Feuerpanorama - Sergej Gerassimow - E-Book + Hörbuch

Feuerpanorama Hörbuch

Sergej Gerassimow

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Beschreibung

Am 24. Februar 2022 startet die russische Armee einen großangelegten Überfall auf die Ukraine. Schnell gerät die nah an der Grenze gelegene Millionenstadt Charkiw unter starken Beschuss. Hunderttausende Menschen fliehen. Der ukrainische Schriftsteller Sergej Gerassimow jedoch bleibt in der umkämpften Frontstadt. Bald schon fehlt es an sauberem Wasser, Essen und medizinischer Infrastruktur. Die Thermometer zeigen hohe Minusgrade, die Menschen frieren. Gerassimow beginnt über die Absurdität eines Alltags im Krieg zu schreiben. Das Ergebnis ist ein aufwühlendes Zeitzeugnis, ein Appell zum Frieden und zur Verständigung.

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Zeit:6 Std. 50 min

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Über das Buch

Aufzeichnungen aus einer brennenden Stadt

»Ich lebe in der Stadt Charkiw, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Das kann mir doch nicht passieren, denke ich. Dann sehe ich das rote Glühen von Explosionen, die noch jenseits des Horizonts liegen.

Jetzt kann ich es glauben:

Es kann mir passieren.

Es kann jeden treffen.

Es kann dem ganzen Land passieren, Europa, der ganzen Welt, der ganzen Geschichte.«

INHALT

VORWORT

BEGINN // WASSER // ESSEN // DER PETSCHENIHY-SEE // MENSCHEN

24. Februar 2022

DIE PIPELINE // SOLDATEN IN DER STADT

27. Februar 2022

HASS // RADIOAKTIVES JOD // DIE GROSSE BOMBARDIERUNG

28. Februar 2022

DIE KUNST DER SELBSTORGANISATION

1. März 2022

EIN TAXIFAHRER // HORIZONT // BUSCHROSEN

2. März 2022

LIEBE

3. März 2022

BOMBEN IN DER NACHT // KETTENREAKTION // DIE ESSENSSCHLANGE // PATRIOTISMUS

4. März 2022

DER TYP, DER UM 8 UHR AUFSTEHT

5. März 2022

KLASSENZIMMER // HASS

6. März 20228

DIE, DIE WIR ZURÜCKLASSEN

7. März 2022

WURST // ROSA FLUGZEUGE

8. März 2022

SCHÖNHEIT // DENKMÄLER // DIE MAUS // MILITÄRISCHE ANGEMESSENHEIT

9. März 2022

TENNISSPIELER

10. März 2022

EIN KALTER TAG // EIN KALTER TAG (2) // IN DER APOTHEKE

11. März 2022

ZERSTÖRUNG

12. März 2022

KIRCHEN // PUTINOPHILE

13. März 2022

DIE, DIE ES NICHT FERTIGBRINGEN

14. März 2022

PLÜNDERER // BRÜCKEN ÜBER DEN DONEZ // DINGE, DIE WIR NICHT ÄNDERN KÖNNEN

15. März 2022

LIEDER SINGEN // RUSSISMUS // DAS WAISENHAUS

16. März 2022

TELEFONGESPRÄCHE

17. März 2022

RUSSISMUS (2)

18. März 2022

BALDRIAN // EIN HUND AUS SALTIWKA // HAUFEN VOR DER METALLTÜR // LANGEWEILE

19. März 2022

PSYCHOLOGIE

20. März 2022

DURST // DER YATRAN

22. März 2022

OBSZÖNITÄTEN // DAS GASVENTIL // TENNISSPIELER (2)

23. März 2022

PATRIOTISMUS (2) // PATRIOTISMUS (3) // RAUCH // HORIZONT (2)

25. März 2022

PALJANYZJA // NATIONALISMUS // SPRACHEN // UND DAS LEBEN GEHT WEITER

26. März 2022

FRAUEN

28. März 2022

BUSCHROSEN (2)

30. März 2022

DAS ENDE EINES IMPERIUMS // DAS ENDE EINES IMPERIUMS (2)

31. März 2022

FLÜCHTLINGE

7. April 2022

EIN REGNERISCHER TAG

12. April 2022

NACHLÄSSIGKEIT

15. April 2022

UNGEDULD DES HERZENS

17. April 2022

ANGST

18. April 2022

VORWORT

Dies ist ein sehr schnell geschriebenes Buch. Man muss schnell schreiben, wenn man das unter fallenden Bomben und fliegenden Granaten tut. Selbst wenn ein oder zwei Stunden lang keine Bomben und Granaten niedergehen, muss man trotzdem schnell sein, wenn man möglichst viele flüchtige Fakten und Details festhalten will, die sonst für immer verloren wären. Grundsätzlich hat man nie genug Zeit, sie zu notieren, weil man jeden Tag mit den einfachen Dingen des Überlebens beschäftigt ist. Das Zeitaufwendigste davon ist das Schlangestehen, um etwas zu essen oder Medikamente zu bekommen.

Man muss schnell sein, denn selbst wenn man es schafft, seine Finger auf die Tastatur zu legen und endlich mit dem Tippen zu beginnen, besteht die Gefahr, dass das Licht flackert, der Computer neu startet und alles, was man geschrieben hat, wieder weg ist. Das passiert andauernd. Gerade jetzt, wo ich dies schreibe, ist die Internetverbindung ausgefallen. Ich weiß nicht, wann sie wieder da ist und ob sie überhaupt jemals wiederhergestellt wird. Man muss schnell schreiben, denn es kann sein, dass das Fenster vor einem plötzlich in einer Wolke scharfer Scherben zerspringt oder sich die Wand neben einem in einen Haufen Ziegelstein-Trümmer verwandelt; oder dass ein Raketenträger, der seine tödliche Schrapnell-Ladung bereits ausgespuckt hat, senkrecht hinabstürzt und die Zimmerdecke über dem Kopf durchschlägt. All das ist immer möglich.

Bevor der Krieg begann, schrieb ich bedächtig, über Grammatik und Wortwahl nachdenkend und alles überprüfend nach dem Prinzip, dass für jede fertige Seite sieben im Papierkorb landen. Jetzt habe ich dafür keine Zeit mehr. Ich weiß, dass die Worte, die den Weg durch meine Fingerspitzen geschafft haben, bleiben werden, egal ob sie die bestmöglichen sind oder nicht. Meistens sind sie es nicht. Aber Worte an sich sind nicht so wichtig, sie sind nur Bausteine, aus denen sich die Wahrheit zusammensetzt. Und wichtig ist einzig die Wahrheit.

Schnelles Schreiben hat sowohl Vor- als auch Nachteile. Der Hauptvorteil ist ein höherer Grad an Ehrlichkeit, denn man hat keine Gelegenheit, sich zu verstellen. Verstellung nämlich braucht Zeit. Jede Lüge ist wie eine zweite Etage, die sich über die Reinheit dessen legt, was man unmittelbar sieht und fühlt. Der Nachteil beim schnellen Schreiben ist, dass man mitunter den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, das Gesamtbild geht verloren.

Aber jetzt, einige Monate nach Kriegsbeginn, klärt sich das Gesamtbild.

Am 24. Februar 2022 überquerten russische Truppen die ukrainische Grenze und näherten sich Charkiw. Sie brauchten weniger als eine Stunde, weil niemand sich ihnen in den Weg stellte. Sogleich versuchten sie, die Stadt einzunehmen, doch vier ihrer Panzer wurden auf der Umgehungsstraße in die Luft gesprengt. Die Russen stoppten ihren Vorstoß für drei Tage, wahrscheinlich weil sie nicht wussten, was sie tun sollten. Dann drangen ihre Soldaten aus mehreren Richtungen in die Stadt ein. Sie bewegten sich langsam und wirkten weder wachsam noch kampfbereit. Sie wählten den einfachsten Weg. Es schien, als wüssten sie nicht, was sie erwartete, aber vor allem dachten sie, die Ukrainer würden aus ihren Häusern kommen, um ihre Ankunft zu begrüßen.

Damit lagen sie völlig falsch. Bald begannen Straßenkämpfe, und die Russen wurden bis zum Einbruch der Nacht gehetzt und gejagt. Wer von ihnen übrig war, versuchte, in einer Charkiwer Schule Zuflucht zu finden, aber sie wurden alle zusammen mit dem Gebäude niedergebrannt.

Die Russen fühlten sich zurückgewiesen, beleidigt und verachtet – sie hatten ja nur »das Beste« gewollt. Es scheint, dass viele der Soldaten, benebelt durch die Propaganda, in den ersten Tagen glaubten, dass sie Befreier seien. Sie dachten, dass sie die Zurückweisung, die sie erfuhren, nicht verdienten. Um die kognitive Dissonanz aufzulösen, wurden alle Bürger Charkiws zu Nazis erklärt, und die Soldaten machten sich an die beschwerliche Aufgabe, sie zu bekämpfen.

Zuerst warfen die russischen Flugzeuge ihre schrecklichen Bomben ab. Ihr Plan war, die Stadt mit Feuer zu überziehen und in Schutt und Asche zu legen, was auch erst fast gelang, doch bald fielen die russischen Bomber reihenweise vom Himmel, getroffen von der ukrainischen Flugabwehr. Sodann griffen die Russen die Stadt mit Raketen und Marschflugkörpern an und zerstörten vor allem das historische Zentrum. Viele der Geschosse trafen Wohnhäuser und hinterließen eine noch nie da gewesene Verwüstung. Die Hauptbedrohung für die Zivilbevölkerung aber war der Mörserbeschuss. Die Russen zertrümmerten damit dicht besiedelte Wohngebiete, in denen mehr als eine halbe Million Menschen lebten.

Mit Mörsern schießen die Russen noch immer, obwohl sie vielerorts aus der Stadt zurückgedrängt worden sind. Derweil sehen die von ihnen »befreiten« Gebiete wie Müllhalden aus, auf denen verstreut die Leichen ihrer Soldaten liegen – oft in Positionen, die lebendigen Menschen unmöglich sind. Einen ganzen Monat lang hatten die Russen in Erdlöchern leben müssen, in Säcke und Lumpen und Dreck gehüllt, um sich irgendwie warm zu halten. Denn die Temperaturen fielen manchmal auf bis zu minus zwanzig Grad Celsius.

Ich frage mich, welches Verbrechen schlimmer ist: der mehrmonatige Beschuss von mehr als einer Million Menschen in Charkiw oder die Ermordung von Hunderten Zivilisten in Butscha? Kann die Schwere eines Verbrechens an der Gesamtsumme von Angst, Leid und Tod gemessen werden? Oder ist das schiere Ausmaß an unmenschlicher Brutalität maßgeblicher, sprich: die Zahl der einzelnen Vergewaltigungen, Folterungen und Hinrichtungen?

Es ist leicht, diejenigen zu hassen, die uns beschießen, vergewaltigen, foltern, hängen oder ermorden, aber jeder Hass, selbst der gerechtfertigte, ist kontraproduktiv. Hass führt zu neuem Hass, und neuer Hass führt zu neuen Verbrechen – und, was am wichtigsten ist, Hass allein reicht für die Täter nicht aus.

Ich glaube, für alles, was sie getan haben, verdienen die Russen keinen Hass, sondern Gerechtigkeit, einen fairen Prozess und eine Bestrafung, die so hart ausfällt, wie es das Gesetz vorsieht. Und was den Hass betrifft, so werden sie ihn auf die harte Tour auf dem Schlachtfeld erfahren.

Wenn man schnell schreibt, hat man keine Zeit, über etwas zweimal nachzudenken. Man schreibt auf, was einem im ersten Moment als wahr erscheint, aber vielleicht nicht mehr wahr ist, wenn man es später aus der Distanz von Stunden oder auch nur ein paar Minuten betrachtet. Wenn man schnell schreibt, gehen viele wichtige Dinge verloren. Es ist, als würde man mit einem Netz durch einen Schwarm weißer Schmetterlinge rennen und versuchen, alle einzufangen. Aber die meisten fliegen davon, und was im Netz zurückbleibt, sind ein paar abgebrochene Flügel und, wenn man Glück hat, ein oder zwei tote Schmetterlinge, die nicht wirklich dem flatternden Wunder gleichen, das man gerade noch erblickt und zu fangen versucht hat.

Wenn man schnell schreibt, hat man nur Zeit, die einfachen und grundlegenden Dinge zu erfassen, wie Leben, Tod, Furcht, Liebe und Freundlichkeit. Man pickt die kleinen Details auf, die zufällig in der Nähe sind, und schafft es nicht, über die schwerwiegenden Dinge nachzudenken, die in der Ferne liegen.

Erich Maria Remarque schrieb einmal über eine viel größere Geschichte: »Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein.« Ich weiß nicht, wie schnell er damals, vor fast hundert Jahren, mit dem Schreiben vorwärtskam. Aber wenn jede Sekunde zählt, hat man weder für Anklagen noch für Bekenntnisse Zeit. Man kann lediglich mit seinem kleinen Netz durch den Schwarm von Schmetterlingen rennen. Deshalb ist dieses Buch hier alles andere als perfekt.

Dennoch hoffe ich, dass es jemandem nützlich sein wird. Denn die Ereignisse, die ich zu fassen versucht habe, könnten als psychologische Beschreibung eines veränderten Gemütszustands dienen, wie wir ihn alle erleiden, wenn wir uns plötzlich mit einem Bösen konfrontiert sehen, dessen Ausmaß alle von Menschen jemals erfundenen Worte übersteigt. Das deutlichste Merkmal dieses psychischen Zustands ist die fast völlige Abwesenheit von Angst. Erstaunlicherweise empfinde ich kaum Furcht vor fallenden Bomben, so etwa, wie eine Maus sich nicht vor einer Schlange fürchtet. Sowohl Bomben als auch Schlangen üben eine hypnotisierende Wirkung auf das Bewusstsein aus, das es nicht gewohnt ist, die Gefahr so nah zu sehen.

Genau das ist es, was wir friedlich und gewaltlos durchs Leben gehende Ukrainer fühlten, als wir eines Tages erwachten und um uns herum den Krieg wüten sahen. Wir befanden uns in einer Art Trance, und vielleicht befinden wir uns auch heute noch darin. Zwei Fragen sind es, die sich uns immer wieder stellen: »Wie ist das möglich?« und »Warum ist es geschehen?« Keine noch so ausgefeilte Logik vermag eine Antwort zu geben, wenn man das Ganze von nahem betrachtet.

Aber es gibt noch ein anderes, größeres Bild, das mittlerweile ganz klar zu erkennen ist.

Vor wenigen Monaten waren wir noch ganz normale Menschen, die in einem ganz normalen Land lebten, das nicht vom Krieg, sondern von Bürokratie und Korruption heimgesucht wurde. Unser Präsident, Wolodimir Selenskyj, war ein gewöhnlicher Kerl mit einer langen Karriere als Witze-Schreiber und Kabarettist. Ich mochte seine Witze nie, denn sie wiederholten sich, waren nicht immer anständig und handelten oft von Alkoholikern. Ich persönlich denke, dass es an Alkoholikern nichts Lustiges gibt. Seine Witze waren kein Ausdruck von Kultur, dazu fehlte ihnen das lebensverändernde Potenzial.

Die meisten Leute, die für Selenskyj stimmten, dachten nie, dass er ein großartiger Präsident sein würde, gut vielleicht, ja, aber sicher nicht großartig. Der andere Kandidat aber agierte mit seiner pathetisch patriotischen Überzeugung von »Kampf, Sprache und Glaube« wie ein Bulldozer, sodass die Ukrainer gar keine andere Möglichkeit hatten, als Selenskyj zu wählen. Nehmen Sie sich die Zeit und stellen Sie sich vor, wie es wäre, in einem Land zu leben, in dem diese Werte über allem stehen – und Sie werden es nachvollziehen können.

Und ja, fast drei Jahre nach Selenskyjs Amtsantritt hatte sich in der Ukraine nichts wirklich zum Besseren verändert. Die Bürokratie wusste noch immer zuverlässig zu verhindern, dass anständige Menschen etwas Sinnvolles schaffen konnten, und die Korruption erlaubte es unanständigen Leuten nach wie vor, sich alles unter den Nagel zu reißen. Wir waren noch immer ein gewöhnliches Land mit gewöhnlichen Aussichten. Dann aber bezeichnete uns jemand in der Hauptstadt des Nachbarlandes als Nationalisten und beschloss, dass wir als solche bestraft gehörten. Soldaten in schweren Militärstiefeln sollten losgeschickt werden, um uns auf den rechten Weg zu bringen.

Sind wir wirklich Nationalisten? Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Was den Nationalismus angeht, könnte ich meine eigenen fünfundneunzig Thesen dagegen niederschreiben und sie an eine Kirchentür nageln, so wie es Martin Luther einst tat, allerdings zu einem gewichtigeren Zweck. Und ich bin keineswegs allein. Die meisten Bürger der Ukraine, einschließlich Millionen überschwänglicher Patrioten, würden dasselbe tun.

Die wenigen toxischen Nationalisten, die wir in der Ukraine noch haben, gebärden sich genauso wütend und laut wie alle toxischen Nationalisten überall auf der Welt. Ihre Stimmen waren in der Vergangenheit oft so deutlich hörbar, weil Politiker, die auf »Kampf, Sprache und Glaube« schworen, stets versuchten, sie für ihre Zwecke einzuspannen. Aber jetzt hat das Land ihnen den Laufpass gegeben. Die Menschen haben sie nicht gewählt und werden das auch nie tun. Sie mögen weiterhin pöbeln, brüllen und in den sozialen Netzwerken Hass verbreiten. Aber es ist offensichtlich, dass sich die Ukraine von ihnen abgewandt und auf die universellen Werte besonnen hat, die jede Art von toxischem Nationalismus ausschließen.

Die meisten Menschen in Charkiw, der Stadt, in der ich wohne, sprechen Russisch, während sie gegen die Russen kämpfen. Keiner findet das seltsam. Wir kämpfen für Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Würde gegen ein Ungeheuer, das schon immer der Ansicht war, dass Mütter keine Babys zur Welt bringen sollten, sondern Reisig für die Brennöfen des Krieges. Wo gibt es in unserem Kampf Nationalismus? Er ist die globalste und universellste Sache, die ich mir vorstellen kann.

Es handelt sich also um den wahrscheinlich sinnlosesten Krieg der Geschichte. Die Russen kämpfen gegen Dinge, die es gar nicht gibt.

Unlängst hat ein Martin Luther unserer Tage am Wiener Stephansdom blaue und gelbe Rechtecke angebracht, und auf jedem stand ein Friedensgebet mit der Bitte an Gott, den Krieg zu beenden. Und als die ersten Bomben fielen, zuckte mein Land nicht einfach nur vor Schmerz, es gewann an Stärke. Es öffnete sich wie die Knospe einer Blume. Dieser Krieg hat die Horizonte der Ukraine erweitert.

Wir sind kein gewöhnliches Land mehr mit einem gewöhnlichen Präsidenten und gewöhnlichen Aussichten. Wir sind ein fester Bestandteil der Welt geworden.

Was für mich derweil immer klarer wird, ist der Unterschied zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk. Meine Erfahrung ist folgende: Wenn man einem durchschnittlichen Russen ein liniertes Blatt Papier gibt, beugt er sich darüber, schließt die Augen und kritzelt alles darauf, was man ihm befiehlt. Wenn man ihm immer wieder ein liniertes Papier gibt, beginnt er, sich an den Linien zu berauschen. Nach einer Weile sind manche bereit, jeden zu schlagen, zu foltern, zu erschießen oder zu hängen, der es wagt, auf einem unlinierten Blatt zu schreiben.

Wenn man den Ukrainern ein Blatt Papier mit Linien gibt, schreiben sie natürlich quer zu deren Richtung. Wenn man sie dafür bestraft, reißen sie das Papier einfach in zwei Hälften. Immerhin hatten wir in dreißig Jahren drei Revolutionen – nämlich immer dann, wenn jemand versucht hat, uns sein liniertes Papier aufzuzwingen. Und das will wirklich etwas heißen. Ihr mögt uns umbringen, aber ihr könnt uns nicht zwingen, so zu schreiben, wie es unserer Seele zuwider ist.

 

Sergej Gerassimow im April 2022

BEGINN

24. Februar 2022

Es ist 5:07 Uhr morgens, 24. Februar 2022. Nur wenige Stunden nach dem 23. Februar, der ein umkämpftes Datum ist: Einerseits ist es der Tag der russischen Vaterlandsverteidiger, und die meisten Ukrainer hegen einen tiefen Hass auf die russische Armee. Andererseits feiert der größte Teil der männlichen Bevölkerung in der Ukraine dieses Datum als Männertag. Ich habe also einen noch nicht ganz verzehrten Kuchen im Kühlschrank, und ein vages Gefühl von Festlichkeit wärmt meine Seele. Aber jetzt ist es 5:07 Uhr morgens, und etwas Unheimliches hat mich geweckt. Etwas Böses kommt auf uns zu.

Das Zimmer ist dunkel und still. Die Welt außerhalb des Fensters ist es ebenfalls. Es ist eine klare Nacht, wahrscheinlich die erste seit Monaten. Die Venus hängt tief über dem Horizont und wirkt riesig, wie ein leuchtendes Ufo. Es ist kein Mond zu sehen. Die Straßenlaternen sind ausgeschaltet. Keine Autos, keine Menschen auf der Straße, alles scheint so leer, aber irgendwie weiß ich genau, was mich geweckt hat. Tief in meinem Inneren bin ich mir absolut sicher.

Mit leisen Schritten, um Lena, meine Frau, nicht zu wecken, nähere ich mich dem Fenster. Das Geräusch wird lauter. In der letzten Minute meines Traums klang es wie Wellen, die gegen das Ufer schlagen, und ja, es ähnelt tatsächlich ein wenig dem Geräusch von anbrandenden Wellen. Es geht auf und ab, es pulsiert, es atmet. Ich bin mir ganz sicher, dass es das Geräusch des Krieges ist, der gerade begonnen hat.

Das Geräusch ähnelt nichts anderem auf der Welt, denn die Welt besteht aus Lebewesen, aus Dingen, die leben und gedeihen und glücklich sein wollen. Im Gegenteil, dies ist das Geräusch des Todes, des vorsätzlichen Mordes, von Dingen, die töten und zerstören und tot sein wollen, also unterscheidet es sich von allen wirklichen Geräuschen, so wie sich die Dunkelheit vom Licht unterscheidet. Ich habe es noch nie gehört, aber ich weiß, dass es das Atmen des nahenden Krieges ist.

Es besteht aus einfachen Klängen wie »Bum!« und »Bang!« und einem langen »Schhh…«, die sich stetig wiederholen, verzerrt durch die Entfernung, verschmolzen zu etwas anderem, Einzigartigem und Einheitlichem. Und doch ist die Welt leer und irgendwie heiter.

Ich lebe in der Stadt Charkiw, in der 1932 ein Lithiumatom in zwei Alphateilchen gespalten wurde, zum ersten Mal in der damaligen Sowjetunion, nur wenige Monate nachdem dies als weltweit Ersten J. D. Cockcroft und E. T. S. Walton im Cavendish Laboratorium gelungen war. Nobelpreisträger in Medizin, Physik und Wirtschaft haben in meiner Stadt studiert und gearbeitet. Ich lebe im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Das kann mir doch nicht passieren, denke ich.

Dann sehe ich das rote Glühen von Explosionen, die noch jenseits des Horizonts liegen. Jetzt kann ich es glauben: Es kann mir passieren. Es kann jeden treffen. Es kann dem ganzen Land passieren, Europa, der ganzen Welt, der ganzen Geschichte.

Ich stoße meine Frau leicht an.

»Steh schnell auf«, sage ich. »Der Krieg hat begonnen.«

Ein paar Stunden später sehe ich eine Frau, die in unserem Haus wohnt. Meine Wohnung liegt im dritten Stock, ihre aber im zwölften, sodass sie alles viel besser sieht als ich.

»Kannst du es glauben?«, fragt sie mich immer wieder. »Kannst du es glauben?«

»Ja«, sage ich. »Warum nicht?«

»Weil es unmöglich ist«, sagt sie ein wenig hysterisch. »Ich konnte es nicht einmal glauben, als ich das Feuerpanorama am ganzen Horizont sah. Ich habe so viel Rauch gesehen. Ich kann es auch jetzt nicht glauben. Wie konntest du es nur glauben?«

»Es war vom ersten Moment an klar«, sage ich, aber tief im Inneren glaube ich es immer noch nicht, denn ich habe überhaupt keine Angst. Alles hier besitzt eine filmische Qualität von Unwirklichkeit. Die Leute erzählen Witze und lächeln dabei. Sie glauben halb, dass sie noch nicht aus einem schlechten Traum aufgewacht sind, weil nichts, was sie gerade sehen oder hören, real sein kann.

WASSER

24. Februar 2022

Es ist 5:30 Uhr morgens, 24. Februar 2022. Es gibt kein Wasser in den Leitungen, und die Zentralheizung funktioniert nicht. Ich schalte den Computer ein und suche nach den neuesten Nachrichten, doch es gibt keine – zumindest keine echten Nachrichten, nur alltäglichen Informationsmüll. Aber der Kanonenlärm ist zu laut, als dass man ihn ignorieren könnte. Endlich, um 5:50 Uhr, lesen wir dann, was wir bereits wissen: Russland hat einen Krieg begonnen.

»Es gibt kein Wasser mehr«, sagt meine Frau.

Also gehe ich los, um an einem Automaten welches zu kaufen. Doch die Schlange derjenigen, die dasselbe wollen, ist zwanzig Meter lang. Es wird Stunden dauern, bis ich etwas Wasser bekomme.

Die Knallgeräusche sind jetzt lauter, wahrscheinlich weil ich draußen bin. Ich höre klare, schnappende Laute, so als ob riesige Seifenblasen am Himmel über den Köpfen der Menschen zerplatzten, aber diese Geräusche sind natürlich millionenfach lauter. Die meisten Leute, die in der Schlange stehen, telefonieren mit ihren Handys. Dann bricht die Verbindung ab, und sie können nicht mehr telefonieren, aber sie lesen Nachrichten und Textnachrichten. Manche sagen, ihr mobiles Internet sei ausgeschaltet.

Die Leute unterhalten sich leise. Sie lächeln, erzählen Witze. Die lauten Seifenblasen zerplatzen immer wieder am Himmel, aber niemand scheint sie zu beachten, niemanden scheint es zu interessieren. Jeder hält große Plastikwasserflaschen in der Hand, eine Menge Plastikflaschen. Vor mir in der Schlange am Wasserautomaten drängeln sich etwa vierzig Leute, und ständig kommen neue hinzu. Jeder von ihnen hat drei oder vier große Plastikflaschen dabei. Keiner sieht wirklich besorgt oder verängstigt aus.

Ich muss immer wieder an den fernen Feuerschein denken, der frühmorgens den Himmel erhellte. So etwas habe ich schon einmal gesehen. Vor sehr langer Zeit, als ich ein Junge oder ein sehr junger Mann war, wurde ich Zeuge des Bruchs einer Hochdruck-Gasleitung, und dieses Erlebnis hat sich in mein Gedächtnis, in mein Bewusstsein und in mein Unterbewusstsein, in alles eingeprägt.

Es war gegen Mitternacht, als die Leitung brach. Ich wachte von einem lauten Geräusch auf, das sich anhörte, als ob ein Zug an meinen Fenstern vorbeirattern würde. Ich befand mich damals in einem Dorf in der Region Kursk. Es war ein sehr dunkles Dorf, die nächste Straßenlaterne war sieben Meilen entfernt. Aber in diesem Moment wurde alles von einem starken, roten Fotolabor-Licht erhellt. »Okay, das ist eine Atomexplosion«, dachte ich damals. Das war mein erster Gedanke. Ich geriet nicht in Panik, weil das ohnehin nichts gebracht hätte. Es ist leicht, in Panik zu geraten, wenn man das Gefühl hat, dass man etwas tun kann, und gleichzeitig, dass man nichts tun kann, und dieser unmögliche Widerspruch macht einen verrückt. Aber man gerät nicht in Panik, wenn es überhaupt nichts zu tun gibt.

In jener Nacht ging ich auf die Straße und beobachtete einen feurigen halben Globus, der über einem fernen Feld zitterte. Er bewegte sich, er lebte. Es sah aus, als würde er auf mich zurollen. Dann spürte ich so etwas wie Regen, der meine Schultern streichelte. Dieser Regen war heiß. Am nächsten Morgen bemerkte ich, dass die Blätter einer alten Weide in der Nähe des Hauses gelb und geschrumpft waren. Der heiße Regen aus geschmolzener Erde hatte sie verbrannt. Aber das Feuer war bereits gelöscht.

Ein Teil der Hochdruck-Gasleitung verlief quer durch ein Kartoffelfeld. Nun waren alle Kartoffelpflanzen verbrannt. Eine knisternde glasige Kruste aus geschmolzenem Boden bedeckte die Oberfläche dieses Gemüse-Krematoriums. Als ich einen Schritt darauf machte, fiel mein Fuß durch die Kruste hindurch. Die Kartoffeln darunter waren gebacken. Kinder gruben sie tagelang aus.

Zwei oder drei laute Seifenblasen zerplatzen am Himmel und zerstieben die Erinnerungen. Sie sind so nah; es erscheint seltsam, dass nichts Tödliches auf unsere Köpfe regnet. Aber die Menschen sehen nicht besorgt aus: Manch große schreckliche Dinge sind so groß und schrecklich, dass wir keine angemessene emotionale Reaktion darauf haben.

Der Vorrat im Wasserautomaten ist mittlerweile aufgebraucht. Ich muss etwas unternehmen. Es gibt einige, die sagen, es dauere ein paar Tage, bis man verdurste.

»Im schlimmsten Fall«, meint jemand, »müssen wir Wasser aus den Pfützen trinken.« Das klingt lustig. Manche Leute lächeln.

ESSEN

24. Februar 2022

Es ist 6:30 Uhr morgens, 24. Februar 2022. Der nächstgelegene Supermarkt ist geöffnet. Ich trete ein. Drinnen sieht alles normal aus. Ich kaufe ein paar Päckchen Katzenfutter, ein paar Rollen Toilettenpapier und gehe zu dem Gang, in dem Konservendosen angeboten werden. Ich kaufe zehn Dosen Sardinen in Öl. Der Gang, in dem normalerweise Wasser verkauft wird, ist leer, aber zu meinem Glück bringt mir ein uniformierter Angestellter zwei 5-Liter-Flaschen. Ich nehme sie schnell mit. Jetzt kann ich an der Kasse bezahlen und nach Hause gehen, denke ich.

Doch tatsächlich windet sich die Schlange zur Kasse durch alle Gänge, und es scheint, als könnte sie bis hinter den Mond reichen, wenn sie gerade wäre. Nicht ohne Schwierigkeiten finde ich ihr Ende. Die Schlange bewegt sich in Schüben: Ich bleibe etwa eine Viertelstunde stehen, dann sprinte ich vorwärts, so schnell wie ein Regenwurm. Aus den Lautsprechern dröhnt fröhliche Musik, die seit gestern nicht mehr geändert wurde. Es ist besonders lustig, einige der gestrigen Durchsagen zu hören, wie »Liebe Kunden, aufgrund der COVID-19-Beschränkungen dürfen sich nicht mehr als zwanzig Personen gleichzeitig im Markt aufhalten«. Wen interessiert schon COVID-19? Was ist COVID-19 überhaupt?

Langsam gehe ich weiter und beobachte, wie sich die Lebensmittelregale leeren. Die Leute räumen alle Konserven weg. Einige naive alte Frauen drängen sich gegen den langsamen, aber stetigen Strom von Menschen, ziehen ihre Einkaufswagen hinter sich her, nur um vor den Brotregalen stehen zu bleiben, ihre Augen so weit aufzureißen wie ein Mädchen, das auf seinen ersten Kuss wartet, und zu fragen: »Gibt es noch Brot?« Die Antwort ist eindeutig: »Nein.«

Als ich an dem großen Fenster vorbeistapfe, sehe ich die Schlange vor dem Wasserautomaten. Erstaunlicherweise ist sie jetzt noch länger. Dann läuft eine grelle Blondine in engen Jeans vorbei. Alle Männer (es sind hauptsächlich Männer in der Schlange) drehen ihre Köpfe, um ihr mit Blicken zu folgen. Aber sie schauen nicht auf ihren wunderschönen Hintern, sondern auf die 5-Liter-Wasserflasche in ihrer Hand.

Ein Mann, der wie ein Betrunkener aussieht, drängt sich an mir vorbei zum Spirituosenregal.

»Hey, seht euch das an!«, sagt er. »Keiner greift zum Wodka!«

Doch tatsächlich tun es einige Leute. Sie schnappen sich drei oder vier oder fünf oder so viele Flaschen, wie sie halten können, und ich weise den Mann darauf hin. Er nickt, schnappt sich drei oder vier oder fünf oder so viele Flaschen, wie er tragen kann, und verschwindet. Etwa zwei Stunden später, als ich schon in der Nähe der Kasse bin, taucht er wieder auf, mittlerweile betrunken, und fängt an, Obszönitäten zu schreien, die er an Putin persönlich richtet. Er ist herrlich fantasievoll. Er ist ein Poet der Obszönitäten. Leider schreit er sie auf Russisch, und sie sind so unübersetzbar wie ein Orkan oder eine Lawine. Die meisten Leute in der Schlange nicken zustimmend. Tatsache ist, dass achtzig Prozent der Ukrainer Putin hassen, aber nicht viele von ihnen sind so wortgewandt. Jedenfalls nicht ohne eine Flasche Wodka.

Dann taucht meine Frau im Supermarkt auf und sagt, dass sie im Haus bereits kaltes Wasser aufgedreht hätten. Das Leitungswasser ist praktisch ungenießbar, aber besser als Wasser aus Pfützen. Sie teilt mir mit, dass das Internet funktioniere. Sie macht im Supermarkt die Runde und kauft ein paar Kleinigkeiten, die noch zu haben sind.

Morgen werden die Regale leer sein. Übrigens, einige Leute, die ich kenne, haben mir später erzählt, dass sie in den ersten beiden Kriegstagen gar nichts gegessen haben, weil sie nicht an Essen denken konnten.

DER PETSCHENIHY-SEE

24. Februar 2022

24. Februar 2022, der erste Tag des Krieges. Es ist Nachmittag. Die Bombardierung der Stadt ist lauter geworden. Die Menschen haben die Fenster zugeklebt, damit keine Glassplitter in die Zimmer fliegen. Alle Vorhänge sind zugezogen. Viele gehen in den Keller, wo behelfsmäßige Bunker eingerichtet wurden. Wir nicht. Wir sind an unsere Katzen gefesselt.

Wenn Sie glauben, dass es eine leichte Aufgabe sei, fünf lebhafte Katzen, die sich vor Ihnen in verschiedenen Ecken des Hauses verstecken wollen, zu fangen, sie in Rucksäcke zu packen und sie dann zusammen mit anderen notwendigen Dingen (Wasser, Kleidung, Essen) in den Keller zu schleppen, der bereits mit Menschen vollgestopft ist, dann liegen Sie falsch. Eindeutig falsch. Denn die Katzen schreien und kämpfen. Es sind schließlich Katzen, und sie haben das Recht, zu schreien und zu kämpfen, wenn jemand ihre Freiheit und Würde verletzt.

Die Menschen im Keller, die den Raum nicht mit schreienden und kämpfenden Katzen teilen wollen, haben ebenfalls das Recht, zu schreien und zu kämpfen. Also sitzen wir in dem engen Raum zwischen den Zimmern, gleich weit von allen Fenstern entfernt, und überlegen, ob wir in den behelfsmäßigen Luftschutzkeller gehen sollen oder nicht. Wir haben einen Laptop, und das Internet ist noch eingeschaltet. Dann erfahren wir, dass der Damm des Petschenihy-Sees gesprengt worden ist.

Der Petschenihy-See, auch Petschenihy-Reservoir oder sogar Petschenihy-Meer genannt, versorgt Charkiw mit frischem Trinkwasser. Er ist natürlich zu klein, um wirklich ein Meer genannt zu werden, er ist nur fünfundsiebzig Kilometer lang. Aber es ist eine Schande, dass der Damm, der das Wasser hält, zerstört wurde.

Ich erinnere mich gut an diesen Damm. Vor drei Jahren waren meine Frau und ich dort wandern und hielten kurz auf der Brücke an, um den Wasserfall zu bewundern. Damals wurden wir aufgehalten, weil einige Idioten, die den Damm bewachten, uns für Saboteure hielten.

»Seid ihr nun Saboteure oder nicht?«, fragten sie uns stirnrunzelnd.

»Natürlich nicht«, erwiderten wir.

»Dann verschwindet von hier. Wenn wir euch hier noch einmal sehen, werdet ihr für achtundvierzig Stunden festgesetzt«, sagten sie und ließen uns gehen. Das waren wirklich sehr leichtgläubige Sicherheitsbeamte, oder vielleicht war ihnen auch nur todlangweilig. Sie hatten seit dreißig Jahren keine echten Saboteure mehr gesehen, also hielten sie jeden an, der zufällig den Damm überquerte, und fragten ihn, ob er einer sei oder nicht. Das war schon sehr schlampig.

Wir verabschiedeten uns von ihnen und gingen in den sogenannten schwarzen Wald, das heißt in den Wald am Westufer des Sees. Er wird als schwarz bezeichnet, weil es dort kein Sonnenlicht gibt – kein Licht, keine Sandstrände und keine Menschen, die sich sonnen. Wir waren an diesem herrlichen Ort so allein, als wären wir die letzten Menschen auf dem Planeten. Wir gingen ins Wasser. Es war sehr seicht, und so liefen wir weiter und weiter, bis wir einige Hundert Meter vom Ufer entfernt im Schlamm steckenblieben. Dann hörten wir etwas Schreckliches hinter unserem Rücken.

Es war ein Düsenjäger, eine MiG oder eine Su. Der Petschenihy-See liegt zwischen zwei ruhigen, bewaldeten Hängen, und der Düsenjäger glitt den Hang hinunter und hielt sich dabei so niedrig, dass es schien, als hätte er die Baumwipfel streifen können. Dann stürzte er sich auf uns, wobei er sehr niedrig über dem Wasser blieb. Er flog knapp über unsere Köpfe hinweg, um dann in den Himmel aufzusteigen, wo er alle denkbaren und auch undenkbaren Kunstflugmanöver vorführte. Der Pilot übte und spielte gleichzeitig mit uns, und nein, er war nicht schlampig. In diesem Moment wurde mir klar, dass kein Feind jemals eine Chance haben würde, die Ukraine zu besiegen.

Nicht wegen der Düsenjäger, sondern wegen der Menschen.

MENSCHEN

24. Februar 2022

Die Menschen in der Ukraine sind wirklich einzigartig. Ich sage das nicht, weil ich ein Patriot bin. In Zeiten wie diesen werden sogar Steine patriotisch. Sogar der Himmel wünscht sich, die Köpfe der Invasoren zu zertreten. Und auch die Wolken würden sich gerne in Giftgas verwandeln und sie ersticken. Ich bin nicht patriotischer als die Steine, der Himmel oder die Wolken, aber auch nicht weniger patriotisch. Die Ukrainer sind einzigartig, denn sie sind wahrscheinlich das idealistischste und freiheitsliebendste Volk der Welt.

Man nehme meinen Nachbarn zum Beispiel. Er ist schon über sechzig und nicht mehr ganz fit. Eines Tages wurde er auf einer Treppe von einem jungen, kräftigen Idioten hart gestoßen. Mein Nachbar ging nach Hause und holte, ich weiß nicht mehr genau was, wahrscheinlich einen Hammer. Er wollte den Mann umbringen. Es war nicht leicht, ihn aufzuhalten.

»Du wirst für den Rest deines Lebens im Gefängnis verrotten, wenn du das tust«, sagte ich zu ihm.

»Na und?«, erwiderte er. »Das ist mir egal. Es ist mir völlig egal.« Und es war ihm wirklich egal.

Man könnte meinen, mein Nachbar sei ein asozialer Mensch, ein Psychopath oder einfach nur ein Vollidiot. Weit gefehlt. Er ist ein Künstler, ein Maler, der sein ganzes Leben dem Malen von Bildern gewidmet hat, die er nie zu verkaufen versucht hat. Manchmal verschenkt er sie. Er ist eine Art van Gogh, der sich noch kein Ohr abgeschnitten hat. Er würde es bestimmt tun, wenn er das Gefühl hätte, dass es für seine Kunst notwendig wäre.