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Sie erheben sich aus den Knochen der Toten. Um die Unschuldigen zu schützen, formte man den Golem aus Flusslehm und erweckte ihn zum Leben. Das geschah vor Jahrhunderten. Aber jetzt wurden die uralten, mystischen Riten pervertiert und neue Golems geschaffen ? dämonische Kreaturen, die vergewaltigen und morden. Nur ein junges Paar kann sie aufhalten. Doch die beiden ahnen nicht, welches diabolische Geheimnis ihr eigenes Dasein bestimmt. Golem = [hebräisch: Klumpen, formlose Masse, ungeschlachter Mensch]. Seit dem Mittelalter in der jüdischen Literatur und Mystik die Bezeichnung für ein künstlich erschaffenes Wesen (besitzt besondere Kräfte; jedoch stumm; oft von gewaltiger Größe). Erscheint als Retter der Juden in Zeiten der Verfolgung. Bekannt vor allem durch die Legende von Rabbi Löw, der um 1580 in Prag eine von ihm geknetete Tonfigur für einige Zeit belebt haben soll. Jack Ketchum: 'Edward Lee hat einen ganz besonderen Platz in der modernen Horrorliteratur. Lee liebt Sex und das Schlüpfrige, und dafür schämt er sich nicht. Er peitscht eine Geschichte voran wie ein Rennpferd, weiß, wie er dich zu Tode erschreckt. Aber wenn er will, kann er auch langsam und eindringlich, damit du mitfühlst und nachdenkst. Und das ist es, was ihn einzigartig macht.' Richard Laymon: 'Edward Lee ? das ist literarische Körperverletzung!'
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Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2014
Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders
Die amerikanische Originalausgabe The Golem erschien 2009 im Verlag Dorchester Publishing Co., Inc.
Copyright © 2009 by Edward Lee
1. Auflage August 2014
Copyright © dieser Ausgabe 2014 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Danielle Tunstall
Alle Rechte vorbehalten
eBook 978-3-86552-305-1
www.Festa-Verlag.de
Für Dave Boulter – Ruhe in Frieden.
Wendy Brewer, Don D’Auria, James Barnhard von JRB Illustration, Tim McGinnis, Kathy Rosamilia, Liz Boulter, Mike McQuinn (für den Tech-Kram), Dave Barnett, Rich Chizmar, Ian Levy, Michael Ling, Dave Hardberger, SPC Andrew Myers, Rob Johns, Jim Argendeli, Chris Casmedes, Bob Strauss, William D. Gagliani, Jeff Burk, Bryan Smith, Mark Justice, Christine Morgan & Becca, Rudy, David und Christian, Larry Roberts, Shane Staley, Jason Byars, Ken Arneson, peteboiler, Wetbones, Killa Klep, asimmons, Liquidnoose, Harvester, Jack Staynes, corpsegrinder, darvis, darkthrone, splatterhead, maladar, patronick, infnlfolowr, Mike Lombardo, Bloodhammer, bellamorte, Zombie905, Babaganoosh, boysnightout, worldspawn, jdamen, Specky, Bellamorte, everythinghorrordude, thereptilians, jonah. GNFNR, bsaenz24, reelsplatter, morleyisozzy. Die Leute bei Phil’s: Anda Norberg und Tim Shannon, Ashley und Jared, Alicia, Crystal und Becky, Suzanna, Tess. Charlie, Chris und Sarah Meitz für den Österreich-Treck. Und ganz besonderer Dank an Maharal Judah Loew für die Erschaffung des Golems von Prag im Jahre 1580.
August 1880
»Sie sehen aus, als hätten Sie ’n Gespenst gesehen, mein Freund«, sagte Kapitän Michael McQuinn hinter dem großen Steuerrad des Schiffes. Die Bemerkung galt seinem Ersten Offizier, einem wettergegerbten Böhmen namens Poelzig, der teilnahmslos aus einem Steuerbordfenster des kleinen Ruderhauses starrte. Um sie herum erstreckte sich die perfekt flache Chesapeake Bay.
»Ein Gespenst«, murmelte Poelzig. Er fuhr sich mit seiner schwieligen Hand übers Gesicht. »Hab ich letzte Nacht nicht viel geschlafen, Käpt’n, genau wie meine Frau. Und Sie?«
»Ach, ich hab geschlafen wie ’n Baby«, behauptete McQuinn mit seinem irischen Akzent. Er klopfte lächelnd auf den Flachmann an seiner Seite. »Gibt keinen Grund, rastlos zu sein. Wir sind beide Einwanderer, die von diesem großartigen Land mit offenen Armen aufgenommen wurden, nicht wahr? Das Versprechen auf Freiheit und gute, ehrliche Arbeit. Wir sollten immer dankbar sein ...«
Das stimmte soweit. McQuinn war ein irischer Katholik und Poelzig ein Jude irgendwo aus Europa. Österreich? Wer weiß das schon nach all den verdammten Kriegen, dachte McQuinn. Poelzig und seine Frau Nanya waren vor der Judenverfolgung geflüchtet, während McQuinn sich vor Dublins Steuereintreibern und mehr als einem wütenden Ehemann in Sicherheit gebracht hatte. Aber soweit er bisher sehen konnte, hielt Amerika seine Versprechen.
Ja, das stimmte soweit, aber was nicht stimmte, war Captain McQuinns Behauptung, er habe wie ein Baby geschlafen. Denn das hatte er ganz gewiss nicht. Sie waren jetzt seit zwei Wochen auf der Chesapeake Bay unterwegs. Von Baltimore aus hatten sie ihre Waren erst den Patuxent River hinauf nach Sandsgate geliefert, dann auf die andere Seite der Bay und den Nanticoke hinauf, anschließend in den Wicomico nach Salisbury. Und bei jedem Löschen ihrer Ladung in jeder Hafenstadt überkam ihn ein immer merkwürdigeres Gefühl; und jede Nacht schlief er weniger und weniger.
Poelzig stierte immer noch müde ins Leere. »Gott, hab ich geträumt letzte Nacht ...«
McQuinns Kopf fuhr herum. Er starrte seinen mürrischen Mitarbeiter an. »Was haben Sie geträumt, Mann?«
Poelzig schüttelte nur den Kopf. Er musste um die 40 sein, aber im Moment sah er aus wie 80.
Allmächtiger! McQuinn hasste es, sich auf seine Autorität als Kapitän berufen zu müssen. Die meisten dieser Flusstouren liefen wie am Schnürchen – was war diesmal nur anders? »Irgendwas macht Ihnen zu schaffen, seit wir Baltimore verlassen haben«, ereiferte er sich, »und nach jedem Stopp wird’s schlimmer. Sie und Ihre bessere Hälfte nützen mir nichts, wenn Sie sich nicht auf Ihre Arbeit konzentrieren können. Also – was ist los? Was stimmt nicht?«
Dem sonst so selbstsicheren Ersten Offizier schienen die Worte zu fehlen. Er zeigte hinter sich, hielt den Blick aber auf McQuinn gerichtet.
»Was, das Frachthaus? Poelzig, wir haben nur noch einen Stopp, dann ist unsere Tour beendet!«
Poelzigs Stimme klang brüchig. »Ist Ziel, Sir, was Nanya und mir Sorgen bereitet.«
Grundgütiger! McQuinn nahm das Kursbuch und las den Bestimmungsort laut vor. »Lowensport, Maryland, elf Meilen Ost-Nordost am Brewer River. Was passt Ihnen denn nicht daran, dass wir da hinfahren? Ist nur ’ne kleine Stadt mit ’nem Sägewerk, wie ich gehört hab.«
Poelzig räusperte sich. »Mehr als das, Sir.«
»Hab vor dieser Tour noch nie was vom Brewer River gehört, aber der Hafenmeister sagt, er hat die ganze Strecke tiefes Fahrwasser und ist frei von Hindernissen. Und Sie wissen ja, dass die Wegener ’n zähes altes Luder von Dampfschiff ist. Herrgott noch mal – wir werden schon nicht sinken!«
Poelzigs Miene blieb unverändert finster. »Meine ich Lowensport selbst, Sir.«
McQuinn kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. »Sie und Ihre bessere Hälfte sind doch Juden, oder?«
»Sind wir, Käpt’n, und sind wir stolz drauf.«
»Na ja, ich weiß nichts über Ihren Glauben – und auch mächtig wenig über meinen eigenen, wenn ich ehrlich sein soll – und von mir aus soll jeder glauben, was er will.« Die nächsten Worte sprach er mit besonderem Nachdruck. »Aber der Hafenmeister hat mir noch was gesagt, Poelzig. Er hat mir gesagt, dass dieser kleine Ort namens Lowensport von Juden gegründet wurde. Von Ihren Leuten, Poelzig!«
»Nicht ... unseren Leuten, Sir«, flüsterte Poelzig scharf.
Kapier das alles nicht, dachte McQuinn. Lieber nicht drüber nachdenken. Warum sollten sich zwei Juden wegen einer Stadt voller Leute, die an das Gleiche glaubten wie sie, in die Hosen machen? Das ist so, als hätte ich Angst zur Messe zu gehen.
Er schaute wieder hinaus auf die Bay, entdeckte die breite Mündung eines Flusses und warf einen Blick auf die Seekarte. »Was auch immer Sie daran so aufregt, Poelzig, stellen Sie’s fürs Erste hinten an, denn da vorn ist schon der Brewer River. Schätze, wir machen im Moment um die sechs Knoten; wenn wir flussaufwärts fahren, dürfte uns das höchstens auf drei zurückwerfen, also sollten wir nicht später als zwei Stunden nach Sonnenuntergang in Lowensport sein. Wir werden da die Nacht verbringen.«
Poelzig versteifte sich, als er einen Blick nach vorne warf und die breite Flussmündung sah. Dann ließ er sichtlich verzweifelt die Schultern hängen. »Käpt’n, meine Frau und ich, bitten wir Sie inständig – wir können nicht Nacht in Lowensport verbringen! Bitte, Sir. Gehen wir vor Anker hier und fahren morgen bei Tageslicht weiter!«
Jetzt wurde McQuinn langsam wütend. »Dann kommen wir mit einem Tag Verspätung nach Baltimore zurück, Mann! Sind Sie übergeschnappt?«
»Bitte, Sir. Meine Frau und ich, wir können nicht in der Nacht dorthin gehen«, beteuerte Poelzig. »Und wenn Sie unbedingt dahin müssen, schwimmen Nanya und ich sofort an Ufer und gehen zu Fuß nach Baltimore zurück, dann müssen Sie Rest der Tour allein fahren.«
McQuinn starrte seinen Ersten Offizier mit versteinertem Gesicht an. Wollte Poelzig ihm mit dieser ungeheuerlichen Ankündigung drohen? Ich bin der Kapitän dieses Schiffes – kein Erster Offizier schreibt mir meinen Kurs vor, verdammt! Aber je länger er Poelzig anstarrte, desto verzweifelter schien der Mann zu werden. »Poelzig. Wollen Sie meine Autorität auf diesem Schiff infrage stellen?«
»Ganz bestimmt nicht, Sir. Und ich hab noch nie für besseren Mann gearbeitet«, sagte Poelzig trübsinnig. »Aber ich flehe Sie: Lassen Sie uns nicht Nacht in Lowensport verbringen. Bitte!«
McQuinn nahm einen großen Schluck aus seinem Flachmann und dachte nach. Ich bin so wütend, ich könnte den Kerl und sein hübsches Weib auf der Stelle über Bord werfen, aber ... Aber was? Er ließ seine Wut noch etwas gären, dann sagte er sich: Seit Monaten schuftet Poelzig sich für mich den Buckel krumm und noch nie hat er mich um was gebeten ...
»Also gut«, willigte McQuinn ein. »Ich lasse Ihnen Ihren Willen. Ich bringe uns eine oder zwei Meilen flussaufwärts, dann geh ich vor Anker. Aber ich will, dass der Tender voll ist, wenn wir weiterfahren, haben Sie mich verstanden?«
Poelzig lächelte zum ersten Mal seit Beginn der Fahrt. »Hab ich sehr gut verstanden, Käpt’n, und meine Frau und ich, wir danken Ihnen vielmals.« Dann stürmte er zur Hintertür hinaus und rief Nanya die Neuigkeit in ihrer seltsamen Sprache zu.
Jesus, Maria und Josef, dachte McQuinn.
Nach dem Ankern harkte McQuinn am Heck halbherzig nach Austern, während Poelzig die Krebsfallen ins Wasser ließ und seine Frau methodisch das letzte Holz für den Tender hackte. Als McQuinn seinen Blick über das Schiff wandern ließ, verspürte er den gleichen Stolz wie an dem Tag, als er es übernommen hatte. Die Wegener war unter den flachbödigen Flussschiffen das letzte ihrer Art: ein 100 Fuß langer Heckraddampfer, der in seinem Kessel Holz verbrannte statt Kohle. Kohle war in manchen Gegenden schwer zu bekommen. Sicher, die Kohlendampfer waren schneller, aber dafür kosteten die Heizkessel auch doppelt so viel. Und Holzdampfer wie die Wegener konnten große Mengen Ladung auch in schmalere Flüsse befördern, und wenn einem der Brennstoff ausging, ließ man einfach die Laufplanke herunter, ging an Land und hackte Holz. McQuinn hatte noch nie solche Hartholzwälder gesehen wie entlang der Chesapeake Bay. Vor dem Holztender, dem Heizkessel und dem großen Schaufelrad befanden sich das Frachthaus auf dem Hauptdeck und die Kabinen auf dem Oberdeck. Es gab kein Unterdeck, denn es gab keinen Rumpf – das Schiff war im Grunde eine große rechteckige Plattform, die auf dem Wasser trieb, womit es geradezu ideal war für schlecht kartierte Flüsse mit unbekannten Untiefen und Sandbänken. McQuinn war noch nie auf Grund gelaufen, nicht einmal bei Niedrigwasser; und er hatte noch nie das Schaufelrad durch Treibgut beschädigt. Er liebte es, durch die Gewässer zu navigieren, und nach so vielen Jahren konnte er sich mittlerweile selbst seine Touren aussuchen und mehr Gewinn einfahren als die jüngeren Kapitäne, die den Krieg überlebt hatten.
McQuinn harkte mit dem Austernrechen – nicht viel Glück heute – und schaute zwischendurch immer wieder über die Schulter nach den dumpfen Schlägen der Axt. Ich versteh diese Europäer nicht, wunderte er sich. Der Mann ließ seine Frau das Holz hacken – aber er musste auch zugeben, dass es wesentlich angenehmer war, ihr beim Axtschwingen zuzusehen als Poelzig selbst. Nanya war wahrhaftig eine einzigartige Frau, eine Augenweide, wenn McQuinn jemals eine gesehen hatte, aber so ungewöhnlich proportioniert.
Heilige Maria, dachte er, als er sie jetzt beobachtete. Während er und Poelzig mit den typischen Leinenoveralls, langärmeligen Baumwollhemden und Halbstiefeln bekleidet waren, trug Nanya ebensolche Stiefel, die ihr gerade über die Knöchel reichten, und einen groben Baumwollkittel – und sonst nichts. Ihr hartes Gesicht war trotz seiner Kanten hübsch und ihr grob geschnittenes aschblondes Haar sah auch ungekämmt reizvoll aus. Ihr Körper jedoch war ein ganz anderes Kaliber. Sie war groß, sogar größer als die meisten Männer – eine hochgewachsene Frau, aber mit kaum einer Spur Fett am Leib. Tatsächlich schien ihr Körper aus blassem Marmor gemeißelt zu sein, ihre Muskeln waren vom ständigen Arbeiten so straff und hart, dass sie vermutlich genauso stark war wie McQuinn oder Poelzig. Das Wort statuesk kam einem in den Sinn.
Tschack ... tschack ... tschack, machte die Axt in perfektem Rhythmus, und jeder Schlag ließ Nanyas ungebändigten und recht üppigen Busen auf bezaubernde Weise erzittern.
McQuinn war nicht der Meinung, dass er gerade die Frau eines anderen begehrte – er bewunderte nur ihre anmutige Statur. Die Frau hob und senkte die Axt mit maschinenhafter Regelmäßigkeit, und bei jedem Schlag des Axtblattes – Tschack! – spürte er die Vibrationen durch den Schiffsboden laufen. Oh Herr, war sein nächster Gedanke; die Sonne versank gerade hinter Nanya und zeichnete ihren schlanken Körper durch den sackartigen Kittel ab.
Tschack ... tschack ... tschack ...
McQuinn hatte mittlerweile einen halben Flachmann intus und fand, dass ein kleines Kompliment nicht schaden konnte. »Poelzig, mein guter Mann, ich hoffe, Sie nehmen’s mir nicht übel, wenn ich Ihnen versichere, dass das ’ne kreuzpatente Frau ist, mit der Sie da verheiratet sind.«
»Ja, haben Sie recht, Sir«, antwortete Poelzig. Er hatte McQuinn den Rücken zugewandt und warf die Holzstücke in den Tender.
McQuinn gluckste. »Aber ich muss auch sagen, dass ein Ire, wenn bekannt würde, dass er seine Frau Holz hacken lässt, auf dem Dorfplatz eine ordentliche Tracht Prügel beziehen würde.«
Jetzt stieß auch Poelzig ein seltsames Kichern aus. »Aber sehen Sie, Sir, beziehe ich eine noch schlimmere Tracht Prügel, wenn ich Nanya nicht lasse Holz hacken.«
McQuinn verstand nicht. »Von wem?«
Poelzig zeigte auf seine Frau. »Von Nanya. Sie kann schneller als meiste Männer einen Baum fällen oder Tau durchschneiden. Stark ist sie. Gelenkig. Ihr Vater – nichtsnutziger Halunke – hat er sie als Kind jeden Tag verprügelt, bis eines Tages, als sie älter war, hat sie ihm jämmerliche Seele aus dem Leib geprügelt.«
McQuinns Augen wurden groß.
»Und deshalb besteht sie drauf, ganzes Holz zu hacken, dann bleibt sie stark und kein Mann kann wieder Hand gegen sie erheben.«
Tschack!, machte die Axt und das Schiff erzitterte, als ein kräftiger Holzklotz in zwei Stücke zerfiel.
»Gute Güte«, murmelte McQuinn. »Das ist wirklich mal ein starkes Weibsbild ...«
»Und ist ihr Wunsch, immer in Form zu bleiben und nicht zu fett zu werden«, fügte Poelzig hinzu, »damit mir nie in Sinn kommt, sie zu verlassen.«
McQuinn prustete einen Schwall Whiskey-Atem heraus. »Nur ein Mann, der nicht ganz bei Trost ist, würde eine Frau mit einem solchen Körper verlassen. Ich kann mir vorstellen, wie sie wohl im ...« Aber er hielt schnell den Mund, bevor ihm das Wort Bett herausrutschte.
Poelzig lächelte schwach und nickte.
Sie hatten nur ein kleines Feuer an, da der Heizkessel nicht gebraucht wurde. Am vorderen Teil des Brennofens kochten sie, dort gab es auch einen Topfaufhänger und einen Grill. »Aaah«, machte Poelzig, als er die hölzerne Krebsfalle hochhievte und sie voll mit großen, schnappenden Krustentieren war.
»Herrgott, Mann! Wie groß die sind!«
»Ja«, stimmte der Erste Offizier zu und trug die Falle zum Wassertopf, der über dem Feuer hing. »Muss man vorsichtig sein mit denen, können ganz schön böse werden.« Er öffnete die Falle, dann nahm er die Tiere eins nach dem anderen am Schwanzfortsatz und warf sie in den Topf.
»Die sind fast so groß wie die braunen Krebse, die wir in Irland hatten«, meinte McQuinn. »Poelzig, gibt es Krebse da, wo Sie herkommen?«
»Nein, Sir.« Er stieß einige der störrischeren Krebse mit der Feuerzange zurück ins dampfende Wasser. »Jedenfalls nicht solche. Gibt da merkwürdige Flusskrebse, aber die schmecken lange nicht so gut wie die hier.«
Nanya war mit dem Holzhacken fertig. Sie lächelte, als sie sah, wie ihr Mann seine Finger gerade noch vor den messerscharfen Zangen einer Krabbe in Sicherheit bringen konnte.
McQuinn versuchte es noch einmal mit dem Austernrechen, aber wieder vergebens. »Zur Hölle damit, ich hatte auf ein paar Austern gehofft, wie wir sie schon die ganze Woche fangen, denn die würden mächtig gut zu diesen Krebsen passen.«
Nanya sagte etwas in ihrer Sprache. Poelzig nahm McQuinns Austernrechen und gab ihn ihr. »Nanya kennt sich in Wasser aus, hat ihr ganzes Leben damit zu tun. In Flussmündung ist Salzgehalt niedriger, deshalb wachsen Austern näher am Ufer.«
»Verdammt, das wusste ich nicht«, gab McQuinn zu, doch sogleich wurde sein Blick wieder von der kräftigen Frau angezogen. »Aber ... warten Sie, Mädchen! Was machen ...«
Nanya hatte ihre Stiefel ausgezogen und sprang ohne Umschweife ins Wasser. Sie grinste McQuinn an, dann drehte sie sich auf den Rücken und trat mit den Füßen aus, den Rechen über ihre Brüste gelegt. Sie rief Poelzig etwas zu und der reichte ihr ein Sacknetz ins Wasser.
Sakrament, war McQuinns nächster Gedanke. Nanya watete das Ufer hinauf, bis sie hüfttief im Wasser stand, und begann zu rechen, aber jedes Mal, wenn sie das Werkzeug nach hinten zog, hob die Strömung ihren Kittel über ihr nacktes Hinterteil. McQuinn blähte die Wangen bei dem Anblick. Zehn Minuten später kehrte sie mit einem vollen Netz zum Schiff zurück.
»Ihr Europäer habt wirklich ein feines Händchen für die Früchte dieser Gewässer, das muss ich sagen.« Und dann fiel McQuinn beinahe hintenüber, als Poelzig seiner Frau aus dem Wasser half.
Sie stieg an Deck, triefnass. Das durchnässte Oberteil des Kittels klebte an ihrem Körper und überließ kein Detail der Fantasie. Das ist heute ein wahres Festmahl für meine Augen, dachte McQuinn. Die Frau – und ebenso Poelzig – schien sich der erregenden Wirkung des nassen Kleidungsstückes gar nicht bewusst zu sein. Nanya setzte sich an einen Tisch und begann sofort damit, die Austern mit einem Messer zu öffnen.
»Der aperitiv, Käpt’n«, sagte Poelzig. »Heißen in unserer Sprache ustrices. Sind roh am besten, und man weiß, sie machen einen Mann ... nun ...«
Nanya kicherte, während sie fachgerecht eine Auster nach der anderen öffnete.
McQuinn musste sich anstrengen, nicht andauernd die Frau anzustarren. »Wo wir gerade davon reden, Poelzig, was ist das für eine Sprache?«
»Wir sind Tschechen, Käpt’n.« Der Erste Offizier belud einen Blechteller mit geöffneten Austern und reichte ihn McQuinn.
Tschechen. McQuinn hatte das Wort schon gehört, wusste aber nichts weiter darüber. Er schlürfte ein paar Austern, dann fragte er: »Und von wo genau in Europa kommen Sie?«
»Aus einer Region, die heißt Tschechoslowakei. Ist wunderschönes Land, haben sich die verlogenen Monarchen von Österreich unrechtmäßig angeeignet – diese Habsburger!« Als Poelzig das sagte, verzog Nanya das Gesicht und stammelte: »Der Habs net Jud mag.«
Poelzig lächelte. »Meine Frau meint, Sir, dass Haus Habsburg keine Juden mag. Versprechen in ihrer Verfassung religiöse Toleranz, aber zwingen uns, in Gettos zu leben. Deshalb sind wir hierhergekommen.«
»Verdammt niederträchtig von den Halunken«, schnaubte McQuinn. Das war etwas, was er nie begreifen würde. »Solange jemand hart arbeitet und sich ans Gesetz hält, was für ’ne Rolle spielt es da, wie er sein Seelenheil findet? Was den Glauben angeht, so könnte ich Ihnen nicht mal den Unterschied zwischen einem Juden, einem Protestanten und einem Katholiken nennen, und wenn es um meinen Hals ginge.«
Poelzig nickte. Seine Frau fragte: »Sie mehr ustrices, Käpt’n, eh?« und häufte weitere Austern auf seinen Teller.
McQuinn glaubte zu verstehen. »Ja, sicher, ganz bestimmt.« Zu Poelzig meinte er: »Nun, wie’s aussieht, kann Ihre hübsche Gattin ja doch ’n bisschen Englisch.«
»Sie lernt, Sir. Und sie lernt gut.«
Und sieht verdammt gut aus, ergänzte McQuinn in Gedanken. Beinahe hätte er laut aufgestöhnt, als Nanya sich vorbeugte, um weitere Austern aus dem Netz zu holen. Der Halsausschnitt ihres Kittels rutschte herunter und enthüllte glitzernde nackte Brüste. Um sich abzulenken, griff er das Thema wieder auf. »Also Tschechen, sagen Sie? Können Sie mir eine Stadt nennen, damit ich mir ein besseres Bild von Ihrer Heimat machen kann?«
»Praha«, verkündete Nanya, aber Poelzig korrigierte: »Die Stadt, in der wir geboren wurden, Sir, ist bei Amerikanern bekannt als Prag.«
Selbst durch den Whiskeydunst rührte der Name etwas in McQuinns Gedächtnis an. »Sie meinen ... Also, ich will verdammt sein, wenn das nicht ...« Er richtete sich auf. »Bin gleich wieder da. Ich hole nur eben die Ladeliste ...« Er stieg die Leiter zum Ruderhaus hinauf und holte das Buch. Als er nach achtern zurückkehrte, fischte Poelzig gerade die gekochten und grell orangen Krebse mit einer Zange aus dem Wasser. Die Sonne hatte sich jetzt ganz verkrochen; McQuinn zündete eine Fischöllaterne an und schlug ungeduldig das Frachtbuch des Schiffes auf.
»Ich wusste doch, dass ich schon mal von der Stadt gehört habe«, rief er. »Hier! Der Ursprungsort der Fracht für Lowensport ist Prag.« Er blickte auf, aber Poelzig schien unbeeindruckt zu sein.
»Ist mir und meiner Frau bekannt, Sir. Stempel sind auf allen Transportfässern. Und ist uns auch bekannt, dass Leute, die heute in Lowensport leben, aus Prag ausgewandert sind.«
McQuinn kratzte sich den Kopf. »Also, wenn das nicht der größte Humbug ... Ich begreif’s einfach nicht, Poelzig! Sie machen sich ’n Haufen Sorgen, weil wir nach Lowensport fahren, und doch gehören die Leute dort nicht nur Ihrem Glauben an, sondern stammen auch noch aus Ihrer eigenen Heimatstadt! Warum? Wieso haben Sie so ’ne Angst davor, Leuten aus Prag zu begegnen, die genau wie Sie Juden sind?«
Poelzigs Stimme klang kratzig, als er antwortete: »Sind keine Juden wie wir, Käpt’n.«
Nanyas Blick verfinsterte sich und sie zischte: »Kischuph!« Abrupt drehte sie sich um und schaute über die Seilreling aufs Wasser.
Ich werde aus diesen beiden bei meinem Leben nicht schlau, dachte McQuinn. »Ich entschuldige mich von ganzem Herzen, wenn ich was Falsches gesagt hab.«
»Keineswegs, Sir.« Poelzig stellte die dampfende Schüssel mit den Krebsen auf den Tisch. »Nanya ist nur bisschen empfindlich bei solche Sachen. Ist vielleicht einfacher zu verstehen, wenn man so formuliert: Gibt Judentum, genau wie Christentum, in mehrere Formen.«
McQuinn lachte laut. »Darauf trinke ich, Poelzig! Versuchen Sie mal, im dreckigen Kentucky als Katholik zu leben! Jetzt kapier ich, was Sie mir sagen wollen.«
Schließlich hatte auch Nanya ihre Verstimmung wieder überwunden und kam zurück an den Tisch. Sie schob ihren Mann beiseite und begann die Krebse aufzubrechen.
McQuinn bot den beiden seinen Flachmann an. »Nehmen Sie ’n Schluck, alle beide. Fällt mir erst jetzt auf, dass ich Sie beide noch nie hab trinken sehen.«
»Vielen Dank für Ihre Großzügigkeit, Sir«, erwiderte Poelzig, »aber Nanya und ich, wir nehmen nie geistige Getränke zu uns, wegen Glauben.«
»Juden ist es verboten zu trinken?«, fragte McQuinn erstaunt.
»Nicht direkt, Sir, aber meistens entscheiden wir dagegen. Wir glauben, dass benebelter Geist Mensch daran hindert, En Soph zu sehen.«
»En Soph?«
»Gott«, übersetzte Poelzig.
McQuinn zog eine Augenbraue hoch. Wenn das stimmt, werde ich heute Nacht ganz bestimmt nicht Gott sehen. Er nahm noch einen Schluck.
Nanyas Blick zuckte zu Poelzig; sie flüsterte etwas.
»Was sagt Ihre Gattin?«, kicherte McQuinn. »Dass Ihr Käpt’n ein typischer irischer Trunkenbold ist?«
»Natürlich nicht, Sir. Meine Frau ist neugierig, wie ich auch, was genau in Ladung für Lowensport drin ist. Ich hab ihr gesagt, dass uns nichts angeht.«
Da hatte er natürlich recht; Diskretion bezüglich der Waren eines Käufers war für jeden Kapitän selbstverständlich. Zu genaues Wissen um die Art der Fracht konnte Langfinger in Versuchung bringen. Aber dieses Paar hier ist mit Sicherheit vertrauenswürdig, dachte McQuinn. So viel wusste er mittlerweile. »Nun, ich wüsste nicht, was es schaden sollte; ich glaube, es sind nur Werkzeuge und so was, ’n bisschen Porzellan oder Steingut.« Er schlug das Frachtbuch wieder auf. »Was wir morgen früh zu diesen Leuten in Lowensport bringen, scheinen mir zehn Fässer zu sein, von denen eins voll mit Murmeln ist und eins mit Zinnwaren, wie es hier heißt. Fässer drei und vier – Wetzeisen und Hammerköpfe, fünf und sechs Kohlenstaub ...«
»Ist verständlich, Käpt’n«, sagte Poelzig, »denn Lowensport hat Sägewerk, das guten Ruf besitzt.«
McQuinn runzelte die Stirn. »Und die kaufen ihre Werkzeuge in Prag und lassen sie den ganzen Weg bis hierher verschiffen? Warum geben die solche Summen aus, wenn man das gleiche Werkzeug auch hier bekommen kann?«
»Sudetenstahl ist viel hochwertiger, Käpt’n, und seinen Preis wert. Erz kommt aus Bergen in unserer Heimat. Ein Hammerkopf aus dem Erz ist unverwüstbar und Wetzeisen hält Jahre.«
McQuinn widersprach ihm nicht, obwohl er sicher war, dass er mehr Vertrauen in guten irischen Stahl setzen würde. Er bemühte sich, die Schrift auf der Ladeliste zu entziffern. »Und ... hmm. Sieht aus, als wäre in den restlichen vier Fässern Keramik-Grundstoff, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, was das sein soll.«
»Keramik-Grundstoff?«, fragte Poelzig.
»Vielleicht zum Töpfern?« McQuinn entdeckte ein weiteres Wort auf der Liste, es stand in Klammern. »Da steht noch ein Wort, aber es scheint nicht in Englisch geschrieben zu sein. Vielleicht in Ihrer Sprache, Poelzig. Sehen Sie doch mal.«
Poelzig folgte McQuinns Finger über das Blatt. Er schluckte. »Da steht tschechisches Wort hilna, Käpt’n ...«
Nanya packte den Arm ihres Mannes. »Ne!«
Die Reaktion der vollbusigen Frau entging McQuinn nicht. »Hilna? Und was heißt das?«
Poelzigs Gesicht war starr wie Stein. »Wort bedeutet Lehm, Sir. Mit anderen Worten, in Frachthaus stehen vier volle Fässer Lehm ...«
Ich werde diese Ausländer nie verstehen, beklagte McQuinn sich im Stillen, als er das Frachthaus auf dem ersten Deck aufschloss. Sie haben sich benommen, als wären ihre eigenen Gräber geschändet worden. Was konnte denn an Töpferlehm aus Europa dran sein, dass man sich so deswegen erschreckte? Jedenfalls hatte Poelzig die Einwilligung des Kapitäns erbeten, sich einmal diesen Lehm ansehen zu dürfen.
»Das wäre nun aber ein klarer Verstoß gegen die Regeln, Poelzig! Das ist bezahlte Fracht und auch wir werden dafür bezahlt, dass wir sie ausliefern – und zwar unangetastet!«
Poelzig schwieg einen Moment und suchte nach den richtigen Worten. »Meine Frau und ich, Sir, wollen Lehm doch nur sehen. Kann ich nur mit – wie heißt das Wort? – Sentimentalität erklären, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
McQuinn schmunzelte. »Sie meinen, etwas aus Ihrer Heimat zu sehen, um das Herz dran zu erwärmen – so was in der Art?«
»So was in der Art, Sir, genau. Wenn Teil von Blarney Castle aus Ihrem eigenen Heimatland Irland nach Amerika transportiert würde, würden Sie dann nicht auch sehen wollen?«
Das war ein seltsamer Vergleich, aber ... »Na ja, wenn Sie’s so ausdrücken, Mann, würde ich’s wohl wollen.«
»Kann nur hinzufügen, dass diese Fracht besondere Bedeutung hat für jeden tschechischen Juden ...«
»Es ist doch nichts weiter als ein Haufen verflixter Lehm, Mann!«
»Ja, Sir, aber für ein tschechische Jude ist es mehr als das. Das können Sie nicht verstehen, wenn Sie nicht selbst tschechischer Jude sind.«
McQuinn sah sich nach den beiden, die im Licht des hohen Sommermondes hinter ihm standen, um. Zikaden und Frühlingspfeifer erzeugten eine Kakofonie von Geräuschen um sie herum. Trotz seiner Verwirrung glitt McQuinns Blick über Nanyas muskulöse Beine, ihre kräftigen Kurven und ihren Busen, und gerade als sich sein schlechtes Gewissen zu regen begann, merkte er, dass ihre großen, unergründlichen Augen weit aufgerissen und voller verzweifelter Hoffnung auf ihn gerichtet waren.
»Herr im Himmel – na, meinetwegen!« Er zog seine Schlüssel aus der Tasche. Nanya strahlte; Poelzig seufzte erleichtert. Sie schnappten sich Laternen und folgten McQuinn schnell zur Ladetür des Frachthauses.
McQuinns Schlüssel öffnete das klobige Schnappschloss. Ein erdiger Duft begrüßte sie, als sie eintraten. Erdig und ein wenig faulig. Ihre Schritte hallten in dem mittlerweile zu drei Vierteln leeren Frachthaus. Im hinteren Teil konnten sie im Schein der Laternen die massigen Transportfässer mit ihren glänzenden Metallreifen erkennen. Wieso hab ich mich nur darauf eingelassen?, dachte McQuinn, als er nach einem Brecheisen griff und zu einem der hinteren Fässer ging. Auf den beigefarbenen Holzdauben trug jedes der vier Fässer die Aufschrift VLTAVA HILNA. »Vltava?«, fragte McQuinn.
»Fluss, der durch Prag fließt, Sir«, antwortete Poelzig. Seine Worte hallten durch den Raum. »Daher stammt Lehm, genau wie Legende sagt.«
»Legende?« Das ist doch alles Humbug. McQuinn hebelte den stabilen Deckel von einem der Fässer, dann trat er schnell zurück, als ihm ein unangenehmer Geruch entgegenwehte. »Da haben Sie ihren Lehm, Poelzig. Er stinkt wie ein Abort!«
Aber Poelzig und Nanya traten näher, schweigend und ehrfürchtig. »Sehen Sie, Sir«, erklärte Poelzig, »wenn man Legende glaubt, dann hat Lehm von diesem Fluss vor lange Zeit unser Volk gerettet, damals in den Gettos von Prag.«
»Die Juden, meinen Sie?« McQuinn fühlte sich angetrunken. »Und würde es Ihnen was ausmachen, mir zu erzählen, wie ein Haufen ekelhaft stinkender Lehm Ihr Volk retten konnte?«
Poelzig lächelte schmal. »Ist nur Legende, Sir. Aber es heißt, Lehm von Vltava sei in gewisse Weise gesegnet. Zumindest ...« Seine Frau schien derweil von dem offenen Fass zutiefst fasziniert zu sein. Sie strich mit den Händen über die Holzdauben. Poelzig fuhr fort: »Sehen Sie, alte Archive zufolge gewinnen jene, die reinen Herzens und gottergeben sind, Macht durch diesen Lehm.«
»Macht durch Lehm«, murmelte McQuinn und zog zum wiederholten Male seinen Flachmann aus der Tasche. »Ich sag Ihnen was, Mann. Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Müssten Sie schon Jude sein, Sir ...« Poelzig fuhr herum, als Nanya die Hand ausstreckte. Sie wollte den blassen Lehm im Fass berühren, doch ihr Mann riss ihre Hand zurück, bevor sie dazu kam. »Aber soll man nicht berühren ohne angemessene Respekt vor ihm!«
»Respekt?«, schnaubte McQuinn. »Das ist Lehm! So ziemlich das Gleiche wie Matsch!«
Poelzig schien sich über McQuinns Bestürzung zu amüsieren. Er legte den Deckel wieder auf das Fass und drückte ihn fest. »In der Tat, Sir, der Lehm kann Gläubigem Macht verleihen, aber wem es am rechten Betragen und Wissen mangelt, bei dem kann er Gegenteil bewirken. Er kann weiße Seele schwarz machen. Gute Dinge können mit ihm erschaffen werden, aber auch böse.« Poelzig schmunzelte. »Jedenfalls, Sir, wenn man Legende Glauben schenkt.«
»Gut, fein«, kam McQuinns gereizte Antwort. »Und jetzt haben Sie ihn gesehen, also lassen Sie uns wieder gehen.« Er scheuchte die beiden hinaus auf das Backbordseitendeck. Etwas veranlasste ihn, noch einmal einen Blick auf die Fässer zu werfen, woraufhin er die Stirn runzelte und die Tür verschloss.
»Vielen Dank für Ihre Geduld, Sir«, sagte Poelzig. »Meine Frau und ich, wir sind Ihnen sehr dankbar.«
»Gut, dann verziehen Sie sich dankbarerweise in Ihre Kojen und nehmen sich ’ne Mütze voll Schlaf. Morgen wird ’n anstrengender Tag und der fängt beim ersten Morgengrauen an.«
»Gute Nacht, Sir«, verabschiedete sich Poelzig. Nanya verbeugte sich. Dann gingen die beiden die Treppe zum Oberdeck hinauf. McQuinn sah ihnen nach, bis ihre Laternen verschwanden.
Was für ’n Paar, diese beiden, dachte er. Er nahm einen Schluck aus seinem Flachmann. Lehm. Aus irgendeinem stinkenden Fluss Gott-weiß-wo, und die tun so, als wär’s der Heilige Gral.
McQuinn schlurfte in seine eigene Kabine hinauf und schon bald fiel er mit den leisen Geräuschen des Flusses in den Ohren in den Schlaf.
McQuinn wälzte sich unruhig in seiner Koje. Der Schlaf setzte ihm zu wie eine üble Grippe; sein Kopf schien im Takt mit seinen wirren Träumen zu pochen. Erst träumte er von Schwärze, dann von einem langsam lauter werdenden Geräusch, das schließlich zu den rhythmischen Schlägen einer Axt wurde.
Tschack ... tschack ... tschack.
Dann kamen Worte, angestrengte Worte, aber weiblich und sogar erregt:
»Goilem!«
Tschack!
»Kischuph!«
Tschack!
»Loew!«
Tschack!
Schließlich tauchte das Traumbild auf. McQuinn stöhnte im Schlaf, denn er konnte Nanya sehen, die wie besessen noch mehr Holz für den Tender auf dem Achterdeck des Schiffes hackte.
Mein Gott ... so wunderschön ...
Nanya war nur mit dem kalten Mondlicht bekleidet. Ihr muskulöser Körper spannte sich, sie zog den Bauch ein und streckte die Brüste vor, als sie die Axt in einem hohen Bogen hob, innehielt und dann ...
Tschack!
... mit solcher Wucht zuschlug, dass das ganze Schiff erzitterte. Ein dickes Holzstück flog zur Seite.
Sein Traumauge wanderte über ihren hinreißenden nackten Körper, ihre schweißbeperlte weiße Haut, die schlanken, angespannten Muskeln, das hübsch geschnittene Gesicht. Ihr zerzaustes Haar hing nach vorne, man konnte ihre Augen nur durch die Strähnen hindurch sehen. Wild sahen die Augen aus, aber irgendwie tot.
Dann konzentrierte sich die Traumperspektive wieder auf das Gesicht, und in dem Moment riss McQuinn die Augen auf. Und keuchte entsetzt auf, als er sah, dass genau dasselbe Gesicht auf ihn herabschaute.
Wie um alles ...
Nanya hockte rittlings auf McQuinn, genauso nackt wie in seinem Traum. Sie war in seine Kajüte geschlichen, während er geträumt hatte, hatte ihm die Hose heruntergezogen und ...
McQuinn musste nicht lange darüber nachdenken, was sich da gerade abspielte. Sein Körper spannte sich an, während sie gemächlich auf ihm ritt. Ihre erregten Brüste wippten, ihre Brustwarzen waren steif, ihre Unterlippe klemmte zwischen ihren Zähnen. Es war, als hätte sie sich auf ihm aufgespießt.
Ihre toten Augen nagelten ihn fest, und bei jedem langsamen, energischen Stoß keuchte sie ein Wort:
»Kischuph ...«
McQuinns Hände folgten den Kurven ihrer Schenkel, ihrer Hüften ...
»Loew ...«
Er klemmte ihre steifen Nippel zwischen seine Finger ...
»Goilem ...«
Endlich regte sich sein Verstand. Was mache ich denn da? Das ist die Frau eines anderen, aber ... Aber ...
Aber sie hatte seine Tugend bereits überrumpelt. Konnte er denn etwas dafür? Sie selbst hatte ihn verführt, während McQuinn ahnungslos geschlafen hatte ...
»Um Gottes willen, Frau! Haben Sie denn gar keinen Respekt vor Ihrem Mann?«
Aber als sein schlechtes Gewissen ihn dazu treiben wollte, sie von sich zu schieben, da schien sie es zu spüren, ihre toten Augen durchbohrten ihn und ein boshaftes Grinsen wurde durch die Lücken ihres Haares sichtbar. Plötzlich wurden ihre Stöße wilder und sie ritt ihn wie ein Tier. Die Federn der Koje bebten. McQuinns Körper versteifte sich, als Nanyas Geschlecht sich zu qualvoller Enge verkrampfte ...
Explosionsartig kam McQuinn zum Höhepunkt.
Hatte er geschrien? Hoffentlich nicht! Wenn Poelzig von dem Lärm aufwachte und hereinkam – was sollte McQuinn dann sagen?
Nanya seufzte, das Gesicht der Holzdecke zugewandt. Seitlich von ihr flackerte Licht und im ersten Moment fürchtete McQuinn, Poelzig wäre mit einer Laterne hereingekommen, aber dann fiel ihm ein, dass er seine eigene nicht gelöscht hatte.
Und da erst bemerkte er ...
»Was in aller ...« Da war etwas auf ihrem Bauch, oder? Irgendwelche Schmierereien oder ... nein, Kreise. Grobe kleine Kreise, die auf ihrem Bauch einen großen Kreis bildeten. Es sah aus, als hätte es ein Kind mit den Fingern gemalt. »Was ist das da?« Er zählte genau zehn Ringe, die den großen Kreis bildeten, und einen elften um ihren Nabel. Als er einen berührte, fühlte er sich feucht und klebrig an. Das Zeug war körnig.
Und dann sprang er auf. »Du närrisches Weib! Das ist Lehm, stimmt’s? Du warst an dem vermaledeiten Lehm!« Er stieß sie von sich, zog seine Hose hoch, schnappte seine Laterne und rannte aus der Kajüte und die Treppe hinunter. Er glaubte, ein Kichern hinter sich zu hören.
Was sage ich nur dem Käufer, wenn sie was mit seinen Waren angestellt hat?
McQuinns Füße trampelten laut über das hölzerne Seitendeck. Er fluchte laut, als er sah, dass das Schnappschloss am Frachthaus aufgebrochen war – offensichtlich das Werk einer Axt.
»Poelzig!«, brüllte er. »Bewegen Sie Ihren Arsch hier runter und zwar sofort!« McQuinns Stimme hallte so laut über das Wasser, dass einige Möwen überrascht aufschrien. Er stürmte in das Frachthaus, eilte in den hinteren Teil ...
Gott sei Dank!, dachte er erleichtert. Nur bei einem der Fässer war der Deckel aufgestemmt worden. McQuinn hielt die Laterne darüber und sah die Fingerspuren der Verrückten auf der Oberfläche des feuchten Lehms, das war schon alles. Als er den Deckel aufhob, um ihn wieder auf dem Fass anzubringen ...
Tschack!
McQuinn schrie auf. Der Deckel zersplitterte und flog aus seinen Händen, dann ...
Tschack!
Nanya schlug noch einmal mit der Axt zu, verfehlte den Arm des Kapitäns nur um Zentimeter. Die Klinge grub sich in den Rand des Fasses.
»Sie sind ja nicht mehr bei Trost, Frau!«, schrie er, dann flitzte er um sie herum, während sie sich abmühte, die Axt wieder loszubekommen.
»Poelzig! Poelzig! Wachen Sie auf, Mann!« Die Panik jagte McQuinn wieder die Treppe hinauf. Die Laterne klapperte in seiner Hand, als er in die Mannschaftskabine stürmte.
»Hören Sie mich denn nicht, Poelzig? Um Gottes willen, wachen Sie auf! Ihre Frau ist wahnsinnig geworden!«
Poelzig wachte nicht auf.
McQuinn hob die Laterne, als er sah, dass die Koje des Paares leer war. Der Boden dagegen war alles andere als leer, denn mitten auf den Brettern lag Poelzig – oder das, was von ihm übrig war. Der größte Teil des Bodens war mit Blut bedeckt. Poelzig war in der Mitte durchgehauen worden, vom Schritt bis zum Schädel.
McQuinn wich zurück, versuchte in seinem Entsetzen einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Revolver – verdammt! Er ist in meiner Kabine! Ich muss ... Aber es war zu spät.
Gerade als McQuinn sich umdrehte, um zu seiner Kajüte zu fliehen und sich zu bewaffnen ...
Tschack!
... versenkte die lehmbeschmierte Wahnsinnige die Axt mitten in seinem Gesicht.
I
Somerset County, Maryland, Gegenwart
Seth Kohn fühlte sich wie in Trance, als er die scheckkartengroßen Fotos durchblätterte. Der Tahoe lief im Leerlauf, während er wartete; das Schnurren des Motors verstärkte noch den hypnotischen Effekt. Das erste Bild entlockte ihm ein Lächeln. Es zeigte eine hübsche, aber übergewichtige Frau mit langem zobelschwarzem Haar. Sie stand am Kai von St. Petersburg, Florida, und lächelte unsicher in die Kamera. Seth hatte das Bild nicht selbst gemacht; es war alt, wahrscheinlich aufgenommen von einem von Judys früheren Freunden. Aber sie hatte es ihm vor Kurzem gegeben, mit der Anweisung: »Steck es in deine Brieftasche. Es ist eins meiner ›Dickerchen‹-Fotos. Ich glaube, ich habe damals über 80 Kilo gewogen.«
»Warum willst du, dass ich es nehme?«, hatte er gefragt.
»Damit du mich überwachen kannst.«
»Überwachen?«
Sie hatte gelacht und ihr Haar zurückgeworfen, wie sie es immer tat. »Ja. Wenn ich jemals wieder so fett werde, dann musst du mich ein Jahr lang wegsperren, bei Wasser und Brot – Vollkornbrot!«
Manchmal ist sie wirklich zum Schreien, dachte er. Das nächste Foto war erst vor sechs Monaten aufgenommen worden, sie beide zusammen auf einer ihrer Therapiesitzungen. Auf Kokain war Judy Parker in nur einem Jahr von 80 Kilo auf 45 abgemagert. Aber auf dem Schnappschuss hätte sie kaum besser aussehen können: 55 Kilo, ohne überflüssige Polster, lächelnd in einem enganliegenden zweiteiligen Sommerkleid, ihr Haar viel kürzer als auf dem ›Dickerchen‹-Foto, aber ihre Augen strahlender, als er sie je gesehen hatte. Wie hat ein Langweiler wie ich es nur geschafft, eine solche Frau an Land zu ziehen?, fragte er sich – und dann hob er eine Augenbraue, als er sich selbst auf dem Foto betrachtete. Groß, dünn und mit etwas hängenden Schultern, aber genauso strahlenden Augen. Wir haben unser Leben zurückbekommen ... obwohl wir nicht mehr damit gerechnet hatten. Seth musterte sein Haar auf dem Schnappschuss: dunkel, lang und wellig. Ein Jahr früher war es noch grau gewesen, nach mehr als einem Jahr chronischen Alkoholmissbrauchs. Er fand, dass er sich die Eitelkeit des Haarefärbens verdient hatte, nachdem er die ganze Entziehungskur ohne einen einzigen Rückfall durchgestanden hatte. Ein letzter Blick auf das Foto und er murmelte mit einiger Zufriedenheit: »Für einen fast 50-jährigen vertrottelten Computerfreak mit hängenden Schultern und großer Nase bin ich eigentlich gar kein so hässlicher Bursche ...«
Das nächste Foto ließ ihn erstarren. Zitterten seine Hände plötzlich? Es war ein Porträt einer hübschen Blonden mit Pfirsichhaut und sinnlichem Lächeln.
Ah, verdammt. Er wusste, dass er das Bild nicht in seiner Brieftasche mit sich herumtragen sollte. Nicht nach all den Jahren.
Helene.
Er packte die Fotos schnell wieder ein, als er die entschlossenen Schritte näherkommen hörte.
Gerade als Judy die Beifahrertür öffnete, fuhr Seth zusammen: Ein alter schwarzer Lieferwagen mit einer Reklameaufschrift schoss vorbei und unterbrach das eintönige Grün der Felder. Irgendwas mit Obst & Gemüse hatte auf der Wagenseite gestanden. In der halben Sekunde erhaschte er einen kurzen Blick auf zwei ungehobelt aussehende Männer mit gräulichen Bärten und Zahnlückengrinsen. Hatte ihm einer von ihnen zugezwinkert?
Wahrscheinlich Rednecks aus Maryland. Landeier. Seth schnaubte belustigt. Ich hoffe, die Maryland-Rednecks sind nicht so erbärmlich wie die in Florida ...
»Oh mein Gott!«, rief Judy aus, als sie sich auf den Sitz schob und die Tür hinter sich zuschlug. »Haben die Typen im Lieferwagen es gesehen?«
»Was gesehen?«, fragte Seth.
»Wie ich in das Feld gepinkelt habe!«
»Oh, ich glaube nicht«, versuchte Seth sie zu beruhigen. »Das Gras ist zu hoch.«
Judy seufzte. Sie lehnte sich zurück und legte ihren Sicherheitsgurt an. »Ich weiß nicht, ob das einfach nur neu für mich ist oder ein neuer Tiefpunkt.«
Seth fuhr vom Seitenstreifen auf die Straße und beschleunigte. »Willst du mir sagen, dass du noch nie in deinem Leben unter offenem Himmel gepinkelt hast?«
Judy grinste schief und zupfte ihr dunkles Haar zurecht. »Nein. Ich bin eine Frau. Ich habe kein ... Ding. Für euch Jungs ist das ’ne einfache Sache. Aber ich bin eine elegante, niveauvolle Frau.«
»Dann hast du wohl auch, als du da draußen im Gras wie ein Rennpferd gepisst hast, deine kleinen Finger abgespreizt, was?«
»Natürlich!« Aber dann blickte sie sich gehetzt um. »Ich hoffe, die beiden Hinterwäldler rufen nicht die Bullen.« Sie kratzte sich am Kinn. »Wie würde wohl die Anklage lauten? Rechtswidrige öffentliche Blasenentleerung? Bepieselung einer kommunalen Immobilie?«
»Ich würde mir darüber keine Sorgen machen, Liebling. Und wenn ich’s recht bedenke ...« Er zeigte auf ein schnell näher kommendes Schild: LOWENSPORT 10 KM. »Es könnte durchaus sein, dass das Land, auf das du gerade ... dich erleichtert hast, uns gehört.«
»Gut. Das heißt, wir sind bald da, ja? Hast du nicht gesagt, das Haus liegt acht Kilometer vor Lowensport?«
»Jepp.« Seth klappte die albernen Aufsteck-Sonnengläser vor seine Brille. Er drückte Judys Hand. »Und vielen Dank, dass du das alles so sportlich nimmst.«
Judy schien ganz von den endlosen grünen Feldern fasziniert zu sein, die an ihnen vorbeiflogen. »Sportlich? Was?«
»Ich weiß doch, wie sehr du lange Autofahrten hasst. Die Strecke von Tampa nach Maryland kann man in anderthalb Tagen schaffen. Ich hatte nicht geplant, dass es drei Tage dauert.«
»Nun, mal sehen, zählen wir mal nach«, antwortete Judy. »Einmal Sex in Florence, South Carolina, zweimal bei Pausen auf der Interstate, dann einmal in Ashland und zweimal heute auf den Fähren von Virginia nach Maryland.« Judy strich sich eine Strähne ihres glänzenden dunklen Haares aus dem Gesicht und grinste. »Das macht sechsmal in drei Tagen. Du verstehst es wirklich, einer Frau eine lange Autofahrt erträglich zu machen.«
»Ich fühle mich geschmeichelt.« Seth gluckste. »Aber es waren sieben Male, denn es waren drei Pausen. Du vergisst Tappahannock.«
Judy schwieg nachdenklich. »Ja, stimmt! Der Picknicktisch! Wie konnte ich den vergessen?«
Seth nickte.
»Und da wir ja nun bald da sind, sollten wir das neue Haus möglichst schnell einweihen ...«
Seth stöhnte übertrieben. »Liebling, ich bin 49. Gönn einem alten Mann mal eine Pause!«
»Alter Mann, na klar.« Sie lachte und schaute wieder aus dem Fenster. Der Fluss war im hohen Grasland nicht mehr zu sehen. »So also sieht Rutenhirse aus«, meinte sie. Die scheinbar endlosen Felder mit mannshohem Präriegras leuchteten so irrsinnig grün, dass es in ihren Augen schmerzte. »Es ist echt cool, was man für Steuervergünstigungen für das Zeug kriegt.«
»Oh, tatsächlich? Das wusste ich gar nicht.« Seth verlangsamte etwas, um mehr sehen zu können. »Das sieht aus wie ... na ja, Gras.«
»Es ist eine sehr ergiebige Nutzpflanze mit hoher Biomasse«, erklärte Judy. »Bis zum Oktober wird das Zeug drei Meter hoch. Dann wird es abgemäht und kann wieder nachwachsen.«
»Man gewinnt daraus Ethanol oder so was, stimmt’s?«
»Hauptsächlich, ja. Aber auch andere Sachen wie Wasserstoff, Methan, Ammoniak und ein synthetisches Gas, mit dem man ein Kraftwerk genauso effektiv, aber wesentlich sauberer betreiben kann als mit Kohle. Und das Beste ist, dass Rutenhirse auch auf Land wächst, auf dem andere Nutzpflanzen nicht gedeihen, deshalb können Kritiker auch nicht meckern, dass der Anbau der Nahrungsmittel- oder Tierfutterproduktion schadet. Rutenhirse ist im Grunde ein Unkraut, das – dank der Wunder der modernen Wissenschaft – den USA den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen ermöglichen könnte. Sie ist CO2-neutral und wächst jedes Jahr nach.«
»Aber es muss doch trotzdem Geld kosten, sie anzubauen.«
»Fast nichts im Vergleich mit Mais, Sojabohnen oder irgendeiner anderen Nahrungspflanze. Rutenhirse braucht weder Dünger noch Pestizide, und sie ist die dürreresistenteste Pflanze, mit der man Geld verdienen kann. Mittlerweile hat sie den Ruf einer Wunderpflanze, vor allem bei Leuten, die sich um Umweltverschmutzung und Treibhausgase Sorgen machen.«
Seth fand das Thema nicht uninteressant, aber ... »Hm, ich weiß ja, dass du mal Philosophie unterrichtet hast, aber woher weißt du so viel ausgerechnet über Rutenhirse?«
Sie schnaubte belustigt. »Ich bin ein paarmal mit einem Professor für Agrarwissenschaft ausgegangen. Der Typ war besessen von erneuerbaren Energiequellen.«
Sofort war Seth neugierig. »Aha, und war er auch besessen von dir?«
Judy prustete. »Machst du Witze? Erstens war das alles damals in meinen ›Dickerchen‹-Zeiten, und zweitens – und das ist mein Ernst – hat der Kerl die Environment Times gelesen wie ein normaler Mann den Playboy.«
»Soweit ein normaler Mann den überhaupt liest.« Seth hatte selbst ein Abo, und manchmal blätterten sie ihn sogar gemeinsam durch. »Also ... wie lange hast du dich mit ihm getroffen?«
»Seth, bitte. Ich will nicht über ihn reden. Er war ein Idiot.«
»Ah, jetzt fühle ich mich besser.«
»Und überhaupt ... wir haben von der Rutenhirse geredet und von den Steuervergünstigungen, die du dafür bekommen wirst.«
Seth gab wieder Gas. »Dieses Jahr werde ich alle Steuervergünstigungen brauchen, die ich kriegen kann. Aber ... wahrscheinlich bin ich zu habsüchtig, was?«
»Das ist das, was ich an dir nicht verstehe«, sagte sie, aber in fröhlichem Ton. »Du hast Schuldgefühle wie ein Christ, wenn es um Erfolg geht – dabei bist du Jude!«
Seth zwinkerte ihr zu. »Ja, und ich bin verdammt froh, dass Luft umsonst ist; meine Nase ist riesig.«
Darauf reagierte sie nur mit einem Kopfschütteln. »Wenn du 25 Jahre lang ackerst wie bescheuert und dann endlich das große Los ziehst, solltest du dich nicht schuldig fühlen, sondern stolz sein.«
Er konnte es nicht einfach so auf sich beruhen lassen. »Aber Stolz ist eine Sünde, Liebling – jedenfalls für euch Christen.«
»Das ist auch Sex außerhalb der Ehe, mein Liebster, für Juden wie für Gois. Und nachdem wir es auf einer dreitägigen Reise siebenmal getan haben, stehen wir beide wahrscheinlich längst auf Gottes Abschussliste.«
Seth suchte nach einer geistreichen Bemerkung, hielt dann aber inne. Warum musste sie von Ehe reden?, dachte er. Er wusste nicht einmal, warum ihm der Gedanke so zu schaffen machte. Helene war jetzt seit zwei Jahren tot.
Judy warf ihm einen erstaunten Blick zu, dann stieß sie ihn fest mit dem Ellbogen an. »Das war ein Witz, Mr. Scherzkeks! Selbst wenn ich Witze übers Heiraten reiße, machst du zu wie eine Auster.«
»Nein, nein, das ist es nicht ...«
»M-hmm. Außerdem habe ich dir schon bei unserem ersten Date gesagt, dass ich niemals heiraten will.« Sie kurbelte das Fenster herunter, vielleicht als Ablenkung, und ließ ihr Haar im Fahrtwind flattern. »Machen wir uns nichts vor. Bei deiner Paranoia und meiner Impulsivität würde eine Heirat wahrscheinlich unsere Beziehung ruinieren.«
»Komm her!«, sagte er schnell und überraschte sie, indem er seinen Arm um sie legte und sie zu sich zog. »Hierher, direkt neben mich ...«
»Ich kann nicht«, quiekte sie. »Ich bin angeschnallt!«
»Dann mach den Gurt los, mach ihn los!«, drängte er. »Sofort!«
Verwirrt tat sie es, und dann zerrte Seth sie zu sich heran, bis sie halb auf seinem Schoß saß. Sofort küsste er sie stürmisch, ließ sogar seine Hand spielerisch über ihre Bluse und unter ihren BH wandern. Genauso spielerisch täuschte sie Widerstand vor, bis die Küsse ernsthafter wurden. Der Tahoe schlingerte auf der alten Landstraße. Als der Kuss endete, zog Seth sie noch dichter an sich und flüsterte: »Hör mir zu, Judy. Hörst du mir zu?«
»Ja ...«
»Nichts – und ich meine nichts – wird unsere Beziehung ruinieren. Kein Alkohol, keine Drogen, kein Mist aus unserer Vergangenheit. Glaubst du mir?«
Plötzlich wurden ihre Augen feucht. »Ja, ich glaube dir.«
»Gut.« Und er küsste sie wieder.
Schließlich schob sie ihn lachend von sich. »Vielleicht kann nichts unsere Beziehung ruinieren, aber du wirst mit absoluter Sicherheit diesen Wagen ruinieren, wenn du die Augen nicht auf der Straße hältst.«
»Da hast du wahrscheinlich recht.«
»Lass uns zum Haus fahren«, flüsterte sie. Ihr Gesicht war gerötet. »Dann können wir Nummer acht in Angriff nehmen ...«
II
»Nicht übel«, murmelte D-Man, als sie an dem waldgrünen Chevy Tahoe vorbeigefahren waren. »Hast du die Titten gesehen?«
»Klar, Mann«, entgegnete Nutjob. »Und ich hab auch die Bohnenstange gesehen, die bei ihr ist. Scheiße, Mann. Wir sollten umdrehen und uns um die Kleine kümmern. Kriegt doch keiner mit. Wär’ nicht das erste Mal, dass wir welche im Präriegras liegen lassen.«
Die Sonne glänzte auf D-Mans fast kahlem Schädel. »Siehste, Nutjob, das ist der Grund, warum du dreimal im Bau warst und ich noch nie.« D-Mans Muskeln spannten sich, als er seinen Finger hart in die Schulter seines Kollegen rammte.
»Au!«
»Gucken ist eine Sache. Das Einzige, um das wir uns kümmern werden, ist der Deal mit Rosh. Dass du ständig deine Flöte wegstecken musst, wird uns noch allen das Spiel versauen. Ich werd’ mir diesen fetten Deal nicht durch die Lappen gehen lassen, nur weil du irgendwelche Scheiße machst, kapiert?«
»Yeah«, grummelte Nutjob.
Nutjob fuhr und D-Man saß auf dem Beifahrersitz. Der große schwarze Lieferwagen rappelte mit quietschenden Lagern über die Straße. Es war Nutjob, der mehr Zahnlücken hatte. Sein schlammbraunes Haar klebte an den Seiten seines leicht deformierten Schädels, und immer wenn er sich seinen Kinnbart kratzte, rieselten Schuppen heraus. Kitschige Kobra-Tattoos ringelten sich um seine Unterarme. Sein linkes Ohrläppchen hatte er angeblich bei einem Messerkampf im Knast von Jessup verloren. »Ich hab ’n Ohrläppchen verloren«, behauptete er, »der andere ’n Auge.« In Wirklichkeit jedoch verdankte er den Verlust seiner anfänglichen Verweigerungshaltung, als eine Reihe von Mithäftlingen das altbekannte Gefängnisspiel ›Choo-Choo Train‹ spielen wollten und beschlossen, dass Nutjob die zentrale Rolle darin übernehmen sollte. »Du bückst dich jetzt, du Schlampe«, hatte ein Knacki namens Barbell gesagt, nachdem er das Ohrläppchen in der Dusche ausgespuckt hatte, »sonst isses Nächste, was ich dir abbeiß’, mehr als nur ’n Ohrläppchen.« Nutjob hatte den Rat beherzigt.
D-Man hingegen war ein Beispiel eines anderen Redneck-Typus: bullig, ernst, und wenn man ihn auch nicht direkt als sauber bezeichnen konnte, so kam er in seiner Ungepflegtheit doch lange nicht an Nutjob heran. Man nannte ihn D-Man, weil er mal einen Donut-Lieferwagen gefahren hatte, bis er rausflog, nachdem er am Lenkrad eingeschlafen und von einer Brücke gerast war, wobei Hunderte von honigtriefenden gefüllten Krapfen im Brewer River gelandet waren. Seither war es mit seiner Karriere in der Welt des Handels aufwärts gegangen – oder abwärts, je nach Perspektive. Mit seinen Muskelpaketen und dem fast kahlen Schädel sah er aus wie eine Billigversion von Bruce Willis.
»Da sind wir«, verkündete Nutjob, nachdem sie Somner’s Cove erreicht hatten und zu Crazy Alan’s Crabhouse abgebogen waren. Sie fuhren langsam nach hinten, beide jetzt schweigend, und hielten die Augen offen. Man hörte ja mittlerweile jeden zweiten Tag was über neue Anti-Drogen-Initiativen, und auch wenn D-Man nicht gerade Nobelpreisanwärter war, hatte er doch genug Grips, um zu wissen, dass eine einzige Ratte reichte, um aus einem sicheren Deal einen 25-Jahre-Urlaub ohne Bewährung zu machen. »Vorsichtig«, mahnte er. »Fahr langsamer.«
»Pff«, machte Nutjob. »Und wo sollen wir Angst vor haben? Hast die Hosen voll?«
»Mach einfach, was ich dir sage, sonst schlag ich dir die Fresse ein«, stellte D-Man klar.
Der schäbige schwarze Lieferwagen rollte am Pier hinter dem Crabhouse entlang. Nutjob hielt an und stellte den Motor ab. An einigen Anlegern sah man Stapel von Krebsfallen, aber die Boote waren schon da gewesen und wieder verschwunden. Gutes Zeichen, dachte D-Man. Aber wo ist ...
»He, D-Man – wo zur Hölle ist ...«
»Er wird schon kommen.« D-Man grinste schief. Rosh war immer pünktlich hier. D-Man rang nervös die Hände. »Hol das Zeug, ich such ihn.«
Nutjob kletterte in den Laderaum des Lieferwagens, während D-Man ausstieg und vorsichtig an einigen der Sortierreihen entlangging, in denen sonst Schwarzarbeiter die Krebse in verschiedene Größenkategorien sortierten, bevor sie ins Restaurant kamen. Es waren die Krebsboote, die die Ware anlieferten, sie übernahmen sie von den maritimen Lieferanten, die sie entlang der Krebsrouten von einem zum anderen übergaben. Rosh machte den Austausch mit D-Man nie in seinem eigenen Wagen; er hatte das Zeug immer hier im Crabhouse, denn hier lieferten die Boote die Grundstoffe an. D-Man drückte die Klinke der Hintertür, aber die war verschlossen.
Da stimmt was nicht, dachte er und ging mit schnellen Schritten zurück zum Lieferwagen. Warum hab ich nur dieses komische Gefühl, dass heute der Tag ist, an dem ich auffliege?
»Nutjob?« Er sah, dass die Hecktüren des Lieferwagens offen standen, aber er hörte keine Stimmen. D-Man warf einen Blick in den Laderaum, sah, dass die Maiskörbe noch unberührt dastanden, dann schaute er auf die andere Seite des Wagens – und erstarrte.
»Heilige Sch...«
Nutjob lag mit dem Gesicht nach unten auf den nackten Holzplanken, die Hände mit gelben Plastikhandfesseln hinter seinem Rücken fixiert.
Klick!
»Keine Bewegung, Arschloch, sonst gehen die Lichter aus.«
D-Mans Unterkiefer zitterte, als er seine fleischigen Hände hob. Ein Pistolenlauf drückte gegen seine Schläfe.
»Ich ... ich ...«
»Yeah.« Eine unerbittliche Hand schob ihn dorthin, wo Nutjob lag, und drehte ihn um. Ein Cop aus Somner’s Cove, den er noch nie gesehen hatte, grinste ihn höhnisch an: schlank, Schnurrbart, verschlagene Augen. Auf dem Namensschild über seinem Abzeichen stand STEIN. »Du bist also der große böse D-Man, hm, du Penner? In letzter Zeit irgendwelche Donuts im Fluss versenkt?«
»Ich ... ich ...«
»Unsere Leute haben dich und deinen Dreckskumpel schon seit ’ner Weile auf dem Kieker.« Stein drehte Nutjob mit dem Fuß auf den Rücken. D-Mans Partner hatte rote Augen.
»Er ist wie aus dem Nichts gekommen, D-Man! Er weiß alles über ...«
»Halt die Klappe«, befahl der Cop. »Du jammerst wie ’ne Frau und – seht euch das an! Nerven aus Stahl.« Er zeigte auf Nutjobs Hose. Er hatte sich eingenässt.
Ein Kichern. »Ich würde mal sagen, als Crack-Dealern steht euch Jungs keine große Zukunft bevor. Ihr hättet bei Donuts bleiben sollen.«
Endlich fand D-Man so etwas Ähnliches wie seine Stimme wieder. »Wir liefern nur Mais ans Crabhouse, Officer.«
Stein schob ihn zurück zur Rückseite des Lieferwagens. »Dann sehen wir uns doch mal eure Ware an, hm? Hol den hintersten Korb in der Ecke raus!«
Woher um alles in der Welt weiß der Kerl ... In D-Mans Kopf drehte sich alles. Irgendjemand hat uns verpfiffen – aber wer? Rosh? Unmöglich! Nach einem weiteren harten Stoß ins Kreuz kniete sich D-Man in den Lieferwagen und begann die Körbe beiseite zu räumen. Und was zur Hölle soll ich jetzt machen? Seine Hände zitterten, als er den Korb in der Ecke packte.
»Au!« D-Man jaulte auf, als Stein ihn brutal von hinten gegen den Oberschenkel trat.
»Die andere Ecke, Schwachkopf.«
D-Man flennte wie Nutjob, als er den Korb nach vorne zog.
»So – dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben.« Stein hielt seine Pistole auf D-Man gerichtet, während er mit der freien Hand die oberen Maiskolben aus dem Korb warf.
D-Man war klar, dass hier etwas nicht stimmte. Was zur ...