Flesh Gothic - Edward Lee - E-Book

Flesh Gothic E-Book

Edward Lee

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Beschreibung

Dein eigen Fleisch sei der Tempel des Bösen … Das Luxusanwesen von Reginald Hildreth in Florida war berüchtigt. Die schlimmsten Orgien sexueller Tortur sollten darin stattfinden. Und tatsächlich: Als die Beschwörung des Dämons Belarius misslingt, bleiben von den 26 Gästen nur Fleischfetzen zurück – und der Hausherr ist spurlos verschwunden. Seine Frau kann das alles nicht glauben. Deshalb heuert sie eine Gruppe übersinnlich begabter Menschen an, die die Vorfälle untersuchen sollen. Doch das finstere Labyrinth der 66 Zimmer wird von gefährlichen Kreaturen heimgesucht. Ereignete sich doch kein 'magischer Unfall', sondern hat Hildreth erreicht, was er beabsichtigte? Wurde ein Tor zur Hölle geöffnet? Schlimmer als der Marquis de Sade. Himmel, woher hat Lee solche Ideen? Der Verlag warnt ausdrücklich: Edward Lee ist der führende Autor des Extreme Horror. Seine Werke enthalten überzogene Darstellungen von sexueller Gewalt. Wer so etwas nicht mag, sollte die Finger davon lassen. Für Fans dagegen ist Edward Lee ein literarisches Genie. Er schreibt originell, verstörend und gewagt – seine Bücher sind ein echtes, aber schmutziges Erlebnis. Deutsche Erstausgabe. Broschur 19 x 12 cm, Umschlag in Lederoptik.

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EPUB
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Seitenzahl: 566

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Danksagung

Wie immer bin ich viel mehr Menschen zu Dank verpflichtet, als ich an dieser Stelle danken kann, trotzdem will ich es zumindest versuchen: Zuallererst Tim McGinnis. Dave Barnett, Rich Chizmar, Doug, Don D’Auria, Thomas Deja, Dalls, Teri Jacobs, Tom Pic. Bob Strauss und John Everson für zermürbendes Korrekturlesen und Erik Wilson für die überragende Illustration der Hardcover-Ausgabe. Kathy Rosamilia dafür, dass sie nicht nur einen, sondern zwei Romane lang durchgehalten hat – ein Rekord. Amy, Charlie, Christy und Bill, Darren, Jeff, R. J. und Stephanie. Archie und Mike vom Header – Gott sei Dank gibt es noch Yankee-Fans ...

Prolog

»Du hättest mich einfach töten sollen«, sagte das Mädchen.

Der Mann zeigte sich geschockt. Diese seltsamen Worte waren die ersten, die sie überhaupt gesprochen hatte, seit ...

... neun Monaten, erinnerte er sich.

»Und ich weiß, dass du darüber nachgedacht hast«, meldete sie sich von ihrem Platz auf dem schäbigen Bett. Sie senkte die Stimme. »Ich weiß, dass du diese Pistole besitzt. Und ich weiß, dass du mehr als einmal ernsthaft in Versuchung warst, mir einfach eine Kugel in den Kopf und in den Bauch zu jagen ... und dann abzuhauen.«

Stimmte das wirklich? Er hielt sich eigentlich für einen Menschen, der sich nichts vormachte. Andere konnte man anlügen, sich selbst trickste man so schnell nicht aus. Die Lügen holten einen immer ein.

Mein Gott. Ich hoffe, das stimmt nicht.

Er hatte es doch so weit gebracht und es so lange geschafft, sie nicht zu töten, oder?

Sie bot einen schändlich erotischen Anblick. Lässig lag sie auf dem Bett, ihr 19-jähriges Fleisch jung und glänzend. Sie trug nur einen Slip und einen BH. Er konnte sehen, wie der üppige Wuchs ihrer Schamhaare gegen den Stoff des Höschens drückte. Der BH saß durch die vorgeburtliche Zusatzfülle ihrer Brüste entschieden zu eng – ihr Busen drohte die Nähte zu sprengen. Über dem basketballgroßen Bauch war die Haut zum Zerreißen gespannt, der Nabel ragte hervor wie eine kleine weiße Haselnuss.

Der Mann wandte den Blick von diesem verlockenden Bild ab, wie er es all die Monate getan hatte.

Er sprach zur Wand. »Du redest jetzt. Das ist wunderbar. Erinnerst du dich, wann du zuletzt geredet hast?«

»Nein.«

»Nach all der Zeit ... was hast du zu sagen? Was hast du mir zu erzählen?«

»Nichts«, erwiderte sie.

»Nichts?«

»Alles, woran ich mich erinnere, ist das Haus.«

Quer durch das Land hatte er sie mitgenommen. In anonymen Bussen, durch windige Motels. Schon bevor sich ihre Schwangerschaft abzeichnete, war ihm in ihrer Gegenwart unwohl gewesen. Wegen der Blicke, die ihm die Leute zuwarfen. Die Angestellten an der Rezeption zogen mitten in der Nacht ihre Augenbrauen hoch, als wollten sie zu ihm sagen: Was treibt ein Mann in Ihrem Alter mit einem Mädchen, das noch keine 20 ist? Warum bringen Sie die Kleine an einen solchen Ort, noch dazu um diese Uhrzeit?

Derzeit hatten sie sich in Seattle im Aurora Motel einquartiert. Ihr Zimmer sah aus, als sei es gerade mal das wert, was er dafür bezahlte: 25,95 Dollar pro Übernachtung. Er wusste, dass er auf Anonymität setzen musste, auf Orte, an denen es niemanden interessierte, welchen Namen man beim Check-in auf das Formular kritzelte. Dort wollte man nur eins: Bargeld. Mittlerweile waren die Blicke schlimmer geworden. Die Leute glotzten ihn an, als wäre er ein Perverser übelster Sorte. Eines Nachts vor nicht allzu langer Zeit hatte er für sie beide ein Zimmer in Needles, Kalifornien, gemietet. Der Laden erwies sich als Absteige für Säufer, Prostituierte und Junkies. Er hatte gerade ein Soda aus dem Getränkeautomaten gezogen, als ein ungepflegter, kahlköpfiger Mann im zerknitterten Anzug auf ihn zukam und sagte: »He, Mann. Ich hab die süße schwangere Mieze gesehen, die du mitgebracht hast. Weißt du, da steh ich auch drauf. Was kostet die Stunde?«

»Hau ab oder ich schieß dir ins Gesicht ...«

Die Antwort hatte gereicht.

Nach allem, was er inzwischen gesehen hatte, ekelte ihn die Welt zutiefst an.

Die Welt, dachte er nun.

Er sah das Mädchen an.

Die ganze Welt ...

»Tut mir leid, dass es hier so schäbig ist«, sagte er, während er ihre Kleider auf dem mit Brandflecken übersäten Brett bügelte, das er im Schrank entdeckt hatte.

»Es ist überall schäbig gewesen.« Lächelte sie etwa? Auch das hatte sie seit neun Monaten nicht mehr getan. »Aber ich verstehe das. Du redest viel mit dir selbst. Du kannst deine Kreditkarte nicht benutzen.«

»Stimmt.«

»Und du drehst jeden Cent zweimal um.«

Er lächelte über einem Hemd. »Das auch.«

»Du versteckst mich, nicht wahr?«

Das Lächeln des Mannes erstarb. »Ja.«

»Vor ihnen, richtig? Vor den Leuten aus dem Haus.«

Der Mann hatte nie im Bett bei ihr geschlafen, obwohl er sicher war, dass nichts passieren würde. Er hatte nie etwas mit ihr gemacht, nicht einmal daran gedacht. Überhaupt nie etwas Falsches getan ...

... außer sie zu entführen.

Der Mann schlief immer auf der Couch – oder auf dem Boden, wenn es keine Couch gab. Im Zimmer, das er in Seattle ergattert hatte, stand eine Ausziehcouch – ein Luxus in seinen Augen. Die Federn drohten, ihn durch die Matratze aufzuspießen, außerdem stank das verdammte Ding. Gott sei Dank bin ich nicht pingelig, dachte er. In der ersten Nacht lag er wach und lauschte dem Lärm des Verkehrs auf der Hauptstraße und dem Regen. Die Vorhänge hatte er zugezogen. Im Zimmer war es stockfinster und einen Moment lang ließ ihn die schiere Schwärze an die Vergangenheit denken, an das Haus. Sofern das Böse eine Farbe besaß, wusste er, welche.

Trotz seiner Erschöpfung schlief er nicht. Stattdessen lag er auf der abgehalfterten Matratze und starrte an die Decke. Vom Bett hörte er das rhythmische Atmen des Mädchens, das fast hypnotisch wirkte.

Dann setzte die Atmung aus.

Die Augen des Mannes weiteten sich. Er wollte sich gerade aufraffen und nach ihr sehen, doch dann drang rau ihre Stimme aus der Dunkelheit.

»Ich will, dass du mich tötest. Bitte tu es. Warte, bis ich wieder eingeschlafen bin. Und dann tu es.«

In der nächsten Nacht stieß sie im Schlaf ein einziges Wort hervor.

»Belarius.«

»Blondes Haar funktioniert bei dir nicht«, stellte sie am nächsten Morgen fest. Er hatte Kaffee, Limo und Donuts vom 7-Eleven, mehrere Blocks den Hang hinunter, geholt. Sie aß gemächlich auf dem Bett, sah fern und kam ihm trotz der vollen Brüste und dem aufgeblähten Bauch wie ein unreifes Kind vor.

»Warum nicht?«, fragte er und drehte sich um.

»Du siehst aus wie jemand, der versucht, sich zu verkleiden. Die Haarfarbe wirkt falsch. Sie ist viel zu hell.«

Er betrachtete sich im Spiegel. »Wirklich?«

»Ja.«

Der Mann seufzte. Er zog seine Jacke an. »Ich bin bald wieder da.«

»Wohin gehst du?«

»Mir eine andere Tönung besorgen.«

Würden sie ihm wirklich folgen? Vielleicht sind wir beide bloß paranoid, überlegte er. Der Bus bahnte sich den Weg durch den Regen. Durch das mit Tropfen übersäte Fenster sah er eintönige graue Gebäude. Ein Mann mit Brille und ein anderer mit einem Schutzhelm schauten gleichzeitig zu ihm. Ja, ich bin bloß paranoid. Oder vielleicht hat sie recht. Ich habe die falsche Haarfarbe benutzt und sehe jetzt aus wie ein Pferdearsch. Einige Teenager hinten im Bus wurden laut und benahmen sich mächtig daneben, aber er bekam es kaum mit. Dann stand ein Schwarzer auf, der vorne saß, grinste ihn an und sagte: »Da waren Lou Rawls und ich. Sie haben uns in diesen Käfig gesteckt und uns nur Milchflaschen und Suppe gegeben.« Dann öffneten sich die Türen und er stieg aus.

Am liebsten hätte er gelacht. In Großstädten gibt es eine Menge Obdachlose, eine Menge Schizophrene. Traurig.

An der nächsten Haltestelle stolperte ein Blinder die Treppen herauf, der sich mit blicklosen Augen und einem Stock vortastete. Er setzte sich direkt neben ihn.

»Hallo«, sagte der Blinde und starrte geradeaus.

»Hi.«

»Ich ... besitze übernatürliche Kräfte. Glauben Sie mir?«

»Ich bin nicht sicher.«

»Glauben Sie, dass es Menschen mit solchen Kräften gibt?«

»Ja. Daran glaube ich ganz fest.«

Der Blinde kicherte. »Ich bin ein Seher, der nicht sehen kann.« Die leeren Augen richteten sich auf ihn. »Sie besitzen eine unheilvolle Aura.« Nach einer Pause seufzte er. »Mein Gott ... sie ist fast schwarz.«

Der Mann wusste nichts zu erwidern, denn er glaubte tatsächlich an solche Dinge. Wie hätte es nach einer Woche in diesem Haus auch anders sein können?

Die Hände des Blinden zitterten ebenso wie seine Unterlippe. Die von Arthritis gezeichnete Rechte fasste über seinen Kopf und tastete verzweifelt nach einem Haltegriff. »I-ich muss aussteigen, ich muss aussteigen.«

Der Mann sah ihn nur verblüfft an. »Was ist denn los?«

»Nichts davon ist Ihre Schuld, warum also bringen Sie sich in Gefahr?« Als der Bus an der nächsten Haltestelle schwankend zum Stehen kam, stand der Blinde auf und kämpfte auf wackeligen Beinen mit seinem Stock darum, das Gleichgewicht zu halten. Erneut richtete er seine toten Augen auf den Mann, dann sagte er: »Ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit.«

»Wofür?«

»Um das Mädchen zu töten.« Mit klapperndem Stock entfernte er sich. »Um sie zu töten.«

Damit stieg er aus und die Türen schlossen sich hinter ihm.

Das Mädchen einige Stunden lang allein im Zimmer zu lassen, beunruhigte ihn nicht sonderlich. Natürlich redete sie nie darüber, aber sie schien zu wissen, was draußen lauerte. Wie viel weiß sie wirklich noch?, überlegte er, als er durch den Gang einer CVS-Filiale lief. Dann schossen ihm beunruhigendere Fragen durch den Kopf: Was muss sie durchgemacht haben? Was hat sie gefühlt und gesehen? Was sah sie, als sie die Augen aufschlug?

Was genau starrte sie in diesem Moment an?

Der Mann konnte nur beten, dass sie traumatisiert genug war, um sich nicht genau zu erinnern.

Verdammt ... Die Pistole in seiner Hosentasche hatte sich nach oben gearbeitet. Die Spitze des Griffs ragte verräterisch heraus. Er zog seine Windjacke darüber, dann schob er die Waffe an ihren Platz zurück. Ich muss vorsichtiger sein. Die Waffe würde er nie im Zimmer zurücklassen, wenn er irgendwohin musste. Er wollte nicht, dass sie damit allein blieb.

Der Mann kaufte eine dunklere Haartönung und eine Schachtel Zigaretten. Der Nieselregen wollte einfach nicht aufhören. Als er den Laden verließ, zog er die Kapuze über den Kopf. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Irish Pub. Der Mann fühlte sich wie gelähmt und starrte gebannt auf das Schild der Brauerei.

Verdammt, dachte er abermals.

»Nur eins«, murmelte er. »Nur eins, das täte jetzt so gut ...«

»So etwas wie ›nur eins‹ gibt es nicht«, meldete sich eine hohe Stimme hinter ihm zu Wort. Er drehte sich um und musste nach unten schauen.

Eine Gestalt, die er für eine junge Frau hielt, kauerte in einem Ziegelsteinverschlag neben einem Hydranten. Sie war völlig durchnässt. Der Nieselregen prasselte auf eine durchlöcherte Regenjacke, deren grelles Gelb sich längst in ein schmutziges Braun verwandelt hatte. Der Mann konnte kaum ihr Gesicht erkennen, weil die Kapuze die offenen Augen halb verbarg. Durch ihr Lächeln entblößte sie faulige Zähne, die wie zersetzte Pillen aussahen.

»Aus einem werden ziemlich schnell 20«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Aber Sie sollten trotzdem reingehen und sich eins genehmigen, um zu feiern.«

»Um was zu feiern?«

Schmutzige Hände breiteten sich zu einer sonderbar fröhlichen Geste aus. »Diesen wunderschönen Tag!«

»Ach ja? Ich komme aus Florida. Ich schätze, deshalb kann ich Seattles Definition von ›wunderschön‹ nicht wirklich nachvollziehen.«

»Es gibt tolle Ecken hier, wenn man genau hinsieht.«

»Da bin ich ganz sicher«, erwiderte der Mann.

»Ich war früher auch wunderschön ...«

Darauf wusste er angesichts ihrer offensichtlichen Notlage nichts zu entgegnen. Sie konnte nicht älter als 30 sein, aber wer mochte das schon mit Sicherheit sagen? Rosa Flecken besprenkelten den gelblichen Teint der aufgedunsenen Wangen. Chronische Alkoholikerin, stellte er mit Kennerblick fest. Die Haut wird gelb, weil ihre Leber nach und nach den Geist aufgibt ...

»Wo wohnen Sie?«, fragte er.

»Im Asyl in der King Street. Wenn ich laufen kann.«

Der Mann zögerte kurz, dann kramte er in der Hosentasche. »Ich habe etwas Geld, das ich Ihnen geben kann ...«

»Nein. Das brauche ich nicht. Was ich brauche, ist ein Drink. Holen Sie mir etwas zu trinken.«

Der Mann fühlte sich kraftlos. »Das ... das kann ich nicht. Tut mir leid.«

»Schon okay.« Mit schief in den Nacken gelegtem Kopf warf sie ihm noch immer ihr verunstaltetes Lächeln zu. »Aber falls Sie doch in den Pub auf der anderen Straßenseite gehen, und ich denke, das werden Sie ...«

»Werde ich nicht«, widersprach er.

»Aber falls doch, dann trinken Sie einen für mich mit.«

Erneut wusste der Mann nichts zu entgegnen.

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Die ihren Umständen trotzende Heiterkeit schlug in etwas Düsteres um. »Da ist noch etwas in mir.«

»Was?«

»Ich soll Ihnen etwas mitteilen.«

Die letzten Stadien einer chronischen Säuferin. Verminderte Sauerstoffversorgung des Gehirns, Toxin im Blut, dann kamen die Psychosen. Er spielte mit. »Was sollen Sie mir mitteilen?«

Jäh veränderte sich ihre Stimme. »Gehen Sie weg. Lassen Sie sie zurück.«

Die Zähne des Mannes klappten aufeinander. »Wen soll ich zurücklassen?«

»Töten Sie sie nicht.«

Der Mann glotzte sie entgeistert an.

»Gehen Sie einfach irgendwohin. Wenn Sie das tun, werden Sie belohnt.«

Der Mann brachte kein Wort hervor. Er starrte die Frau in der Gosse nur weiter an, während Regen auf seine Kapuze prasselte.

»Überlassen Sie den Rest ... uns.«

Dann verwandelte sich ihr Gesicht einen flüchtigen Moment lang in etwas, das nicht mehr an einen Menschen erinnerte, eher an ein pulsierendes schwarzes Loch in ihrer Kapuze.

Der Mann konnte sich nicht rühren.

Das echte Gesicht kehrte mit einem verblassenden Lächeln und Augen, aus denen kein Leben mehr sprach, zurück. »Leben Sie wohl«, sagte sie, bevor sie ein altmodisches Rasiermesser hervorholte, mit dem sie sich die Kehle bis zum Knochen aufschlitzte.

Der Mann wandte sich ab, als sich das Blut zu seinen Füßen ergoss. Autos hupten, als er vom Randstein auf die Straße wankte; rot gefärbtes Regenwasser spritzte zu seiner Jacke hoch. Er überquerte die Straße und betrat den Pub.

»Komm rein.«

Der Mann schwankte an der Tür im Regen. Hinter ihm rasten Autos auf dem Highway vorbei, jedes mit einem langen, nassen Zischen.

Ihre warmen Finger ergriffen sein Handgelenk und zogen ihn in das Motelzimmer, dann schloss sie die Tür und sperrte den unablässigen Lärm des Regens und der Fahrzeuge aus.

»Du bist klitschnass. Du bist ...«

Der Mann war fast besinnungslos, konnte kaum stehen. Er starrte sie nur mit großen Augen und beschämtem Blick an. Er brachte kein Wort hervor, aber er dachte: Ich bin eine Schande.

»Das wird schon wieder«, versicherte sie ihm.

Der Fernseher lief leise im Hintergrund. Ein Moderator von CNN berichtete mit ernster Miene, dass ein weiterer Helikopter der US Army von irakischen Partisanen abgeschossen worden war. 21 Tote.

»Hast du dich ... vollgekotzt?«

Der Mann wusste es nicht. Sie schälte ihn aus seiner Jacke, setzte ihn aufs Bett und begann ihn auszuziehen. Kein Wort kam über ihre Lippen, als sie die Pistole aus seiner Tasche holte. Dann lachte sie. »Bist du nicht los, um eine neue Haartönung zu besorgen? Wo ist sie?«

»Ich ...« Er wischte sich die nassen Haare aus der Stirn. »Ich hab sie im Pub liegen lassen.«

»Du bist so ein Trottel.«

Seine Sicht trübte sich, verschwamm an den Rändern. Ihr hübsches Gesicht schwebte wie eine verzerrte Blase vor seinen Augen. Als sie ihm die Schuhe auszog, hielt sie inne und betrachtete die rote Färbung. »Ist das ...« Doch sie beendete den Satz nicht. Stattdessen machte sie sich an seinen Socken, seiner Jeans und seinem T-Shirt zu schaffen. »Komm schon, hilf mir. Du brauchst jetzt eine heiße Dusche.«

»Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.«

»Klar doch, sicher schaffst du das.« Sie stellte ihn aufrecht hin und zog ihm ohne zu zögern die Boxershorts aus. Sein Gehirn stockte. Er nahm kaum wahr, dass er splitternackt vor ihr stand.

»Einen Schritt nach dem anderen.« Sie griff nach seinem Arm und führte ihn ins Badezimmer, wo er im grellweißen Licht blinzelte. Die Helligkeit schmerzte in seinem Kopf. Das Wasser zischte aus dem Duschkopf. Dampf stieg auf.

Ihr Arm schlang sich kräftig um seine Hüfte. »Rein mit dir«, sagte sie. »Lass dir Zeit. Linker Fuß zuerst.«

Seine Hand schoss vor, um sich an der gefliesten Wand abzustützen. Er schämte sich unheimlich. »Ich glaube, das schaffe ich nicht.«

»Hey, reiß dich zusammen! Ein bisschen musst du schon mithelfen!« Ihre Geduld war am Ende. »Du bist schließlich nicht behindert.«

Er riss sich zusammen, setzte sich auf den Rand der Wanne und hob behutsam ein Bein nach dem anderen darüber. Das herabspritzende Wasser war heiß und belebend. Vernunftfetzen tauchten in seinem Geist auf. Mehr Bewusstsein, mehr Schamgefühl.

»Und jetzt steh auf und wasch dich!«

Sachte, sachte!, mahnte er sich. Verlegener hätte er kaum sein können: ein blasser, nackter Säufer mittleren Alters. Als er aufzustehen versuchte, rutschte er sofort aus. Sein Hintern landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden der Wanne.

»Oh Mann ... Was soll ich nur mit dir machen?«

Sie streifte ihren Morgenmantel ab und stieg nur mit BH und Slip bekleidet zu ihm in die Wanne. Er sah auf wie ein desillusioniertes Kind, als sie sich vorbeugte, grunzte und ihn unter den Wasserstrahl bugsierte. Sofort fiel ihr das Haar in nassen Strähnen ins Gesicht. Große Brustwarzen traten dunkel hervor, als das Wasser den BH durchnässte. Die üppigen, mit Milch gefüllten Brüste wogten erotisch. Das Bild blendete ihn regelrecht – der mächtige schwangere Bauch voller Leben, der Busen, das dunkle Büschel ihrer Schambehaarung, die sich gegen den nassen Slip abzeichnete. In ihrer Fruchtbarkeit bot sie einen wahrhaft schönen Anblick, doch er war zutiefst erleichtert, dass er trotzdem keine erotischen Gefühle für sie entwickelte. Keine Lust, kein Verlangen, nicht einmal, als ihre weichen Hände ihn einseiften.

Sie half ihm aus der Dusche, trocknete ihn ab und unterstützte ihn bei dem mühsamen Unterfangen, seinen Bademantel anzuziehen. Danach führte sie ihn Schritt für Schritt hinaus ins Zimmer und setzte ihn aufs Bett.

Mittlerweile fühlte sich der Mann ein wenig besser als tot.

»Tut mir leid«, sagte er.

»Schon gut.«

Im Fernsehen liefen immer noch Nachrichten. Von einem Schulhof in Maryland waren Kinder entführt worden. Bundesagenten hatten eine Razzia in einem geheimen Labor durchgeführt, in dem mit Gehirngewebe von Föten experimentiert wurde. Eine Krankenpflegerin für Schwerbehinderte gestand vor laufender Kamera, ein sechsjähriges, geistig zurückgebliebenes Mädchen ermordet zu haben, um sich mit dem Vater des Kindes das Geld von der Versicherung zu teilen. Ruandische Soldaten hatten ein Krankenhaus vom Roten Kreuz niedergebrannt und dabei 60 Menschen getötet.

»Das Böse lauert überall«, stellte das Mädchen fest.

»Ich weiß.«

Sie schaltete den Apparat aus und setzte sich neben ihn. »Ich habe mehr Angst als du. Verstehst du, was ich meine?«

Die Worte durchschnitten den Nebel der Alkoholvergiftung wie ein starker Lichtstrahl. »Ja. Da gibt es ja nichts falsch zu verstehen.«

»Ich weiß nicht, was passieren wird.«

»Ich auch nicht.«

Ein Klicken ertönte, als sie schluckte. »Meine Fruchtblase kann inzwischen jeden Tag platzen, vielleicht sogar jede Stunde.«

Der Mann nickte. Er brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, wovon er beinahe überzeugt war. Es wird morgen nach Mitternacht geschehen.

»Ich will, dass du mich umbringst. Erschieß mich mit deiner Pistole und lauf weg. Ich werde dir vergeben«, sagte sie. »Und Gott wird es auch.«

»Ich werde dich nicht umbringen«, krächzte er. »Wäre das mein Plan, dann hätte ich es schon längst getan.«

Sie schaltete das Licht aus. »Dann lass uns jetzt schlafen.«

Er wollte noch einmal aufstehen, aber ihre Hand zog ihn zurück. »Schlaf hier im Bett bei mir. Glaubst du etwa, dass ich dir nach allem, was du getan hast, nicht vertraue?« Ein freudloses Kichern. »Wenn du etwas Perverses mit mir vorhättest, hättest du auch das längst getan.«

Der Mann legte sich hin, schmiegte sich an sie und ließ seine Gedanken wandern. Er fühlte sich nach wie vor schrecklich und wusste, dass es noch eine Zeit lang so bleiben würde, aber so neben ihr zu liegen – in vollkommenem Vertrauen –, vermittelte ihm ein tröstliches Gefühl, das unschätzbar schien. Sie schlief rasch ein, während sich in seinem Kopf immer noch alles drehte, aber nach einer Weile beruhigte er sich. Er lauschte ihrem Atem, während ihre Hand auf seiner Brust ruhte.

Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, konnte er ihre Umrisse erkennen. Die Brüste hingen seitlich über dem gewaltigen Bauch.

Bevor er selbst in einen benommenen Schlaf fiel, ging ihm noch durch den Kopf: Nein, ich werde dich nicht töten. Aber ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen, dass ich töten werde, was immer aus dir herauskrabbelt ...

Kapitel 1

Neun Monate vorher ...

I

Faye wusste nicht genau, ob sie noch träumte. In ihrem Kopf schienen sich ausgesprochen lebhafte Albträume abzuspielen, allerdings konnte sie sich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein. Jedenfalls mochte sie es, wenn die Tür abgeschlossen war, und es gefiel ihr, wie der Mond manchmal nachts durch das Fenster hereinschien.

Faye, nimm noch ein paar ...

Wenn ich noch mehr nehme, bin ich völlig erledigt!

Wir ... wir wollen ja, dass du völlig erledigt bist. Wir wollen, dass du sämtliche Hemmungen verlierst. Und du weißt ja, dass es dir gefällt. Du magst alle. Lass es mich mal so ausdrücken: Wenn du nicht völlig erledigt bist, können wir nichts mit dir anfangen.

Fett und nackt hockte sie auf einer roten Samtcouch aus der Zeit von Edward IV., von der sie wusste, dass sie mehr kostete, als sie selbst in zwei Jahren verdiente. Fett, nackt und in ihrer künstlichen Ekstase zudem trauriger, als wenn sie nüchtern und alleine war. Hildreth hatte recht: Nur damit erfüllte sie ihren Zweck. Hausmeisterin? Ein Witz; mittlerweile wusste sie das. Ich bin ihr Semperit-Mädchen. Sie war dazu da, ausgelacht, missbraucht und gedemütigt zu werden. Wenn sie einen der Filme im Haus drehten, nannten sie Faye »das Kuschelschwein«.

Muskelbepackte Männer standen nackt und erregt neben ihr. Bei einigen hatte Viagra nachgeholfen, andere geilte die Anwesenheit des Bösen auf. Faye blies ihnen abwechselnd einen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Es war zu einem Automatismus geworden. Zwei grobe Finger zwirbelten eine schiefe Brustwarze, als wollten sie eine Schraube aus einer Wand drehen.

Dieses Schwein macht es aber VERDAMMT gut ...

Wahrscheinlich übt sie schon, seit sie vier ist.

Und statt zu weinen, zu schreien oder sie zu beißen, stieg Faye ein Lachen in der Kehle hoch. Es war scheußlich, was aus ihr geworden war.

Ich bin scheußlich, dachte sie.

Ein Mann zog sich aus ihr raus.

Zeig mir deine Zunge.

Faye gehorchte und der Mann versenkte eine grellgrüne Pille mit Playboy-Bunny in ihrem Mund.

Ein anderer drückte ihr eine Flasche in die Hand.

Schluck. Darin bist du ja gut.

Sie stürzte den schweren Wein hinunter, ohne auf das ausgebleichte Etikett zu achten: MONTRACHET 1888.

Die kräftigere Stimme blökte durch das von Kerzen erhellte Zimmer. Janey, warum kommst du nicht hier rüber und verwöhnst Faye mit deinen ganz speziellen Talenten?

Eine unglaublich schöne Frau saß nackt mitten auf dem handgeknüpften Kaschmirteppich. Zerstreut schaute sie auf, während sie umständlich mit einer Spritze hantierte, mit der sie sich gerade einen Schuss ins Bein setzen wollte. Oh Reginald, bitte. Du weißt, dass ich nur mit heißen Mädchen rumfummle. Sie ist zu hässlich ...

Also ich mach’s, bot prompt eine weitere Nackte an und stürzte grinsend heran. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte schon immer eine Schwäche für hässliche Bräute!

Du weißt nicht, warum?, meldete sich jemand anders zu Wort und lachte. Meinst du nicht, es könnte etwas damit zu tun haben, dass du bescheuert bist?

Halt die Klappe, Dreiei!

Die Frau kroch zwischen Fayes klobige, reisweiße Schenkel und begann sofort damit, sie gierig mit der Zunge zu bearbeiten. Faye erzitterte unter dem Ansturm von lustvollen Empfindungen. Ein metallisches Klicken war zu hören, als der Zungenschmuck der Frau über die Ringe von Fayes unfreiwilligem Intimpiercing wanderte. Weitere warme, pulsierende Massen füllten ihren Mund aus, stießen rücksichtslos in sie hinein. Faye fügte sich widerspruchslos, weil sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb. Mittlerweile überwältigten sie so viele Eindrücke: moschusartige Gerüche, brodelnde Empfindungen, Drogenrausch, Schwänze und andere Genitalien vor ihrem Gesicht und die abenteuerlichsten Dinge, die ihr in den Mund gesteckt wurden.

Bitte, meine Herren! Sparen Sie es sich für später auf. Nicht so gierig.

Gehorsam traten alle Männer zurück. Das Kerzenlicht flackerte auf ihren verschwitzten massigen Oberkörpern und ihren emporragenden Erektionen.

Die andere Frau fuhr noch einige Male sanft mit ihrem Zungenschmuck über die Ringe in Fayes Schamlippen, dann wandte sie sich direkt der freiliegenden Klitoris zu.

Faye wurde von einer berauschenden Woge der Ekstase ergriffen, während sie auf ihren Höhepunkt zusteuerte.

Seht nur, gleich kommt sie!

Gebt ihr das Zeug, wenn es so weit ist.

Fayes Schenkel bebten, als Wellen der Lust durch ihren Körper brandeten. Sie keuchte und ihr Herz raste. Die Crack-Pfeife wurde ihr an die Lippen gesetzt.

Nein, ich kann nicht mehr, stieß sie flehend und überfordert von Geilheit hervor.

Ein Feuerzeug leuchtete auf und schien auf ihr verstörtes Gesicht. Dann wurde ein Hahn gespannt und eine Pistole an ihren Kopf gehalten.

Rauch es ...

Faye inhalierte die metallischen Dämpfe, als der Orgasmus über ihr zusammenschlug. Dann rollte sie von der Couch, landete mit einem klatschenden Laut auf dem Boden und blieb benommen liegen.

So. Jetzt kann der fette Haufen Scheiße nicht behaupten, wir hätten nie etwas für sie getan.

Gelächter, während Faye wie ein fallen gelassener Sack herumlag.

Dann ertönte wieder die kräftige Stimme: Das war wie immer total unterhaltsam. Vertagen wir uns jetzt ins Scharlachrote Zimmer.

Nackte Körper entfernten sich und tappten barfuß über den Teppich. Die Konturen erotischer Schatten verschwanden durch das Flackern der Kerzenflammen.

Faye lag sabbernd da und wünschte sich, sie könnte sterben. Sie wusste, was vor sich ging; wusste, was jetzt bevorstand.

Hau ab! Sie sind alle im anderen Zimmer!

Zumindest raunte ihr das ihr Instinkt zu. Allerdings war ihr klar, dass Instinkte wie Selbsterhaltung für sie keine Bedeutung mehr hatten. Wie lange würde sie draußen in der normalen Welt wohl durchhalten? Mittlerweile hatten sie Faye von so gut wie allem abhängig gemacht, damit ihre menschliche Piñata gefügiger wurde. So machte es den Männern mehr Spaß, sie auszulachen, auf sie zu pissen und sie zu demütigen – und alles, weil sie schlicht und ergreifend böse waren. Faye würde ein paar Tage durchstehen, bis ihr das Geld für Drogen ausging, dann würde sie einen letzten Blick auf ihr verkorkstes Leben werfen und sich den Schädel wegpusten.

Was also hatte sie zu verlieren?

Es dauerte eine halbe Stunde, in der sie tief durchatmete und sich darauf konzentrierte, das Tempo ihres Herzschlags herunterzufahren, bis es ihr endlich gelang, sich aufzurappeln. Das Kerzenlicht leckte flackernd über ihren schwabbeligen Körper. In ihrem Kopf drehte sich immer noch alles, dennoch holte sie sich irgendwie die Kontrolle über ihre Bewegungen und Gedankengänge zurück. Sie hatte es so weit geschafft, jetzt wollte sie es auch sehen.

Sie wollte sehen, ob es stimmte, und dann sterben.

In welchem Zimmer bin ich? Es ist einer der oberen Salons, vermutete sie. Faye konnte sich nicht erinnern. Sie schob die hohen Schwingtüren auf, schwankte kurz und trat dann hinaus in den Flur. Als sie das Geländer erreichte und hinabblickte, sah sie Hunderte flackernde Punkte, die von angezündeten Kerzen stammten.

Als sie sich zur Treppe schleppte, drangen Gemurmel, Seufzen und Todesröcheln an ihre Ohren. Vereinzelt ertönten gellende Schreie tief aus den Eingeweiden der Villa. Sie schaute in eins der Zimmer und erkannte eine nackte Frau, die mit einem Fleischhaken im Gaumen an einem Deckenbalken baumelte. Die Arme zuckte ein wenig und gab gurgelnde Laute von sich. Jemand hatte das gesamte Fleisch von ihren Waden und Füßen gepellt und Druckverbände oberhalb der Knie angebracht, um zu verhindern, dass sie sofort verblutete. Faye schloss die Tür und ging weiter. Im nächsten Raum lagen drei tote Frauen, allerdings keine von den Filmmädchen, soweit sie es beurteilen konnte. Sie waren bleich wie Paraffin und ausgemergelt, als wären sie verhungert. Unter Bäuchen, die wie eingezogen wirkten, ragten die Beckenknochen hervor. Allen war die Kehle aufgeschlitzt worden.

Faye wusste, wohin sie ging. Unterwegs erwarteten sie weitere Abscheulichkeiten. Einmal tappte ihr nackter Fuß in einen Haufen noch warmer menschlicher Gedärme. Einige Schritte weiter drückte etwas Hartes und Nasses gegen ihre Fußsohle: ein herrenloser Hoden. Auf der obersten Stufe lag eine der jungen Darstellerinnen – eine der wenigen, die nett zu Faye gewesen waren; tot, mit glasigen Augen, die Hüftgelenke gebrochen, um ihre Schenkel weiter zu spreizen, als die Natur es zuließ, damit der Erstbeste, der morgen die Treppe heraufkam, sehen würde, was ihr in die Scheide gestopft worden war: ein menschlicher Arm.

Doch Faye war längst über den Punkt hinaus, Entsetzen zu empfinden. Das gehörte alles zu Hildreths Wahnsinn. Es waren seine Opfergaben, seine Art, auf sich aufmerksam zu machen und seine Würdigkeit zu beweisen. Das, was er heraufbeschwor, würde ihn als überaus würdig erachten, das wusste Faye. Ebenso wusste sie: Wenn sie das Haus weiter durchsuchte, statt zu fliehen, erwarteten sie noch weitaus schlimmere Entdeckungen.

Als sie die Tür fand, nach der sie suchte, schien es sich weniger um einen Durchgang zu handeln, sondern vielmehr um eine von etwas Lippenähnlichem umsäumte, längliche Öffnung. Die Drogen sorgten dafür, dass sie sich ständig alle möglichen Dinge einbildete, aber bildete sie sich auch dies hier wirklich nur ein?

Als sie das berührte, was der Türrahmen hätte sein sollen, fühlte es sich weich, warm und nass an. Eindeutig kein Holz.

Vor ihr herrschte absolute Stille. Weitere Kerzen ließen flackernd erahnen, welches Grauen sich hier abgespielt haben mochte. Faye ließ den Blick durch Hildreths geliebtes Scharlachrotes Zimmer wandern und dachte: Sie haben es wirklich getan.

Einige der Leichen waren unversehrt, andere lagen als Einzelteile verstreut herum. In der Mitte des Raums türmte sich ein Haufen abgeschlachteter nackter Menschen. Gliedmaßen, Köpfe, Hände und Füße säumten die blutige Ansammlung der Körper. Faye konnte mühelos erkennen, welche Werkzeuge zum Einsatz gekommen waren – Axtwunden in Gesichtern, Axtwunden in Bäuchen. Ihr kam der Gedanke, dass die Leichen absichtlich aufeinandergestapelt worden waren, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen: eine aufgetürmte Opfergabe, eine Einladung. An der Tür im hinteren Bereich lagen mehrere umgekippte Eimer, in denen es rötlich glänzte. Und daneben befand sich die Axt, als habe sie jemand achtlos hingeworfen.

Hau ab, drängte sie sich.

Doch das konnte sie nicht.

Als Faye schließlich den Raum betrat, ertönte ein Schmatzlaut, der von etwas Warmem unter ihren Fußsohlen ausging. Zuerst dachte sie, es müsste der Teppich sein, der sich mit dem vielen Blut vollgesaugt hatte, aber ein Blick nach unten strafte sie Lügen.

Sie lief gar nicht auf dem Fußboden, sondern auf rohem Fleisch, das einem riesigen Porterhousesteak ähnelte. Adern so dick wie Gartenschläuche verzweigten sich ringsum und pulsierten. Sie streckte eine Hand aus, um sich an der Wand abzustützen, doch was ihre Finger berührten, war keine Wand mehr ... sondern Haut.

Heiße, schwitzende, gerötete Haut mit intakten Nerven, die sich in erregter Empfindung wanden. Faye ging an der Wand entlang und fuhr mit der Hand darüber. Unter ihren Fingern schien die Begrenzung anzuschwellen, als versuchte sie, die Berührung zu erwidern. Außerdem spürte sie feine Erhebungen: offene Augen, Gesichter, Münder mit leckenden Zungen. Die Augen blinzelten sie lüstern an. Eine Zunge schoss verzweifelt hervor, dann seufzten die Lippen und flüsterten: »Bitte, bitte! Lass uns dich schmecken!«

Fayes üppiger Hängebusen bebte und ihre Speckfalten schwabbelten, als sie mit wackligen Füßen auf die Mitte des Raums zustolperte. Sie musste noch etwas überprüfen ...

Die andere Tür.

Dort war es tatsächlich, genau wo es sein sollte. Gesäumt von triefendem Fleisch.

Der Spalt, dachte sie.

Ja, sie hatten es wirklich getan.

Aber wo steckte Hildreth?

Dann steckte sie ihren Kopf hinein und sah, wie er zurückgrinste.

Die Polizei fand sie Stunden später. Sie saß am Ende der kilometerlangen gewundenen Auffahrt zur Villa. Sabbernd. Nackt. Wahnsinnig.

Nun hockte Faye genauso da, nur an einem anderen Ort. Nein, kein Albtraum – schlimmer: eine Erinnerung.

Der Mond hüllte den Boden und einen Teil des Betts in sein sanftes eisähnliches Licht.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr; als sie zu dem kleinen Fenster aufschaute, spähte ein Gesicht herein. Das taten sie oft, aber sie lächelten nie.

Die Tür öffnete sich mit einem schweren Klicken.

»Komm, Faye. Es ist Zeit für deine Medikamente.«

II

Patrick Willis reiste nie mit dem Flugzeug. Das hatte er vor zehn Jahren aufgegeben, als seine mentalen Kräfte ihren Höhepunkt erreichten. Meistens wurden sie durch Berührung ausgelöst. In der Enge einer Flugzeugkabine, umgeben von all den anderen Passagieren ... das wurde ihm manchmal zu viel.

Und oft war es der pure Wahnsinn.

In unmittelbarer Nähe so vieler Auren brauchte er andere Menschen nicht einmal zu berühren. Ihr Grauen fand andere Möglichkeiten, ihn zu erreichen.

Deshalb reiste er nur noch mit Greyhound-Bussen. Die waren sowieso billiger.

Die halbe Ostküste zog vor dem großen Fenster wie ein bunter Film vorbei. Diese ganze Schönheit da draußen, dachte er. Dann ließ er den Blick über die etwa zehn anderen Fahrgäste streifen, die sich den Bus mit ihm teilten. Ja, draußen ist davon jede Menge zu finden, hier drinnen eher nicht.

Mehrere Penner, einige fette Sozialhilfeempfänger und ein weißes 20-jähriges Mädchen mit fettigen Haaren, das mit steinerner Miene neben einem grinsenden Schwarzen Mitte 40 saß. Ein schlafender Junkie hier, ein redseliger Geistesgestörter dort. Allesamt vom Pech verfolgt. Hauptsächlich Menschen, die das Leben in die Gossen der Gesellschaft verbannt hatte.

Und wohin gehöre ich?, fragte er sich.

Willis sah wieder aus dem Fenster. Selbst auf eine Entfernung von unter drei Metern konnten Menschen eine Wahrnehmung bei ihm auslösen, wenn er sie eindringlich genug musterte. Was sich jenseits des Fensters abspielte, gefiel ihm deutlich besser.

Er wollte die Landschaft auf der anderen Seite der Scheibe auf sich wirken lassen, aber letztlich endete es – wie üblich – damit, dass er noch mehr von seinem eigenen kaputten Leben wahrnahm. Er war nie besonders materialistisch veranlagt gewesen, ganz im Gegenteil. Nach Abschluss seines Medizinstudiums hatte er wenig Lust verspürt, sich als Arzt niederzulassen – obwohl ihm seine zusätzlichen Talente sicher innerhalb kürzester Zeit ein siebenstelliges Jahreseinkommen verschafft hätten. Stattdessen hatte er beim staatlichen Gesundheitszentrum gearbeitet, wo er überwiegend Vergewaltigungsopfer und misshandelte Frauen betreute. Er war schon immer selbstlos gewesen. Für ein wesentlich geringeres Gehalt zu arbeiten, um Menschen zu helfen, die sich selbst nicht helfen konnten, schien ihm eine ehrenvolle Aufgabe zu sein. So kann ich der Welt etwas zurückgeben. Es ging ihm nicht um Idealismus, sondern kam von Herzen.

Willis blieb etwa fünf Jahre dort und seine »Gabe« wurde – wie bei so vielen anderen mit parapsychologischen Fähigkeiten – zu einem Fluch. Bis zum Abschluss des Medizinstudiums hatte er sie kaum wahrgenommen – diese Art von übersinnlicher Begabung erreichte in der Regel erst um das 30. Lebensjahr herum ihren Höhepunkt. Bemerkt hatte er sie allerdings schon früher, wenn er im College oder während des Medizinstudiums mit Frauen zusammen war. Berührungen. Direkter Hautkontakt. Sex verdreifachte die Intensität dessen, was er als »Rückstrom« bezeichnete; und da Sex die intimste Art von direktem Hautkontakt darstellte, kam Willis’ Liebesleben nie über die erste Nacht mit einer Frau hinaus. Es gab immer irgendetwas – ein schreckliches oder dunkles Geheimnis –, das aus ihrem Kopf in seinen strömte. Willis fühlte sich wirklich wie ein Verfluchter.

Trotzdem habe ich es geschafft, oder?, überlegte er, während der Bus über den Highway rumpelte.

Mit 30 fand er sich damit ab, dass er vermutlich nie in der Lage sein würde, eine intime Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Zur sexuellen Befriedigung setzte er auf die gute alte Handarbeit. Sich damit abzufinden, war nicht ganz einfach, denn nach gängigen Maßstäben war er ein überaus attraktiver Kerl. In der Klinik hatte er sich den Spitznamen »Dr. Schnuckel« eingefangen. Aber egal – er besaß ein gesundes Maß an Entschlossenheit, hatte seine Ideale und wusste, dass er einer Menge Menschen wirklich geholfen hatte, bevor man ihm seine Zulassung wegnahm.

Denk jetzt einfach nicht darüber nach, seufzte er innerlich. Auch über die vertrackte Geschichte, auf die er sich gerade einließ, grübelte man besser nicht zu sehr. Von Vivica Hildreth hatte er zwar nie zuvor gehört, dafür jedoch umso mehr vom »Unterhaltungsbetrieb« ihres Ehemanns, T&T Enterprises. In dem Brief, der zusammen mit dem Paket eingetroffen war, stand: Bei dem Schmuckstück in dieser Schachtel handelt es sich um ein Armband, das einer Frau namens Jane Scharr gehörte. Ihr Künstlername als Pornostar lautete Janey Jism. Ein fast schon unheimlicher Zufall, denn die Filme von Miss Scharr hatten Willis schon einige überaus befriedigende Abende verschafft. Das Schreiben ging weiter: Bitte ziehen Sie in Erwägung, Ihre Fähigkeiten bei diesem Armband einzusetzen. Falls Sie sich dazu entschließen sollten, die Gesamtheit der fraglichen Nacht zusammen mit anderen Experten auf ihrem Gebiet eingehender zu untersuchen, zahle ich Ihnen das Zehnfache des beigelegten Vorschusses. Setzen Sie sich mit meinem Büro in Verbindung, falls Sie Interesse haben. Meine Mitarbeiter werden dann Anreise und Unterbringung organisieren. Den Vorschuss können Sie unabhängig von Ihrer Entscheidung in jedem Fall behalten.

Mit freundlichen Grüßen

Vivica Hildreth

»Mann«, murmelte er, als er darüber nachdachte. Willis’ sogenanntes Büro konnte man nicht gerade als Gelddruckmaschine bezeichnen. Vielmehr konnte er von Glück reden, wenn er es mal auf 20.000 im Jahr brachte. Allein Vivica Hildreths Vorschuss belief sich auf stolze 10.000 Dollar.

Was konnte er schon tun? Er brauchte das Geld.

Willis schüttelte das kleine Expresspaket und hörte, wie die Glieder des zierlichen Armbands leise gegeneinanderklirrten. Er überlegte, ob er es erneut aus dem Samtbeutel holen sollte – nur um es noch einmal anzusehen –, verwarf die Idee jedoch und spähte lediglich hinein. Es handelte sich um einen hübschen Silberschmuck mit winzigen Amethysten. Ein Experte für Kristalle würde sicherlich beteuern, dass Amethyst und Silber den Träger vor Bösem schützten. Hat bei ihr eindeutig nicht geklappt, dachte Willis. Jane Scharr hatte das Armband vor gar nichts geschützt.

Als er es an dem Tag, als das Päckchen in seiner armseligen Wohnung in Los Angeles eintraf, zum ersten Mal in die Hand nahm, wäre er beinahe zu Boden gesackt. Bildfragmente muskulöser Männer, deren nackte Körper vor Schweiß glänzten, waren vor seinem inneren Auge aufgetaucht. Seelenruhig schlitzten sie die Kehlen mehrerer Frauen auf und fingen anschließend ihr Blut in Eimern auf. Kerzen flackerten, während eine Orgie ablief. Dann schlug ein großer, schlanker und irgendwie bedeutend aussehender Mann mit einer Axt auf die Teilnehmer der sexuellen Ausschweifungen ein. Mit einem Hieb nach dem anderen vergrub er das Blatt in Rücken, Köpfen und Genitalien. Und dort, in der Ecke eines Raums, der Blut zu schwitzen schien, kauerte Jane Scharr alias Janey Jism. Mit drogenbenebeltem Blick lugte sie zwischen den Schenkeln hervor, in denen sie ihr Gesicht vergraben hatte. Im selben Moment knallte ihr die Axt gegen die Stirn und spaltete den Schädel. Dann wurden ihr mit stummen Schlägen Hände und Füße abgehackt und ihr noch zuckender Körper hochgehoben und auf einen Stapel weiterer zerhackter Leiber geschleudert. Die Frau, die sie eben noch oral verwöhnt hatte, griff sich ihre abgetrennte Hand und benutzte sie, um damit zu masturbieren ...

Das hatte Willis gereicht.

Und nun war er unterwegs, um mehr davon zu sehen, weil er das Geld unbedingt brauchte.

Was bin ich doch für eine Nutte, dachte er an seinem Fensterplatz.

Kalifornien hatte er längst hinter sich gelassen, die anderen Bundesstaaten zogen draußen verschwommen vorbei. Er hoffte, der Bus würde noch vor Sonnenuntergang am Ziel eintreffen.

Der Lautsprecher knackte, und die fröhliche Stimme des Fahrers verkündete: »Werte Fahrgäste, Sie können anfangen, zusammenzupacken. Ninth Street North, St. Petersburg, Florida, liegt gleich am Ende der Mautstraße. Wir treffen in etwa 15 Minuten am Busbahnhof ein.«

Gott sei Dank, dachte Willis.

»’tschuldigung, Sir«, sprach ihn überraschend eine dicke, verwahrlost wirkende Frau an. »Wir sin’ fast in St. Petersburg, und ich bin komplett blank. Hätten Se wohl ’n Dollar Busgeld für mich? Muss meine Tochter besuchen.« Und dann packte sie seine Hand.

Willis zuckte zurück und hätte beinahe laut aufgeschrien. Durch diese flüchtige Berührung, diese Taktion, schoss ein stummer Strahl tiefster Schwärze in seinen Geist – das gebrochene Herz einer Mutter, als sie von der Polizei erfährt, dass ihrem Sohn auf dem Heimweg von der High School aus einem fahrenden Auto eine Kugel in den Kopf gejagt wurde. Und es blieb nicht bei dem bloßen Gefühl, es wurde von flüchtigen Bildern begleitet: ein explodierender Schädel, durch die Luft spritzende Gehirnmasse ...

»Rühren Sie mich nicht an, rühren Sie mich nicht an!«, brüllte er und wich so weit wie möglich von ihr zurück.

»Du meine Güte, ich hab Sie ja bloß gefragt ...«

Willis stieß die Visionen von sich weg; er hatte gelernt, sich rasch zu fangen. »Schon gut, schon gut, tut mir leid«, sprudelte er hervor und setzte ein gespieltes Lächeln auf. »Sie haben mich nur erschreckt. Hier.« Damit drückte er ihr einen 20-Dollar-Schein in die Hand.

Ihr breites Gesicht wirkte verwirrt und erstaunt zugleich. »Danke vielmals, Sir. Gott segne Sie.«

Willis seufzte und schloss die Augen. »Möge er Sie auch segnen.«

III

»Wir sind reich«, stellte Straker ohne sonderliche Begeisterung fest.

»Reich? Willste mich verscheißern?«, gab Walton in seinem leicht gedehnten North-Carolina-Akzent zurück. »Klar, war ’ne hübsche Stange Geld ...«

»100.000 für drei Wochen Arbeit, geteilt durch zwei? Ja, das würde ich auch als hübsche Stange Geld bezeichnen.«

»Kann immer noch nicht glauben, dass die durchgeknallte Schlampe uns so viel gezahlt hat. Aber wir werden’s versteuern müssen, weil sie’s sicher gemeldet hat.«

»Ja. Scheiße.«

Für zwei Männer, die soeben innerhalb weniger Wochen 100.000 Dollar verdient hatten, ließen Walton und Straker kaum Enthusiasmus erkennen. Die beiden saßen auf den Eingangsstufen des großen Hauses, erschöpft, niedergeschlagen und ... noch etwas.

»War die Sache fast nicht wert«, meinte Straker schließlich. »Müsste ich’s noch mal tun, würd ich mir vielleicht sagen, scheiß auf die 50.000, ich geh lieber in die Kneipe.«

»Ich weiß.«

Der frühe Morgen passte nicht zur Situation; sie hätten den Job um Mitternacht beenden sollen – das hätte die richtige Wirkung gehabt. Sie hätten ihr Werkzeug unter dem Schein des Vollmonds zurück zum Wagen schleppen und anschließend in die schwüle Nacht davonbrausen sollen.

Auch ihr Erscheinungsbild hätte kaum unpassender sein können: zwei Männer mit Kinnbärten und finster entschlossenen Mienen, Walton mit seinem schwarzen Cowboyhut, Straker mit der Baseballmütze, die das auf den Kopf gestellte Logo der Buccaneers präsentierte. Straker rauchte, Walton gönnte sich eine Prise Kautabak. So saßen sie auf der Eingangsstufe vor diesem prunkvollen Haus. Was genau wirkte also so unpassend? Schließlich handelte es sich lediglich um zwei Männer, die gerade einen Auftrag erfolgreich beendet hatten, der eine mit Baseball-Cap, der andere mit Stetson.

Es lag daran, dass sie immer noch ihre knallgelben Schutzanzüge trugen und lediglich die Kapuzen zurückgezogen hatten. Neben ihren Polypropylenstiefeln lagen Gasmasken und Sauerstofftanks.

»Ich finde, der Gestank war am Schlimmsten«, dachte Straker laut nach, während er rauchte. »Vor allem am ersten Tag.«

Walton spuckte Tabaksaft aus. »Ne, mir hat eher zu schaffen gemacht, wie sich der Ort anfühlte. Vielleicht war’s auch bloß ’ne psychologische Sache, weil wir ja wissen, was sich da drin abgespielt hat.«

»Ich meine ... wer hätte sich so was je vorgestellt? Die ganzen Menschen ...«

»Die Teppichentsorger haben gemeint, es waren um die 20. Sie wussten nicht genau, wie’s passiert ist, aber ... Scheiße, überall im Zimmer waren diese Axteinschläge.«

»Und dann noch der ganze Pornoscheiß«, fügte Straker hinzu. Eigentlich wollte er nur noch weg, doch er fühlte sich zu müde, um sich dazu aufzuraffen.

»Schätze, das macht man so, wenn man reich ist. Man kauft sich ’ne Pornofirma und verlagert sie in sein Haus. Dann stopft man die Bude voll mit heißen Miezen ...«

»Und dann bringt man sie um«, beendete Straker die Beschreibung des verwirrenden Szenarios. »Und soll ich dir was sagen? Manchmal, wenn ich da drin in ein Zimmer gegangen bin, hatte ich plötzlich das Gefühl ...«

»Als wärst du auf einem Friedhof und würdest von jemandem beobachtet?«

»Ja, das war ständig so, aber das mein ich nicht. Ein paarmal hatte ich plötzlich das Gefühl, geil zu werden.«

Walton kicherte. »Scheiße, du bist doch ständig geil.«

»Ich mein’s ernst, Mann. Ich stand da drin und hab geronnenes Blut und Eingeweide vom Boden eines Zimmers gekratzt, in dem ein Haufen Leute ermordet wurden, und auf einmal bekam ich einen Steifen.«

»Tja, ich schätze, dann hast du einen ziemlichen Dachschaden.«

»Total ekelhaft. Mir war schlecht, auf dem Boden krochen die Maden rum und ich wollte nur den Kopf aus dem Fenster stecken und kotzen ... aber gleichzeitig hatte ich einen verdammten Ständer.«

Walton schüttelte den Kopf und rückte die Krempe seines schwarzen Cowboyhuts zurecht. »Fahren wir zur Kneipe, du brauchst dringend ’nen Drink.«

Die beiden stöhnten, als sie sich aufrappelten, ihre Ausrüstung zusammensammelten und sich zum Lieferwagen schleppten, der mit Nass- und Trockensaugern sowie Chemikalien vollgestopft war. Auf der Seite des Fahrzeugs stand:

WALTONS EXTREMREINIGUNGSDIENST(TATORTE, BRÄNDE, LEICHENFUNDE)WIR SIND ABGEHÄRTET!

Ein weiterer großer Lieferwagen rollte auf den Vorhof. Mehrere, mit ähnlichen Schutzanzügen bekleidete Männer stiegen aus.

»Wer sind die Kerle?«, fragte Straker.

»Schädlingsbekämpfer ...« Walton wandte sich an den vordersten der Neuankömmlinge. »Viel Spaß, Jungs.«

»Ist es schlimm?«, fragte der Mann mit Gasmaske in der Hand. »Bezahlt hat die Lady jedenfalls äußerst großzügig.«

»Es ist sogar ausgesprochen übel«, antwortete Walton. »Tobt euch aus.«

Weder Walton noch Straker verloren ein weiteres Wort, als sie in ihr eigenes Fahrzeug kletterten. Walton suchte einen zackigen Countrysong im Radio, legte den Gang ein und fuhr los.

Straker war immerhin froh darüber, dass man ihm die Entsorgung der Leichen erspart hatte. Aber ein Teil seines Verstands ging die Möglichkeiten durch. Was ist da drin wirklich passiert?

Im Rückspiegel beobachtete er, wie die riesige Villa erst zusammenschrumpfte und dann nach der ersten Kurve verschwand. Doch tatsächlich würde sie nie so ganz verschwinden, wie er in den folgenden Jahren feststellen sollte – sie blieb beharrlich in seiner Erinnerung haften.

»Warte mal«, sagte er. »Was ist eigentlich aus dem Kerl geworden?«

Walton spuckte erneut aus. »Aus welchem Kerl?«

»Na, dem reichen Kerl, diesem Hildreth.«

»Scheiße, ich ... ich weiß es nicht.«

IV

Adrianne Saundlund musterte mit trübem Blick die vorbeiziehenden Gesichter. Bitte, setzt euch NICHT hierhin, dachte sie. Adrianne reiste immer mit Fluggesellschaften, die freie Platzwahl anboten, denn in der Regel hatte sie Pech – sie bekam immer einen Stinker oder eine Mutter mit einem quengelnden Baby neben sich gesetzt. So hatte sie zumindest eine Chance. Sie war immer früh genug da, um zu den ersten Passagieren zu gehören, die an Bord gingen. Dann pflanzte sie sich auf den ersten Fensterplatz und bemühte sich, so unfreundlich wie möglich zu wirken, um potenzielle Sitznachbarn dazu zu bewegen, sich woanders hinzusetzen. Adrianne wollte niemanden in ihrer Nähe haben. Sie mochte Menschen nicht besonders.

Fensterplätze bevorzugte sie, weil der Ausblick auf den Himmel sie an ihre ganz eigene Art des Fliegens erinnerte – außerhalb ihres Körpers.

Das Geheul der Turbinen entspannte sie im Zusammenspiel mit den Schlafmitteln, von denen sie längst abhängig geworden war. Adrianne wollte einfach nur ihre Ruhe haben ...

Abwesend blätterte sie durch die aktuelle Ausgabe der Paranormal News. Sie blieb am Bild einer sympathischen Frau mit herbstblattfarbenen Augen, verhaltenem Lächeln und einem wirren Schopf tintenschwarzer Haare hängen, die wie eine Bibliothekarin aussah. Ein abwesender, wissender und zugleich ein wenig argwöhnischer Gesichtsausdruck. Der dazugehörige Artikel trug die Überschrift »Fernkontrolle: Techniken und Philosophien der Transvision« und stammte von einer gewissen Adrianne Saundlund. Adrianne war 40, doch sie dachte: Scheiße, ich muss denen sagen, sie sollen ein neues Foto verwenden. Auf dem sehe ich aus wie 50. Sie schrieb diese alle zwei Monate erscheinende Kolumne sowie vereinzelte Beiträge für andere einschlägige Fachzeitschriften, um sich ein Nebeneinkommen zu sichern und in der Branche im Gespräch zu bleiben. Ihre Fixkosten deckte die Invalidenrente ab, die sie von der Army bezog.

Und jetzt sieh sich einer dieses Flittchen an. Sie ist 40 und sieht wie 30 aus. Ein Anflug von Neid überkam sie, als sie einige Seiten weiterblätterte und auf eine andere Kolumne einer deutlich bekannteren Parapsychologin stieß. Sie hätte sich kleinere Implantate einsetzen lassen sollen, kritisierte sie den makellosen Busen der anderen Frau. Glänzendes Haar in der Farbe eines Sandstrands umspielte ein Gesicht mit eisblauen Augen und eindringlichem Blick, der wirkte, als genieße die Frau ein heimliches Vergnügen. Der Titel der Kolumne lautete: »Paraerotik: Sexuelle Begierde und die Welt des Übernatürlichen«. Adrianne betrachtete das Foto der Frau, einer gewissen Cathleen Godwin, noch einmal kurz, dann senkte sie die Zeitschrift jäh und sah auf. Dasselbe Gesicht lächelte ihr aus dem Gang des Flugzeugs entgegen.

»Hallo Adrianne. Hast du was dagegen, wenn ich ... Ach, bestimmt hast du nichts dagegen«, sagte die sinnliche Frau, ließ sich auf den Sitz neben ihr fallen und legte eine Laptoptasche auf ihre Knie.

»Hi, Cathleen.« Verdammt! »Ich schätze mal, das ist ein Zufall, sofern es so etwas für Leute wie uns gibt.«

Cathleen Godwin wirkte müde, aber keineswegs unerfreut darüber, Adrianne zu sehen. Sie waren weder verfeindet noch richtige Rivalinnen, standen einander lediglich nicht besonders nah. Menschen mit übersinnlichen Kräften vertrauten einander selten. Als sie sich setzte, wehte der dezente Duft von Kräuterseife zu Adrianne herüber.

Ein weiterer Anflug von Unmut regte sich. Sie sieht sogar dann elegant aus, wenn sie sich beschissen anzieht, ärgerte sich Adrianne. Cathleen trug eine Bluse mit Blümchen und Sternen, so ausgebleicht, dass sie zehn Jahre alt sein musste, dazu genauso verblichene Jeans.

»Ich brauche keine übersinnlichen Fähigkeiten, um zu wissen, wohin du unterwegs bist«, meinte die Blondine. »Mal sehen ... Tampa International, dann mit einem Taxi ins Zentrum von St. Petersburg. Du hast ein Angebot von einer Frau namens ...«

»Vivica Hildreth«, bestätigte Adrianne. Sie war aufrichtig überrascht und mit einem Mal noch eifersüchtiger. Adrianne hatte zwar gewusst, dass andere PSI-Ermittler dort sein würden, was sie nicht störte, doch unter ihnen befanden sich auch Männer, was bedeutete, dass Cathleen wie üblich herumflirten und ihre Show abziehen würde. Adrianne wünschte, sie könnte die Frau als Flittchen abstempeln, aber sie wusste, dass Cathleen Godwin wesentlich mehr war. »Oder vielleicht bin ich auch nur unterwegs, um mir etwas Sonnenbräune zu gönnen«, fügte sie im Nachsatz hinzu.

»Wir sind zwei der zehn besten Medien des Landes, Adrianne, und wir sitzen beide am selben Tag in einem Flugzeug mit demselben Ziel, auf dem Weg zu einem Haus, das eindeutig mit Energie geladen ist.«

»Woher weißt du, dass es geladen ist? Bist du dort gewesen?«

»Nein, aber trotzdem – wie viele Leute waren es? 16, 17, alle im selben Zimmer von einem Satanisten abgeschlachtet.«

»Sie hat nicht gesagt, dass er Satanist war. Sie meinte nur, er sei ein Exzentriker gewesen.«

»Oh, sicher, ich würde auch sagen, dass man das als exzentrisch bezeichnen kann – ein Ritualmord, mich erinnerte es an einen Transpositionsritus.«

Adrianne lächelte mit schmalen Lippen. »Ich glaube nicht an Transpositionsriten.«

»Nein, aber du glaubst an Gott.« Cathleen seufzte und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Ich schätze, das tun wir alle auf die eine oder andere Weise. Leute in unserer Branche.«

Schuld, ging es Adrianne durch den Kopf. Der Gedanke bescherte ihr eine geheime Befriedigung. Scham. Sie weiß, dass ihr Leben eine Orgie christlicher Sünden ist ...

»Und dann verschwindet der Kerl, fast so, als wäre das Ritual erfolgreich verlaufen. Fast so, als hätte er ein Portal geöffnet und wäre hindurchgegangen.«

In Adriannes Einwand schwang eine gewisse Schärfe mit. »Er ist nicht verschwunden«, sagte sie und kramte in der vorderen Tasche ihrer Reisetasche. »Er hat nach der Tat Selbstmord begangen. Die Leiche wurde aus dem Haus abtransportiert und einer Autopsie unterzogen. Er hat sich erhängt.«

Cathleen hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen nach vorn gerichtet. »Es gab nur eine Todesanzeige ganz hinten in der Lokalzeitung. Die hast du gefunden?«

Adrianne faltete ihre Fotokopie auseinander. »Ich habe das hier, außerdem habe ich den Polizeibericht und die Vorabfassung der Meldung.«

Cathleen nahm das Blatt entgegen, betrachtete es mit wenig Interesse und gab es ihr zurück. »Sei doch nicht naiv.«

»Woher weißt du es?«, entfuhr es Adrianne, diesmal beinahe so laut, dass andere ihre Stimme hören konnten.

Cathleen seufzte müde, nach wie vor mit geschlossenen Augen. »Adrianne ...«

»Was? Hast du einen Kontakt gehabt?«

»Entspann dich. Du bist immer so aufgedreht ...«

Adrianne schäumte schweigend vor sich hin. Pfeif auf sie. Wahrscheinlich hatte sie gar keinen Kontakt gehabt und will nur, dass ich es glaube. Die Vorstellung brachte sie zur Weißglut, doch was sie noch wütender machte, war, dass diese umwerfende, wunderschöne Frau sämtliche Unzulänglichkeiten von Adrianne gleichzeitig herauskitzelte.

»Warten wir einfach, bis wir dort sind. Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist das Ganze fingiert, und wenn es so ist ... was soll’s? Wir erledigen lediglich einen Auftrag. Die Leute bezahlen uns, weil sie an uns glauben. Wenn wir schon im Voraus wüssten, dass es hier nur um eine durchgeknallte Frau mit massenhaft Geld und ein ungeladenes, völlig kaltes und absolut gewöhnliches Haus ginge, was würden wir dann tun?«

Adrianne gab es zu. »Wir würden wegen des Gelds trotzdem hinfliegen.«

»Ja. Natürlich würden wir das. Weil wir Söldnerinnen sind, genau wie jeder andere mit einer bestimmten Begabung. Wenn jemand einen Handwerker engagiert, um das Dach neu zu decken, der aber sieht, dass das alte noch völlig in Ordnung ist, deckt er es trotzdem neu ... weil der Kunde es verlangt und dafür bezahlt.«

Sind wir wirklich so?, fragte sich Adrianne. Sie zog es vor, nicht genauer über die Antwort nachzudenken.

»Ich habe auf einer Website gelesen, dass deine PK völlig erloschen ist«, sagte Adrianne, um von dem unangenehmen Thema abzulenken. »Das stimmt doch nicht, oder?«

Unverhofft klappte Adriannes Plastiktischchen auf ihren Schoß herunter. Sie drückte es zurück und sicherte es mit dem Drehriegel. »Sehr komisch.«

»Ich mache es nur nicht mehr, aber ich erzähle den Leuten, dass ich es nicht mehr kann«, gestand Cathleen. »Bereitet mir zu viel Kopfschmerzen. Vor allem seit dem Unfall. Ich bin sicher, du hast davon gehört.«

Natürlich hatte Adrianne davon gehört – jeder in der Branche hatte das. Eine Fernsehdokumentation über übernatürliche Kräfte. Mehrere kräftige Männer hoben einen Fachwerkrahmen aus Kanthölzern etwa hüfthoch vom Boden. Ein weiterer Mann – der Produzent der Sendung – kroch darunter, dann ließen die anderen den Rand des Rahmens los. Einige Sekunden lang schwebte er in der Luft, bevor er krachend herunterdonnerte. Der Produzent hatte das Experiment mit mehreren gebrochenen Rippen und einer lädierten Nase teuer bezahlt.

»Das klingt jetzt wahrscheinlich schrecklich, aber es tut mir nicht leid«, fuhr Cathleen fort. »Wegen dem Kerl, meine ich. Damals datete ich ihn – naja, eigentlich betrog ich meinen Mann mit ihm – und der Mistkerl drohte mir. Er sagte, wenn ich nicht in seiner albernen Fernsehsendung auftrete, würde er meinem Mann von unserer Affäre erzählen.«

»Manche Menschen verdienen, was ihnen widerfährt«, pflichtete Adrianne ihr bei. »Sie behandeln uns, als wären wir Tiere in einem Streichelzoo.«

»M-hm. Manchmal ist es schwierig, sich nicht über so gut wie jeden zu ärgern.« Plötzlich drehte sich Cathleen zu Adrianne und griff nach ihrem Arm. »Oh, aber da ist noch eine Geschichte, die du nicht kennst – jedenfalls hoffe ich das. Vor ein paar Jahren war ich mit einem Profibowler zusammen. Er hatte es gerade mit Mühe und Not in die PBA-Tour geschafft. Plötzlich fing er an, unglaublich gut zu spielen und gegen jeden Gegner zu gewinnen ...«

»Und das warst in Wirklichkeit du?«, fragte Adrianne.

Grinsend nickte Cathleen. »Ich saß im Publikum. Jedes Mal, wenn er einen Strike brauchte, gab ich der Kugel einen Schubs oder warf die Kegel um, die nicht fielen. Ungefähr sechs Wochen lang war der Kerl der beste Bowler der Welt!«

»Hast du es ihm gesagt?«, wollte Adrianne wissen und beugte sich vor.

»Ach, natürlich nicht. Er dachte, er wäre es selbst. Dank mir hat er Hunderttausende Dollar verdient und einen Weltrekord an Strikes aufgestellt. Dann kamen Werbeangebote mit fetten Honoraren rein. Und weißt du, was er gemacht hat? Der Schweinehund schlief hinter meinem Rücken mit einem billigen Bowling-Groupie.«

»Ich frage ja nur ungern ... aber was hast du gemacht?«

»Nichts. Ich verließ ihn, und im nächsten Jahr fiel er aus der Tour, weil er sich nicht dafür qualifizieren konnte. Keine perfekten Spiele mehr für den Arsch.«

Adrianne lachte.

»Was ist mit dir? Arbeitest du noch für die Army?«

»Ich ... bin im Ruhestand«, antwortete Adrianne überlegt. »Manchmal werde ich noch angerufen, wenn irgendetwas Brenzliges passiert, aber meistens bin ich dem nicht gewachsen. Transvision klappt noch ohne große Probleme – obwohl es manchmal wehtut.«

»Aber Astralwanderungen machst du gar nicht mehr?«

»Könnte ich zwar, tu’s aber nur, wenn ich unbedingt muss.« Cathleen wusste von den Beschleunigungsdrogen und von den Barbituraten, von denen Adrianne mittlerweile abhängig war. »Es schmerzt danach zu sehr. Ich kannte mal einen Mann, der bekam deswegen einen Hirntumor. Und Schlaganfälle treten immer wieder auf. Berufsrisiko.«

»Mir lag die Army auch lange in den Ohren. Ich kann mir nicht vorstellen, was die von mir wollten.«

»Oh, ich schon. Du wärst überrascht. Die Army und der Nachrichtendienst der Navy. Und da sind noch diese anderen komischen Typen von der IGA. Steht für Interagency Group Activity. Das ist so eine behördenübergreifende Organisation. Die haben sogar mir Angst eingejagt. Ich kenne ein paar Leute, die für sie gearbeitet haben – die habe ich nie wiedergesehen.«

»Da krieg ich eine Gänsehaut.« Cathleen beäugte kritisch ihren Nagellack, dann seufzte sie. »Ich erinnere mich daran, während des Irakkriegs einen Leitartikel in einer der einschlägigen Zeitschriften gelesen zu haben. Der Redakteur schlug darin vor, die Regierung sollte erfahrene Übersinnliche wie dich und Peggy Falco einsetzen, um mittels Astralwanderung nach Hussein zu suchen, und ich dachte mir die ganze Zeit: Ich weiß verdammt genau, dass das schon in der Zeit vor Kriegsausbruch gemacht wurde.«

Die Details der Äußerungen brachten Adrianne ins Grübeln und in der Gedankenpause hätte sie durch ihre Reaktion ohne Weiteres etwas verraten können. Wahrscheinlich manipulierte Cathleen sie.

»Dann stieß ich eines Abends in einem Chatroom auf eine ›anonyme‹ Quelle, die angab, wir hätten ihn dreimal fast erwischt. Du wärst es gewesen, die ihn von einem Stützpunkt der Army in Maryland aus mittels Transvision in Bagdad aufgespürt hätte.« Cathleen blinzelte sie an. »Stimmt das?«

Verdammt noch mal ... Cathleen manipulierte sie tatsächlich. Und es stimmte wirklich, nur war es mehr als dreimal gewesen. Am dichtesten war sie ihm in einem leer stehenden Wohngebäude am Al-Mu’azzam-Platz in der Nähe der Sa’dn-Straße in der Innenstadt auf die Pelle gerückt. Sie hatte gesehen, wie Hussein hastig dort hineingebracht wurde, sich mit ihrem Astralleib ins Freie begeben und eine Beschreibung des Gebäudes und der Straße beschafft, um die Information an ihren Sachbearbeiter in Fort Meade weiterzugeben. 20 Minuten später brachten mehrere tonnenschwere, satellitengelenkte Bomben das Gebäude zum Einsturz. Allerdings hatte Hussein es fünf Minuten vorher verlassen und war mit einem Jeep davongefahren. »Cathleen, du weißt, dass ich nicht darüber reden darf, was ich vielleicht für die Army gemacht habe oder auch nicht. Es gibt da so Kleinigkeiten wie das landesweite Gesetz über Verschlusssachen und den bundesstaatlichen Verschwiegenheitseid.«

Cathleen grinste. »Ich weiß. Ich hab bloß mit dir gespielt. In Wirklichkeit bin ich neidisch.«

Die Bemerkung verdutzte Adrianne. »Worauf, um Himmels willen?«

»Ich leiste keinen wertvollen Beitrag für unser Land. Du schon. Ich verbiege bloß Löffel und glotze in Kristalle, um die Zukunft vorauszusagen. Übrigens, wie geht es Peggy Falco? Hab schon seit Jahren nichts mehr von ihr gehört.«

Weitere Dunkelheit stahl sich in Adriannes Geist. »Sie hat letztes Jahr an Weihnachten Selbstmord begangen. Die letzten zwei Jahre konnte sie nicht mehr laufen und spürte in der linken Körperhälfte nichts mehr.«

»Oh Gott. Tut mir leid.«

»Sie war gierig, viel zu machtversessen und hat sich dabei übernommen. Aber sie war die Beste der Welt.«

»Jetzt bist du das.«

»Nein. Du solltest mal einige der jungen Leute sehen, die sie neuerdings anschleppen. Da ist ein Junge, der ist erst 14 und kann ...« Doch an der Stelle verstummte Adrianne plötzlich. Ihr wurde klar, dass sie zu viel redete.

»Tut mir leid. Ich hätte nicht so neugierig sein sollen.« Cathleen setzte das erste strahlende Lächeln auf, seit sie Platz genommen hatte. »Aber es ist schön, dich zu sehen. Ich wollte dich nicht volllabern. Ich weiß ja, dass du am liebsten deine Ruhe hast, nicht gern plauderst und so. Es ist bloß schön ... neben jemandem zu sitzen, den ich kenne.«

»Ja, finde ich auch, und es ist auch schön, dich zu sehen«, gab Adrianne zurück.

Cathleen stieß gedehnt den Atem aus und rieb sich die Augen. »Gott ...«

»Anstrengende Nacht?«

»Ja«, erwiderte Cathleen nur.