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Felix wurde vor über 40 Jahren als Miriam geboren und erzählt in seiner Autobiographie gefühlvoll und zugleich ehrlich von seinem langen Weg in sein heutiges Leben als Mann.
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Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für mich,
weil ich es mir verdient habe.
Für euch,
die verstehen wollen.
Ein Wort vorweg
Prolog
Alles über Felix
Was von meiner Jugend noch übrig ist
Geburtstagswünsche
Urlaub Neusiedler See
Blond in Hamburg
Die Illusion einer großen Reise
Abenteuer zwischen 20 und 30
Der singende Verehrer
Soulcatcher (Hamburg)
Der traurige Weihnachtsmann
Tattoo
Der Schrank - München
Die Kunst, ein Mann zu sein
Das Frauenhaus
Toni
Made in Česká Republika
U-Haft - München
On the road again, again and again
Hunger – Travemünde
Am Bahnhof – neue Stadt, neue Hoffnung
Müdigkeit – München
Kälte – München
Drückerkolonne – Köln
Zurück in den Norden ‒ Hamburg und Silas.
Der Mann, der beschimpft werden wollte
Der Kleidercontainer
Wespenangriff und Schleusenwärter
Auf dem Weg zurück in die Zukunft
Mein drittes Leben
Willkommen zurück im Leben
Testosteron
War das schon alles?
Führerschein
Mein Laden
Die Jagd
Kinder
Weil du überlebt hast
Epilog
DANKE
Fotos
Wenn ich mich an mein vergangenes Leben erinnere, dann erscheint mir alles Gewesene wie ein Film, den ich vor langer Zeit einmal gesehen habe. Ich kann mich nur an einzelne Szenen und Ausschnitte erinnern. Es fällt mir schwer zu begreifen, dass dies mein Leben gewesen sein soll und ich die Person bin, die all das erlebt hat. Trotz aller Bemühungen ist es mir bisher nicht gelungen, diese Erlebnisse in eine sinnvolle chronologische Reihenfolge zu bringen.
Die Erinnerung an meine Vergangenheit ist wie ein zerschelltes Schiff, das in seinen zerbrochenen Einzelteilen auf dem Meer treibt, umgeben von zähem Nebel, der sich auf mein Gedächtnis gelegt hat. Ein Teil von mir möchte diese Erinnerung genauso bruchstückhaft lassen, wie sie ist. Vorbei ist vorbei und jetzt ist jetzt. So habe ich es schließlich mein ganzes Leben gehalten, weil ich es musste und weil es sich bewährt hat.
Aber ein anderer Teil von mir sehnt sich nach Klarheit, denn ich ahne, dass die Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit der einzige Weg ist, meinen inneren Frieden zu finden mit mir und meiner Lebensgeschichte.
Ich sagte es ja schon, meine Erinnerungen sind diffus. Jedes einzelne Ereignis ist glasklar, aber die Zusammenhänge sind ein einziges dickes, verknotetes, buntes Knäuel. Etwas in mir möchte dieses Knäuel entwirren, jeden Faden ordentlich aufrollen, ordnen und an seinen Platz bringen. Ein noch viel größerer Teil von mir möchte das nicht. Warum, weiß ich nicht. Ich kann nur den Widerstand spüren. Da ist eine Wand in mir, die ich nicht einreißen kann. Ich sollte diese Wand einreißen. Manchmal verstehe ich das. Manchmal nervt es.
Es ist, wie es ist. Meine Geschichte macht mich manchmal müde.
Ich habe meine Geschichten gruppiert. Statt eines großes Knäuels habe ich jetzt eine Handvoll kleiner bunter, wirrer Knäule.
„Aber du musst doch wissen, wann das gewesen ist! Wie alt du da warst?!“
Ich liebe diese Frau von ganzem Herzen, aber damit macht sie mich wahnsinnig. Sie will einfach nicht begreifen, dass ich ihr das nicht sagen kann.
„Vielleicht willst du dich gar nicht wirklich erinnern“, sagt sie in einer Mischung aus Vorwurf und Mitgefühl.
„Zum tausendsten Mal: Ich KANN nicht!“, fauche ich genervt.
„Ich verstehe nicht, warum du immer gleich so aufbrausend werden musst“, sagt sie weinerlich. Auch das noch. Das Letzte, was ich wollte, war ein Streit darüber. Über mein Leben.
Ich nehme sie in die Arme und füstere: „Es tut mir leid! Ich bin da einfach empfindlich.“ Ich weiß inzwischen, dass solche Aussagen sie beruhigen.
„Schon gut“, sagt sie leise und streicht mir über meinen Kopf, auf dem die Haare immer weniger werden. Auch so eine beschissene Nebenwirkung: der Haarausfall.
Dass nicht wirklich alles gut ist, kann ich an ihrem Gesicht ablesen. Es quält sie, dass ich ihr die letzte Tür zu meinem Inneren nicht öffnen kann. Mich quält, dass ich ihr nicht entgegenkommen kann. Ob ich nicht kann oder nicht will, spielt dabei keine Rolle. Das Ergebnis bleibt das Gleiche: Es geht nicht.
Wahrscheinlich wird sie nie verstehen, wie es sich anfühlt, ich zu sein. Wie es ist, sich zwar erinnern zu können, aber keine dieser Erinnerungen in eine logische Reihenfolge bringen zu können. Ich weiß, dass sie mir nur helfen will. Sie meint, dann werde alles besser. Der Schmerz, die Trauer, die Wut. Aber was bringt denn reden schon? Das haben meine Eltern auch immer gesagt.
Ich habe keine Lust dazu. Ich mag mich mit dem ganzen vergangenen Kram nicht auseinandersetzen. Vorbei ist vorbei. Ich möchte ein Leben leben wie jeder andere Mann auch. Aber ich bin nicht wie jeder andere Mann.
„Ich möchte doch einfach nur, dass du glücklich bist“, sagt sie mit Tränen in den Augen und streicht sich ihre Haare hinter die Ohren.
Ich könnte weinen. Das möchte ich auch, glücklich sein. Eigentlich bin ich es auch. Irgendwo, irgendwie. Rational gesehen fehlt es mir an nichts, außer vielleicht an Geld. Aber dieses Problem haben andere auch. Ich weiß auch nicht, was los ist. Da ist diese Schwere in mir, die mich immer begleitet. Und diese Müdigkeit. Ich fühle mich so oft so unendlich müde. Des Kämpfens müde, des Lebens müde.
Wie soll ich ihr das nur alles erklären? Wie soll ich dir etwas erklären, was ich selber nicht versteh?, kommt mir ein Liedtext der Ärzte in den Sinn.
Vielleicht hat sie recht und ich sollte anfangen, mich mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen. Vielleicht kann ich sie dann hinter mir lassen. Vielleicht kann ich mit der letzten Zeile dieses Buches all das Dunkle und Erdrückende, all das Schmerzhafte und Verwirrende in meinem Leben da lassen, wo es ist: in der Vergangenheit.
In diesem Buch möchte ich alles über Felix erzählen. Es ist alles, was ich über Felix zu sagen habe, oder zumindest das, woran ich mich erinnere. Alles davon ist wahr. Jedes noch so kleine Detail. Es kann sein, dass die ein oder andere Geschichte fehlt. Aber „Fast alles über Felix“ klingt so, als wollte ich irgendetwas verheimlichen. Dem ist aber nicht so. Ich erzähle alles, woran ich mich erinnere und von dem ich glaube, dass es interessant sein könnte. Ich habe mir erlaubt, ein paar Erinnerungen zu streichen, solche, die garantiert langweilig und nutzlos sind. So wie man in einem Film die Darsteller niemals auf der Toilette sieht, es sei denn, es trägt zur Handlung bei.
Dass ich heute alles über Felix sagen möchte, ist eigentlich eine erstaunliche Sache. Denn mein Leben ist so geworden, wie es nun mal ist, weil ich eben nicht alles über Felix sagen wollte. Man könnte es natürlich auch Schicksal oder Bestimmung nennen. Ganz egal. Aber ich sehe das so: Alles, was geschehen ist, wurde angetrieben durch den Motor zu verstecken, wer Felix wirklich ist.
Und das absolut Verrückte an der Sache ist, dass Felix schon immer Felix war. Dass das, was die Menschen in Felix sahen, nichts als die tiefe und absolute Wahrheit war.
Felix, das bin ich. Wenn es nach mir ginge, dann war ich das auch schon immer. Aber zwischendurch war ich auch Tom, Nils, Yannick, Lars oder welcher Name mir eben gerade gefiel. Das Entscheidende aber, weniger für mich als für den Rest der Welt, ist die Tatsache, dass ich als Miriam geboren wurde.
Es ist nicht so, dass meine Eltern es lustig fanden, einem Jungen einen Mädchennamen zu geben. Nein, sie hatten alles richtig gemacht. Sie hatten einem Mädchen einen Mädchennamen gegeben. Aber irgendetwas war falsch. Ich fühlte mich schon immer als Junge. Zumindest glaube ich das. Wirklich bewusst wurde mir das erst, als alle anderen anfingen, mich deutlich als Mädchen einzuordnen. In der Schule zum Beispiel, als wir so dämliche Spiele Jungs gegen Mädchen machten und ich mich immer zu den Jungs stellte. Jedes Mal wurde ich da weggeholt. „Du bist hier falsch“, „Du gehörst auf die andere Seite“. So war das also.
Ich wuchs auf mit dem Gefühl falsch zu sein. Ich gehörte definitiv nicht zu den Mädchen. Der Rest meiner Welt versuchte mir täglich das Gegenteil zu erklären. Stündlich, minütlich, ja mit jedem Atemzug, war ich falsch. Nur mein Gefühl, das war richtig. Da war eine Sicherheit in mir, ganz tief und ganz weit unten, dass nicht ich mich irrte, sondern alle anderen. Gleichzeitig waren da aber auch die Zweifel. Was ist, wenn ich verrückt bin? Wenn die anderen doch recht haben? Ein ständiger Streit in mir. Eine Angst, eine Unsicherheit und das Schlimmste: Einsamkeit. Niemand war so wie ich. Niemand verstand mich. Nicht mal ich verstand mich. Es gab keine Bezeichnung und keine Worte, keine Diagnose und keinen Namen für das, wie ich mich fühlte. Nur eines war mir klar: Ich war falsch.
Damals wusste ich noch nicht, dass es noch schlimmer werden würde. Waren meine ersten Erfahrungen davon geprägt, mich lediglich anders zu fühlen, als mich die Umwelt wahrnahm, kam mit der Zeit noch etwas anderes dazu. Ich merkte, dass sie recht hatten, denn ich begann, mich mit meinem Körper auseinanderzusetzen. Leider änderte das nichts an meinem Gefühl. Ich bin ein Junge.
Davor waren die Dinge noch verhältnismäßig einfach gewesen. Meine Gegner, der „Feind“, waren außen: die verständnislosen, ratlosen Eltern, die doofen Lehrer, die ahnungslosen Mitschüler. Die hatten einfach keinen blassen Schimmer von der Wirklichkeit. Die waren einfach nur gegen mich.
Jetzt war ein weiterer Gegner hinzugekommen: mein Körper. Es war der schlimmste Feind von allen, denn er war nicht abzuschütteln. Er war immer da und zeigte mit jedem Wimpernschlag, dass meine gefühlte Realität nicht mit der realen, greifbaren zusammenpasste.
Mit kindlicher Neugier begann ich erste pragmatische Untersuchungen. Ich muss unter 10 gewesen sein, da schnappte ich mir die Zwillingsjungs aus der Nachbarschaft und überzeugte sie, ihre Unterhosen auszuziehen. Woher ich dieses Selbstbewusstsein nahm und warum die beiden meine Anweisungen befolgten, ist mir heute ein Rätsel.
Tatsache war: Was die da zwischen den Beinen hatten, hatte ich nicht. Damit hatte ich meinen ersten Beweis. Irgendetwas stimmte nicht mit mir. Vielleicht wäre alles einfacher gewesen, wenn ich mir nicht so sicher gewesen wäre. Dann wäre es vielleicht eine kindliche Phase von „Ich will lieber ein Junge sein“ gewesen. Aber genau da lag eben der Unterschied. Ich wollte nicht lieber ein Junge sein, ich war einer. Nur mein Körper und der Rest der Welt widersprachen dem. Mein Gesicht zum Glück weniger.
Wenn ich mit meiner Mutter unterwegs war, kam es öfters vor, dass ich von anderen für einen Jungen gehalten wurde. Meine Mutter korrigierte jedes Mal unermüdlich dieses „Missverständnis“. Leider tat sie das auch während meiner Pubertät und noch lange darüber hinaus. So kleine Begebenheiten schmerzten mich und gleichzeitig machten sie mir Mut. Es gab also Menschen, die sahen, dass ich ein Junge war. Die nahmen mich richtig wahr. Eigentlich waren es sogar viele. Nur wer wusste, was ich unter meinen Kleidern verbarg, der machte mir Probleme. Meine Eltern, die Lehrer und natürlich: ich selbst.
Doch auf das, was dann kam, war ich nicht vorbereitet.
Mein Körper veränderte sich.
Ganz langsam wuchsen mir Brüste, die sich nicht aufhalten ließen. Zwischen meinen Beinen kamen die ersten schwarzen Haare und als wäre das nicht alles schon schlimm genug, bekam ich meine Tage.
Was für jedes normale Mädchen vielleicht verwirrend, aber der biologische Weg zur Frau ist, war für mich ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab. Es war genau das, was ich nicht wollte: eine Frau werden.
Meine Probleme wurden täglich schlimmer und auch vielfältiger. Ich versuchte, mich meinen Eltern zu erklären. Vergeblich.
Wieder die Zeilen Der Ärzte, die so treffend für mich sind: Wie soll ich dir etwas erklären, was ich selber nicht versteh? Damals war ich mir sicher, dass mich meine Eltern nicht liebten. Ja, gar nicht lieben konnten. Denn wie kann man ein Kind, das man liebt, so leiden lassen? Manchmal war ich mir sogar ganz sicher, dass sie eigentlich nicht meine richtigen Eltern waren. Das hätte alles erklärt. Warum ich so anders bin und warum sie mich nicht verstanden.
Heute weiß ich vieles besser. Aber nicht alles. Leider. Ich weiß, dass sie mich liebten und heute noch lieben. Dass sie aus ihrer Sicht alles getan haben, was ihnen möglich war. Besonders meine Mutter beteuert immer wieder mit Tränen in den Augen: „Wir haben es nicht besser gewusst. Was hätten wir denn tun sollen? Damals hatte man noch keine Ahnung von so was!“
So was. Transsexualität, Mama! So heißt das!, möchte ich ihr am liebsten entgegen schreien. Doch ich kann nicht. Ich sehe ihre Hilfosigkeit und ihren stummen Kampf mit ihren Schuldgefühlen und dann möchte ich sie nur noch in meine Arme nehmen. Doch auch das geht irgendwie nicht. Noch heute scheint es meinen Eltern schwerzufallen, meine Geschichte beim Namen zu nennen. Dabei gibt es wenigstens einen dafür. Gab es auch damals schon, aber das habe ich erst sehr viel später erfahren. Meine Eltern und die Ärzte, zu denen wir gingen, kannten den Begriff nicht. Und wenn Dinge keinen Namen haben, dann haben sie auch keine Daseinsberechtigung. So ist das in unserer Welt.
Mich hat das viel gekostet und letztendlich auch meine Eltern. Bis heute bin ich hin- und hergerissen zwischen Verständnis und Wut meinen Eltern gegenüber. Schlüpf ich in ihre Perspektive, dann verstehe ich sie fast ein wenig. Und dann kommt die Wut, weil sie das nie gemacht haben. Sie hätten mich nur ernst nehmen brauchen. Mehr nicht. Ganz egal, ob MAN das damals kannte oder nicht.
Wenn mein Kind zu mir kommen würde und mir sagt: Ich fühle mich nicht als das, was ich bin. Ich würde es ernst nehmen und wenn es mir sagen würde, es sei ein Kamel. Dann hätte ich eben ein Kamel zum Kind. Na und? Es ist mein Kind und ich würde jeden korrigieren, der sagt:
„Haben Sie aber ein süßes Kind!“
„Ja, nicht wahr?“, würde ich antworten. „Aber es ist ein Kamel!“
Und wahrscheinlich würden mich alle für verrückt halten, weil es dafür noch keinen Begriff gibt. Aber vielleicht wird man in vielen, vielen Jahren herausfinden, dass es eine Identitätsstörung namens Transkamelismus gibt. Wer weiß.
An ganz melancholischen Tagen denke ich, dass ich keine Jugend hatte. Das fühle ich dann genauso theatralisch, wie dieser Satz klingt. Ich habe so vieles, was andere Jugendliche erleben und probieren, nicht gehabt. Ich hatte immer meinen verhassten Körper, dieses Gefängnis, in dem ich wohnte, und immer diese bescheuerte Geheimnistuerei, weil mit der Wahrheit niemand etwas anfangen konnte.
Aber es gibt auch andere Tage. Da erinnere ich mich an die Jugend, die ich hatte. Leider ist von diesen Erinnerungen nicht mehr viel übrig. Das, was noch da ist, möchte ich festhalten, bevor es mir ganz entwischt. Denn bei all dem Schmerz und Selbsthass, den ich empfand, gab es auch immer den Drang, mein Gefühl auszuleben, mir einen Weg zu suchen als Junge anerkannt zu werden und mich nicht dem Rat der Ärzte und meinen Eltern zu fügen. Niemals. Nicht, weil ich es in meiner pubertären Sturheit für Unsinn hielt, sondern weil sie schlicht und einfach Unrecht hatten. Ich konnte es nur nicht beweisen.
Ich denke, dass dies das größte Missverständnis zwischen mir und meinen Eltern ist. Weil im Laufe meiner Lebensjahre die Mauer aus gegenseitiger Enttäuschung zwischen mir und meinen Eltern immer dicker wurde, suchte ich Wege jenseits meines Elternhauses.
Jetzt war ich nicht mehr vor mir und meinen Empfindungen auf der Flucht, sondern ganz real. Raus aus dem Haus, wo mich niemand verstand, weg von den Menschen, die mich als Miriam kannten. Irgendwohin, wo ich ein Junge sein konnte. Dabei war ich unermüdlich und das ein oder andere Mal auch recht kreativ.
Heute frage ich mich manchmal, wie ich bei meinen Aktionen so blauäugig sein konnte. Aber damals habe ich es geglaubt. Jedes Mal, wenn ich weggelaufen bin, habe ich daran geglaubt oder vielleicht auch einfach nur gehofft. Dass alles gut wird. Dass ein Wunder geschieht. Dass ich einfach so eine Arbeit finde, eine Unterkunft, ein eigenes Leben. Ein Glaube und eine Hoffnung ohne jedes Bild dazu. Ich hätte es nicht manifestieren oder konkretisieren können. Es war einfach das Gefühl, für das ich lebte. Die unverwüstliche Hoffnung, die mir Kraft gab bei meinen unglücklichen Versuchen meinen Platz in diesem Leben zu finden, meiner Seele ein Zuhause zu geben und ihr Freiheit zu schenken.
Erneut streicht sie ihre Haare hinters Ohr und sagt, ich muss mich ja doch irgendwo geliebt haben. Weil ich alles Mögliche und leider auch viel Unmögliches getan habe, um so leben zu können, wie ich mich fühlte. Mag sein, dass sie damit recht hat, aber ich fühle es nicht so. Für mich gab es keine Wahl. So wenig wie ein Mensch entscheiden kann, ob er essen oder trinken möchte – er muss es, um zu überleben. Und genauso fühlte es sich für mich an: Ich musste raus, um zu überleben.
Wenn ich so zurückdenke, habe ich mir oft Dinge gewünscht, die nach Bewertung der Gesellschaft was für Jungen sind, aber an denen Mädchen vermutlich auch Freude hätten, wenn man ihnen die Chance dazu geben würde. Bekommen habe ich so eindeutige Dinge nie, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Und letztere vermutlich nur, weil meine Eltern sie für „ungefährlich“ hielten. Ich denke, sie wollten mein Empfinden ein Junge zu sein, bzw. sich als ein solcher auszugeben, auf keinen Fall unterstützen.
Wie gerne hätte ich ein ferngesteuertes Auto gehabt, ein Gokart oder aber eine Motocrossmaschine. Kleidung war die einzige Ausnahme. Im Großen und Ganzen konnte ich anziehen, was ich wollte.
Lange bevor der Wecker klingelt, bin ich wach. Ich bin so aufgeregt, dass ich nicht mehr schlafen kann. Doch noch ist es zu früh, um ins Wohnzimmer zu schleichen. Also versuche ich wieder einzuschlafen. Ich döse immer wieder ein, aber wirklich schlafen kann ich nicht mehr. Was ist, wenn mein Wunsch sich erfüllt hat und es schon da steht und auf mich wartet? Dieses Jahr, zu meinem dreizehnten Geburtstag, habe ich mir ein Rennrad gewünscht. Ein richtiges Rennrad. Mit mehr als drei Gängen, ohne Rücktrittbremse und natürlich das Allerwichtigste: mit Stange. Vor ein paar Jahren habe ich mir auch schon mal ein Fahrrad gewünscht. Ein Bonanzarad mit Bananensattel, hohem Lenker und einem Fuchsschwanz. Bekommen habe ich es nicht.
Nun klettere ich doch aus dem Bett, ziehe mir dicke Socken an und öffne ganz leise, um niemanden zu wecken, meine Zimmertür. Im Schlafanzug schleiche ich durch den Flur und die Essecke ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch liegen ein paar kleine Päckchen, hübsch eingepackt und mit bunten Bändern verziert. Ich lasse meinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen und dann sehe ich es. Im oberen Teil steht es, mit einem Tuch zugehängt, aber die Größe und die Form lassen keinen Zweifel zu, ich weiß sofort, was es ist. Schnell gehe ich die zwei Stufen hoch und bin so aufgeregt, dass ich den Moment es zu sehen kaum abwarten kann, aber ihn am liebsten auch noch hinauszögern will. Wie sieht es wohl aus? Nein, ich halte es nicht länger aus und ziehe langsam das Tuch weg.
Es ist wirklich ein Fahrrad. Ein nigelnagelneues Fahrrad. Es ist silberfarben. Die Tatsache, dass es nur fünf Gänge hat und auch keinen Rennradlenker, ist nicht so schlimm. Was da steht ist aber so was von offensichtlich ein Mädchenfahrrad, dass meine eben noch große Freude in Enttäuschung umschlägt. Das Fahrrad hat keine Stange. Ich wollte doch so gerne ein richtiges Jungenfahrrad haben. Aber ohne Stange ist es doch viel praktischer und auch sicherer, sagen meine Eltern. Verstehe ich nicht, sind denn alle Jungs total gefährdet, weil sie ein Fahrrad mit Stange fahren? Na ja, was habe ich erwartet? Dachte ich wirklich, dass meine Eltern mir etwas schenken, was ganz offensichtlich männlich ist? Gedacht eigentlich nicht, aber gehofft schon. Was wäre dabei gewesen? Es hätte sicher nicht mehr gekostet. Ich versuche mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Das Fahrrad ist schön, ganz ohne Frage, aber meilenweit entfernt von dem, was ich mir gewünscht habe.
Doch einige Tage später habe ich eine Idee. Ich schnappe mir aus dem Werkzeugkeller die Säge und fahre mit meinem neuen Fahrrad in den Wald. Nach einer halben Stunde Suchen im Knick finde ich ihn. Den perfekten Stock. Er ist von einer Buche und sehr stabil, fast ganz gerade und hat einen Durchmesser von etwa fünf Zentimetern. Ich säge ihn so lang wie möglich ab und fahre wieder nach Hause. Jetzt nehme ich Maß an meinem Rad und kürze ihn mit der Säge auf die exakte Länge. In der Küchenschublade finde ich Paketband. Nun binde ich den Stock mit dem einen Ende an der Sattelstrebe fest und mit dem anderen Ende seitlich an der Lenkerstrebe. Nicht schlecht. Ich gehe ein Stück zurück und schaue es mir an. Aus etwas Entfernung sieht es täuschend echt aus. Die Farbe des Stockes ist nicht gut, hebt sich doch etwas zu doll vom Silber ab, aber darum werde ich mich später kümmern. Jetzt hat mein Fahrrad eine Stange. Stolz steige ich auf mein Rad, indem ich lässig ein Bein von hinten über den Sattel schwinge. Ja, genau so wollte ich das immer. Ich fühle mich total cool und sehr, sehr männlich. Dann drehe ich eine Runde durch das Dorf. Ja, das ist das Gefühl, was ich wollte. So muss es sein. Ich bin erstaunt, wie es sein kann, dass so eine einfache Veränderung, so ein kleiner Unterschied so viel ausmachen kann. Für die 2,5 Kilometer zur Bushaltestelle, die ich jeden Morgen mit vielen anderen Kindern fahren muss, werde ich die Stange aber wieder abbauen. Ich habe Angst, dass sie mich auslachen, weil bei genauem Hinsehen zu erkennen ist, dass es keine echte Stange ist. Ich werde sie mir immer nur anbauen, wenn ich nachmittags fahre und alleine bin. Von meinem Taschengeld kaufe ich mir einen Rennradlenker und eine Dose Silberspray. Ich sprühe den Stock silber an und baue meinen neuen Lenker an mein Fahrrad. Als die Farbe trocken ist und ich meine Stange wieder anbaue, sieht das alles schon anders aus. Fast wie ein echtes Jungenrennrad. Ist zwar auch alles nur ein Kompromiss, aber einer, mit dem ich fürs erste zufrieden bin.
Zu meinem vierzehnten Geburtstag wird alles anders. Ganz sicher. Sie werden es irgendwann begreifen müssen, dass ich ein Junge bin.
Wieder liege ich seit einer Ewigkeit wach im Bett und kann nicht mehr schlafen vor Aufregung. Eine Stunde lang versuche ich wieder einzuschlafen, doch es geht einfach nicht. Ich habe heute Geburtstag und meine Gedanken kreisen nur um die Möglichkeiten meiner Geschenke. Ich habe viele Wünsche geäußert im Laufe des Jahres und so hab ich überhaupt gar keine Ahnung, was ich bekomme.
Um fünf Uhr hält mich nichts mehr im Bett und ich wandere im Schlafanzug ins Wohnzimmer, wo jedes Jahr an den Geburtstagen von mir und meiner Schwester einer der Tische als Geburtstagstisch gedeckt wird. Als ich das Licht anknipse, leuchten vier Päckchen auf dem Tisch, die rund um meine Geburtstagskerzen verteilt liegen. Eines von ihnen ist relativ groß und quadratisch, ein anderes hat Schuhkartongröße – ich vermute neue Winterschuhe darin. Die anderen beiden sind eher klein und trotz ihrer bunten Verpackung wirken sie unscheinbar.
Als erstes lese ich die Geburtstagskarte von meinen Eltern und von meiner Oma väterlicherseits. In letzterer befinden sich wie immer 100 DM. Ich setze mich auf die Couch und lege mir das größte der Päckchen zuerst auf den Schoß. Ich schüttele es ein wenig und lausche auf das Geräusch aus dem Inneren. Es klingt schwer und dumpf. Ich drücke es von allen Seiten und bin ratlos. Was kann das sein? Ich habe überhaupt keine Idee. Um mir die Spannung so lang wie möglich zu erhalten, knote ich mit großer Ungeduld das bunte, gekräuselte Band auf und löse vorsichtig jeden Tesafilmstreifen ab. Nun falte ich das Papier auseinander und in der Mitte liegt wie in einem Nest ein Karton. Ein Karton, der keinen Schluss auf seinen Inhalt zulässt. Doch als ich ihn in die Hand nehme, merke ich, dass er hinten offen ist, und ich ertaste etwas glattes Rundes. Mein Herz fängt an zu klopfen und es fühlt sich an, als wenn ein Zug mit rasender Geschwindigkeit durch meinen Kopf fährt, aus dessen Fenster tausende bunte Fahnen hängen, die laut in der Luft flattern. Nein, das kann nicht sein, dass es das ist, was mir ganz kurz durch den Kopf schießt. Ich drehe die Kiste mit der offenen Seite zu mir und traue meinen Augen nicht. Mir bleibt fast das Herz stehen, ich merke, wie meine Augen sich mit Tränen füllen, und ich kann gar nichts mehr denken. Alle Fahnen aus dem vorbeirauschenden Zug werden auf einmal losgelassen und schwirren wie ein bunter Regen vor dem Blau des Himmels. In meinen Händen halte ich einen Fußball. Einen echten Fußball aus Leder. Mit zitternden Fingern befreie ich ihn von seiner Papphülle. Weiß mit schwarzen Ziernähten liegt er in meinem Schoß. Er sieht toll aus. Immer und immer wieder fasse ich ihn an und rieche an dem Leder, um es zu begreifen. Ich habe einen Fußball geschenkt bekommen. Einen Fußball, wie ihn alle Jungs haben.
Wie im Rausch nehme ich mir das nächste Päckchen. Als ich es mit deutlich weniger Geduld von seinem Papier befreit habe, kommt schon wie vermutet ein Schuhkarton zum Vorschein. Ein Adidas-Karton. Ah okay, dann sind es keine Winterschuhe, sondern Turnschuhe für die Schule. Den Fußball kann sowieso nichts mehr toppen, ganz egal, was jetzt noch kommt. Ich hebe den Deckel vom Karton und jetzt trifft mich fast der Schlag. Ich muss mich kneifen, um sicher zu gehen, dass ich nicht träume. Im Karton liegen eingebettet in weißes Seidenpapier Fußballschuhe. Ich rede nicht von Turnschuhen, die man zum Fußballspielen anziehen kann, nein, ich rede von richtigen Fußballschuhen mit Stollen. Schwarz mit drei weißen Streifen und rotem Rand.
Ich muss träumen, anders kann es nicht sein. Ich sitze da und versuche zu begreifen, was hier passiert. Die anderen beiden kleinen Geschenke sind völlig unwichtig geworden und ich sitze einfach nur da und kann es nicht glauben. Eine kleine, zarte Hoffnung bahnt sich ihren Weg und macht mich froh.
Nach einiger Zeit greife ich doch noch nach den beiden übrigen Geschenken und packe sie aus. Der Inhalt macht mich vollends sprachlos. Ein paar Schienbeinschützer und ein paar Torwarthandschuhe. Und diese kleine, zarte Hoffnung manifestiert sich in mir. Ich bin nicht mehr nur froh, ich bin selig. Jetzt bin ich mir sicher. Sie haben es verstanden. Sie lieben mich und ich bin ihr Junge. Mit allem hab ich heute gerechnet, aber damit nicht. Wie sehr hab ich mir das gewünscht und diesen Moment herbeigesehnt und nun ist er da. Ich bin endlich ein Junge. Jetzt wird alles gut, da bin ich mir ganz sicher.
Im Schneidersitz, inmitten der ganzen Beweise, dass ich nun auch endlich für sie ein Junge bin, ziehe ich mir die Fußballschuhe an. Toll, einfach nur toll. Ich schlüpfe auch in die Torwarthandschuhe und kann mir gerade noch verkneifen, die Schienbeinschützer zu meinem Schlafanzug anzuziehen. So bekleidet gehe ich leise in mein Zimmer. Dann schaue ich mich in meinem Spiegel an. Sie stehen mir sehr gut. Ich sehe toll aus, etwas verwegen, cool und wie ein Junge, trotz meines eher peinlichen Schlafanzuges. Schweren Herzens ziehe ich die Sachen wieder aus, denn ich muss mich für die Schule fertig machen.
Als ich aus dem Bad komme, höre ich meine Mutter schon in der Küche klappern. Freudestrahlend, glücklich und mit dem Gefühl, die Welt ist mein, gehe ich in die Küche. Meine Mutter nimmt mich in den Arm und gratuliert mir. Ich bedanke mich bei ihr und sage, wie toll die Sachen sind, und will gerade noch hinzufügen, wie froh ich bin, dass sie es endlich verstanden haben, als sie sagt: „Na ja, weißt du, Miriam, wir haben uns gedacht, Mädchen können ja auch Fußballspielen. Ist ja nicht nur was für Jungs.“
Ich habe mich verhört, ganz sicher habe ich mich verhört, das kann sie doch nicht gesagt haben. Der eben noch blaue Himmel verdunkelt sich und alle bunten Fahnen, die eben noch fröhlich durch die Luft wirbelten, verschwinden in einem schwarzen Sack. Tränen steigen mir in die Augen, Enttäuschung, Schmerz und Wut umklammern mein Herz und wollen es zerquetschen. All meine Hoffnung in Luft aufgelöst. Alles unverändert.
Mit meinem Ranzen verlasse ich das Haus, in 10 Minuten fährt der Schulbus.
Schon an den ersten drei Tönen erkenne ich das Lied sofort. Selfcontrol von Laura Brannigan. Ich drehe den Ton lauter und warte auf den Moment, in dem der Gesang beginnt. Während ich mitsinge, überlege ich, wie lange einem manche Dinge wohl in Erinnerung bleiben. Warum ist das so, dass man einige Dinge schneller als andere vergisst oder sie einfach an Farbe verlieren und vom Hochglanzfoto eines Fotografen zum einfachen selbst ausgedruckten Foto werden?
Nun sitze ich hier, kann mir nicht wirklich eine Antwort darauf geben und hadere mit mir, ob diese Geschichte, die immer noch wie ein Hochglanzfoto eines Fotografen an meiner riesigen Pinnwand in meinem Kopf hängt, es wert ist, sie niederzuschreiben.
Sie sagt, so soll ich nicht denken. Ich soll einfach alles aufschreiben. Was mich bewegt, woran ich mich erinnere und was ich gefühlt habe. Das Fühlen ist ganz wichtig, sagt sie. Fühl dich wieder hinein, als wenn du noch mal vierzehn wärst. Kann man das? Kann man sich zurück fühlen? Wie kann ich mich mit meinen jetzigen Gefühlen und Erfahrungen in eine Zeit hinein- bzw. zurückversetzen, die fast dreißig Jahre her ist?
Für heute gibt mir die Antwort dieses Lied. Immer, wirklich immer, wenn es auf irgendeinem Sender ertönt, trete ich in meinen Gedanken eine Reise an. Diese Reise führt mich an den Neusiedler See, zurück zu einem Familienurlaub. Ein Badeurlaub. Ich bin vierzehn und muss, glaube ich, nicht erwähnen, wie sehr ich Badeurlaub mag.
Während der ganzen Autofahrt hoffe ich, es möge doch regnen, sobald wir dort ankommen. Regen ist gut, da muss man nicht baden. Die Vorstellung, dass ich in meinen blauen Badeanzug mit den weißen Sternchen steigen muss, erzeugt schon jetzt Brechreiz bei mir.
Wie soll ich das anstellen, dass die anderen Leute nicht denken, ich wäre ein Mädchen? Sie können doch gar nichts anderes denken. Was denke ich denn, wenn ich einen Menschen in einem Badeanzug sehe, unter dem sich deutliche Wölbungen von zwei Brüsten abzeichnen?
Ich fühle mich gehetzt und bekomme Kopfschmerzen. Verzweiflung macht sich in mir breit. Die tiefe Einsamkeit, die immer öfter da ist und immer größer wird, greift wieder nach mir. Ich versuche, sie abzuschütteln. Ist doch alles nicht so schlimm. Mein Gott, stell dich nicht so an, dann gehst du eben baden und die Menschen sehen dich. Du siehst sie doch nie wieder, egal was sie denken.
Doch das Schlimmste für mich ist, dass sie ja nicht einmal was denken würden. Sie können ja nicht in mich hineinschauen, sie sehen doch nicht den Jungen, der verkleidet ist und den es fast zerreißt vor Schmerz. Ich will von meiner Umwelt nicht als Mädchen wahrgenommen werden. Ich will es einfach nicht. Weder hier noch anderswo. Weder im Badeanzug, noch beim Sportunterricht, noch sonst irgendwo.
Meine Schwester jault, wann wir denn endlich da sind, sie will baden. Ich bete stumm vor mich hin, bitte lass uns nie ankommen, lass diese Autofahrt einfach endlos dauern. Das Gejammer meiner Schwester wird schließlich erhört und wir kommen an unserem Ziel, dem Neusiedler See, an. Es ist ein großes Hotel, fast direkt am See.
„Das ist ja toll, da können wir ja direkt vom Hotel in Badesachen zum Strand gehen und brauchen uns gar nicht umziehen!“, quietscht meine Schwester vergnügt.
„Das ist ja wie im Bilderbuch!“, höre ich meine Mutter sagen. Ich will dieses Bilderbuch nicht. Hat mich mal jemand gefragt? Nein, natürlich nicht. Ich habe das Gefühl, mich fragt nie jemand. Stattdessen kommt Kritik. Es sei doch toll hier, warum ich mich denn gar nicht freue und warum ich immer einen Flunsch ziehen müsse. Damit meinen sie vermutlich meinen Gesichtsausdruck, von dem ich nicht weiß, was er für sie ausdrückt. Ich fühle mich einfach unwohl, unglücklich, einsam, rastlos und innerlich zerrissen von der Anstrengung, es meinen Eltern recht machen zu wollen und trotzdem mich nicht zu verlieren.
Heute ist es zu spät zum Baden und wir schlendern durch den Ort. Es gibt einenSupermarkt, einen Minigolfplatz und einen Rikscha-Verleih. Es ist warm, aber nicht zu warm für einen Pullover. Gott sei Dank.
Mit dabei ist noch ein befreundetes Ehepaar meiner Eltern mit ihrer Tochter. Wir Kinder haben ein Zimmer zu dritt. Ein Doppelbett und ein Einzelbett. Meine Schwester und ich teilen uns das Doppelbett. Am Abend gehen wir essen und dann ist für uns Kinder Bettzeit. Das stinkt mir. Ich habe keine Lust, ins Bett zu gehen und ich habe auch keine Lust auf diesen Urlaub. Wütend darüber, dass ich nicht tun und lassen kann, was ich will, schmeiße ich mich aufs Bett und verkrieche mich in meine Träume.
In meinen Träumen bin ich ein Mann mit einem Männerkörper. Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin kein Held in meinen Träumen, ich mache in meinen Träumen meine dunklen Haare auch nicht blond und meine braunen Augen auch nicht grün. Ich mache mich nicht größer und nicht kleiner, nicht dicker und nicht dünner. Nicht schlauer und nicht besser. Ich mache mich einfach nur zu dem, der ich im wahren Leben nicht sein kann. Nicht sein darf. Es ist großartig. So großartig, dass ich nie mehr aufwachen möchte. Doch jeden Tag aufs Neue muss ich mein anderes, mein reales Leben anschauen. Ein Entkommen aus diesem nicht gewollten Leben gibt es für mich nur unter Fremden, unter Menschen, die ich nicht kenne und die nichts von mir wissen, außer dem, was sie sehen. Da gibt es Freiheit. Nur da.
Mitten in der Nacht wache ich auf, weil ich mitsamt meinen Klamotten eingeschlafen bin. Ich ziehe mich aus und liege ewig wach und grüble über einen Ausweg nach. Wie oft habe ich das schon getan? Ich kann es nicht mehr zählen. Aber das Ergebnis ist immer das Gleiche. Es gibt keinen Ausweg für mich. Nur immer wieder Fluchtversuche, die mir das Glück geben, das mich am Leben hält.
Am nächsten Tag bekommen wir Taschengeld und dürfen alleine losziehen im Ort. Ich will unbedingt Rikscha fahren und so gehen meine Schwester und ich los zu dem Supermarkt, wo auch der Rikscha-Verleih ist. Ich habe heute meine neue schwarze Cargo-Hose an. Es ist meine absolute Lieblingshose, weil die vorne im Schritt so schön weit ist, dass sie beinahe eine Beule wirft. Dazu habe ich mich für meinen ebenfalls neuen weißen Pullover mit dem großen Micky-Maus-Kopf vorne drauf entschieden. Darunter ein rotes Polohemd und meine weiß-blauen Schuhe. Die Schuhe habe ich mir in der Männerabteilung ausgesucht. Ich weiß nicht mehr, wie ich das gemacht habe, aber es sind Männerschuhe. Auch die Hose geht durchaus als Männerhose durch.
Als ich mich in der Schaufensterscheibe sehe, bin ich sehr zufrieden mit mir. Ich habe mir heimlich den zweiten Badeanzug meiner Schwester genommen und angezogen. Der ist viel zu klein und zu kurz und daher macht er meine Brust ganz flach. Er kneift zwar furchtbar im Schritt, aber das nehme ich gerne in Kauf. Meine Haare sind frisch gewaschen und super gestylt. Ich habe auf dem Weg hierher schon gemerkt, dass mir das eine oder andere Mädel hinterhergeschaut hat. Blöd nur, dass ich nicht alleine unterwegs bin.
Wir kaufen uns im Supermarkt Süßigkeiten und an der Kasse steht sie plötzlich da. Das schönste Wesen, das ich bisher gesehen habe, steht da einfach hinter mir in dunkelblauen Jeans und einem weißen Stickpulli. Braune, lockige Haare fallen ihr bis auf die Schultern und sie wirkt so erwachsen. So reif. Oh Mann.
Ich schaue schnell weg, um dann doch wieder hinzuschauen.
Sie lächelt mich an und ich grinse zurück.
„Komm jetzt“, sagt meine Schwester und reißt mich unsanft aus dieser schönen Situation. Widerwillig verlasse ich den Laden und wir steigen in die gemietete Rikscha. Ich hatte mich so gefreut auf das Rikscha-fahren, doch jetzt habe ich keine Lust mehr. Ich will unbedingt wissen, wie das Mädchen heißt und wo sie wohnt. Sie sieht älter aus als ich. Und sie hat mich angelächelt. Tausend Schmetterlinge erwachen in mir zum Leben und starten ihren Flug in meinem Bauch. Plötzlich ist der Urlaub toll und hat einen Sinn. Ich fühle mich leicht, aber ich habe auch Angst, meine Schwester könnte etwas mitbekommen. Da sehe ich, wie das Mädchen den Supermarkt verlässt.
Ich sitze am Steuer und fahre unauffällig und in einigem Abstand dem Mädchen hinterher. Sie schlendert alleine am Strassenrand entlang. Aber nach einer Weile will meine Schwester umkehren und lieber in die andere Richtung den Strand entlang fahren. Ich bin verärgert und wir streiten uns. „Dann fahr doch alleine“, sage ich und steige einfach aus. Schnurstracks mache ich mich wieder auf den Weg Richtung Supermarkt. Als ich auf Höhe des Supermarktes bin, traue ich meinen Augen nicht. Das Mädchen ist immer noch da oder auch wieder da.
Warum nur bin ich so schüchtern? Ich will zu ihr gehen, aber ich traue mich nicht. Ich bummle unauffällig näher und täusche vor, das Schaufenster zu betrachten. Plötzlich kommt sie auf mich zu und sagt einfach Hallo. Ich bin total perplex, stottere ebenfalls ein Hallo. Sie fragt, wie ich heiße. Ohne überlegen zu müssen, heiße ich Patrick. Sie heißt Katja, kommt aus Hamburg und ist 16. Also zwei Jahre älter als ich. Sie erzählt mir, dass sie noch drei Wochen mit ihren Eltern hier ist und in der zweiten Straße hinter dem Friedhof wohnt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich meine Schwester und ihre Freundin in der Rikscha nähern. Sie muss sie zwischendurch irgendwo aufgegabelt haben, um sich Verstärkung zu besorgen. Ich verabschiede mich abrupt und schaue in ihre enttäuschten Augen.
Der restliche Tag vergeht rasend schnell und ich nehme daran nur wie unter Drogen teil. Meine Gedanken sind beherrscht von dem Wunsch, Katja wiederzusehen. Ich fühle mich aus dieser Welt fortgetragen von federleichten Schwingen, auf denen ich dahinfliege in die unendlichen Möglichkeiten eines anderen Lebens.
Ich überlege fieberhaft, wie ich mich, ohne dass es meinen Eltern auffällt, zu ihr schleichen kann. Tagsüber habe ich keine Möglichkeit, da wir immer alle zusammen sind oder zumindest meine Schwester immer dabei ist. Also bleibt nur die Nacht. Heute Nachmittag habe ich den Friedhof entdeckt. Ungefähr einen Kilometer von unserem Hotel in derselben Straße beginnt die Friedhofsmauer. Wie lang sie sich erstreckt, konnte ich nicht sehen. Aber das ist mir auch egal. Ich habe das Gefühl, kein Weg ist zu weit.
Reglos liege ich da und bemühe mich gleichmäßig zu atmen. Ich darf auf keinen Fall einschlafen, bevor die anderen beiden schlafen. Die Minuten kriechen endlos dahin und um 23 Uhr bin ich sicher, dass alle in unserem Zimmer schlafen. Außerdem kann ich nicht länger warten und hoffe, dass meine Eltern entweder schon in ihrem Zimmer sind oder, wenn sie später kommen, zumindest nicht mehr bei uns ins Zimmer schauen.
Lautlos ziehe ich mich an und lege die Handtücher aus dem Bad unter meine Bettdecke. Den Zimmerschlüssel stecke ich ein, denn unten ist sicher die Tür zu. Stufe um Stufe schleiche ich mich im Treppenhaus nach unten. Ich treffe niemanden und die Hoteltür ist noch nicht abgesperrt. Draußen auf der Straße laufe ich so schnell ich kann Richtung Friedhof. Kurze Zeit später sehe ich schon die Mauer und ich renne weiter. Die Mauer ist ewig lang und ich bin außer Atem, sodass ich ein paar Meter langsamer gehen muss.
Endlich, das Ende der Friedhofsmauer. Ich schaue nach links und sehe, dass die Mauer hier in eine andere Straße abbiegt. Ich laufe etwas langsamer und bin froh, als ich endlich auch hier das Ende der Mauer sehe. Es ist stockdunkel und mir wird etwas mulmig. Jetzt erst merke ich, dass es nicht eine einzige Straßenlaterne gibt und alle Fenster der Häuser dunkel sind.
Schnell laufe ich weiter. Ganz kurz flackert in mir der Gedanke auf umzukehren, aber dann ist er auch schon wieder fort. Drei Häuser stehen hier. Das erste ist ein ganz normales Einfamilienhaus, die nächsten zwei sind unverkennbar Appartementhäuser. Alles dunkel. Warum habe ich sie nicht gefragt, welches Haus, welcher Stock und wie sie mit Nachnamen heißt? Dann wird mir im selben Moment klar, dass mir dieses Wissen jetzt weit nach Mitternacht auch nicht helfen würde. Ich schaue an den Häusern hoch. Und da, in dem einen Fenster kann ich einen Lichtschein sehen. Ich bin unentschlossen. Ist das ihr Zimmer? Hat sie für mich das Licht angelassen?
Ich hebe ein paar kleine Kiesel auf und ziele auf das Fenster. Die ersten verfehlen ihr Ziel und fallen auf die Terrasse im Erdgeschoss darunter. Ich warte nach jedem Fehlwurf ängstlich, ob jemand aufwacht. Es bleibt alles ruhig und dunkel. Dann treffen zwei meiner kleinen Steinchen das beleuchtete Fenster. Jetzt habe ich die Wurfrichtung heraus und vor lauter Freude darüber werfe ich weiter. Ein Schatten taucht am Fenster auf und die Gardine wird zurückgezogen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und ich kauere mich in die Büsche an dem schmalen Weg.
Dann steht sie da am geöffneten Fenster und schaut in die tiefblaue Nacht. Leise rufe ich ihren Namen und gebe mich zu erkennen. Jetzt bin ich mir sicher, sie hat auf mich gewartet. Flüsternd erklärt sie mir, dass ich durch den normalen Eingang nicht hinein kann. Es geht nur über den Balkon. Der Balkon ist nicht sehr hoch. Mein Blick fällt auf zwei leere Getränkekisten, die unter der Terrasse stehen. Leise stelle ich sie aufeinander und steige darauf. Nun kann ich mit meinen Händen den Balkon berühren. Ich ziehe mich an der untersten Balkonlatte hoch und greife eine höhere. Als ich die oberste zu fassen bekomme, schaffe ich es, meinen Körper hochzuziehen und auf der umlaufenden Abflussrinne Fuß zu fassen. Dann schwinge ich mich über das Geländer und stehe vor ihr. In ihren Augen lese ich Bewunderung. Allein dafür hat es sich gelohnt.
Sie nimmt meine Hand und wir gehen in ihr Zimmer. Ohne Worte legen wir uns auf ihr Bett und sie macht ihren Walkman an. Jeder von uns steckt sich einen Knopf ins Ohr und auf dem Rücken liegend hören wir schweigend Musik. Ich kann nicht klar denken, möchte alles am liebsten sofort. Sie riecht so unheimlich verwirrend gut. Dann fragt sie mich, ob ich eine Freundin in Deutschland habe. Ich verneine und als ich die Frage nach dem Freund in Deutschland stelle, verneint sie ebenfalls. Ohne jede Vorwarnung küsst sie mich. Ihre Lippen berühren meine und verharren ganz kurz. Ich bin zu schüchtern, um den Kuss zu erwidern, und so fragt sie mich, ob es mir nicht gefällt. Doch, doch es gefällt mir sehr und zum Beweis küsse ich nun sie. Wir knutschen stundenlang und ich will, dass das nie wieder aufhört.
Es hört auf, als ich erschrocken sehe, dass es draußen schon hell wird. Ich schaue auf meine Uhr. 5:30. Ich muss sofort los. Morgen Nacht komme ich wieder, verspreche ich. Dann klettere ich über das Balkongeländer und gehe genauso, wie ich gekommen bin. Wie einfach das alles ist. Voller Adrenalin laufe ich zurück zum Hotel. Es ist 6 Uhr, als ich ankomme und die Tür ist nicht verschlossen. Ich schleiche mich unten an der schon beleuchteten Küche vorbei und die teppichbelegten Treppen hinauf. Leise drücke ich die Türklinke zu unserem Zimmer herunter und schiebe mich ins fast helle Zimmer. Sofort gehe ich ins Bad, reiße mir die Kleider vom Leib und atme das erste Mal durch. Am unauffälligsten ist es, wenn ich die Klospülung bediene und dann einfach ganz offensichtlich ins Zimmer zu meinem Bett gehe.
Perfekt, niemand hat etwas gemerkt und als ich in meinem Bett liege, überkommt mich im selben Moment der Schlaf.
Um 9 Uhr gibt es Frühstück und ich wache erst auf, als man mich weckt. Mein erster Gedanke ist Katja. Dieser und auch die nächsten Tage vergehen wie in Trance. Ich bin völlig verliebt und in meinem Kopf hat nichts anderes mehr Platz. Ich fühle mich sehr schlau, weil niemand etwas merkt. Jede Nacht schleiche ich mich nach Mitternacht davon.
Am vierten Tag entdecke ich, dass das Tor zum Friedhof nicht abgeschlossen ist und ich beschließe, einfach quer über den Friedhof zu gehen. Das ist sicher eine Abkürzung von einem Kilometer. Als das Tor hinter mir mit einem Quietschen zufällt, was sich in dieser Totenstille anhört wie Kanonenschläge, schrecke ich zusammen. Wie angewurzelt bleibe ich