Feuer im Kopf - Susannah Cahalan - E-Book

Feuer im Kopf E-Book

Susannah Cahalan

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Beschreibung

Susannah Cahalan ist jung, attraktiv, frisch verliebt, eine aufstrebende Journalistin – und gerät über Nacht in den schlimmsten Albtraum ihres Lebens. Innerhalb kürzester Zeit erkrankt sie schwer, leidet an Wahnvorstellungen und wird binnen weniger Wochen zum Schwerstpflegefall in der Psychiatrie. Vollgepumpt mit Medikamenten wird sie ans Bett gefesselt und vegetiert vor sich hin – dem Tod näher als dem Leben. Doch ihre Familie gibt nicht auf bis endlich der renommierte Neurologe Souhel Najjar hinzugezogen wird. Er findet heraus, dass Susannah an einer erst vor kurzem entdeckten Autoimmunerkrankung leidet, in deren Verlauf der Körper das eigene Gehirn angreift und Symptome wie Schizophrenie, Autismus und Wahnvorstellungen erzeugt. Einmal richtig diagnostiziert, sorgen die geeigneten Medikamente rasch und dauerhaft für Genesung und Susannah gewinnt ihr Leben zurück. Ihre Schilderung des Leidensweges ist eine bewegende und aufregende Geschichte über Familie, Liebe, Hoffnung und darüber, wie sich ein perfektes Leben innerhalb kürzester Zeit in eine Katastrophe verwandeln kann. Ein fesselndes Buch, das man nicht aus der Hand legen kann, bis die letzte Seite verschlungen ist.

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Seitenzahl: 403

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

6. Auflage 2022

© 2013 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2012 by Susannah Cahalan. All rights reserved.

Die englische Originalausgabe erschien 2012 bei FREE PRESS unter dem TitelBrain On Fire.

Published by arrangement with the original publisher, Free Press, a division of Simon & Schuster, Inc.

Zum Schutz der vorkommenden Personen wurden einige Namen und Identitätsmerkmale geändert.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Christa Trautner-Suder, Weilheim

Redaktion: Susanne Schneider, München

Umschlaggestaltung: Mspace/Maura Fadden Rosenthal

Satz: Georg Stadler, München

ISBN Print 978-3-86882-467-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-501-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-502-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

All denen gewidmet, die ohne Diagnose leben müssen

Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung der Autorin
Vorwort
Teil 1Verrückt
Kapitel 1 - Der Wanzen-Blues
Kapitel 2 - Das Mädchen im schwarzen Spitzen-BH
Kapitel 3 - Carota
Kapitel 4 - The Wrestler
Kapitel 5 - Cold Roses
Kapitel 6 - America’s Most Wanted
Kapitel 7 - On the Road Again
Kapitel 8 - Eine außerkörperliche Erfahrung
Kapitel 9 - Ein Hauch von Wahnsinn
Kapitel 10 - Gemischte Episoden
Kapitel 11 - Keppra
Kapitel 12 - Die List
Kapitel 13 - Buddha
Kapitel 14 - Weitere Suche – weitere Anfälle
Teil 2 - Die Uhr 
Kapitel 15 - Das Capgras-Syndrom
Kapitel 16 - Die Wut nach dem Anfall
Kapitel 17 - Multiple Persönlichkeitsstörung
Kapitel 18 - Eilmeldung
Kapitel 19 - Big Man
Kapitel 20 - Tendenz steigend
Kapitel 21 - Eine Zeit ohne Tod
Kapitel 22 - Ein wunderbares Durcheinander
Kapitel 23 - Dr. Najjar
Kapitel 24 - IVIG
Kapitel 25 - Blue Devil Fits
Kapitel 26 - Die Uhr
Kapitel 27 - Hirnbiopsie
Kapitel 28 - Schattenboxer
Kapitel 29 - Die Dalmau’sche Krankheit (Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis)
Kapitel 30 - Rhabarber
Kapitel 31 - Die große Offenbarung
Kapitel 32 - 90 Prozent
Kapitel 33 - Die Heimkehr
Kapitel 34 - California Dreamin’
Teil 3
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Kapitel 35 - Das Video
Kapitel 36 - Stofftiere
Kapitel 37 - Wild at Heart
Kapitel 38 - Freunde
Kapitel 39 - Im Normbereich
Kapitel 40 - Umbrella
Kapitel 41 - Chronologie
Kapitel 42 - Unendlicher Spaß
Kapitel 43 - NDMA
Kapitel 44 - Teilweise Rückkehr
Kapitel 45 - Die fünf W’s
Kapitel 46 - Grand Rounds – Vorträge an der NYU
Kapitel 47 - Der Exorzist
Kapitel 48 - Die Schuld der Überlebenden
Kapitel 49 - Der Lokalmatador macht alles wieder wett
Kapitel 50 - Ekstatisch
Kapitel 51 - Fluchtgefahr?
Kapitel 52 - Madame X
Kapitel 53 - Die lila Dame
Anmerkungen
Danksagung
Bildnachweis
Über die Autorin

Vorbemerkung der Autorin

»Dass es ein Vergessen gibt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht.«

Friedrich Nietzsche

Wegen der Art meiner Erkrankung und deren Auswirkungen auf mein Gehirn habe ich nur Erinnerungsfetzen an tatsächliche Ereignisse und an kurze, aber lebhafte Halluzinationen aus den Monaten, in denen diese Geschichte passiert ist. Der Großteil dieser Zeit ist ein weißer Fleck oder bleibt merkwürdig verschwommen. Nachdem ich physisch also nicht in der Lage bin, mir diese Zeit in Erinnerung zu rufen, war das Schreiben des vorliegenden Buches eine Übung, mit der ich begreifen wollte, was verloren gegangen ist. Unter Nutzung der Fähigkeiten, die ich als Journalistin gelernt habe, verwendete ich alle verfügbaren Quellen – Hunderte von Gesprächen mit Ärzten, Pflegern, Freunden und Familienmitgliedern; das Klinik-Notizbuch, das meine geschiedenen Eltern führten, um miteinander zu kommunizieren, Videoaufzeichnungen, die während meines Klinikaufenthalts von Klinikkameras von mir aufgenommen wurden, und Notizbücher über Notizbücher voll von Erinnerungen, Konsultationen und Eindrücken – die mir helfen sollten, diese sich mir entzogene Vergangenheit neu entstehen zu lassen. Einige Namen und typische Merkmale habe ich verändert, ansonsten entspricht dieses Werk vollkommen der Realität – eine Mischung aus Erinnerung und Reportage.

Dennoch muss ich zugeben, dass ich selbst eine unzuverlässige Quelle bin. Egal wie viele Nachforschungen ich auch betrieben habe, das Bewusstsein, das mich als Person definiert, war dabei nicht vorhanden. Zudem bin ich befangen. Es geht um mein Leben, daher dreht sich diese Geschichte auch um das alte Problem des Journalismus, nur hundertmal chaotischer. Zweifellos gibt es Dinge, die ich missverstanden habe, Rätsel, die ich nie werde lösen können, und viele Augenblicke, die vergessen und unbeschrieben bleiben. Übrig geblieben ist die Recherche einer Journalistin über ihr tiefstes Inneres – Persönlichkeit, Erinnerung, Identität – bei dem Versuch, Vergessenes zusammenzutragen und zu verstehen.

Vorwort

Zuerst ist da nur Dunkelheit und Stille.

»Sind meine Augen offen? Hallo?«

Ich kann gar nicht sagen, ob ich meinen Mund wirklich bewege oder ob überhaupt jemand da ist, den ich fragen kann. Es ist zu dunkel, um etwas zu sehen. Ich blinzle einmal, zweimal, dreimal. In meiner Magengrube empfinde ich eine dumpfe Vorahnung. Das immerhin erkenne ich. Meine Gedanken formen sich nur langsam zu Sprache, als würden die Worte aus einem Siruptopf auftauchen. Wort für Wort kommen die Fragen heraus: Wo bin ich? Warum juckt meine Kopfhaut? Wo sind sie alle? Dann rückt die Welt um mich herum langsam in mein Blickfeld, es beginnt mit einer Lochblende, deren Durchmesser langsam größer wird. Gegenstände tauchen aus der Dunkelheit auf und werden allmählich schärfer. Es dauert eine Zeit, dann erkenne ich sie: Fernseher, Vorhang, Bett.

Sofort weiß ich, dass ich hier raus muss. Ich will mich aufrichten, aber etwas reißt mich zurück. Meine Finger berühren eine dicke Mesh-Weste um meine Taille, die mich im Bett hält wie eine – wie ist noch das Wort dafür? – wie eine Zwangsjacke. Die Weste ist an beiden Seiten mit zwei kalten Metallschienen verbunden. Ich greife mit den Händen um die Schienen und ziehe mich hoch, aber wieder schneiden die Gurte in meine Brust, geben nur wenige Zentimeter nach. Rechts neben mir ist ein geschlossenes Fenster, das zu einer Straße hin liegt. Autos, Yellow Cars1. Taxis. Ich bin in New York. Zu Hause.

Bevor mich jedoch Erleichterung überkommt, sehe ich sie. Die lila Dame. Sie starrt mich an.

»Hilfe!«, schreie ich. Ihr Ausdruck verändert sich kein bisschen,es ist, als hätte ich nichts gesagt. Ich drücke wieder gegen die Gurte.

»Werden Sie wohl damit aufhören!«, sagt sie in einem leisen Singsang mit vertrautem jamaikanischen Akzent.

»Sybil?« Aber das kann nicht sein. Sybil war meine Babysitterin, als ich noch ein Kind war. Ich habe sie seit meinen Kindertagen nicht mehr gesehen. Warum sollte sie beschlossen haben, heute wieder in mein Leben zu treten? »Sybil? Wo bin ich?«

»Im Krankenhaus. Sie beruhigen sich besser wieder.« Es ist nicht Sybil.

»Es tut weh.«

Die lila Dame kommt näher, ihre Brüste streifen mein Gesicht, als sie sich über mich beugt, um die Fesseln zu lösen, erst rechts, dann links. Als meine Arme frei sind, hebe ich instinktiv meine rechte Hand, um mich am Kopf zu kratzen. Aber anstelle von Haaren und Kopfhaut fühle ich eine Baumwollmütze. Plötzlich wütend, reiße ich sie herunter und hebe beide Hände, um meinen Kopf zu untersuchen. Ich spüre reihenweise Kunststoffkabel. Ich ziehe eines heraus – spüre dabei einen Stich in meiner Kopfhaut – und halte es auf Augenhöhe. Es ist rosa. Um mein Handgelenk trage ich ein Plastikband in Orange. Ich kneife die Augen zusammen, unfähig, mit meinem Blick die Worte zu fokussieren, aber nach einigen Sekunden werden die Blockbuchstaben scharf: FLUCHTGEFAHR.

1 Yellow Car oder Yellow Cab oder kurz Cab nennt man die Taxis in New York. (Anm. d. Red.)

Teil 1

Verrückt

Ich spürte dieses eigenartige Flügelschlagen im Kopf.

Virginia Woolf, Tagebuch einer Schriftstellerin.

Kapitel 1

Der Wanzen-Blues

Vielleicht fing alles mit einem Wanzenbiss an, dem Biss einer Bettwanze, die es gar nicht gab.

Eines Morgens erwachte ich und sah zwei rote Punkte auf der rotblau durchschimmernden Hauptvene, die durch meinen linken Arm verläuft. Es war Anfang 2009 und New York City wurde überwältigt von einer Wanzenhysterie: Sie infizierten Büros, Bekleidungsgeschäfte, Kinos und Parkbänke. Ich bin von Natur aus eher unbesorgt, dennoch wurden meine Träume zwei Nächte lang von fingergroßen Bettwanzen heimgesucht. Die Sorge war völlig berechtigt, nachdem ich jedoch meine Wohnung sorgfältig abgesucht hatte, hatte ich nicht eine einzige Wanze oder irgendeinen Hinweis auf ihr Vorhandensein finden können. Nur diese beiden Bisse. Ich bestellte sogar einen Kammerjäger, um meine Wohnung kontrollieren zu lassen, einen überarbeiteten Hispanoamerikaner, der die ganze Wohnung auf den Kopf stellte, meine Schlafcouch anhob und mit der Taschenlampe an Stellen leuchtete, die zu putzen mir noch nie eingefallen war. Er erklärte meine Wohnung für wanzenfrei. Das erschien mir unwahrscheinlich, daher bat ich ihn, wiederzukommen und die Wohnung zu desinfizieren. Es spricht für ihn, dass er mich drängte abzuwarten, bevor ich eine astronomische Summe dafür ausgeben würde, etwas zu bekämpfen, was er für eine Einbildung hielt. Aber ich drängte ihn dazu, überzeugt davon, dass meine Wohnung, mein Bett, meinKörpervon Wanzen überrannt wurden. Er willigte ein, wiederzukommen und sie zu vernichten.

Besorgt, wie ich war, versuchte ich, mein zunehmendes Unwohlsein vor meinen Kollegen zu verbergen. Verständlicherweise wollte niemand etwas mit einer Person zu tun haben, die ein Wanzenproblem hatte. So ging ich am nächsten Tag so lässig wie möglich durch die Redaktionsräume derNew York Postin meine Arbeitsnische. Sorgfältig versteckte ich meine Bisse und versuchte, locker und normal zu wirken. Nicht ganz »normal« zu sein, bedeutet bei derPostviel.

Auch wenn diePostbekanntlich von allen Neuigkeiten wie besessen ist, ist sie beinahe so alt wie die Nation selbst. 1801 von Alexander Hamilton gegründet, ist sie die Zeitung des Landes, die am längsten ohne Unterbrechungen erschienen ist. Im ersten Jahrhundert ihres Bestehens kämpfte sie für die Abschaffung der Sklaverei und unterstützte die Anlage des Central Parks. Heute sind die Redaktionsräume riesig und stickig, mit vielen Reihen offener Boxen und einer Überfülle von Ablageschränken, vollgestopft mit den ungenutzten, vergessenen Dokumenten vieler Jahrzehnte. Die Wände sind übersät mit Uhren, die nicht funktionieren, mit Blumen, die zum Trocknen mit den Köpfen nach unten aufgehängt sind, dem Bild von einem Affen, der auf einem Border Collie reitet, und einer großen Schaumstoffhand – einem sogenannten Foam Finger – der Six-Flags-Freizeitparks, alles Erinnerungsstücke an frühere Aufträge. Die PCs sind veraltet, die Kopierer haben noch die Größe kleiner Ponys. In einer kleinen Abstellkammer, die früher als Raucherzimmer diente, werden inzwischen die Vorräte an Arbeitsmaterialien aufbewahrt, dort hängt ein verwittertes Schild mit dem Hinweis, dass es das Raucherzimmer nicht mehr gibt, als würde tatsächlich versehentlich jemand zwischen diese Bildschirme und Teile der Videoausrüstung marschieren, um eine Zigarette zu rauchen. So sah in den letzten sieben Jahren meine exzentrische kleine Welt aus, seit ich dort als 17-jährige Volontärin angefangen hatte.

Besonders gegen Redaktionsschluss brummt der Raum vor Aktivität – klappernde Tastaturen, herumbrüllende Redakteure, schnatternde Reporter – das perfekte Klischee der Redaktionsräume eines Boulevardblatts.

»Wo ist das verdammte Bild zu dieser Bildunterschrift?«

»Wie kann es sein, dass er nicht wusste, dass sie eine Prostituierte war?«

»Welche Farbe hatten die Socken von dem Burschen, der von der Brücke gesprungen ist?«

Es ist wie in einer Bar ohne Alkohol, angefüllt mit Nachrichtenjunkies, die mit Adrenalin vollgepumpt sind. Die Rollenbesetzung derPostist einmalig: Hier gibt es die aufgewecktesten Schlagzeilenschreiber in der Branche, die abgehärtetsten Jäger nach Exklusivberichten und Typ-A-Work­aholics mit der chamäleonartigen Fähigkeit, praktisch mit jedem entweder gut zu stehen oder spinnefeind zu sein. An den meisten Tagen herrscht in der Redaktion gedämpfte Stimmung, wenn jeder schweigend kurze Dokumente oder Interviewquellen durcharbeitet oder Zeitungen liest. Häufig, so wie heute, ist es in der Redaktion so still wie in einer Leichenhalle.

Auf dem morgendlichen Weg zu meinem Schreibtisch schlängelte ich mich durch die Boxenreihen, die mit grünen Straßenschildern aus Manhattan gekennzeichnet sind: Liberty Street, Nassau Street, Pine Street und William Street, Reminiszenzen an eine Zeit, als diePostan ihrem vorherigen Standort in der Innenstadt, am South Street Seaport, tatsächlich von diesen Straßen flankiert wurde. Mein Schreibtisch steht in der Pine Street. In der allgemeinen Stille ließ ich mich auf meinem Stuhl neben Angela nieder, meiner engsten Freundin bei der Zeitung, und lächelte ihr angespannt zu. Ich versuchte, meine Frage nicht zu laut durch den geräuschlosen Raum schallen zu lassen: »Weißt du irgendetwas über Wanzenbisse?«

Schon oft hatte ich scherzhaft gesagt, wenn ich je eine Tochter haben sollte, würde ich sie mir so wünschen wie Angela. Sie ist in vielerlei Hinsicht meine Heldin in der Redaktion. Als ich sie drei Jahre zuvor das erste Mal sah, war sie, milde gesagt, eine schüchterne junge Frau aus Queens, nur wenige Jahre älter als ich. Sie hatte von einer kleinen Wochenzeitung zurPostgewechselt und war seither unter dem Druck eines Großstadt-Boulevardblattes zu einer der begabtesten Reporterinnen derPostherangereift, die stapelweise unsere besten Storys ablieferte. An den meisten Freitagen sah man Angela spätabends, wie sie vier Storys gleichzeitig auf ihrem geteilten Bildschirm schrieb. Ich konnte nicht anders, als zu ihr aufzublicken. Jetzt brauchte ich wirklich ihren Rat.

Als Angela das gefürchtete Wort »Wanzen« hörte, rollte sie mit ihrem Stuhl etwas weiter von mir weg. »Erzähle mir bloß nicht, dass du welche hast«, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln. Ich wollte ihr gerade meinen Arm zeigen, aber bevor ich meine Leidensgeschichte loswerden konnte, läutete mein Telefon.

»Bist du bereit?« Es war Steve, der neue Redakteur der Sonntagsausgabe. Obwohl er gerade einmal Mitte 30 war, hatte man ihn bereits zum Chefredakteur der Sonntagsausgabe ernannt, für die ich arbeitete, und trotz seiner Freundlichkeit schüchterte er mich ein. Jeden Dienstag hatte jeder Reporter ein Präsentationsmeeting, in dem er seine Ideen für die nächste Sonntagsausgabe vorstellen musste. Als ich seine Stimme hörte, realisierte ich voller Panik, dass ich für dieses Wochenmeeting völlig unvorbereitet war. In der Regel konnte ich zumindest drei schlüssige Ideen vorstellen; nicht immer großartig, aber zumindest hatte ich immer etwas. Jetzt hatte ich gar nichts, nicht einmal genug, um mich mit einem Bluff über die nächsten fünf Minuten zu retten. Wie war das passiert? Es war unmöglich, dieses Meeting zu vergessen, ein wöchentliches Ritual, für das wir uns alle sorgfältig vorbereiteten, sogar an unseren freien Tagen.

Vergessen waren die Wanzen, mit weit aufgerissenen Augen schaute ich Angela an, als ich mit der gewagten Hoffnung aufstand, mir würde schon irgendetwas einfallen, wenn ich erst einmal in Steves Büro stünde.

Nervös ging ich die »Pine Street« zurück und in Steves Büro. Ich setzte mich neben Paul, Nachrichtenredakteur der Sonntagsausgabe und ein enger Freund von mir, der zugleich mein Mentor war, und das seit meines zweiten Studienjahrs. Ich nickte ihm zu, mied jedoch direkten Augenkontakt. Ich rückte meine zerkratzte große Annie-Hall-Brille zurecht, die ein publizistisch tätiger Freund einmal als meine persönliche Form der Empfängnisverhütung bezeichnet hatte, denn »niemand wird mit dir schlafen, wenn du diese Brille trägst«.

Einen Moment saßen wir alle schweigend da und ich versuchte, mich von Pauls vertrauter, überlebensgroßer Präsenz trösten zu lassen. Mit seinem vorzeitig weiß gewordenen Haarschopf und seiner Neigung, mit dem Wort »fuck« um sich zu werfen wie mit einer Präposition, ist er der Inbegriff des Urjournalisten und ein glänzender Redakteur.

Er hatte mir im Sommer meines zweiten Studienjahrs eine Chance als Reporterin gegeben, nachdem ein Freund der Familie uns miteinander bekannt gemacht hatte. Nach ein paar Jahren, in denen ich als Botin gearbeitet und Eilmeldungen und Informationen gesammelt hatte, mit denen ein anderer Reporter gefüttert wurde, der dann den Artikel schrieb, bot Paul mir meinen ersten großen Auftrag an: einen Artikel über Ausschweifungen in einem Burschenschaftshaus einer New Yorker Universität. Als ich mit einer Story und Fotos zurückkam, die mich beim Beer Pong2zeigten, war er von meiner Chuzpe beeindruckt; obgleich der Artikel nie gedruckt wurde, beauftragte er mich mit weiteren Storys, und so ging es weiter, bis ich 2008 in Vollzeit angestellt wurde. Als ich nun völlig unvorbereitet in Steves Büro saß, konnte ich nicht anders, als mich wie eine blutige Anfängerin zu fühlen, des Vertrauens und Respekts von Paul nicht würdig.

Die Stille wurde lastender, bis ich aufblickte. Steve und Paul starrten mich erwartungsvoll an, daher begann ich einfach zu sprechen in der Hoffnung, es würde irgendetwas dabei herauskommen. »Ich habe da eine Story auf einem Blog gesehen …«, begann ich, krampfhaft einige Fetzen vager Gedanken zusammenzufassen.

»Das ist nun wirklich nicht gut genug«, unterbrach Steve. »Du musst schon etwas Besseres bringen. Okay? Komm bitte nicht noch einmal mit leeren Händen hierher.« Paul nickte mit feuerrotem Kopf. Erstmals seit ich für meine Schulzeitung gearbeitet hatte, stand ich mit dem Journalismus auf Kriegsfuß. Ich verließ das Meeting, wütend auf mich selbst und bestürzt über meine Unfähigkeit.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Angela, als ich an meinen Schreibtisch zurückkehrte.

»Ja, ja, weißt du, ich bin einfach schlecht in meinem Job. Nichts Besonderes«, scherzte ich grimmig.

Sie lachte und zeigte dabei ihre charmant schiefen Schneidezähne.

»Ach komm, Susannah. Was ist denn passiert? Nimm es nicht so ernst. Du bist doch ein Profi.«

»Danke, Ang«, antwortete ich, einen Schluck von meinem lauwarmen Kaffee schlürfend. »Im Moment läuft es einfach nicht gut.«

Ich grübelte über das Desaster dieses Tages nach, als ich abends vom Gebäude der News Corp. Building an der Sixth Avenue Richtung Westen durch das Touristengewimmel am Times Square zu meiner Wohnung im Viertel Hell’s Kitchen ging. Als wollte ich absichtlich das Klischee eines New Yorker Reporters erfüllen, hatte ich eine beengte Einzimmerwohnung gemietet, in der ich auf einer Ausziehcouch schlief. Aus der gespenstisch ruhigen Wohnung überblickte man den Hof mehrerer Mietshäuser, und es waren keine Polizeisirenen und grummelnden Müllwagen, die mich häufig weckten, sondern die Klänge eines Akkordeons, auf dem ein Nachbar auf seinem Balkon spielte.

Noch immer war ich von meinen Bissen wie besessen, obwohl der Kammerjäger mir versichert hatte, ich habe nichts zu befürchten. Ich bereitete alles vor, damit er die Wohnung einsprühen konnte, und verbrachte die Nacht damit, alles wegzuwerfen, worin Wanzen möglicherweise Unterschlupf finden konnten. Meine geliebten Ausschnitte aus derPostwanderten in den Müll, Hunderte von Artikeln, die mich daran erinnerten, wie bizarr mein Job ist: Opfer und Verdächtige, gefährliche Slums, Gefängnisse und Krankenhäuser, Zwölfstundenschichten, die ich fröstelnd in Fotografenautos verbracht hatte, darauf wartend, Fotos von irgendwelchen bekannten Leuten zu »schießen«. Jede Minute davon hatte ich geliebt. Warum empfand ich das alles plötzlich als so schrecklich?

Als ich diese Schätze in Mülltüten stopfte, blieb mein Blick immer wieder einmal an einer Schlagzeile hängen, darunter waren die größten Storys meiner bisherigen Karriere: Zum Beispiel die, als es mir gelang, ein Exklusivinterview im Gefängnis mit dem Kindsentführer Michael Devlin an Land zu ziehen. Alle Medien des Landes waren heiß auf diese Story, ich war nur eine Studentin im Abschlussjahr an der Washington University in St. Louis, aber Devlin sprach zweimal mit mir. Damit war die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Nachdem der Artikel erschienen war, waren seine Anwälte außer sich und starteten eine Verleumdungskampagne gegen diePost,beantragten bei Gericht einen Maulkorberlass, während die örtlichen und nationalen Medien anfingen, im Live-TV über meine Methoden zu diskutieren und die Ethik von Interviews im Gefängnis und in der Boulevardpresse im Allgemeinen kritisch zu hinterfragen. Paul fing in dieser Zeit einige tränenreiche Anrufe von mir ab, was uns sehr verband, und letztlich stärkten mir sowohl die Zeitung als auch ihre Redakteure den Rücken. Auch wenn mich diese Erfahrung aus dem Konzept gebracht hatte, machte sie mir auch Appetit, und ich wurde von da an die hauseigene »Gefängnisreporterin«. Devlin wurde schließlich zu einer dreimal lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt.

Dann war da diese Story mit den Po-Implantaten, »Gefahr von hinten«3, eine Überschrift, die mich noch immer zum Lachen bringt. Ich musste undercover als Stripperin losziehen und mich bei einer Frau nach einer preiswerten Po-Verschönerung erkundigen, die diese illegal in einem Hotelzimmer in der Stadtmitte anbot. Als ich dort vor ihr stand, mit meinen Hosen um die Knöchel, versuchte ich, mich nicht beleidigt zu fühlen, als sie verkündete, sie müsste »pro Pobacke 1000 Dollar« nehmen, das war das Doppelte von dem, was sie einer Frau abgeknöpft hatte, die sich bei derPostgemeldet hatte.

Journalismus war aufregend; ich hatte es immer geliebt, eine Realität zu erleben, die »fabelhafter« war als jeder Roman, wobei ich noch nicht wusste, dass mein Leben soeben dabei war, so bizarr zu werden, dass es einer Titelgeschichte in meinem geliebten Boulevardblatt würdig wurde.

Obgleich ich bei dieser Erinnerung lächeln musste, wanderte auch dieser Ausschnitt auf den wachsenden Abfallhaufen – »wo er hingehört«, spottete ich, trotz der Tatsache, dass solche verrückten Storys das Leben für mich bedeutet hatten. Dieses gleichgültige Wegwerfen meiner jahrelangen Arbeit empfand ich in diesem Moment zwar als Notwendigkeit, es war jedoch völlig untypisch für mich. Ich war eine nostalgische Sammlernatur, hob Gedichte auf, die ich in der vierten Klasse geschrieben hatte, und gut 20 alte Tagebücher aus meiner Zeit in der Mittelstufe. Obgleich kaum eine Verbindung zwischen meiner Wanzenhysterie, meiner Vergesslichkeit in der Arbeit und meinem plötzlichen Drang auszumisten zu bestehen schien, wusste ich damals noch nicht, dass eine Wanzenmanie ein Symptom für eine Psychose sein kann. Dieses Problem ist nur wenig bekannt, denn Menschen, die unter einem Dermatozoenwahn, der auch als Ekbom-Syndrom bezeichnet wird, leiden, konsultieren aller Wahrscheinlichkeit nach einen Kammerjäger oder Dermatologen wegen ihres eingebildeten Parasitenbefalls und keinen Psychologen oder Psychiater, sodass die Diagnose häufig nicht gestellt wird. Mein Problem, so stellte sich heraus, war bei Weitem größer als ein juckender Unterarm und ein vergessenes Meeting.

Nachdem ich Stunden damit zugebracht hatte, alles wegzupacken, um eine wanzenfreie Zone zu schaffen, fühlte ich mich noch immer nicht besser. Als ich dort neben den schwarzen Müllsäcken kniete, durchfuhr mich plötzlich ein schrecklicher Schmerz in der Magengrube – diese wellenartige Angst, die man bei einer Tragödie oder einem Todesfall empfindet. Als ich wieder aufstand, fuhr ein scharfer Schmerz durch meinen Kopf, wie ein Migräneanfall, obgleich ich bisher nie daran gelitten hatte. Als ich ins Bad stolperte, reagierten meine Beine und mein Körper nur langsam und ich fühlte mich, als würde ich mich mühsam durch Treibsand arbeiten.Ich bekomme wohl eine Grippe, dachte ich.

~

Es war keine Grippe, genauso wenig, wie es in meiner Wohnung Wanzen gab. Wahrscheinlich jedoch hatte irgendein Krankheitserreger meinen Körper befallen, ein kleiner Keim, der alles in Bewegung setzte. Vielleicht ein Krankheitserreger von dem Geschäftsmann, der mich wenige Tage zuvor in der U-Bahn angeniest hatte und Millionen Viren auf uns Mitfahrer in dem U-Bahn-Wagen losgelassen hatte? Oder war der Erreger in irgendeinem Essen gewesen oder durch eine winzige Hautwunde in mich eingedrungen, vielleicht durch einen dieser rätselhaften Wanzenbisse?

Darüber denke ich immer wieder nach.

Die Ärzte wissen tatsächlich nicht, wie alles anfing. Klar ist, dass, »wenn dieser Mann Sie angeniest hätte, Sie lediglich eine kleine Erkältung bekommen hätten«. Bei mir jedoch kehrte sich das ganze Universum um und ich wäre um ein Haar für den Rest meines Lebens in einer Nervenheilanstalt gelandet.

2Auch Bier-Pong oder Beirut genannt, ein Spiel, bei dem Ping-Pong Bälle in Becher geworfen werden. (Anm. d. Red.)

3Im Original: »Rear and Present Danger«.

Kapitel 2

Das Mädchen im schwarzen Spitzen-BH

Ein paar Tage später schienen die Migräne, das Präsentationsmeeting und die Wanzen wie eine ferne Erinnerung, als ich entspannt und zufrieden im Bett meines Freundes aufwachte. Am Vorabend hatte ich Stephen zum ersten Mal meinem Vater und meiner Stiefmutter Giselle in deren herrlichem Stadthaus in Brooklyn Heights vorgestellt. Es war ein bedeutsamer Schritt in unserer vier Monate alten Beziehung. Meine Mutter hatte Stephen bereits kennengelernt – meine Eltern hatte sich scheiden lassen, als ich 16 war, und ich war ihr immer näher gestanden, sodass wir sie auch jetzt öfter sahen –, mein Vater konnte jedoch einschüchternd sein, wie ich wusste, und wir beide hatten nie ein sehr offenes Verhältnis gehabt. (Obgleich Papa und Giselle bereits seit über einem Jahr verheiratet waren, hatten sie meinem Bruder und mir erst kürzlich von ihrer Heirat erzählt.) Es war jedoch ein herzliches und angenehmes Abendessen gewesen mit Wein und gutem Essen. Stephen und ich hatten den Abend als Erfolg gewertet.

Mein Vater gestand später, bei diesem ersten Treffen habe er Stephen eher als einen Platzhalter gesehen und nicht als dauerhaften Freund, doch ich konnte dem überhaupt nicht zustimmen. Zwar war es noch nicht lange her, dass wir uns verabredeten, Stephen und ich hatten uns jedoch bereits sechs Jahre zuvor kennengelernt, als ich 18 war und wir beide in demselben Plattenladen in Summit in New Jersey gejobbt hatten. Damals tauschten wir bei der Arbeit scherzhafte Neckereien aus, die Beziehung ging jedoch nicht tiefer, vor allem weil er sieben Jahre älter ist als ich – für einen Teenager ein undenkbarer Altersunterschied. Im vergangenen Herbst waren wir uns dann zufällig bei der Party eines gemeinsamen Freundes in einer Bar im East Village wieder begegnet. Wir hatten mit unseren Sierra-Nevada-Bierflaschen angestoßen und damit unsere gemeinsame Abneigung gegen Shorts und unsere Leidenschaft für DylansNashville Skylinebesiegelt. Stephen war attraktiv in dieser lässigen Ich-mache-die-ganze-Nacht-durch-Art: ein Musiker mit langem, ungepflegten Haar, dem dünnen Körperbau eines Rauchers und einem enzyklopädischen Musikwissen. Sein attraktivster Zug waren jedoch immer seine vertrauensvollen und aufrichtigen Augen. Diese Augen, die nichts zu verbergen hatten, gaben mir das Gefühl, ihn schon immer zu kennen.

An diesem Morgen, als ich ausgestreckt in seinem Bett in seinem (vergleichsweise) riesigen Apartment in Jersey City lag, stellte ich fest, dass ich den Platz für mich alleine hatte. Stephen war bereits unterwegs zu einer Probe mit seiner Band und würde den Rest des Tages fort sein, ich konnte entweder den Tag hier verbringen oder gehen. Etwa einen Monat zuvor hatten wir uns gegenseitig unsere Wohnungsschlüssel gegeben. Es war das erste Mal, dass ich dies mit einem Freund gemacht hatte, aber ich zweifelte nicht daran, dass es richtig war. Wir fühlten uns rundum wohl miteinander, überwiegend glücklich, sicher und voller Vertrauen.

Als ich so dort lag, überkam mich jedoch plötzlich und völlig unerwartet ein zwingender Gedanke:Lies seine E-Mails.Diese irrationale Eifersucht war absolut untypisch für mich; ich war noch nie versucht gewesen, einen derartigen geistigen Übergriff zu begehen. Ohne jedoch wirklich zu überlegen, was ich da eigentlich tat, öffnete ich sein MacBook und fing an, durch seinen Posteingang zu scrollen. Ich schaute die alltäglichen E-Mails mehrerer Monate durch, bis ich triumphierend eine neuere von seiner Exfreundin entdeckte. In der Betreffzeile stand: »Gefällt es Dir?« Ich klickte die Mail an, mein Herz schlug wild in meiner Brust. Sie hatte ihm ein Foto von sich geschickt, auf dem sie mit Schmollmund und einer neuen rotbraunen Frisur verführerisch posierte. Es sah nicht so aus, als habe Stephen je darauf geantwortet. Dennoch musste ich das heftige Verlangen unterdrücken, dem Computer einen Hieb zu versetzen oder ihn durchs Zimmer zu werfen. Anstatt es dabei bewenden zu lassen, gab ich meiner Wut noch weiter nach und grub weiter, bis ich die Korrespondenz gefunden hatte, die ihre jahrelange Beziehung begleitet hatte. Die meisten dieser E-Mails endeten mit drei Worten: »Ich liebe Dich.« Stephen und ich hatten das bisher noch nicht zueinander gesagt. Ich klappte den Laptop zu, ich war wütend, ohne genau sagen zu können, warum. Ich wusste, dass er nicht mehr mit ihr gesprochen hatte, seit wir uns trafen, und dass er nichts Unpassendes getan hatte. Aber ich fühlte mich nun gezwungen, woanders nach Anzeichen für einen Verrat zu suchen.

Ich schlich mich zu seiner gelben Ikea-Kommode – und erstarrte.Was ist, wenn er Kameras laufen hat?Also nee. Wer bitte fertigt Videoaufzeichnungen seiner Wohnung an, während er außer Haus ist, abgesehen von übereifrigen Eltern, die einen neuen Babysitter ausspionieren wollen? Aber der Gedanke ließ sich nicht verscheuchen:Was ist, wenn er mich beobachtet? Wenn dies ein Test ist?Obgleich mich dieser mir unbekannte Verfolgungswahn erschreckte, hielt er mich nicht davon ab, die Schubladen aufzuziehen und seine Kleidung zu durchwühlen, sie auf den Boden zu werfen, bis ich den Haupttreffer gefunden hatte: eine Pappschachtel, die mit Aufklebern der Band dekoriert war und Hunderte von Briefen und Fotos enthielt, die meisten von Exfreundinnen. Es gab eine lange gerahmte Serie von Fotos aus einem Passfotoautomaten mit seiner letzten Exfreundin: Sie spitzten beide die Lippen, schauten sich sehnsüchtig an, lachten und küssten sich dann. Ich konnte es vor mir sehen, wie es passierte, wie das Daumenkino eines Kindes: Ich war Zeuge, wie sie sich verliebten. Als Nächstes kam ein Foto von demselben Mädchen in einem durchsichtigen Spitzen-BH, ihre Hände hatte sie auf ihre knochigen Hüften gelegt. Ihr Haar war blond gefärbt, aber es sah attraktiv aus, nicht nuttenhaft. Unter den Fotos lagen die Briefe, eine Handvoll handgeschriebener Mitteilungen, die zurückgingen bis in Stephens Zeit als Teenager. Ganz oben ergoss sich dieselbe Freundin in Äußerungen darüber, wie sehr sie ihn während ihres Aufenthalts in Frankreich vermisste. Sie schrieb das Wort »ihr« falsch und gebrauchte stattdefinitely(»bestimmt, deutlich, eindeutig, endgültig«)»defiantely«(»trotzig«, Anm. d. Red.),was mich so erheiterte, dass ich in einer Art Gegacker laut auflachte.

Als ich nach dem nächsten Brief griff, sah ich mich selbst im Spiegel des Kleiderschranks, ich trug nur einen BH und Unterwäsche und hatte Stephens vertrauliche Liebesbriefe zwischen meine Oberschenkel geklemmt. Mein Spiegelbild warf mir eine fremde Person zurück; mein Haar war verstrubbelt und mein Gesicht verzerrt und fremd.So etwas tue ich nie,dachte ich angeekelt.Was stimmt nicht mit mir? Noch nie in meinem Leben habe ich in den Sachen eines Freundes herumgeschnüffelt.

Ich lief zum Bett und schaute auf mein Handy: Ich hatte zwei Stunden damit verbracht. Es kam mir vor wie fünf Minuten. Ein paar Augenblicke später kam die Migräne wieder, ebenso die Übelkeit. Da bemerkte ich zum ersten Mal, dass sich meine linke Hand seltsam anfühlte, ein Kribbeln und Stechen wie bei einer extrem eingeschlafenen Hand. Ich ballte meine Hand immer wieder zur Faust und öffnete sie, um das Kribbeln loszuwerden, aber es wurde nur noch schlimmer. Ich rannte zur Kommode, um die Sachen wieder zu verstauen – er sollte nicht merken, dass ich geschnüffelt hatte. Dabei versuchte ich, das unangenehme Kribbeln zu ignorieren. Bald jedoch wurde meine linke Hand völlig taub.

Kapitel 3

Carota

Das Kribbeln, das viele Tage unvermindert anhielt, beunruhigte mich nicht annähernd so sehr wie das Schuldgefühl und die Fassungslosigkeit, die ich wegen meines Verhaltens in Stephens Schlafzimmer an diesem Sonntagvormittag empfand. Am nächsten Tag in der Arbeit bat ich die Kulturredakteurin Mackenzie um Hilfe, eine Freundin, die so überkorrekt ist wie eine Figur aus Mad Men.

»Ich habe etwas wirklich Dummes gemacht«, gestand ich ihr außerhalb des News-Corp.-Gebäudes in einem schlecht sitzenden Wintermantel, während ich mich unter einen Vorsprung drückte. »Ich habe in Stephens Wohnung herumgeschnüffelt. Ich fand alle Fotos von seiner Exfreundin, habe mir das alles angeschaut. Ich war wie besessen.«

Sie warf mir ein wissendes halbes Lächeln zu, während sie ihr Haar zurückwarf. »Das ist alles? Das ist doch nicht so schlimm.«

»Mackenzie, das ist psychomäßig. Meinst du, meine Empfängnisverhütung verursacht hormonelle Veränderungen?« Ich hatte vor Kurzem begonnen, ein Hormonpflaster zu verwenden.

»Ach, komm schon«, entgegnete sie. »Das machen doch alle Frauen, speziell in New York, Susannah. Wir sind Konkurrentinnen. Also im Ernst, sei nicht so hart mit dir selbst. Versuche einfach, es nicht noch mal zu machen.« Mackenzie gab später zu, dass sie weniger über mein Herumschnüffeln beunruhigt gewesen war als durch meine Überreaktion darauf.

Ich entdeckte Paul, der in der Nähe eine Zigarette rauchte, und stellte ihm dieselbe Frage. Ich konnte mich darauf verlassen, dass er es mir direkt sagen würde. »Nein, du bist nicht verrückt«, versicherte er mir. »Und du solltest dir keine Sorgen machen. Jeder Kerl hebt Fotos oder irgendetwas von seinen Exfreundinnen auf. Das ist die Kriegsbeute«, erklärte er mir kollegial. Auf Paul konnte man immer zählen, wenn es um den männlichen Blickpunkt ging, weil er so außerordentlich männlich ist: Er isst kräftig (einen doppelten Cheeseburger mit Bacon und Bratensoße dazu), er spielt riskant (einmal verlor er auf einen Schlag 12.000 US-Dollar am Blackjack-Tisch im Borgata in Atlantic City) und wettet mit hohem Einsatz (Johnnie Walker Blue, wenn er gewinnt, Macallan 12, wenn er verliert).

Als ich an meinen Schreibtisch zurückging, merkte ich, dass die Taubheit in meiner linken Hand wieder da war – vielleicht war sie auch gar nicht weg gewesen? – und sich nun auf meiner linken Körperseite bis zu den Zehen hinunterzog. Das war verwirrend; ich wusste nicht, ob ich beunruhigt sein sollte oder nicht, und rief deshalb Stephen an.

»Ich kann es nicht erklären, es fühlt sich einfach taub an«, sagte ich am Telefon und hielt dabei den Kopf parallel zum Schreibtisch, weil die Telefonschnur so verdreht war.

»Fühlt es sich an wie eingeschlafen?«, fragte er. Ich hörte ihn im Hintergrund ein paar Akkorde auf seiner Gitarre anschlagen.

»Ja, vielleicht. Ich weiß nicht. Es ist eigenartig. Ich habe so etwas noch nie gehabt«, sagte ich.

»Frierst du?«

»Nicht besonders.«

»Gut, also wenn es nicht weggeht, solltest du wohl zum Arzt gehen.« Ich verdrehte die Augen. Das sagte einer, der seit Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen war. Ich brauchte eine andere Meinung. Als Stephen und ich einhängten, drehte ich mich auf meinem Stuhl zu Angela.

»Musstest du niesen oder hast du dich irgendwie komisch gebeugt?«, fragte sie. Ihre Tante hatte kürzlich geniest und dabei hatte sich eine Bandscheibe verschoben, wodurch ihre Hände taub geworden waren.

»Ich denke, du solltest das checken lassen«, zwitscherte eine andere Reporterin von ihrem Schreibtisch nebenan. »Vielleicht habe ich zu viele Folgen vonMystery Diagnosis – geheimnisvolle Krankheitengesehen, aber es gibt da eine Menge unheimlichen Scheiß.«

Damals lachte ich das einfach noch weg, aber in meinem Kopf flackerten Zweifel auf. Obwohl meine Kollegen von Berufs wegen mit Übertreibungen um sich warfen, sorgte die Besorgnis, die ich in ihren Stimmen hörte, dafür, dass ich meine Haltung des Laisser-faire überdachte. An diesem Tag beschloss ich in der Mittagspause schließlich, meinen Frauenarzt Eli Rothstein anzurufen, der mit der Zeit immer mehr ein Freund geworden war; er hatte sogar schon meine Mutter betreut, als sie mit mir schwanger gewesen war.

Meistens war Rothstein ganz entspannt; ich war jung und im Allgemeinen gesund, daher war ich es gewöhnt, dass er mir sagte, es sei alles normal. Als ich ihm jedoch meine Symptome beschrieb, verschwand die Wärme aus seiner Stimme: »Ich möchte, dass Sie so bald wie möglich einen Neurologen aufsuchen, und ich möchte, dass Sie sofort die Empfängnisverhütung absetzen.« Er vereinbarte für mich noch für den Nachmittag einen Termin bei einem prominenten Neurologen.

Über seine Reaktion beunruhigt, rief ich ein Cab und machte mich auf den Weg stadtaufwärts; das Taxi schlängelte sich durch den frühen Nachmittagsverkehr, bevor es mich vor einem eindrucksvollen Gebäude der Upper East Side absetzte, in deren Lobby einige Portiers Dienst taten. Einer der Portiers wies mir den Weg zu einer nicht gekennzeichneten Holztüre auf der rechten Seite. Der Kontrast zwischen dem Eingangsbereich mit Kristall-Kronleuchter und der düsteren Praxis bereitete mir Unbehagen, ich fühlte mich in die 1970er-Jahre zurückversetzt. Drei ungleiche Stühle mit Tweedbezug und eine hellbraune Flanellcouch dienten als Sitzgelegenheiten. Ich entschied mich für die Couch und versuchte, nicht in der Mitte einzusinken. An den Wänden des Wartezimmers hingen ein paar Bilder: eine Tuscheskizze eines gottähnlichen Mannes mit langem weißen Bart, der ein Instrument hielt, das verdächtig nach einer chirurgischen Nadel aussah; eine Schäferszene und ein Hofnarr. Die planlose Einrichtung ließ mich überlegen, ob hier alles, einschließlich der Möbel, bei einem Garagenflohmarkt gekauft oder vom Sperrmüll geholt worden war.

Am Schreibtisch der Empfangsdame hingen einige nachdrückliche Schilder:BITTE IN DER LOBBY NICHT TELEFONIEREN ODER AUF PATIENTEN WARTEN!!! ALLE ZUZAHLUNGEN SIND VOR DEM TERMIN BEIM ARZT ZU ENTRICHTEN!!!

»Ich habe einen Termin bei Herrn Dr. Bailey«, sagte ich. Ohne ein Lächeln und ohne mich überhaupt anzuschauen, schob die Empfangsdame ein Klemmbrett in meine Richtung. »Ausfüllen. Warten.«

Mühelos arbeitete ich mich durch das Formular. Nie wieder würde eine Krankengeschichte so einfach sein. Nehmen Sie Medikamente? Nein. Leiden Sie unter Allergien? Nein. Frühere Operationen oder Krankheiten? Hier hielt ich inne. Vor etwa fünf Jahren war an meinem unteren Rücken ein Melanom diagnostiziert worden. Es war frühzeitig entdeckt worden und konnte mit einem kleinen chirurgischen Eingriff entfernt werden. Keine Chemo oder Sonstiges. Ich schrieb dies rasch hin. Trotz dieses Schreckens einer frühen Krebserkrankung war ich lässig, manche würden sagen, unreif hinsichtlich meiner Gesundheit geblieben; ich war von Hypochondrie so weit entfernt, wie man nur sein kann. Gewöhnlich waren mehrere flehende Anrufe meiner Mama nötig, damit ich meine regelmäßigen Arzttermine überhaupt wahrnahm, daher war es beachtlich, dass ich alleine und ohne äußeren Anstoß hier war. Der Schock über die untypischen Besorgnis meines Gynäkologen hatte mich nervös gemacht. Ich brauchte jetzt Antworten.

Um Ruhe zu bewahren, fixierte ich das seltsamste und bunteste Bild – ein verzerrtes, abstraktes menschliches Gesicht mit schwarzen Konturen und kräftigen Flecken in Primärfarben, roten Pupillen, gelben Augen, blauer Haut und einer schwarzen, pfeilähnlichen Nase. Das Gesicht zeigte ein lippenloses Lächeln und einen geistesgestörten Blick. Dieses Gemälde würde mir nicht mehr aus dem Kopf gehen und sich in den kommenden Monaten mehrere Male neu einprägen. Seine beunruhigende, unmenschliche Verzerrung wirkte auf mich manchmal beruhigend, manchmal feindlich, manchmal in meinen finstersten Stunden auch anstachelnd. Wie sich herausstellte, war es ein Miró von 1978 mit dem TitelCarota,italienisch für »Karotte«.

»CALLAAHAANN«, kreischte die Arzthelferin, meinen Namen falsch betonend. Es war ein üblicher, entschuldbarer Fehler. Ich trat vor und sie führte mich in ein leeres Untersuchungszimmer und händigte mir einen grünen Kittel aus. Nach wenigen Momenten erklang hinter der Tür der Bariton eines Mannes: »Klopf, klopf.« Dr. Saul Bailey war ein großväterlich aussehender Mann. Er stellte sich vor und streckte mir seine linke Hand entgegen, die weich, aber kräftig war. In meiner eigenen kleineren Hand fühlte sie sich fleischig, bedeutend an. Er sprach schnell. »Sie sind also Elis Patientin«, begann er. »Sagen Sie mir, was los ist.«

»Ich weiß es nicht wirklich. Ich habe diese seltsame Taubheit.« Ich schwenkte meine linke Hand vor ihm, um dies zu illustrieren. »Und in meinem Fuß.«

»Hmmm«, antwortete er, während er meinen ausgefüllten Bogen überflog. »Hatten Sie schon einmal mit Borreliose zu tun?«

»Nö.« In seinem Auftreten war irgendetwas, was in mir den Wunsch weckte, ihn zu beruhigen, zu sagen: »Vergessen Sie es, mir geht es gut.« Irgendwie sorgte er dafür, dass ich ihm keine Last sein wollte.

Er nickte. »Okay. Dann wollen wir mal sehen.«

Er führte eine typische neurologische Untersuchung durch. Es sollte die erste von vielen Hundert weiteren sein. Er testete meine Reflexe mit einem Hammer, verengte meine Pupillen durch ein Licht, prüfte meine Muskelkraft, indem er seine Hände gegen meine ausgestreckten Arme drückte, und kontrollierte meine Koordination, indem er mich mit geschlossenen Augen die Finger an die Nase führen ließ. Schließlich notierte er: »Ohne pathologischen Befund.«

»Ich möchte Ihnen gerne Blut abnehmen für eine Routineuntersuchung und würde gerne eine MRT-Untersuchung machen. Ich sehe nichts, was außerhalb der Norm wäre, aber einfach um sicherzugehen, würde ich das gerne machen«, fügte er hinzu.

Normalerweise hätte ich die MRT-Untersuchung abgelehnt, aber an diesem Tag beschloss ich, sie durchzuziehen. Ein junger, schlaksiger medizinisch-technischer Assistent (MTRA) Anfang 30 empfing mich im Wartezimmer des Labors, begleitete mich zu einem Umkleideraum und gab mir die Anweisung, alle Kleidung und jeglichen Schmuck abzulegen, damit diese das Gerät nicht stören könnten. Nachdem er gegangen war, zog ich mich aus, faltete meine Klamotten zusammen, zog meinen Glück bringenden Goldring ab und legte ihn in ein Schließfach. Der Ring war ein Geschenk meines Stiefvaters zum Studienabschluss – er war aus 14-karätigem Gold mit einem schwarzen Hämatit und Katzenauge, von dem einige Kulturen glauben, er könne böse Geister abwehren. Der MTRA erwartete mich vor dem Umkleidebereich, lächelte und führte mich in den MRT-Raum, wo er mir auf die Untersuchungsliege half, einen Helm aufsetzte, eine Decke über meine bloßen Beine legte und dann hinausging, um die Untersuchung aus einem gesonderten Raum zu überwachen.

Nach einer halben Stunde, während der ich in dem Gerät wiederholtes, sehr nahes Dröhnen aushalten musste, hörte ich entfernt die Stimme des MRTA: »Gut gemacht. Wir sind fertig.«

Die Liege fuhr aus dem Gerät, ich nahm den Helm ab, schob die Decke weg und stand auf, wobei ich mich, nur mit dem Klinikkittel bekleidet, unangenehm exponiert fühlte.

Der MRTA grinste mich an und lehnte sich gegen die Wand. »Was machen Sie denn beruflich?«

»Ich bin Zeitungsreporterin«, antwortete ich.

»Oh yeah, bei welcher?«

»Bei derNew York Post.«

»Nee oder?! Noch nie zuvor bin ich einem echten Reporter begegnet«, sagte er, während wir zurück zum Umkleideraum gingen. Ich antwortete nicht, zog mich so schnell es ging wieder an und eilte zu den Aufzügen, um ein weiteres Gespräch mit dem MTRA zu vermeiden, dessen Flirtversuch mir lästig war. Eine MRT-Untersuchung ist zwar unangenehm, aber man merkt weiter nichts davon. Irgendetwas an diesem Arztbesuch, insbesondere der unschuldige Austausch mit dem MRTA, beschäftigte mich jedoch noch lange nach dem Termin, fast so wie das GemäldeCarota. Mit der Zeit nahm das leichte Flirten des MRTA im Rückblick eine merkwürdige Böswilligkeit an, die ausschließlich meinem aufgewühlten Gehirn entsprang.

Erst Stunden später, als ich untätig meinen Ring an meiner weiterhin tauben linken Hand drehen wollte, bemerkte ich das wirkliche Unglück dieses beunruhigenden Tages: Ich hatte meinen Glücksring in dem Schließfach vergessen.

~

»Ist es schlimm, dass meine Hand die ganze Zeit über kribbelt?«, fragte ich Angela am nächsten Tag in der Arbeit wieder. »Ich fühle mich taub und gar nicht wie ich selbst.«

»Meinst du, du hast eine Grippe?«

»Ich fühle mich schrecklich. Ich glaube, ich habe Fieber«, antwortete ich, auf meinen unberingten linken Finger blickend. Meine Übelkeit passte zu meiner Unruhe wegen des Rings. Sein Fehlen machte mich ganz verrückt, aber ich hatte nicht den Nerv, in der Praxis anzurufen und zu erfahren, dass er weg sei. Stattdessen klammerte ich mich völlig irrational an die leere Hoffnung: Es ist besser, es gar nicht zu wissen, überzeugte ich mich selbst. Ich wusste auch, dass ich zu krank war, um später am Abend zu dem Auftritt von Stephens Band, den Morgues, in einer Bar in Greenpoint, Brooklyn, zu gehen, wodurch ich mich noch schlechter fühlte. Angela, die mich betrachtete, meinte: »Du siehst nicht sehr fiebrig aus. Soll ich dich nicht besser nach Hause bringen?«

Normalerweise hätte ich ihr Angebot abgelehnt, besonders weil wir Freitagabend und Redaktionsschluss hatten, was uns in der Regel bis 22 Uhr oder länger im Büro hielt, aber mir war so übel, ich fühlte mich so krank und elend, dass ich mich nach Hause begleiten ließ. Der Weg, für den ich normalerweise fünf Minuten brauchte, dauerte an diesem Abend eine halbe Stunde, weil ich praktisch nach jedem zweiten Schritt wegen eines trockenen Würgereizes stehen bleiben musste. Als wir in meiner Wohnung angelangt waren, bestand Angela darauf, dass ich meinen Arzt anriefe, um etwas zu erfahren. »Das ist nicht normal. Dafür bist du einfach zu selten krank«, meinte sie.

Ich wählte die Nummer der Hotline, die außerhalb der Sprechzeiten galt, und bekam bald einen Rückruf meines Gynäkologen, Herrn Dr. Rothstein.

»Ich kann Ihnen mitteilen, dass wir gute Neuigkeiten haben. Das MRT von gestern war normal. Und wir haben die Möglichkeit ausgeschlossen, dass Sie einen Schlaganfall oder ein Blutgerinnsel hatten, beides Dinge, über die ich ehrlich gesagt wegen der Empfängnisverhütung besorgt war.«

»Das ist großartig.«

»Ja, aber ich bitte Sie, die Empfängnisverhütung weiterhin abgesetzt zu lassen, nur um sicherzugehen«, fuhr er fort. »Das Einzige, was das MRT gezeigt hat, war eine kleine Vergrößerung einiger Lymphknoten im Nacken, was mich vermuten lässt, dass es sich um ein Virus handelt. Möglicherweise Pfeiffer’sches Drüsenfieber (Mononukleose), allerdings sind die Ergebnisse der Blutuntersuchung noch nicht da, um dies nachzuweisen.«

Ich musste laut lachen. Mono – Pfeiffer’sches Drüsenfieber – als über 20-Jährige! Als ich eingehängt hatte, schaute Angela mich erwartungsvoll an. »Mono, Angela. Mono.«

Die Spannung wich aus ihrem Gesicht und sie lachte. »Das ist doch nicht dein Ernst? Du hast die Kusskrankheit. Bist du 13 oder was?«

Kapitel 4

The Wrestler

Mono. Es war eine Erleichterung, ein Wort für das zu haben, was mich quälte. Ich den verbrachte Samstag im Bett und bedauerte mich selbst, sammelte aber genügend Kraft, um am nächsten Abend mit Stephen, seiner ältesten Schwester Sheila und ihrem Mann Roy eine Ryan-Adams-Show im benachbarten Montclair zu besuchen. Vor der Show trafen wir uns in einem dortigen Irish Pub, wo wir im Essbereich unter einem tief hängenden antiken Kronleuchter saßen, der kleine Lichtbündel ausstrahlte. Ich bestellte Fish and Chips, obgleich mir alleine das Foto von dem Gericht Übelkeit verursachte. Stephen, Sheila und Roy machten Small Talk, während ich stumm danebensaß. Ich hatte Sheila und Roy noch nicht oft gesehen und hasste es, mir vorzustellen, welchen Eindruck ich wohl auf sie machte, konnte mich jedoch nicht aufraffen, mich am Gespräch zu beteiligen.Sie müssen denken, dass ich keinerlei Persönlichkeit habe.Als mein Essen kam, bedauerte ich sofort, es bestellt zu haben. Der Kabeljau, in einer dicken Hülle aus Backteig, schien zu glänzen. Das Fett auf der Oberfläche glitzerte im Licht des Kronleuchters. Auch die Pommes sahen entsetzlich fettig aus. Ich schob das Essen auf dem Teller herum und hoffte, niemand würde bemerken, dass ich tatsächlich gar nichts davon aß.

Wir kamen frühzeitig zu der Show, die Konzerthalle war jedoch bereits sehr voll. Stephen wollte möglichst nah an der Bühne sein, daher schob er sich durch die Menge nach vorne. Ich versuchte, ihm zu folgen, aber als ich mich weiter in die Menschenmasse vorschob, wurde mir schwindlig und übel.

Ich rief Stephen zu: »Ich kann das nicht!«

Stephen gab seinen Einsatz auf und kam zurück zu mir ans Ende des Saales, wo ich mich gegen eine Säule lehnen musste, um mich auf den Beinen halten zu können. Meine Handtasche fühlte sich an, als wiege sie an die 20 Kilo und ich mühte mich damit ab, sie über meine Schulter gehängt zu tragen, da nicht genügend Platz war, um sie auf den Boden zu stellen.

Die Hintergrundsmusik wurde lauter. Ich mag Ryan Adams und versuchte mitzujubeln, aber meine Hände brachten nur ein schwaches Klatschen zustande. Hinter der Band hingen zwei etwa eineinhalb Meter große Neonlampen, die ihr blaurosa Licht in mein Blickfeld strahlten. Ich spürte den Puls der Menge. Ein Mann links neben mir zündete sich einen Joint an, der süßliche Geruch des Rauchs verursachte mir Brechreiz. Der Atem des Mannes und der Frau hinter mir strichen heiß über meinen Nacken. Ich konnte mich nicht auf die Musik konzentrieren. Die Show war eine Tortur.

Anschließend quetschten wir uns in Sheilas Auto, damit sie uns zurück zu Stephens Wohnung in Jersey City fuhr. Die drei unterhielten sich darüber, wie fantastisch die Band gewesen war, aber ich blieb schweigsam. Meine Schüchternheit erschien Stephen befremdlich; ich war sonst nicht der Mensch, der seine Meinung für sich behält.

»Hat dir die Show gefallen?«, fragte Stephen, der mich anstupste und nach meiner Hand griff.

»Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern.«

~

Nach diesem Wochenende ging ich drei Tage nicht zur Arbeit. Das ist für jeden viel, besonders jedoch für einen Reporter-Neuling. Selbst wenn ich bis vier Uhr morgens für die Post im Einsatz war, um einen Artikel über die Klubs des Meatpacking District zu schreiben, war ich wenige Stunden später immer pünktlich im Büro. Ich hatte mich noch nie krankgemeldet.

Schließlich beschloss ich, meiner Mutter von der Diagnose zu erzählen, die sehr bekümmert war, als ich ihr von der Taubheit erzählte, vor allem weil diese nur auf einer Körperseite auftrat. Ich versicherte ihr, das sei nur wegen der Mononukleose. Mein Vater schien am Telefon weniger besorgt, als ich jedoch den dritten Tag nicht arbeiten ging, bestand er darauf, nach Manhattan zu kommen und mich zu sehen. Wir trafen uns in einem recht leeren AMC-Kino am Times Square zu einer Frühvorstellung vonThe Wrestler.