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Nachdem Justin Collier das Hotel betreten hat, bemerkt er, wie ungeheuer scharf er heute ist. Er kann an nichts anderes mehr denken als an Sex. Aber er irrt sich – nicht er ist so geil, es ist das Haus. Und als es Nacht wird, hallt durch die leeren Räume ein gieriges Flüstern, und Mädchen, die schon vor langer, langer Zeit starben, kichern unheilvoll. Amazon.de: "Lee testet bei dieser Geschichte in allen Belangen die Grenzen aus und zeigt, was 'Kreatives Schreiben' bedeutet." Horror Reader: "Ein perverses Genie." Der Verlag warnt ausdrücklich: Edward Lee ist der führende Autor des Extreme Horror. Seine Werke enthalten überzogene Darstellungen von sexueller Gewalt. Wer so etwas nicht mag, sollte die Finger davon lassen. Für Fans dagegen ist Edward Lee ein literarisches Genie. Er schreibt originell, verstörend und gewagt – seine Bücher sind ein echtes, aber schmutziges Erlebnis. Deutsche Erstausgabe. Broschur 19 x 12 cm, Umschlag in Lederoptik. Originaltitel: THE BLACK TRAIN
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Seitenzahl: 536
Veröffentlichungsjahr: 2012
Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Dies ist eine überarbeitete Version des Romans Gast, ursprünglich als Hardcover in limitierter Auflage bei Camelot Books erschienen; für diese ursprüngliche Ausgabe möchte ich insbesondere Tony und Kim Duarte sowie dem außergewöhnlichen Künstler Glenn Chadbourne danken. Außerdem muss ich unter anderem Wendy Brewer danken, Don D’Auria, Bob Strauss, Tim M., Liz, Karyn, Bill, Christy, Alicia (die in erster Linie ein Fan der YANKEES ist), Tim und Anda, Charlie, Tim Fogarty, Ken Arneson; Nick und Rhonda von Wild Willy’s Bar in Largo; Tom Moran, Judy Comeau und Count Gore; Amy, Paul und Kirk von Ricky T’s; Art von Sweet Bay; Geisenhuth, Travis Deputy Theinsatiablebookreader, Nanci Kalanta, Mark Justice; Scott Bradley, Del Howison und Amy Wollace von Book of Lists; Ian Fischer, Miranu Lepus, Lefteris Stavrianos, Nick Nick Roussos, Kathy Rosamilia, den pflichtbewussten Fans Linda Reed und Caroline Vincent von der States Saving Bank; Josh Boone, Thomas Deja, Jeff Funk, Ryan Harding, Pam Herbster, Monica Kuebler, Michael Ling, Michael Pearce, Shay Prentiss, Terry Tidwell, Tom Weisser, Aaron Williams von Wheels of Terror; Christine Morgan und Nick Yak von HFR, Ithrby1, Chris aka flahorrorwriter, bateman, jpoleka, jonah, Trever Palmer, onemorejustincase, godawful, harleymack, serra GE65, babaganoosh, horrorfan, Andrew Myers von der 1st Armored Divsion, Bobby »Smitty« Smith, Brandon Lee Spitler, darkthrone, xrascalxkingx, mrliteral, psychomule, VT Horror Fan, Dathar, Aaron2010, Boota, Harvester, Lazy, madtrav, RabidDecay, sjmsy, Jimbo 1168, Jack Stayenes, Mille Umbra, Smokey-101, vredebryd und Wetbones.
Gast, Tennessee
1857
Plock!
Morris hackte dem Mädchen die Hand mit einem Beil ab, dann lachte er ausgelassen. Die arme Mulattin heulte auf und aus ihrem Stumpf pumpte das Blut.
»Wozu hast du das denn gemacht?«, brüllte Cutton. Er hatte noch nicht einmal die Hose ausziehen können, bevor Morris losgelegt hatte.
Morris hatte sich Speichel in den ungepflegten Bart gekichert. »Sie is’ ’n Mischling, Cutton, ’ne Mischlingshure. Und ich hab ihr ’n Dollar bezahlt.« Mit der abgetrennten Hand des Mädchens rieb er sich den Schritt. »Mischlinge dürfen auf kein’ Fall mehr als zwanzig Cent verlangen.«
Cutton konnte kaum sprechen, als er seinen Gürtel wieder schloss. »Du bist irre, Morris! Die Puffmutter im Zimmer nebenan wird Marschall Braden holen!«
Das Mädchen schlotterte unter Morris’ gespreizten Oberschenkeln, bekam einen Schock. »Aaaach, scheiß drauf. Der Marschall gehört Gast, und wir arbeiten für Gast. Wir haben doch bloß ’n bisschen Spaß in ’nem Hurenhaus, das ist alles.«
Spaß? Einem Mädchen die Hand abzuhacken, ist Spaß? Cutton zog einen Lederriemen aus einem seiner Jefferson-Schuhe und band damit den Stumpf des Mädchens ab. »Du bist so strunzdumm wie Hundescheiße. Das Mädchen könnte sterben.«
Morris ließ die Hand auf den bebenden Bauch des Mädchens fallen. »Sie wird nich’ sterben, Cutton. Schau her, ich mach’s wieder gut.« Er warf eine Fünf-Dollar-Silbermünze auf den Boden.
»Du bist ein verrückter Dreckskerl. Das war das letzte Mal, dass ich mit dir zum Trinken gegangen bin«, tobte Cutton und steuerte auf die Tür zu.
Morris zeigte sich ungläubig. »Willste jetzt auf einmal nich’ mehr?«
Cutton stapfte aus dem Bordell in die staubige Dunkelheit hinaus. Scheiße. Er kannte Morris schon eine ganze Weile – sie hatten zusammen an der Delaware-Strecke gearbeitet. Aber seit sie bei Gast und seiner Bahnmannschaft angemustert hatten, schien der Mann wahnsinnig geworden zu sein.
Wahnsinnig ... oder böse?, fragte er sich.
Die Number 3 Street präsentierte sich dunkel. Vom nächsten Häuserblock hörte er, dass in Cusher’s Bierstube immer noch gezecht wurde. Aber dorthin wollte Cutton nicht zurück. Die anderen würden ihn nur fragen, wie es gelaufen sei.
Hinter ihm schwang die Tür auf. Morris hatte seine Arbeitshose wieder angezogen und rief: »He, komm schon, Cutton. Wozu der Aufstand? Sie ist ’n Mischling, um Himmels willen!«
Cutton ging davon. Ihn kümmerte nicht, ob sie zur Hälfte schwarz war; es hätte nicht einmal eine Rolle gespielt, wenn sie eine vollblütige Negerin gewesen wäre. Einen Sklaven wegen Diebstahls oder Vergewaltigung aufzuknüpfen, ist eine Sache, aber was Morris getan hat, ist schlichtweg unmenschlich. Cutton stapfte weiter in die Finsternis. Es gab nicht mehr viel zu tun, außer zur Schlafbaracke zurückzukehren und sich aufs Ohr zu legen. Er hatte den Großteil des Tages auf dem Pferd verbracht, Gleise überprüft und sichergestellt, dass Gasts Sklaven schnell genug arbeiteten. Bin ohnehin hundemüde. Er hatte lediglich eine schnelle Nummer mit einer Hure gewollt.
Aber nicht ... das.
»Genug Trubel für heute?«, ließ ihn eine leise Stimme innehalten.
Cutton drehte sich an der Kreuzung um. Es konnte niemand aus dem Freudenhaus sein – das lag in der entgegengesetzten Richtung. Er kniff die Augen zusammen.
Wieder die weibliche Stimme: »Genug oder Lust auf mehr?«
Cuttons Blick heftete sich auf ein gespensterhaftes Bild, eine kurvenreiche weiße, verschwommene Kontur. Der Schatten eines Zweigs verbarg das Gesicht.
»Lady, ich bin gerade von Trubel weg, der mir überhaupt nicht gefallen hat«, gab er zurück. »Wer sind Sie?«
»Komm mit!« Eine warme Hand ergriff die seine und zog daran.
Sie führte ihn den Hügel hinauf. Sträucher raschelten. Das fleckig durch die Bäume dringende Mondlicht reichte nie, um Einzelheiten zu erkennen, doch als Cutton hinter ihr hereilte, konnte er ausmachen, dass sie unter dem hauchdünnen Nachthemd nackt war.
»Sie sind nicht aus dem Freudenhaus, oder?«
Ein leises Kichern ertönte. »Komm einfach mit.«
Allein das Gefühl ihrer Hand, der weichen Wärme auf seinen Schwielen, bescherte Cutton eine halbe Erektion – das und etwas Abstrakteres, eine ungewisse Vorfreude. Sie wirkte unbändig lüstern, als sie vorauslief.
»Wohin bringen Sie ...«
»Nicht reden! Wir sind gleich beim Haus ...«
Haus. Etwas Schweres plumpste auf Cuttons Herz. Auf diesem Hügel gibt es nur ein einziges Haus, wusste er. Ein Dienstmädchen? Allerdings hatte er gehört, dass Gasts gesamtes Hauspersonal aus Negern bestand. »Arbeiten Sie für Mr. Gast?«, fragte er.
»Nein«, antwortete sie kichernd. »Aber ich bin mit ihm verheiratet.«
Cutton blieb stehen, als hätte er eine Schrotladung in die Brust bekommen. Er drehte sie zu sich herum und sah ihr direkt ins Gesicht, ein wunderschönes Gesicht, das sich wie verschleiert mit lockigem, in der Farbe des Mondes glänzendem Haar abzeichnete. »Scheiße! Sie haben nicht gelogen!«
»Kommst du jetzt mit oder nicht?«
Cutton erstarrte. »Sie ... Sie sind die Frau meines Bosses ...«
»Sag es noch etwas lauter, damit dich auch die Sklaven drüben bei Sibleys hören können.« Das Mondlicht erfasste sie vollständig, und sie schien zu leuchten. »Mein Mann ist beim Hüttenwerk in Tredegar. Er kauft von einem Bundeshändler weitere Schienen und kommt erst morgen zurück.« Ihre Stimme klang süß wie Sirup. Dann hob sie eine Brust aus dem Nachthemd und fasste gleichzeitig in Cuttons Schritt. »Komm jetzt mit hinein ...«
Das große kantige Haus stand wie ein schattiger Tafelberg da. Bisher hatte er es nur aus der Ferne gesehen, und nun interessierte es ihn nicht weiter. Die Tür klapperte, dann befanden sie sich im Inneren, und sie führte ihn die Treppe hinauf. Cutton achtete nicht auf die luxuriöse Einrichtung. Stattdessen konzentrierte er sich auf das dünne Nachthemd, das über ihren Hintern glitt, und auf die Seiten ihrer schwingenden Brüste. Sie liefen einen mit Teppich ausgelegten, von gerahmten Bildern gesäumten Gang entlang, dann – klick – betraten sie ein Zimmer.
Puh ...
In dem Raum roch es auf Anhieb übel, und wenn das Zimmer übel roch, galt das für gewöhnlich auch für die Frau. Doch Cutton wurde – kniend – eines Besseren belehrt, als sie ihn sofort zu Boden drückte und ihr Nachthemd anhob. Es ging abrupt – kein Werben, kein Süßholzraspeln. Cutton hatte gerade noch Zeit zu denken: Worauf lasse ich mich da bloß ein? Das ist die Frau meines Bosses! Dann traf ihn schon die nächste Erkenntnis wie ein Schlag. Er hatte weiche Behaarung erwartet, die den blonden Locken auf ihrem Kopf entsprach – stattdessen befand sich vor seinem Gesicht eine unbehaarte Scham.
Cutton hatte von Frauen gehört, die so etwas machten – Frauen der vornehmen Gesellschaft –, aber er hatte es noch nie mit eigenen Augen gesehen. Ehrfürchtig starrte er darauf. Rasiert ... na so was ... Seine Finger strichen über das weiße Dreieck. Und auch noch völlig glatt, kaum Stoppeln ...
Der nackte Bauch bebte vor seinen Augen. Dann befahl sie in einem Tonfall, der irgendwie nicht mehr an eine Südstaatenschönheit erinnerte: »Leck mich.«
Die weichen Pobacken fühlten sich heiß unter seinen Händen an. Sie schmeckte wie Rosenwasser.
Allerdings konnte er sich nicht konzentrieren, und sie schien das zu spüren. Ihre Nägel bohrten sich in seinen Nacken, wenn er ins Stocken geriet. Cuttons Gedanken verschwammen, während seine Zunge forschend umherstrich. Einmal hielt er inne und schaute zu ihrem Gesicht auf. »Aber, äh, Mrs. Gast, falls Ihr Mann früher nach Hause kommt, habe ich mächtig Ärger am Hals.« Sie streifte das Nachthemd vollends ab.
»Ich hab dir doch gesagt, er kauft weitere Schienen!« Dann drückte sie ihn ganz zu Boden und setzte sich auf sein Gesicht. »Und jetzt leck mich!«
Ihre Vagina presste sich auf seinen Mund. Gast würde mich umbringen lassen, vermutete Cutton. Andere Männer hatten über die Vorzüge dieser Frau getuschelt, aber war sie es wert? Cutton verwöhnte sie, bis sie krampfhaft zuckte. Ihre Schenkel erzitterten an seinen Wangen ...
»Das war herrlich«, sagte sie und rollte sich herum. »Ein perfekter Anfang.«
Wenigstens das hörte Cutton gern.
»Jetzt ins Bett«, forderte sie ihn auf.
Das Bett stank, aber Cutton war kein empfindlicher Mann. Sie legte sich neben ihn, ließ ihre Hände über den weißen Körper wandern, drehte dunkle Brustwarzen zwischen ihren Fingerspitzen. »Ich muss mich für den Geruch entschuldigen. Ich muss Jessa die Matratze wieder austauschen lassen.«
Wieder. Cutton vermutete, dass sie schon viele Männer in diesem Bett gehabt hatte, die meisten dreckig vom Feld, und – soweit er gehört hatte – wohl auch einige Sklaven direkt von der Trasse. Doch was hatte sie noch gesagt? Einen Namen.
Jessa?
Das Hausmädchen!, begriff Cutton. »Was, äh, ist mit dem Hausmädchen? Was, wenn sie uns hört? Was, wenn sie hereinkommt?«
»Das Hausmädchen tut, was ich sage.«
»Und Ihre Kinder. Sie haben nicht mal die Tür abgeschlossen. Sie könnten jeden Moment rein...«
»Sie schlafen wie alle anständigen Leute um diese Uhrzeit.« Die Andeutung ließ sie lächeln.
In der Regel besaß Cutton ein gutes Urteilsvermögen; dies war die Frau seines Arbeitgebers, er sollte nicht hier sein. Er hätte weggehen sollen, als er ihr auf der Straße begegnet war. Und wenn es sich herumspräche? Gast würde mich lebendig begraben lassen. Davon war er überzeugt. Einige Männer, die für Gast gearbeitet hatten, waren verschwunden, nachdem Gerüchte aufkamen, und mehrere der Sklaven waren wegen derselben Behauptungen auf dem Feld hingerichtet worden ...
Ihr sanfter Akzent verschwand. »Also, wirst du mich jetzt ficken oder zwingst du mich, mir jemand anderen zu suchen?«
Die Worte genügten, um Cuttons gutes Urteilsvermögen auszulöschen, als hätte es nie existiert.
Zwei Stunden später lag er erschöpft da. Sie hielt die Arme und Beine um ihn geschlungen, sein mittlerweile erschlafftes Glied steckte noch in ihr.
Selbst nachdem Cutton ihr alles gegeben hatte, ließ ihre Geilheit nicht nach. Hitzige Erregung hatte ihre Wangen ebenso wie ihren Bauch und die weiche Haut unter ihrem Hals gerötet.
In kehligem Tonfall meinte sie kichernd. »Du bist wirklich ein richtiger Mann.«
Ein richtig TOTER Mann, wenn ich nicht von hier verschwinde, dachte er. Mittlerweile war seine Lust befriedigt – seine Vernunft kehrte zurück. »Ich muss meinen Hintern hier rausschaffen, Mrs. Gast.« Er wollte sich hochstemmen, doch ihre Arme und Beine verstärkten ihre Umklammerung. Sie ließ ihn nicht los, gestattete ihm nicht, sich aus ihr zurückzuziehen.
»Noch nicht«, flüsterte sie. Etwas blieb noch für ihn zu tun.
Am nächsten Morgen beobachtete Cutton, wie zwei Aufseher einen der Neger auf dem Feld enthaupteten. Es war das Erste, was er sah, als er vom Pferd abstieg.
Jetzt töten sie schon wieder einen ...
Cutton hatte nichts darüber gehört.
Bohnen- und Baumwollfelder säumten beide Seiten der mehrere Meilen langen Gleise, die sie bereits verlegt hatten. Cutton hatte erfahren, dass es sich bei den Bohnen um diese neumodische Sorte aus dem Orient handelte, etwas, das Soja genannt wurde. Für gewöhnlich arbeiteten die Sklavinnen auf den Feldern, während die Männer die Gleisnägel einschlugen. Nun bot sich ein seltsamer Anblick ...
Völlige Stille beherrschte den sonnigen Morgen. Die rund hundert Sklaven standen zusammen mit Gasts weißen Vorarbeitern und anderen Hilfskräften fast wie eine militärische Formation in strammer Haltung da.
»Das war ’n guter, sauberer Schnitt«, meinte Morris vom Feld. Der Aufseher, der das Werk vollbracht hatte, hatte dafür eine Dechsel benutzt, ein Werkzeug ähnlich einer Axt, allerdings mit quer zum Stiel stehenden Blatt. Er stand neben Morris und hielt den abgetrennten Kopf, damit ihn alle – insbesondere die Sklaven – sehen konnten.
Morris ergriff lautstark das Wort. »Wie ihr alle wisst, is’ es das, was Negern blüht, die Verbrechen begehen. Euch allen wurde Freiheit versprochen, sobald die Eisenbahnstrecke fertig is’, also solltet ihr gründlich nachdenken, bevor ihr was Dummes tut. Dieser Sklave hier hat ’ne weiße Frau belästigt, die ungenannt bleiben soll«, Morris packte den Kopf und sah ihn an, »und das is’ der Preis, den er dafür bezahlt hat. Mr. Gast is’ ’n gerechter und großzügiger Mann, aber wir dulden weder Ungehorsam noch Verbrechen. Dieser arme, dumme Sklave wird nie ’n freier Mensch sein, ihr alle aber schon, wenn ihr hart arbeitet, euch benehmt und die Finger von dem lasst, was sie nich’ anfassen sollten.«
Geweitete weiße Augen leuchteten furchtsam aus der langen Reihe der schwarzen Gesichter entlang der Gleise. Weitere Aufseher standen im Hintergrund und hielten Repetierpistolen und Donnerbüchsen, die mühelos mehrere Menschen mit einem einzigen Betätigen des Abzugs niederstrecken konnten.
Scheiße, dachte Cutton. Er hatte den Sklaven gekannt, der hingerichtet worden war – sein Name war Meti. Gast ließ alle Sklaven afrikanische Namen annehmen. Sie wurden gut gekleidet, gut ernährt und gut untergebracht, und angesichts des Versprechens auf Freiheit, sobald der letzte Nagel in Maxon eingeschlagen würde, gehorchten sie alle brav. Meti war einer der stärksten Nagelschläger gewesen. Es war übel, einen guten Arbeiter zu verlieren. Man hatte ihm die wertvollen Arbeitskleider und Stiefel ausgezogen. Nun war er nur noch ein nackter Leichnam ohne Kopf.
Das arme Schwein hätte ihn lieber in der Hose behalten sollen. Wahrscheinlich hat er eines der Mädchen aus der Ortschaft vergewaltigt.
Dann jedoch blickte Cutton weiter die Reihe hinunter und dachte erneut: Scheiße! Auf dem vertrauten Schimmel saß Mr. Gast und beobachtete das Geschehen. Gast nickte Morris zu, als sich ihre Blicke begegneten.
»Bringt die Hämmer!«, befahl er. »Ihr wisst ja, wie’s läuft.«
Vier ausgewählte Sklaven traten mit zwanzig Pfund schweren Vorschlaghämmern vor.
»Tut mir ja leid, dass ihr das mit einem von euch machen müsst – so is’ es nun mal. Aber es is’ nich’ nur für euch ’ne Lektion, sondern auch für Weiße. Wir erweisen unserm Land mit dem Bau dieser Strecke ’nen wichtigen Dienst. Die Yankees haben knapp dreißigtausend Meilen Eisenbahngleise, aber der Süden nich’ mal ganz neuntausend. Mr. Gasts Eisenbahn is’ wichtig für die Zukunft. Wir müssen alle mit ’n Gedanken bei unsrer Aufgabe bleiben.« Morris verstummte kurz, vermutlich nur, um eine dramatischere Wirkung zu erzielen. »Zerstampft ihn.«
Die Schmiedehämmer hoben und senkten sich, landeten mit wuchtigen, ekelerregenden Schlägen. Der kopflose Körper wurde durchgeschüttelt und binnen einer Minute völlig zerschmettert. Jeder Knochen im Leib des Toten war gebrochen.
»Äxte!«, befahl Morris.
Vier weitere Sklaven traten vor – mit ebenso grimmigen Mienen wie die ersten. Die Äxte sausten gleichzeitig herab, hoben und senkten sich in scharlachroten Bögen wie eine diabolische Nockenwelle. Innerhalb weniger Augenblicke verwandelten die Hiebe den zertrümmerten Leichnam in einen blutigen Brei.
»Schaufeln und Hacken!«
Der Abschluss. Die Sklaven hackten den Brei in die Erde.
Morris brüllte: »Durch den Verlust von dem da sin’ wir nur stärker geworden, und jetzt tut dieser nutzlose Verbrecherkörper doch noch was Gutes, indem er ’s Land düngt, dem wir ’s Essen in unsren Bäuchen verdanken! Mr. Gast is’ grad von ’ner langen Reise nach Virginia zurückgekommen und hat uns weitere Schienen und Schwellen mitgebracht, also machen wir ihn stolz und verlegen heut ’ne Viertelmeile zusätzlich! Richtig, Männer?«
Die hundert Sklaven schüttelten ihre Trübsal ab und jubelten.
»Denkt dran, am Ende dieser Strecke wartet die Freiheit auf euch. Richtig?«
Weiterer Jubel, weiteres Zusammenrücken.
»Zwanzig Minuten Pause! Dann geht’s zurück an die Arbeit!«
Cutton blieb sprachlos, als das Ritual endete: Die beiden Aufseher spießten Metis abgetrennten Kopf auf dem Feld auf einen hohen Pflock und rammten diesen in den Boden.
Gütiger Herr Jesus ...
Morris kam zu den Gleisen herüber. »He, Cutton. Tut mir leid, ich hab ja nich’ gewusst, dass du so ’n zartbesaiteter Typ bist. Aber du hättest letzte Nacht nich’ abhauen sollen. Hab der Puffmutter ’nen Fünfer in die Hand gedrückt, und sie hat ganz vergessen, was ich mit der kleinen Mulattin gemacht hab. Und sie hat mir noch zwei Mädels gebracht! Ich hatte noch jede Menge Spaß.«
Cutton versuchte, das Bild zu verdrängen. »Meti war ein guter Arbeiter, Morris. Was genau hat er getan? Sich einem der Mädchen aus der Stadt aufgezwungen?«
Morris biss ein Stück Tabak ab. »Unter uns?«
»Klar.«
»Hat Mrs. Gast in den Arsch gekniffen. Das hat er gemacht.«
Cuttons Magen flatterte. Wenn die ihm den Kopf abschlagen und mit seiner Leiche das Feld düngen, weil er ihr an den Hintern gefasst hat ... was würden sie wohl erst mit mir anstellen?
»Aber mich tät’ nich’ überraschen, wenn sie ihn drum gebeten hätt’. Und das bleibt auch unter uns.«
Cutton sehnte sich danach, das Thema zu wechseln. Sein Blick schnellte zu dem markanten Mann in dem langen Mantel auf seinem weißen Pferd. »Ich dachte, Mr. Gast würde erst heute Abend zurückkommen.«
Morris zuckte mit den Schultern. Er schaute zu dem abgetrennten Kopf auf dem Pfahl, wirkte dabei jedoch gänzlich unberührt. »Is’ schon heut Morgen eingetroffen. Und hat vier Flachwagen voll mit Schienen mitgebracht.«
»Eisen aus Tredegar, hab ich gehört.«
»Stimmt.«
»Verdammt viel besser als das Yankee-Eisen. Kostet aber auch mehr.«
»Tja, Mr. Gast will nur ’s Beste für seine Eisenbahn.« Ein weiterer Blick zum Feld verriet, dass allmählich Normalität einkehrte, ungeachtet des gepfählten Schädels, der auf alle herabstarrte. Sklavinnen in Baumwollkleidern gingen mit ihren Weidenkörben zurück zu den Sojabohnenreihen. Morris sah den Kopf noch einmal an.
Lächelte der Mann etwa?
Cutton schauderte.
Plötzlich fiel ein Schatten über sie. Cutton schaute auf ... und erstarrte regelrecht.
»Morgen, Mr. Gast«, begrüßte ihn Morris.
Der Mann mit den strengen Zügen nickte. Grau melierte Koteletten zierten sein Gesicht. »Morris. Eine Schande, die Sache mit dem Sklaven, aber Sie haben es wie immer in die richtigen Worte gefasst.«
»Danke, Sir. Wie Sie’s mir beigebracht haben – mach sie nich’ nieder, auch dann nich’, wenn wir ihnen Disziplin beibringen müssen.«
»Morgen, Mr. Gast«, sagte Cutton trotz seines Unbehagens. Heilige Scheiße, warum hab ich bloß das Gefühl, dass er weiß, was ich mit seiner Frau getrieben habe?
»Morgen, Mr. Cutton. Wie sind die Streckeninspektionen in meiner Abwesenheit gelaufen?«
»Besser hab ich sie noch nie erlebt, Mr. Gast.« Angesichts seiner staubtrockenen Kehle hatte er Mühe beim Sprechen. Sein Herz hämmerte in der Brust. »Die Spurweite ist perfekt. Wir haben schon fast fünf Meilen geschafft, und dabei haben wir noch keine zwei Wochen hinter uns. Und die Verbindungen sind tadellos.«
»Gut, gut.« Gast hob das verfinsterte Gesicht der Sonne entgegen. »Meine Frau hat erwähnt, dass sie gestern mit Ihnen gesprochen hat.«
Cuttons Herz fühlte sich wie ein Stein an, der ihm gerade in den Magen gerutscht war. »Ich ... Nun, ja, Sir, ich habe sie gegrüßt, ja, Sir.«
»Sie meinte, dass Sie ein höflicher Gentleman sind ...«
»Das, äh, ist sehr nett von ihr ...«
»... obwohl Sie aus Delaware stammen.«
Die Zeit schien stillzustehen. Dann brachen Gast und Morris in Gelächter aus.
Cutton hätte beinahe in seine Segeltuchhose gepinkelt, aber schließlich begriff er und stimmte in das Lachen mit ein, wenngleich nervös.
»Ich veralbere Sie nur ein wenig, Mr. Cutton«, beschwichtigte Gast. Er sah sie beide an. »Ihr Männer leistet verdammt gute Arbeit. Machen Sie so weiter.«
»Ja, Sir«, erwiderte Morris.
Cutton fügte hinzu: »Werden wir auf jeden Fall.«
Gast gab seinem Pferd die Sporen und ritt die Gleise entlang zurück zu den mit Schienen und Schwellen beladenen Flachwagen.
Aber unwillkürlich waren Cutton ... Gasts Augen aufgefallen. Kurz bevor er losgeritten war, als er herabgeblickt hatte ... das Weiß seiner Augen wirkte gelblich, trübe, als hätte er Gelbsucht.
»Ist Mr. Gast nicht ganz auf dem Damm?«, fragte Cutton.
»Nich’, dass ich wüsst’. Wieso?«
Cutton kaute auf der Unterlippe. »Ich dachte, seine Augen hätten etwas merkwürdig ausgesehen.«
»Mir is’ nix aufgefallen, Cutton, und ich bin jetzt ganz schön am Arsch.«
»Wieso das?«
»Mich nennt er Morris aber dich Mr. Cutton. Scheiße.«
Tatsächlich?
»Ich wette, du lutschst ihm jeden Abend den Pimmel, was?« Morris lachte grölend und klopfte Cutton heftig auf den Rücken. »Gehn wir heut Nacht wieder in ’n Puff. Bisschen Spaß haben.«
Cutton erinnerte sich nur allzu gut an Morris’ Vorstellung von Spaß. Er war schweißgebadet vor Nervosität. »Vielleicht. Mal sehen, wie ich mich fühle, wenn wir mit der Arbeit fertig sind.«
Cutton schaute ein letztes Mal zu dem aufgespießten Kopf. Niemand nahm Notiz davon, niemand kümmerte sich auch nur im Geringsten. Bloß eine weitere Ermordung eines ungehorsamen Sklaven. Er schüttelte den Kopf, als Morris ihm Kautabak anbot.
Und bemerkte etwas.
Hol mich der Teufel ...
Das Weiß in Morris’ Augen wirkte ein wenig ungesund, blassgelb verfärbt.
Genau wie bei Gast.
Abermals schüttelte Cutton den Kopf. Muss wohl am Licht liegen, tat er seine Beobachtung ab.
»Ihr zwei!«, brüllte Morris den beiden Aufsehern auf dem Feld zu. »Schafft die Sklaven zurück zu den Gleisen. Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen.« Abermals klopfte er Cutton so kräftig auf den Rücken, dass Staub aufwirbelte. »Wir sehn uns heut Abend, Kumpel.«
Damit ging Morris zurück ans Werk. Die Sklaven begannen, sich in die ihnen zugewiesenen Gruppen aufzuteilen, und schon bald hörte man Werkzeug klirren.
Cutton stieg auf sein Pferd, hielt aber noch einen Moment inne. Sein Blick ruhte nach wie vor auf dem abgetrennten Schädel und dem starren toten Gesicht. Ist das wirklich Gerechtigkeit?, fragte er sich. Dann sagte ihm eine höchst unerwünschte Eingebung, dass es weit mehr war als das.
I
»Du haust also einfach ab?«, meckerte die Stimme. »Das ist so typisch für dich, Justin. Wenn es ein Problem gibt, steigst du in ein Flugzeug und verschwindest.«
Collier fühlte sich in dem Leihwagen beengt und ärgerte sich darüber, dass ihn der nervende Anruf von der Umgebung ablenkte. »Evelyn, Schätzchen, ich würde eine Scheidung nicht als Problem bezeichnen. Das ist lediglich ein Ereignis. Das Problem ist eher, dass du und ich je dachten, wir würden als Ehepartner zueinanderpassen ... aber das ist ja nun hinfällig.«
Das kleine Mobiltelefon schien zu vibrieren, als sie protestierte. »Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Pass auf, Evelyn, ich muss dieses Buch zu Ende bringen. Der Abgabetermin ist nächste Woche. Wenn ich den nicht einhalte, besteht theoretisch die Möglichkeit, dass mein Verleger den Vertrag kündigt, und dann müsste ich die fünfzigtausend Dollar Vorschuss zurückzahlen. Und jetzt setz mal die Denkermütze auf und überleg, was das für Auswirkungen hätte, zumal du bei der Scheidungsvereinbarung wahrscheinlich die Hälfte dieses Vorschusses bekommen würdest.«
Stille. Dann: »Oh.«
»Genau, Liebste. Oh. Zusammen mit der Hälfte – ich wiederhole: der HÄLFTE – von allem anderen, was ich je verdient habe.«
Neuerlicher Protest. »He, ich arbeite auch!«
»Schätzchen, mit Partyservices in Los Angeles verhält es sich so wie mit alten Leuten in Florida – es gibt zu viele.«
Collier wusste, dass er ihr gescheitertes Geschäftsunterfangen nicht hätte erwähnen sollen. Noch bevor sie es aussprach, wusste er, was sie sagen würde.
»Ich bin froh, dass deine bescheuerte Sendung aus dem Programm fliegt, du aufgeblasenes Arschloch!«
Ach, das schöne Leben, dachte Collier. Wahre Liebe und häusliches Glück. »Evelyn, lass uns nicht streiten. Ich bin in einer Woche zurück, um die Papiere zu unterzeichnen, in Ordnung? Ich weiche dem Thema nicht aus, falls es das ist, was du denkst. Aber ich muss das jetzt machen.«
»Wofür musst du nach Tennessee? Du schreibst Bücher über Bier.«
»Ich brauche nur noch einen Eintrag, bevor das Buch fertig ist, und ich glaube, ich habe hier gefunden, wonach ich suche. Es muss etwas Einzigartiges sein. Ich kann nicht einfach irgendein Bier einer Kleinbrauerei mit aufnehmen.«
»Na ja ... gut.« Ihr Zorn verrauchte.
»Ich muss jetzt auflegen. Ich bin schon vor vier Stunden vom Flughafen weg und hab immer noch keine Ahnung, wo ich hinmuss. Weißt du was, ich rufe dich Mitte der Woche an, um zu sehen, wie es dir geht, ja?«
»Okay. Bis dann.«
Klick.
Collier fühlte sich, als wäre soeben ein großes Tier von seinem Rücken geklettert. Er schlug sich den Ellbogen an, als er das Telefon wegsteckte.
Warum hab ich bloß je geheiratet? Alle meine verheirateten Freunde haben mir davon abgeraten. Wenn Verheiratete einen davor warnen, jemals zu heiraten, ist das so, als käme der Koch aus der Küche, um zu gestehen, dass sein Essen mies ist. Ein ziemlich kompetenter Rat. Natürlich war Evelyn eine wunderschöne Frau, allerdings fanden das anscheinend auch einige andere Männer in Los Angeles. So ist das in der modernen Welt – man hat tollen Sex, dann heiratet man und schließlich lässt man sich scheiden. Und der Mann darf der Frau die Hälfte von allem abgeben.
Das war toller Sex einfach nicht wert. Und tatsächlich hatte er inzwischen vergessen, was toller Sex war.
Herrlich grüne Weiden und Ackerland zogen zu beiden Seiten vorbei. Collier genoss die Aussicht, besonders nach diesen vier Jahren in Los Angeles. L. A. war keine Stadt, sondern ein Stadtstaat. Hollywood! Spago! Venice Beach! Rodeo Drive! Können sie alles behalten, dachte er. Hatte Los Angeles seinen Reiz verloren oder lag es an etwas anderem? Collier fiel auf, dass ihn materielle Dinge umso weniger interessierten, je älter er wurde. Seine Sendung bei Food Network TV, Justin Collier: Fürst der Biere, hatte ihm während der ersten drei Staffeln eine enorme Stange Geld eingebracht, nun jedoch hatte man vor, seine Sendezeit einem angesagten Koch aus San Francisco zu geben. Verrückt nach Meeresfrüchten sollte das neue Projekt heißen. Auch gut. Mittlerweile hasste Collier sowohl Los Angeles als auch seine Sendung – obwohl sie aus ihm einen Halbprominenten gemacht hatte, laugte sie ihn aus. Mit vierundvierzig war ein Großteil seines Haars mittlerweile grau, und er fühlte sich wie ein Idiot, wenn er es sich von einer Visagistin im Studio färben ließ. Seine Bücher über nicht industriell gebraute Biere verkauften sich immer noch gut genug, um ihm einen soliden Lebensstil zu sichern, und er sehnte sich danach, dazu zurückzukehren.
Vielleicht werde ich einfach alt, überlegte er. Aber vierundvierzig war doch nicht alt, oder?
Verdammt ...
Das Einzige, was Hertz am Flughafen zur Verfügung gehabt hatte, war dieser peinliche VW Beetle. Der sieht doch aus wie ein Spielzeugauto, war der erste Vergleich, der ihm durch den Kopf ging, als ihm der Mitarbeiter die Schlüssel gab. Noch schlimmer war die Farbe: Limonengrün. Ja, ich kann schon vor mir sehen, wie ich mit dem Ding auf der 405 fahre. Erschwerend kam hinzu, dass der Innenraum beengt war, aber immerhin konnte er den Lookout Mountain sehen, Schauplatz einer berühmten Schlacht im Bürgerkrieg, die dem Pomp der Konföderierten endgültig den Rest gegeben hatte. Der Anblick beruhigte ihn – nicht, weil der Berg für ein Kriegsgemetzel stand, sondern weil er die Bestätigung dafür war, dass sich Collier weit von Los Angeles entfernt befand.
Weitere Meilen blieben hinter ihm zurück. Als er bei Map-Quest eine Suchabfrage nach Gast, Tennessee durchgeführt hatte, bekam er immer wieder die Meldung: SEITE ABGELAUFEN. Er hatte den Ort schließlich auf einer 7-Eleven-Karte aufgespürt, aber das Geflecht von Nebenstraßen hatte sich in ein verwirrendes Labyrinth verwandelt. Wie schwierig konnte es sein, eine Ortschaft mit einem derart ungewöhnlichen Namen zu finden? Er brauchte eine weitere Stunde, bis er auf ein Schild stieß: Gast, Tennessee – Ortsgrenze. Historische Bürgerkriegsstätte.
Endlich!
Die Ortschaft präsentierte sich als strahlend wiedergeborener Anachronismus: Gepflegte Schindelgebäude säumten eine mit Kopfsteinen gepflasterte Hauptstraße namens Number 1 Street. Gewöhnlich wirkende Vertreter der Mittelschicht schlenderten auf makellosen Gehwegen, vorbei an den zu erwartenden Antiquitätenläden, Bistros und Geschäften für Sammler. Minié-geschosse!, verkündete ein Schild. Schlachtfeldkarten!
An der Kreuzung gingen zwei ältere Frauen an ihm vorbei und lächelten. Collier lächelte zurück – »Guten Tag, die Damen!« Dann jedoch beschlich ihn der Eindruck, dass sie kicherten. Wegen diesem Schandfleck auf Rädern!, begriff er. Das kuriose Auto sprang in dieser Ortschaft ins Auge wie ein bunter Hund. Mach schon, werd grün, drängte er in Gedanken die Ampel. Mittlerweile blieben weitere Fußgänger stehen, um den Wagen mit einem verstohlenen Lächeln im Gesicht zu betrachten. Was für ein Auftritt ... Wahllos bog er ab, um möglichst rasch vor den Umstehenden zu flüchten, aber gleich darauf erblickte er ein Schild samt Richtungspfeil: Gästehaus.
Collier querte ähnlich benannte Straßen – Number 2 Street, Number 3 Street und so weiter –, merkte sich jedoch jene, auf der er sich befand: Penelope Street. Er spähte voraus. Die Straße wand sich einen üppig grünen Hügel empor, auf dessen Kuppe ein prachtvolles Haus aus der Zeit vor dem Sezessionskrieg stand. Konnte das ein Hotel sein?
Was für ein Bauwerk. Collier verstand nicht viel von Architektur, aber als er über den Vorhof rollte, war er unwillkürlich beeindruckt. Eine aufwendige, zweigeschossige Veranda, gestützt von dorischen, mit kunstvollen Riffelungen verzierten Säulen, bildete die Fassade des Haupthauses. Das mittlere Gebäude war achteckig und besaß Mauern aus handgefertigten roten Ziegeln. Es wurde von vier weiteren, eingeschossigen Trakten seitlich flankiert, alle mit weißen Schindeln und einem tiefen, umlaufenden Vorbau. Davor blies ein Junge aus Granit in Konföderiertenkluft Wasser aus einer Flöte in ein aus Mörtel und Stein errichtetes Becken, neben dem eine knorrige Eiche wuchs, größer als jede, an die sich Collier erinnern konnte. Er parkte und stieg aus. Der Schatten des mittleren Gebäudes verschaffte ihm Kühlung.
Prächtige, fünfzehn Meter hohe Weiden schmückten die Vorderseite des Anwesens, während einige noch ältere Eichen das restliche Grundstück zu säumen schienen.
Collier näherte sich dem Haus. Efeuranken wucherten die verwitterten Ziegelmauern des achteckigen Bauwerks empor. Er bemerkte mehrere Autos auf einem Nebenparkplatz und hoffte, dass sie Gästen gehörten, nicht nur dem Personal – trotz des altertümlichen Prunks des Anwesens wollte er nicht der Einzige sein, der hier übernachtete. Wenngleich er nicht sicher sein konnte, glaubte er, ein Gesicht gesehen zu haben, das durch ein schmales Fenster des nächstgelegenen Trakts zu ihm herausgeschaut hatte. Das Gesicht hatte neugierig gewirkt, aber vielleicht war es auch nur durch das alte Glas verzerrt gewesen.
Willkommen im Branch Landing Inn stand auf dem hohen Steingesims zu lesen. In einen Ziegel neben der Tür war in grober Schrift Haupthaus, 1850 eingraviert.
Weiße Granitblöcke umrahmten eine massive Eingangstür. Da es sich offensichtlich um einen Beherbergungsbetrieb handelte, empfand er es als unnötig zu klopfen, obwohl es einen merkwürdigen Türklopfer gab: ein Messinggesicht mit großen, leeren Augen, jedoch ohne Nase oder Mund. Aus unerfindlichem Grund löste der Klopfer ein sonderbares Gefühl in ihm aus – und als er nach dem Messingknauf griff, stellte er fest, dass auch auf diesem das konturlose Gesicht zu sehen war.
Dann hätte Collier beinahe aufgeschrien ...
Eine unsichtbare Hand legte sich auf sein Kreuz, während eine andere die Tür für ihn öffnete.
»Großer Gott!«
Eine kleine Frau Anfang dreißig hatte sich ihm lautlos von hinten genähert. Nach dem Schrecken, den sie ihm eingejagt hatte, musterte Collier sie: klein, zierlich, wohlgeformt. Sie lief barfuß und trug einen schlichten Jeanskittel. Das kann kein Gast sein, ging ihm durch den Kopf, bevor er das Namensschild bemerkte: Hallo! Mein Name ist Lottie.
Collier hob eine Hand an die Brust. »Mann, Sie haben mich ganz schön erschreckt. Ich habe Sie nicht gesehen.«
Sie lächelte und hielt weiter die Tür für ihn auf.
»Arbeiten Sie hier?«
Sie nickte.
Da sich sein Schrecken mittlerweile gelegt hatte, fiel ihm nun auf, dass zwar ihre Figur außergewöhnlich, ihr Gesicht jedoch nicht besonders hübsch war. Ihre Augen wirkten stumpf, ja sogar schief. Sie lächelte erneut. Ein Schopf ungekämmter, schlammbrauner Haare war auf Nackenhöhe gestutzt worden.
Der Moment hatte etwas Verwirrendes. Sie stand nur da und hielt wortlos die Tür auf.
»Danke.«
Collier betrat einen kleinen, aber überladenen Vorraum mit weiteren Türen aus verwinkeltem Spiegelglas. Der dicke, ovale Vorleger unter seinen Füßen schien handgewebt zu sein.
»Also, Lottie, habt ihr Zimmer frei?«
Wieder nickte sie.
Nicht gerade eine Plaudertasche.
Ein fröhliches Glockenspiel bimmelte, als sich die nächste Tür vollständig öffnete. Sie betraten einen weitläufigen Eingangssalon, dessen neun Meter hohe Decke Colliers Blick nach oben wandern ließ. Riesige Ölgemälde hingen weit oben hinter dem Empfangsschalter, noch höher darüber befand sich ein langer Treppenflur. Den Hartholzboden bedeckten weitere gemusterte Läufer, wesentlich kunstvoller als jener im Vorraum. Über den offenen Bereich verteilt standen antike Tische, umgeben von Stühlen mit hohen Rückenlehnen. Bücherregale und Vitrinen mit Glasfassaden säumten die Wände.
Beeindruckend, dachte Collier.
Halbrunde Treppenhäuser führten zu beiden Seiten des langen Mahagonischalters nach oben, und hinter dem Schalter wies eine Wand mit gebeizten Eichenpilastern handgeschnitzte Blumenmuster auf.
»Das ist wirklich ein wunderschönes Haus«, meinte Collier zu der jungen Frau.
Sie nickte.
Zum Empfangsschalter waren es sechs Meter. Dahinter schaute das Gesicht einer alten Frau auf, ein Lächeln im verrunzelten Gesicht. Vermutlich war sie Mitte sechzig. Gewitterwolkengraue, sehr kurz geschnittene Dauerwellen kräuselten sich um ihren Kopf – eine Frisur, die nur Frauen kurz vor dem Pflegeheimalter für attraktiv hielten. Selbst aus der Ferne konnte Collier die tiefen Gesichtsfalten und die Tränensäcke unter den Augen erkennen. Die schlaffen Wangen und der breite Kiefer gaben den Gesichtszügen beinahe etwas Männliches. Hätte Jack Palance eine Zwillingsschwester ... stünde ich ihr gerade gegenüber, ging es Collier spontan durch den Kopf.
»Das ist doch kaum zu glauben!«, ertönte ihre kräftige, näselnde Stimme. »Muss wohl Prominentenmonat sein!«
»Wie bitte?«
»Ich schwöre, ich habe Sie im Fernsehen gesehen!«
Collier hasste es, »erkannt« zu werden.
Die betagten Augen funkelten zwischen verquollenen Lidern. »Erst vor wenigen Wochen hatten wir einen Spieler der New York Yankees hier, und jetzt beehrt uns der Fürst der Biere!«
»Hallo«, sagte Collier und fühlte sich bereits deprimiert. Nun musste er den Schein wahren. »Justin Collier«, stellte er sich vor und streckte die Hand aus.
»Ich bin Helen Butler. Willkommen im Branch Landing Inn. Das kleine Ding neben Ihnen ist meine Tochter Lottie. Ich führe den Betrieb, sie sorgt für Ordnung.«
Collier nickte Lottie zu, die begeistert zurücknickte.
»Lottie redet nicht«, erklärte Mrs. Butler. »Konnte sie aus irgendeinem Grund noch nie. Sie hat es versucht, als sie ein Kleinkind war, hat es aber nie hinbekommen, bis sie es irgendwann ganz aufgab.«
Lottie breitete die Hände aus und zuckte mit den Schultern.
Mrs. Butler plapperte weiter. »Also, erst gestern Abend habe ich Sie im Fernsehen gesehen.«
»Ah, also sind Sie eine Bierkennerin, Mrs. Butler?«
»Eigentlich nicht – ich will Sie nicht belügen. Ich sehe mir immer die Sendung an, die nach Ihrer kommt, Savannah Sammys pfiffige Räucherkammer.« Verträumt fügte sie hinzu: »Ich liebe diesen Savannah Sammy.
Diesen Arsch! Colliers Stolz rebellierte. Die Äußerung fühlte sich wie eine Herausforderung an. Zum einen stammt er gar nicht aus Savannah, sondern aus dem verfluchten Jersey, zum anderen schreibt er seine Sendungen nicht mal selbst! Collier fühlte sich verletzt, aber was sollte er sagen? »Ja, Ma’am, Sammy ist ein toller Kerl.«
»Aber verstehen Sie mich nicht falsch, Ihre Sendung ist auch klasse. Mein Sohn sieht sie sich immer an und schwärmt davon.« Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. »Sagen Sie ... kennen Sie Emeril?«
»Oh, sicher. Auch ein toller Kerl.« Tatsächlich war Collier dem Mann nie begegnet.
»Oh bitte, Mr. Collier«, sprudelte sie als Nächstes hervor. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie ein Weilchen bei uns bleiben.«
»Ja, ich möchte zumindest ein paar Tage bleiben.«
»Das ist wunderbar! Und zufällig ist gerade das Zimmer mit der besten Aussicht frei.«
Collier wollte ihr gerade danken, verfiel allerdings jäh in Sprachlosigkeit, als die alte Dame aufstand und zum Schlüsselschrank eilte.
Das glaub ich einfach nicht ...
Mrs. Butler trug eine schlichte orchideenfarbene Bluse mit Knopfleiste und einen dazu passenden, knielangen Rock. Doch es war nicht die Aufmachung, die Collier die Sprache verschlug, sondern die Figur.
Was für ein rattenscharfer Körper, schoss ihm unwillkürlich durch den Kopf.
Die schlichte Kleidung verhüllte einen Körperbau, der dem sprichwörtlichen Aussehen einer Sanduhr glich. Breite Hüften, aber schmale Taille; kräftige, definierte Beine wie die einer Schwimmerin; ein üppiger, aber straffer Busen – und Collier konnte keine Umrisse eines Büstenhalters erkennen. Diese Braut hat den falschen Kopf auf den Schultern, dachte er.
Der Busen wippte bei jedem energischen Schritt zurück zum Schalter. Sie reichte ihm einen Messingschlüssel jener altmodischen Machart, wie sie in große Buntbartschlösser passten. Aber ihn beschäftigte nach wie vor die Figur dieser Frau. Wie kann jemand mit einem so alten und abgezehrten Gesicht einen SOLCHEN Körper haben?
»Zimmer drei, das ist unser bestes, Mr. Collier«, versicherte sie ihm mit ihrem gedehnten Dialekt. »Ich sage Ihnen, eine tolle Aussicht – die beste!«
»Vielen Dank.« Durch den Kopf jedoch ging ihm: Der Anblick deines Gestells ist aber auch nicht ohne. Durch seine sexistischen Gedanken fühlte er sich unkultiviert und unreif, aber sie schien diese bizarre Sexualität zu reflektieren wie ein Spiegel gleißendes Sonnenlicht. »Ich hole nur eben schnell meine Koffer und bin gleich wieder hier ...«
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, fiel sie Collier im Befehlston ins Wort. »Lottie holt Ihr Gepäck.«
Collier fiel auf, dass die junge Frau verschwunden war. »Oh nein, Mrs. Butler. Lottie ist zu zierlich, um schwere Koffer zu schleppen.«
»Täuschen Sie sich da mal nicht ...« Mrs. Butler kam um den Schalter herum. Der Busen wogte bei jedem Schritt. »Lottie mag keine fünfzig Kilo auf die Waage bringen, aber sie kann ohne Weiteres doppelt so viel tragen. Sie ist ein kräftiges Mädel und an harte Arbeit gewöhnt. Mittlerweile ist das arme Ding dreißig und findet keinen Mann. Viele glauben, es liegt daran, dass sie nicht reden kann, aber sie ist blitzgescheit.«
»Ich bin sicher, das ist sie«, sagte Collier. Er starrte von hinten auf ihre wohlgeformten Beine, als sie ihn in die Mitte des Salons führte.
»Wie auch immer, kommen Sie doch noch mal zu mir, wenn Sie sich auf dem Zimmer eingerichtet haben. Dann zeige ich Ihnen das Haus. Wissen Sie, wir sind nicht bloß irgendein Gasthof im tiefsten Süden, sondern ein wirkliches historisches Denkmal. Was wir hier haben, ist besser als das Museum im Ort.«
Collier löste mühsam die Augen von dem breiten, strammen Hintern. »Ja«, stieß er zerstreut hervor. »All die Vitrinen. Sie sind mir aufgefallen, als ich hereinkam.«
»Und wir haben noch etliche mehr. Ich zeige sie Ihnen später.«
Er bemühte sich, seine verdrehte sexuelle Benommenheit abzuschütteln und etwas zu erwidern. »Ich freue mich schon darauf ...«
»Die meisten Menschen wissen nicht viel darüber, wie die Leute damals gelebt haben.« Sie sprach sichtlich gern darüber. Ihre Augen funkelten noch lebendiger unter den hängenden Lidern.
Allerdings hing Colliers Gehirn weiter den schmutzigen Gedanken nach. Er stellte sich vor, die Hände auf die üppigen Brüste zu legen, die sich zweifellos fest wie Grapefruits anfühlen würden.
Dann zuckte er zusammen und befahl seinem Verstand, das Thema zu wechseln. Rasch drehte er sich um ...
An der seitlichen Wand hing ein großes Ölgemälde: ein mit einem Frack bekleideter Mann mit strenger Miene und Koteletten. Sein Gesichtsausdruck wirkte gedankenverloren und unangenehm. »Wer ist das?«
Mrs. Butlers faltiges Antlitz wurde bei der Frage noch faltiger. »Das ist der Mann, der das Haus gebaut hat, in dem Sie gerade stehen. Harwood Gast. Der berühmteste Mann, der je in dieser Stadt gelebt hat.«
»Vermutlich der Gründer der Stadt, richtig?«
Warum wirkte sie plötzlich beunruhigt? »Nein, Sir. Ursprünglich hieß die Ortschaft Branch Landing.«
»Genau wie Ihre Pension. Aber ... das verstehe ich nicht.« Ohne bewusstes Zutun seinerseits wanderte sein Blick erneut über den drallen Körper in den eng anliegenden Baumwollkleidern. Herrgott ...
»Nun ja, als Harwood Gast damals mit all seinem Baumwollgeld – und seiner verfluchten Eisenbahn – hier eintraf, waren die Bewohner nur allzu gern bereit, den Ort zu seinen Ehren umzutaufen. Sogar dieses Haus hieß Gasts Haus bis zu dem Tag, an dem ich es von meinem Onkel kaufte. Wissen Sie, er war mit den Leuten verwandt, die das Anwesen 1867 erwarben. Aber kaum hatte ich hier übernommen, änderte ich den Namen der Herberge.«
Die Worte trieben dahin. Collier, der das greise Gesicht der Frau ignorierte, war wieder auf den verlockenden Busen fixiert und wie besessen von der Vorstellung, wie dieser nackt aussehen musste. Doch als sich das Bild zusammenfügte, wurde ihm schließlich bewusst, wie untypisch ein solcher Charakterzug für ihn war.
Was stimmt bloß nicht mit mir?, brüllte er in Gedanken regelrecht auf. Schlagartig schämte er sich. Um Himmels willen, ich bin geil auf eine ALTE FRAU! Komm zur Vernunft, du Perverser! Mühsam richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf ihre Erklärung.
Sie hat den Namen geändert, dachte er. Warum? »Ich bin immer noch etwas verwirrt. Diese gesamte Stadt ist eine Bürgerkriegsattraktion. Warum nennen Sie Ihre Pension nicht Gast Inn? Aus wirtschaftlicher Sicht wäre es doch am sinnvollsten, den Namen der berühmtesten Person des Ortes beizubehalten, oder?«
Verdrossenheit senkte sich über die alte Dame wie der Schatten einer Wolke. »Nein, Mr. Collier, und ich sage Ihnen auch, warum. Harwood Gast war nicht nur die berühmteste Person der Stadt. Er war auch die böseste Person der Stadt.«
II
Neuer Tag, dieselbe Scheiße, dachte der junge Mann, sagte jedoch: »So isses gut, Miststück. Du lernst’s allmählich.«
Der vor ihm kniende fettleibige Mann stöhnte vor Anstrengung, während sich sein Kopf vor dem nackten Unterleib des jungen Mannes vor- und zurückbewegte. Tränen strömten aus den fest zugepressten Augen – Freudentränen.
Die Sonne schien heiß auf den nackten Rücken des Jüngeren; für diesen Kerl zog er immer sein Hemd aus. Schweiß brachte die muskulösen Konturen zum Glänzen. Natürlich fühlte er sich zu dem fetten Mann überhaupt nicht hingezogen, weshalb er in seinem Kopf die Bilder der tollsten Männer Hollywoods heraufbeschwor: Cruise, Pitt, Crowe. Das war immer notwendig, wenn er seinen »Job« auf diese für ihn eher ungewöhnliche Weise erledigte. Allerdings konnte alle Fantasie der Welt die Wirklichkeit nicht völlig vertreiben. Der Mann, der ihm so innig einen blies, war abstoßend und ging auf die sechzig zu. Wann immer der Jüngere die Augen öffnete, verwandelten sich Pitts fein geschnittene Züge in den kahlen Kopf des fetten Kerls. Ich muss das beenden. Er packte die schwabbeligen Wangen des Mannes, stieß dessen Mund von sich und begann zu masturbieren ...
»Ja, so isses gut. Das gefällt dir, was? Und du hast richtig große, fette Möpse. Nächstes Mal könnt’ ich mir ja vielleicht ’n Tittenfick gönnen, was meinste?«
»Oh Gott, ja!« Der fettleibige Mann hielt inne und schluchzte.
Eine Minute später war es vollbracht, und der Fette sank stöhnend – und mit vollgespritztem Gesicht – zurück ins Gras.
»Wie hat dir das gefallen, du großes, dickes Miststück?«
»Ich ... ich bete dich an ...«
Der Jüngere trat wieder in die Sonne. Armer durchgeknallter Bastard, dachte er. Schnurr- und Kinnbart des Mannes waren total vollgesaut.
»Das war’s«, sagte der jüngere Mann und zog seine Jeans hoch.
»Ich ... ich bete dich an ...«
»He, hör auf damit. Du kennst die Regeln. Ich muss los.«
»Aber ... bitte. Nur noch ...«
Die Muskeln des glänzenden Waschbrettbauchs spannten sich, als der Jüngere das enge T-Shirt überstreifte. »Hä?«
Verlegenheit. »Du weißt schon ...«
Der jüngere Mann runzelte die Stirn. »Oh, richtig.« Er trat vor und ...
Kkkrrrr-tschock!
... spuckte dem Fetten ins Gesicht.
»Oh Gott! Danke, danke!«
Ich HASSE solche Geschichten, dachte der jüngere Mann. Er ließ den Blick über das weitläufige Feld wandern. Eine sanfte Brise strich über das meilenweit reichende, hüfthohe Weidelgras. Er hatte gehört, dass Gasts Plantage während des Bürgerkriegs Tausende Morgen umspannte: vorwiegend Baumwolle, Sojabohnen und Mais. Nun war sie nur noch grünes Ödland, und er wusste, weshalb. Allerdings war er nicht tiefsinnig genug, um zu begreifen, wie fest er auf einer Stätte bedeutender amerikanischer Geschichte stand.
Der Fette kauerte immer noch weinend auf den Knien.
Herrgott noch mal! »Warum stehste nich’ auf? Ich muss zurück.«
Die Worte erklangen unter abgehacktem Schluchzen. »Aber du bist so wichtig für mich! Ich könnte nicht ohne dich leben!«
Was für ’ne Nervensäge. Der Jüngere verstand davon nur wenig. Normalerweise werd ich dafür bezahlt, zu blasen, nicht dafür, geblasen zu werden. Wäre er gebildeter gewesen, hätte er gewusst, dass die sexuelle Psyche mancher Menschen ziemlich verdreht sein konnte. Erniedrigung, wie beispielsweise Masochismus, legte im Kopf einen merkwürdigen, seit Jahren – oft seit der Kindheit – vorhandenen Schalter um, sodass etwas, das tendenziell die meisten Menschen abstieß – Hässlichkeit, Missbrauch, Demütigung –, stattdessen Erregung auslöste. Na ja. Er mochte den übergewichtigen Glatzkopf nicht besonders, trotzdem bereitete es ihm kein Vergnügen, ihn wie sexuellen Abschaum zu behandeln. Er hatte mal jemanden über diesen Kerl namens Hitler reden gehört, der vor langer Zeit so etwas wie der König von Deutschland war und angeblich nur erregt wurde, wenn eine Frau auf ihn kackte. Der junge Mann vermutete, dass hier etwas Ähnliches vor sich ging. Verrückt, dachte er. »Komm jetzt, gehn wir. Oh, und wo is’ meine Knete?«
Die zitternde, fleischige Hand streckte ihm einen persönlichen Scheck über dreißig Dollar entgegen.
»Danke«, sagte der jüngere Mann.
»Lass uns zusammen zu Mittag essen«, schlug der Fette unter weiterem Schluchzen vor. »Wo immer du willst.«
»Nein. Hab zu tun.«
Feuchte Augen sahen ihn flehentlich an. »Sag ... sag mir wenigstens, dass ich es besser mache als dein Lover ...«
Ein genervter Atemstoß. »Du machst’s gut, so viel steht fest«, lautete die ausgesprochen großzügige Erwiderung. In Wirklichkeit war es eher mittelmäßig. »Aber ich hab dir schon gesagt, ich hab kein’ Lover, und ich lass’ mich nie auf solche Geschichten ein. Das weißte ja. Das zwischen uns muss so bleiben, wie wir’s vereinbart haben. Eine Sache im Austausch gegen ’ne andre. Klar?«
Trübselig nickte der fette Mann.
»Wart, ich helf’ dir auf«, bot der Jüngere an und ergriff eine fleischige Hand. Puh! Du wiegst ja fast so viel wie ’n verfluchter Wäschetrockner! Als der Dicke stand, wollte er die Hand nicht loslassen. Es gibt nix Schlimm’res als ’ne rührselige Schwuchtel. Der Jüngere löste sich von ihm.
Der Dicke starrte ihn an. Immer noch rannen die Tränen. »Ich würde alles für dich tun ...«
Oh Mann! Der Jüngere wusste, dass er vorsichtig sein musste. Immerhin war dies gutes Geld für schnelle Arbeit. »Hör mal, ich merk, dass du im Moment ’n bisschen durcheinander bist, also verschwind’ ich besser. Ich lauf zurück. Du bleibst noch ’n Weilchen und beruhigst dich erst mal. Du willst doch nich’ flennend in die Stadt zurück. Und wisch dir den Schweinkram aus’m Gesicht.«
Ein wabbeliges Nicken, und ein Taschentuch wischte über die Augen, die Lippen und den Bart.
»Schon besser.« Der jüngere Mann hielt den Scheck hoch. »Du rufst mich an, wennde wieder Lust hast.« Damit drehte er sich um und ging davon.
Er verließ die Lichtung und betrat einen kaum schulterbreiten Pfad zwischen dem hohen Gras. Verhaltene Worte folgten ihm.
»Ich liebe dich ...«
Scheiße ...
Er beschleunigte die Schritte, um schnell zu verschwinden. Laufen war in Ordnung. Zwar mochte er das Auto des Dicken – einen neuen Cadillac mit einer guten Klimaanlage –, aber wenn ihn solche schmalzigen Launen überkamen ... Oh Mann!
Ich lauf lieber.
Ein weiterer Schritt, und ...
Verdammt noch mal!
... er taumelte und fiel. Seine Knie landeten hart auf dem Boden, und als er sich umdrehte, um zu sehen, worüber er gestolpert war ...
Seine Gedanken erstarrten.
Ein halb vergrabener, brauner Schädel starrte ihn an.
Er war nicht zimperlich, aber einen Teil der Geschichten glaubte er. Immerhin hatte er schon so manches gesehen – sowohl hier draußen als auch im Haus ...
Ein Schauder kroch über seinen sonnengebräunten Rücken. Er wusste, dass der Schädel sehr alt war. Außerdem wusste er, dass es sich vermutlich um den Schädel eines Sklaven handelte, nicht um den eines gefallenen Soldaten.
Die Schädel waren überall.
I
»Sie haben recht«, sagte Collier zu der alten Frau, während er eine der zahlreichen Glasvitrinen bewunderte. »Ihre Pension ist wirklich wie ein kleines Museum.« Sein Blick wanderte über eine Sammlung von Gegenständen aus der Bürgerkriegszeit. Jeder wies ein Etikett auf. Esspfanne – 1861, Lochbeitel – 1859, Selbstspannender Starr-Revolver Kaliber 36 – 1863.
»Besuchen Sie mal das Gast-Museum in der Stadt, und Sie werden sehen, was wir hier haben, ist viel schöner und interessanter«, prahlte Mrs. Butler.
Die nächste Vitrine enthielt Handschuhe, Gürtel und Schuhwerk. »Arbeitsschuhe?«, fragte er und zeigte auf den klobigen schwarzen Schuh.
»Das waren damals die üblichen Kampfstiefel. Sie waren für das Überleben eines Mannes auf dem Schlachtfeld genauso wichtig wie sein Gewehr.« Sie beugte sich vor und zeigte auf einen Schuh anderer Machart. Die Geste veranlasste Collier, den Blick über die Rundungen ihres Busens wandern zu lassen. Danach blinzelte er heftig, um die Ablenkung abzustreifen.
»Aber der da war bei Schuhen das Maß der Dinge«, fuhr sie fort. »Der Jefferson-Schuh oder Halbstiefel, wie er auch genannt wurde. Mr. Collier, Sie könnten diesen Schuh heute noch anziehen, und er würde besser sitzen als jeder modische Gucci, den man kaufen kann.«
Collier betrachtete den hohen Lederschuh. Abgesehen von einigen Schrammen schien er in hervorragendem Zustand zu sein. Auf dem Etikett stand: Jefferson-Halbstiefel, Föderiertenmodell – 1851 – Getragen von Mr. Taylor Cutton, Streckenkontrolleur der East Tennessee & Georgia Railroad Company.
»Alles hier wurde irgendwann mal auf diesem Grundstück gefunden«, erklärte Mrs. Butler. Stolz trat sie zurück und verschränkte die Arme unter den Brüsten, wodurch diese nur noch größer wirkten. »Ich bekomme von der staatlichen Historikerkommission eine Steuervergünstigung dafür, dass ich alles ausstelle ... und dieses verfluchte Porträt von Gast dort oben hängen lasse.«
Der böseste Mann, der je hier gelebt hat?, dachte Collier belustigt. Wahrscheinlich bloß ein Werbegag. »Wenn der Mann so böse war, dann spukt es in diesem Haus wohl, was?«, köderte er sie.
»Nur durch die Erinnerung an diesen gemeinen Mistkerl«, lautete die seltsame Antwort.
Collier wechselte das Thema, wandte sich wieder dem Jefferson-Schuh und dessen längst verstorbenem Besitzer zu. »Aber von dieser Eisenbahn habe ich noch nie gehört. War sie aus der Zeit vor dem Krieg?«
»Der Bau begann 1857 und wurde 1862 fertiggestellt«, antwortete Mrs. Butler. »Es war Gasts Eisenbahn. Er hat Gleise von hier bis mitten nach Georgia verlegt, der perfekte Anschluss für die Hauptstrecken, die in die Stadt führten. Den Bau bewältigte er mit hundert Sklaven und fünfzig Weißen – keine schlechte Leistung für die damalige Zeit. Es waren jede Menge Schienen zu verlegen.«
Die Vorstellung beeindruckte Collier. Damals hatte man keine Maschinen gehabt, nur menschliche Muskelkraft, mit deren Hilfe Eisenschienen geschleppt und Nägel mit Hämmern in die Trassen geschlagen wurden. Fünf Jahre ... Die schwerste Arbeit, die Collier je verrichtet hatte, war vermutlich das Tragen von Einkaufstüten vom Auto ins Haus gewesen.
»Und das?«, fragte er.
ASCHEQUADER – 1858.
»Aschequader hat man damals statt Seife verwendet«, erläuterte Mrs. Collier. »Das war noch etwas anderes als Marken wie Dove oder Lux.«
Der graue Riegel wies die Größe eines Eishockeypucks auf. »Wie wurde das hergestellt?«
»Man warf einen Haufen Tierfett in einen Kessel mit kochendem Wasser. Hauptsächlich Pferdefett. Nie das von Schweinen oder Rindern, denn das konnte man essen. Das Fett wurde also gekocht, und gleichzeitig wurde langsam Asche dazugemengt – irgendwelche: von Laub, von Gras, von Pflanzen. Weiterkochen, mehr Asche dazu, weiterkochen, mehr Asche dazu, den ganzen Tag lang. Wenn das gesamte Wasser verdampft war, hatte sich das Fett zersetzt und mit der Asche vermischt. Dann schnitt man aus der Masse Riegel und ließ sie trocknen.« Ihre alten Finger klopften auf das Glas. »Funktioniert genauso gut wie alles, was heute in aufwendigen Fabriken hergestellt wird. Ist zwar rau, aber man wird damit blitzsauber. Wissen Sie, damals wuschen sich die Leute nicht oft, nur jeden Samstag vor dem Ruhetag, und im Winter noch weniger – zu der Zeit konnte man sich durch ein Bad eine Lungenentzündung holen. Damen pflegten sich ein wenig mehr als Männer, mit Sitzbädern.«
»Sitzbädern?«
»Eine kleine Wanne mit Aussparungen für die Beine. Man setzte sich mit den Genitalien rein. Wir haben eines hier – tatsächlich sogar direkt neben Ihrem Zimmer oben. Ich zeige es Ihnen später.«
Collier konnte es kaum erwarten, das Sitzbad zu sehen.
»Über so vieles aus den alten Zeiten haben die Leute eine völlig falsche Vorstellung. Und über den Süden generell.«
Die nächsten Gegenstände in der Vitrine wirkten bizarr: fünfzehn Zentimeter lange Metallvorrichtungen mit Spannfedern an einem Ende. Klammern für unartige Mädchen – 1841. »Was um alles in der Welt ist das? Sieht aus wie Wäscheklammern.«
Mrs. Butler lächelte und griff in die Vitrine.
Colliers Augen weiteten sich, als sie sich vorbeugte. Er konnte den Blick einfach nicht von ihrem Busen lassen ...
»Strecken Sie einen Finger aus, Mr. Collier«, forderte sie ihn auf.
»Was?«
»Los doch. Strecken Sie einen aus.«
Collier kicherte, tat es dann aber.
Die Enden drückten sich zusammen und verursachten auf Anhieb Schmerzen.
»Wissen Sie, wenn kleine Mädchen unartig waren, steckten ihnen ihre Väter eines dieser Dinger an einen Finger.«
Erst fünf Sekunden waren verstrichen, und Collier krümmte sich bereits.
»Wie lange die Klammer angebracht blieb, hing davon ab, wie schlimm das kleine Mädchen war. Hatte es beispielsweise seine morgendlichen Haushaltspflichten nicht verrichtet, bekam es die Klammer für fünfzehn Sekunden.« In den Augen der alten Frau lag ein Lächeln. »Tut es schon weh, Mr. Collier?«
»Äh, ja«, gestand er. Es fühlte sich an, als steckte sein Finger in einer Zange.
»Oder sagen wir, das Mädchen stahl ein Stück Kandiszucker aus dem Gemischtwarenladen – dann war die Strafe vermutlich eine Minute ...«
Colliers Finger pochte vor Schmerzen, dabei waren es bislang immer noch erst zwanzig Sekunden.
»Und wenn es das Mädchen wagte, der Mutter oder dem Vater zu widersprechen – mindestens zwei Minuten.«
Collier kaute noch einige Sekunden auf seiner Unterlippe, dann bat er eindringlich: »Nehmen Sie mir das Ding ab!«
Mrs. Butler tat es unverkennbar belustigt. Colliers gequetschter Finger war über dem Gelenk gerötet. »Also, das waren kaum dreißig Sekunden, Mr. Collier.«
Er schüttelte die Hand. »Das hat verdammt wehgetan ...«
»Und ob. Deshalb waren kleine Mädchen in der guten alten Zeit selten aufsässig. Ein paar Minuten mit der Klammer, und schon herrschte wieder Disziplin. Es kam durchaus vor, dass ein Mädchen die Klammer fünf Minuten lang tragen musste, wenn es Schimpfwörter benutzte oder von der Schule nach Hause geschickt wurde.«
»Fünf Minuten?«, fiel ihr Collier ins Wort. »Heutzutage würde man das als Kindesmisshandlung bezeichnen.«
»M-hm. Aber ich wage zu behaupten, würden unsere Lehrer diese Klammern heute in der Schule verwenden, hätten wir nicht all die Probleme, die man in den Nachrichten sieht.« Sie legte die bizarre Klammer zurück in die Vitrine. »Bestimmt sehen Sie das genauso.«
Collier konnte sich nicht zu einer Antwort durchringen. »Und diese Klammern wurden nur für Mädchen verwendet?«
»Genau.«
»Was war mit den Jungs?«
Ein selbstgefälliges Kichern. »Wenn sich Jungs nicht zu benehmen wussten, brachten ihre Väter sie einfach für eine Tracht Prügel in den Holzschuppen.«
»Ah. Natürlich.« Collier rieb sich den Finger. Er war ein wenig verärgert über den Geschichtsunterricht. Das hat verdammt wehgetan!, hätte er sie am liebsten angebrüllt. Doch ihre nächste Geste ließ ihn den Zwischenfall jäh vergessen.
Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse und fächelte sich mit dem Stoff am Ausschnitt heftig Luft zu – wodurch sie mehr von ihrem prächtigen Busen entblößte.
»Ich vergesse andauernd, die Klimaanlage um diese Zeit höher zu drehen«, sagte sie. Die Sonne schien gleißend durch die hohen Vorderfenster herein. »Ist Ihnen auch heiß, Mr. Collier?«
Nur unterhalb der Gürtellinie, dachte er. Der Anblick ihres fülligen Busens und des tiefen Ausschnitts erhitzte ihn. »Ein wenig, jetzt, wo Sie es erwähnen.«
»Ich kümmere mich gleich darum.« Sie fächelte weiter mit der Bluse. Collier konnte einen dünnen Schweißfilm auf der Haut darunter erkennen.
In der letzten Vitrine erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit: ein hellgrauer Papierstreifen, der wie ein alter Bankscheck aussah. Er kniff die Augen zusammen.
Zahlbar an: Mr. N. P. Poltrock, Mitarbeiter der East Tennessee & Georgia Railroad Company, fünfzig Dollar.
»Wow«, meinte Collier, als er das handgeschriebene Datum des Schecks bemerkte: 16. September 1862. »Was für ein altes Dokument. Und es sieht perfekt erhalten aus.«
Mrs. Butler hörte auf, sich Luft in den Ausschnitt zu wedeln. Ihre Miene verfinsterte sich. »Ein Lohnscheck von Gasts verdammter Eisenbahn. Aber ja, er ist ziemlich alt.«
Wieder Gast. Die bloße Erwähnung von etwas, das mit ihm zu tun hatte, trübte ihre Laune.
»Das ist doch ziemlich interessant, oder?«
»Was meinen Sie, Mr. Collier?«
»Ein Stück Papier, das während des Bürgerkriegs von jemandem unterschrieben wurde.«
»Wir ziehen es vor, ihn als den Angriffskrieg des Nordens zu bezeichnen«, entgegnete sie mit Nachdruck.
»Aber war es nicht ein Angriff des Südens, durch den der eigentliche Krieg begann?«, hakte Collier nach und bereute es fast sofort. »Die Konföderierten haben doch Fort Sumter unter Beschuss genommen.«
»Aber es war der Norden, Mr. Collier, der darum gebettelt hat, indem er hohe Zölle für Baumwollausfuhren verlangte«, widersprach sie scharf.
»Ich verstehe ...« Abermals betrachtete Collier den Scheck und stellte sich vor, wie dieser vor fast hundertfünfzig Jahren unterschrieben wurde, als die Stabilität der Nation an einem seidenen Faden hing.
»Wo bleibt nur dieses dumme Kind mit Ihrem Gepäck«, fragte Mrs. Butler und blickte stirnrunzelnd zur Tür.
»Ich sollte ihr besser helfen. Die Koffer sind ziemlich schwer ...«
»Nein, nein, bitte. Glauben Sie mir, für das arme Ding ist das eine aufregende Sache. Sie wird außer sich vor Freude darüber sein, die Koffer eines Prominenten tragen zu dürfen.«
Collier legte die Stirn in Falten, als Mrs. Butler den Blick abwandte. Ich war bestenfalls ein B-Promi, und jetzt bin ich ein Ex-Promi. Er besaß nicht den Schneid, ihr zu sagen, dass seine Sendung abgesetzt wurde. Dann wäre der Mythos zerstört, und der Mythos ist alles, was ich noch habe ...
Die Glocke am Schalter bimmelte. Collier bemerkte zwei Gäste – ein Paar Mitte dreißig. Touristen, stellte er fest. Um den Hals des Mannes hing eine Kamera. Er war mit einem geschmacklosen, gestreiften Kurzarmhemd und einer beigefarbenen Dockers-Hose, die sich um die Mitte spannte, unscheinbar gekleidet. Mit erhobenem Finger gab er Mrs. Butler ein Zeichen.
»Oh, die Leute aus Wisconsin«, murmelte sie. »Die wollen wahrscheinlich einen Touristenprospekt. Ich bin gleich wieder da, Mr. Collier.«
»Kein Problem.«
Eine unbekannte Kraft befahl Colliers Blick, sich auf ihren Hintern zu heften, als sie zurück zum Schalter eilte. Hätte sie doch nur ein Gesicht, das nicht ganz so ... ALT ist. Er spürte kribbelnden Schweiß auf der Stirn.
Collier gab vor, weitere Schaustücke in der Vitrine zu begutachten: eine Wurzelholzschale aus dem frühen 18. Jahrhundert, ein Entrindungseisen aus dem Jahrhundert danach. Der nächste Gegenstand wirkte bedrohlich: ein Messer mit Messinggriff, das gut und gern fünfundvierzig Zentimeter lang sein musste. Säbelbajonett der Waffenfabrik Georgia – ca. 1860 – Aus dem Besitz von Mr. Beauregard Morris von der East Tennessee & Georgia Railroad Company. Die schiere Größe der Klinge verursachte Collier Unbehagen. Sie sah fast neu aus und wies keinerlei Rostflecken auf. Ich frage mich, ob mit dem Ding je jemand getötet wurde, ging ihm unwillkürlich durch den Kopf.
Sein Blick wanderte über weitere Ausstellungsstücke, während sich Mrs. Butler mit ihrem charmanten Akzent um das Paar aus Wisconsin kümmerte. Sie gab den beiden einige Informationsbroschüren ... Und Colliers Blick heftete sich auf den weiblichen Teil des Touristenpaars – eine schlichte Frau mit einem kleinen Bäuchlein, trotzdem noch wohlproportioniert. Breite Hüften dehnten ihre beige Hose – zu eng, wie bei ihrem Mann –, und Collier konzentrierte sich auf den Busen. Dann bestürmte ein Bild seinen Verstand: er selbst, wie er ihr das Oberteil vom Leib riss und das Gesicht zwischen den Brüsten vergrub ...
Er zuckte zusammen und wandte sich ab, bis die schmutzige Vorstellung verschwand.
Als er wieder hinschaute, stand die Frau auf Zehenspitzen und hatte ein breites zahngebleichtes Lächeln aufgesetzt. Sie winkte ihm zu.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie.
»Ja?«
»Sie sind doch Justin Collier, oder?«
Collier bemühte sich, nicht zu seufzen. »Ja.«
»Oh, wir sind große Fans! Sieh mal, Schatz, das ist der Bierfürst!«
Der Ehemann winkte ebenfalls. »Wir lieben Ihre Sendung, Mr. Collier.«
»Danke.«
Die Frau: »Könnten wir wohl ein Autogramm bekommen?«
Am liebsten hätte Collier gestöhnt. »Mit Vergnügen ...« Dann jedoch öffnete sich die Vorzimmertür, und Lottie trabte mit seinem Koffer und seiner Laptoptasche herein. Damit bin ich vorläufig aus dem Schneider, dachte Collier. »Aber holen wir das doch später nach. Ich checke gerade ein.«
»Natürlich«, gab die aufgeregte Frau zurück. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen!«
»Das letzte Zimmer im Flur, Mr. Collier«, fügte Mrs. Butler hinzu.
Ein gekünsteltes Lächeln, dann eilte er zu Lottie.
»Warten Sie, lassen Sie mich einen nehmen«, sagte er, doch sie schüttelte nur grinsend den Kopf.