich gemachten Kriegsziele kommt damit das deutsche Vorgehen dem vom darob von BRD-Historikern viel gescholtenen Fritz Fischer formulierten »Griff nach der Weltmacht« gleich.

Das russische Zarenreich zieht in den europäischen Krieg (1914)

Von russischer Seite sieht man außenpolitisch die Chance, sich für die vergangenen Niederlagen zu rehabilitieren, innenpolitisch, möglichen Unruhen zuvorzukommen, die für den Fall drohen, dass das »serbische Brudervolk« gegen den österreichischen Feind alleingelassen wird. Frankreich trachtet nach einer Revanche für die Niederlage gegen Deutschland im Krieg von 1870/71. Italien ist zwar formell mit Deutschland und Österreich verbündet, hat sich aber mehrfach öffentlich dahingehend geäußert, jegliche territoriale Vergrößerung Österreichs zu verhindern, das zu diesem Zeitpunkt noch umfangreiche Gebiete in Oberitalien besitzt. Der österreichische Außenminister konsultiert daher Italien und den weiteren Verbündeten Rumänien nicht vor dem geplanten Feldzug gegen Serbien, da er langwierige Verhandlungen über die absehbaren Kompensationsforderungen beider Länder scheut. Für den Fall einer österreichischen Kriegserklärung an Serbien beschließt Russland am Samstag, den 25. Juli 1914, eine Mobilmachung von vier Militärbezirken (Odessa, Kiew, Kasan und Moskau).

Am Dienstag, den 28. Juli 1914, überreicht Österreich-Ungarn die Kriegserklärung an Serbien. Um die Unterschrift von Kaiser Franz Joseph zu bekommen, berichtet ihm Außenminister Berchtold von einem angeblichen Überfall serbischer Truppen bei der Ortschaft Temes Kubin, der so allerdings nie stattgefunden hat (ein Beispiel mehr in der langen Reihe frei erfundener Zwischenfälle zwecks Kriegslegitimation, vom »Sender Gleiwitz« über den »Tonkin-Zwischenfall im Golf von Tonkin bis hin zu angeblichen serbischen Massakern Marke »Hufeisenplan« im Kosovo und »Massenvernichtungswaffen« im Irak). In der veröffentlichten Fassung der Kriegserklärung taucht denn auch dieser angebliche »Zwischenfall« nicht mehr auf. Am gerade angebrochenen Mittwoch, den 29. Juli 1914, um ein Uhr morgens (also mitten in der Nacht) eröffnen österreichische Schiffe auf der Donau das Geschützfeuer auf die an der Grenze beziehungsweise am anderen Ufer gelegene Hauptstadt Belgrad und beginnen damit den österreichisch-serbischen Krieg. Der geplante schnelle österreichische Vormarsch Richtung Serbien scheitert allerdings daran, dass die K.-u.-k.-Armee weitere sechzehn Tage für ihre Mobilisierung benötigt. Dennoch haben die Österreicher den von vielen Seiten gewünschten Fait accompli geschaffen und setzen so die Bündnisautomatismen in Gang. Russland erklärt als Bundesgenosse Serbiens noch am selben Tag die Teilmobilmachung. Da die russische Armee von allen beteiligten Streitkräften aufgrund der Distanzen im Riesenland und der Rückständigkeit des Militärs die längsten Mobilisierungszeiten hat (die mehrere Wochen umfassen), kommt das eher einer Drohung denn einer konkreten Kriegserklärung gleich.

Deutschland will nun, wie im Schlieffen-Plan vorgesehen, die vergleichsweise endlos lange Mobilisierungszeit Russlands für einen schnellen Feldzug gegen Frankreich nutzen und sich dann – nach einem Sieg über Frankreich – gegen Russland wenden. Auf diese Weise soll ein gefährlicher Zwei­frontenkrieg vermieden werden. Gleichzeitig teilt man Russland mit, dass man auf eine russische Teilmobilmachung mit einer umfassenden Generalmobilmachung der deutschen Streitkräfte reagiert. Daraufhin erklärt auch Russland am Donnerstag, den 30. Juli 1914, die Generalmobilmachung. Österreich löst jetzt ebenfalls die Generalmobilmachung aus. Am Freitag, den 31. Juli 1914, wird in Berlin der »Zustand drohender Kriegsgefahr« bekanntgegeben, und Russland wird ein auf zwölf Stunden befristetes (und damit reichlich dreistes) Ultimatum gestellt, die Generalmobilmachung wieder zurückzunehmen. Ein parallel an Frankreich verschicktes Ultimatum verlangt mit einer Frist von achtzehn Stunden die Erklärung französischer Neutralität im Rahmen möglicher militärischer Konflikte. Russland lässt das Ultimatum unbeantwortet verstreichen, daher startet Berlin am Samstag, den 1. August 1914, die Generalmobilmachung und schickt eine Kriegserklärung nach Russland. Auf den Straßen großer deutscher Städte sammeln sich Massen »verblödeter Kriegsjubler«, darunter in München ein 25-jähriger gescheiterter Kunstmaler namens Hitler. Da Frankreich das Ultimatum ebenfalls verstreichen lässt, erfolgt am Montag, den 3. August 1914, die deutsche Kriegserklärung an Frankreich.

Gleichzeitig setzt vor allem in Deutschland eine intensive propagandistische Beeinflussung der öffentlichen Meinung ein, durch Falschmeldungen, wie zum Beispiel von angeblichen russischen überfallartigen Angriffen in Ostpreußen und angeblichen französischen Bombenabwürfen auf Nürnberg. Die Bevölkerung soll damit kriegsunterstützend aufgehetzt werden (das erinnert an gegenwärtige Zustände). In Russland gewinnt ebenfalls die Kriegspartei die Oberhand. Zar Nikolaus II. hat sich noch kurz zuvor entschieden gegen einen Krieg ausgesprochen, da er befürchtet, dass dieser die gesamte europäische Ordnung zerstören könne (wie es denn auch kommt). Die Kampfhandlungen werden an West- und Ostfront eröffnet. Die deutschen Hoffnungen auf schnelle Siege scheitern auf beiden Seiten. Weder gegen Frankreich noch gegen Russland will in den ersten Monaten der erhoffte »entscheidende Schlag« gelingen. In Serbien und Montenegro beginnt ein Guerilla-Krieg gegen die österreichischen Besatzer. Wie im Zweiten Weltkrieg werden auch schon im Ersten grausame Repressalien gegen die Zivilbevölkerung durch die österreichisch-ungarische und die bulgarische Armee verübt. Seit dem Russisch-Türkischen Krieg 1878, bei dem Russland auf bulgarischem Gebiet seine Responsibility to Protect gegenüber den »slawischen Brudervölkern« Serbien und Bulgarien wahrgenommen hatte, jedoch beim anschließenden Berliner Kongress unter Leitung Bismarcks (Deutschland gab vor, als »ehrlicher Makler« zu handeln, hatte jedoch hauptsächlich eigene Interessen im Auge) nicht die erhofften »Früchte des Sieges«, sprich: den Zugang zum Mittelmeer, erhalten hatte, gibt es Dauerspannungen zwischen Russland und dem Osmanischen Reich. Zumal im Bereich des Kaukasus, wo die gegensätzlichen geopolitischen Interessen der beiden Reiche direkt aufeinanderstoßen und immer wieder mit Waffengewalt ausgefochten werden. Russland eröffnet am 1. November 1914 die neue Front, die dem Osmanischen Reich sehr zu schaffen macht, da es seine gegen Serbien aufgestellten Truppen auf dem Balkan entsprechend vermindern muss. Russland behält hier bis zur Revolution 1917 und dem Waffenstillstand, der auch gegenüber dem Osmanischen Reich gilt, die Oberhand.

Während an der deutschen Westfront mittlerweile ein blutiger Stellungskrieg tobt, der Millionen Soldaten das Leben kostet, versucht Russland an der deutschen Ostfront, nach der Niederlage bei »Tannenberg« die Front wenigstens zu halten, was weitgehend gelingt. Auf die Kriegserklärung der deutschen Verwandtschaft reagiert man im Übrigen mit der Umbenennung der eigenen Hauptstadt von dem germanophilen Namen »Sankt Petersburg« (genauer: »Sankt Peterburg«) noch im August 1914 in »Petrograd« (Петроград/Peterstadt), um die deutschen Bestandteile »Sankt« und »-burg« aus dem Namen zu entfernen. Russland hat wie im Zweiten Weltkrieg von allen Kriegsparteien die höchsten Verluste an Toten, Verwundeten und Gefangenen. Schon nach einem Kriegsjahr sind anderthalb Millionen Soldaten gefallen und rund eine Million in deutscher oder österreichischer Gefangenschaft (wo sie – auch eine Vorahnung des Zweiten Weltkriegs – sehr schlecht versorgt werden, was eine – nicht unerwünschte – hohe Sterblichkeit unter den gefangenen russischen Soldaten zur Folge hat). Gleichzeitig belasten die von der deutschstämmigen Zarengattin Ale­xandra seit 1906 geduldeten und geförderten Umtriebe des Predigers und Wunderheilers Rasputin (bis zu dessen Ermordung Ende Dezember 1916) das öffentliche Bild der Zarenfamilie. In die Ermordung Rasputins ist übrigens möglicherweise auch der britische Auslandsgeheimdienst MI6 verwickelt, über seine Petersburger Agenten Oswald Rayner und Stephen Alley. Jedenfalls wird ein Projektil des britischen Kalibers .455 während der Obduktion in Rasputins Leichnam gefunden. Unklar ist bis heute, ob eine solche britische Maßnahme die Schwächung oder Stärkung der Zarenfamilie beabsichtigte. Entsprechende britische Dokumente unterliegen bis heute der Geheimhaltung.