Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das Leben, fünf Jahre nach Kriegsende 1950, war keine einfache Zeit für Eltern mit Kindern in der Schweiz, sofern man nicht zur Oberschicht gehörte. Die Väter dienten während des Krieges lange im Aktivdienst und die Frauen der Arbeiterschichten mussten zusätzlich zur Hausarbeit und Kindererziehung einer Heimarbeit nachgehen, um den Lebensunterhalt der Familie aufzubessern. Kinder wurden nicht geschont und mussten mithelfen, was immer ihrem Alter und Fähigkeiten entsprach. Das war aber keineswegs negativ, denn so lernten sie, dass man hart arbeiten musste, um zu überleben. «Flügge werden ist sooo spannend» beleuchtet den Alltag einer Durchschnittsfamilie in der Stadt Zürich aus der Sicht der mittleren Tochter.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 281
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Flügge werden ist sooo spannend
Aus der Serie „Lieder unseres Lebens“
Das Leben in der Schweiz, fünf Jahre nach Kriegsende 1950, war keine einfache Zeit für Eltern mit Kindern, sofern man nicht zur Oberschicht gehörte. Die Väter dienten während des Krieges lange im Aktivdienst und die Frauen der Arbeiterschichten mussten zusätzlich zur Hausarbeit und Kindererziehung einer Heimarbeit nachgehen, um das Haushaltsgeld zu sichern.
Kinder wurden nicht geschont und mussten mithelfen, was immer ihrem Alter und ihren Fähigkeiten entsprach. Das war aber keineswegs negativ, denn so lernten sie, dass man hart arbeiten muss, um zu überleben.
“Flügge werden ist sooo spannend” beleuchtet den Alltag einer Durchschnittsfamilie in der Stadt Zürich aus der Sicht der mittleren von drei Töchtern.
1
Vorwort
Kindergarten
Bei Oma und Opa
Waschtag
Alltag an der Baslerstrasse
Rasierklingen, rote Kirschen und Kuchen
Mumps und Geburtstage
Herbst und Winter
Der Kesselflicker kommt
Schule
Was ist Vererbung?
Herr Schmid und eine Mädchenunterhose
Dummheiten?
Braunbären und Pralinen
Das Leben geht trotzdem weiter
Brunner Oma
Familie Blatter
Schulwechsel
Südfrankreich
Veränderung
Oberstufe
Schulwechsel
Pflegeheim
Ein Freund
Flügge werden muss man lernen
Mein kleiner Vogel
Ferien in Marseille
Alles verändert sich
Winterfreuden
Ein Jahr geht zu Ende und eine neue Tür tut sich auf
Erwin
Ausgelernt und Erwachsen
Erstens kommt es anders und …... als man denkt!
Mensch werden ist keine einfache Sache: angefangen mit dem Geborenwerden und damit ungefragt aus der schützenden Hülle des Mutterleibes gestossen zu werden. Das Atmen wird einem auch nicht leicht gemacht. Sicher schmerzt es, wenn die kleinen Lungen sich entfalten und die Luft das erste Mal durch sie zirkuliert. Vorbei ist’s mit der ausgeglichenen Temperatur. Einmal ist es zu kalt, dann wieder zu heiss.
Wie gut, dass man sich an die erste Zeit im Leben nicht so genau erinnert. Später kommen zu den körperlichen auch die seelischen Schmerzen hinzu und diese sind oft viel schwerer zu ertragen, aber noch schlimmer sind die Schuldgefühle, die einen Menschen plagen, wenn er anderen seiner Spezies Schaden zufügt, und das tun Eltern doch irgendwie immer oder kennt ihr welche, die alles richtig gemacht haben in der Erziehung ihrer Kinder?
Wie dem auch sei: Wir alle haben eine Erziehung ‘genossen’. Mindestens dann, wenn man das Elternhaus verlässt, um auf eigenen Beinen zu stehen, nimmt man sein Päckchen Erziehung mit und muss damit leben. Meine Mutter würde sagen: «Die Eigenerziehung muss stattfinden.» Schade nur, dass man oft erst mit reiferem Alter zur Erkenntnis kommt, dass man sich selbst erziehen muss.
“Flügge werden ist sooo spannend” ist eine heitere Autobiographie, die nicht so ernst zu nehmen ist, die aber trotzdem aufzeigt, wie es Menschen ergeht, die wenig Lob und Anerkennung, wenig körperliche Nähe und Zärtlichkeiten in ihrer Kindheit erhalten haben.
Ich möchte es aber auf gar keinen Fall als Vorwurf an Mamis Erziehung verstanden wissen. Ginge es darum anzuklagen, müsste man Mamis Biografie schreiben und dann die ihrer Mutter und die ihrer Grossmutter, Urgrossmutter, Ururgrossmutter................man würde mit Sicherheit am Anfang der Menschheit landen. Dorthin, wo es plötzlich schwierig wurde, Mensch zu sein.
Alle Eltern lieben ihre Kinder und möchten nur das Beste für sie, aber sie können nur weitergeben, was sie selbst empfangen haben. Sehen sie allerdings ein, dass es eine Selbsterziehung braucht, um die Fehler ihrer Eltern auszugleichen und sind sie in der Lage, diese Erziehung zu praktizieren, bevor sie Kinder in die Welt setzen, dann kann man ihren Kindern nur gratulieren.
Mami und Papi hatten es nicht immer leicht mit ihrem Nachwuchs. Neugierige Kinder machen viele Dummheiten.
Fehler eingestehen und sich dafür entschuldigen.
Verbocktes in Ordnung bringen.
Speditiv und organisiert arbeiten.
Gutes Benehmen.
Respekt Menschen gegenüber.
Pünktlichkeit.
Die Liebe zur Musik.
Das alles haben die Eltern uns vermittelt.
Die Gelegenheit, uns für Gott zu entscheiden, indem sie es sich zur Gewohnheit gemacht haben, den Gottesdienst jede Woche zu besuchen und aktiv in der Gemeinde mitzuarbeiten, das sind ebenfalls Verhaltensweisen, die wir von ihnen lernen durften.
Es waren gute Voraussetzungen, um selbständig zu werden und das eigene Leben zu meistern. Dafür bin ich ihnen dankbar.
Ich widme diese kurze Autobiographie meinem Mann Jörg,
sowie unseren Kindern: Gaby, Urs und Kedy, und meinen Enkeln: Johnny, Raphael und Patrick
Deine Edith, Eure Mami, Eure Memi
Schweissgebadet sass ich aufrecht im Bett und rieb die brennenden Augen. Der riesige, braune Bär mit der weit aufgerissenen Schnauze und den scharfen Zähnen war verschwunden. Ich liess mich aufs Kissen fallen, zog die flauschige Decke bis unters Kinn und kuschelte mich wohlig hinein, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich hatte Angst, der Bär würde wiederkommen und mich verschlingen.
«Oh, ist das schön!» Über mir spannte sich ein klarer, sternenübersäter Himmel. «War es der liebe Gott, der sie persönlich dorthin gehängt hatte oder seine Engel? Ich könnte sie zählen! Eins, zwei, drei, vier, fünf. sechs---------sieben-----------!»
Die Vögel zwitscherten schon und die Sonne schien auf meine Bettdecke, als ich die Augen wieder aufschlug.
«Oh, nein, sie sind weg!» Schnell sprang ich aus dem Bett und sauste in die Küche, wo Mami das Frühstück vorbereitete. Irene, meine ältere Schwester, war ebenfalls wach geworden und schaute mir verdutzt nach.
«Mami, Mami, sie sind alle weg!» Ich war fassungslos.
«Was ist geschehen und wer ist weg?», fragte Mami.
«Die Sterne, sie waren so schön und jetzt hat der liebe Gott sie alle wieder in eine riesige Schachtel gepackt und ich hätte sie doch gerne fertig gezählt!»
«Aber Edith, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Sterne sind immer noch da, nur kann man sie am Tag nicht sehen, weil die Sonne so hell scheint. Weisst du was? Sei heute recht brav, dann darfst du länger aufbleiben, solange bis man die Sterne wieder sieht. Ist das ein guter Vorschlag?»
«Mhm, vielleicht», murmelte ich wenig überzeugt. Mit ‘Brav Sein’ war es eben so eine Sache. Ich wollte schon, aber es gab so viele interessante Dinge zu tun und zu entdecken. Leider sahen die Erwachsenen das anders.
«Geh, sag Irene, das Frühstück sei fertig. Sie muss sich beeilen, sonst kommt sie zu spät zur Schule», drängte Mami.
Endlich war Irene aus dem Haus, das Frühstücksgeschirr abgeräumt und ich stand fertig angezogen im Flur und wartete, bis Mami mein ‘Znünitäschli’ (Zwischenverpflegungstasche) eingepackt hatte, dann war ich bereit für den Kindergarten. «Edith, schau mich an», sagte Mami ziemlich streng. «Nicht wieder deine Haare in den Mund nehmen. Du weisst, womit ich dir drohte: Das nächste Mal schneide ich sie dir kurz.»
«In Ordnung», gab ich zur Antwort und rannte die Treppe hinunter. Es wurde ruhig im Haus. Ich liebte mein schulterlanges, dunkelbraunes Haar. Wenn ich mich langweilte oder sehr angestrengt nachdenken musste, zog ich eine Strähne in den Mund und wickelte die Zunge damit ein. Es war ein interessantes Gefühl. Meine Eltern konnten das nicht begreifen, weil sie es nie ausprobiert hatten. Sie fanden es auch nicht so lustig. Schade! Mami schnitt unsere Haare meistens selbst. Damit die Ponyfransen gerade wurden, klebte sie uns einen Streifen ‘Scotch Tape’ auf die Haare, um eine genaue Linie zu bekommen, dann schnitt sie die Haare oberhalb des Streifens ab. Bis sie wieder nachgewachsen waren, sahen wir aus wie zwei ‘Halbschlaue. ’ Hin und wieder schickte sie uns zu einer Coiffeuse in einen echten Salon. Nach dem Haarschnitt bekamen wir ‘Wasser-Löckli’ (Wellen). Ich gefiel mir unheimlich gut damit, aber ich wusste, dass sie nicht halten würden. Einmal beschloss ich, die Nacht sitzend zu verbringen, damit sie auch am nächsten Tag noch sichtbar wären, aber der Schlaf war stärker und am Morgen war die Pracht dahin.
Der Kindergarten war nicht sonderlich interessant. Die Geschichten schon, aber man musste dabei die Arme verschränken und ganz still sein. Wer nicht ruhig sitzen wollte oder gar zu schwatzen anfing, musste für eine Zeitlang auf das ‘Schandbänkli’ (Schande-Holzbank). Leider war ich schon oft da und schaute neidisch zur Puppenecke hinüber, wo die Mädchen spielten. Die Lehrerin hatte sich vorgenommen mit uns einen grossen Wandteppich zu sticken, mit Sonnenblumen, Käfern, Vögeln und Bäumen, aber ich hasste diese Arbeit. Es war sehr schwierig, den Wollfaden in die Nadel einzufädeln. Alles abschlecken, damit der Faden dünner wurde, half nichts. Die Lehrerin schimpfte mit mir, wenn ich den Faden so fest anzog, dass man die Sonnenblume nicht mehr erkennen konnte und an ihrer Stelle ein grosser Buckel im Stoff entstand. Meistens erlöste sie mich von dieser Arbeit und ich musste eine schöne Zeichnung malen. Ich hätte aber viel lieber mit einem farbigen Kreisel gespielt. Pumpte man ihn blitzschnell auf und ab, liefen die Farben ineinander und ergaben ein lustiges Muster. Nur den braven Kindern war es erlaubt damit zu spielen.
Eines Tages jedoch erzählte die Lehrerin eine interessante Geschichte, nämlich von den alten Eidgenossen. Die waren tapfer in der Schlacht bei ‘Morgarten’. Ich war mächtig stolz, dass auch ich zu den Eidgenossen gehörte. Endlich war der Kindergarten zu Ende. Schnell zog ich die Schuhe an und rannte heim.
«Mami, Mami, heute war es ganz spannend im Kindergarten. Die Lehrerin hat uns eine aufregende Geschichte erzählt. Gell, wir sind doch auch Genossen?»
«So, so, sind wir das?», Mami zog die Augenbrauen hoch. «Wie hiess die Geschichte?» - «Die Schlacht am Gartentor!», erklärte ich. «Aha, das musst du unbedingt Papi erzählen, wenn er heimkommt», meinte sie schmunzelnd. «Ja, das mache ich! Darf ich noch mit dem ‘Velöli’ (Dreirad) fahren, bis er heimkommt?» - «Ja, du darfst, aber nicht so weit weg, wir wollen bald essen», ermahnte sie mich. Mami konnte mich beruhigt ziehen lassen, denn es gab nur wenige Autos in den fünfziger Jahren und unsere Strasse endete in einer Sackgasse. Papi besass ein Auto. Ein kleines, grünes. Einen Renault Heck. Wir gaben ihm den Namen «Frosch». Papi hegte und pflegte den Frosch. Einmal hatte er ihn vor dem Haus ganz eingeseift, damit er wieder schön glänzte. Ich durfte auf dem Fahrersitz bleiben, bis der Frosch wieder sauber war, musste Papi aber versprechen die Fensterscheiben nicht herunterzukurbeln. «Sonst läuft das Wasser ins Innere», erklärte er mir. Ich versprach es hoch und heilig. »Oh viele Knöpfe und Hebel, ob man die anfassen durfte?» Papi hatte es mir nicht verboten. Also drückte ich einmal hier und einmal dort. Ein Schlüssel steckte im Schloss, gerade so wie bei einer Haustür. Plötzlich machte der Frosch Lärm, zitterte und ich spürte, dass er rollte. Ich wollte ihn anhalten und drückte auf einen anderen Knopf. Der Frosch hupte. Papi riss die schaumige Tür auf und zog an einem Hebel, dann stand der Frosch still. Schaum drang ins Innere. Ich weinte, aber Papi tröstete mich, nahm mich in die Arme und versicherte mir, dass es sein Fehler war, weil er den Schlüssel hatte stecken lassen.
Edith und Irene
Edith, erste Reihe, dritte von links
Die Kapitel “Oma und Opa in Bülach” erstrecken sich über mehrere Jahre und wurden einfachheitshalber zusammengefasst.
«Mami, wann kommt das neue Baby?» Irene und ich schauten Mami fragend an. «Bald, Kinder. Ich habe schon mit Oma gesprochen. Nächste Woche sind Schulferien, dann dürft ihr nach Bülach, bis das Baby auf der Welt ist.» Wir freuten uns. Oma und Opa wohnten in einem kleinen Haus in Bülach. Opa war Glasbläser von Beruf und arbeitete in der Glashütte Bülach. Oma und Opa waren vor vielen Jahren von Ostberlin in die Schweiz gekommen. Sie hatten sich in Irkutsk am Baikalsee, in Russland, kennen gelernt. Er war damals deutscher Kriegsgefangener und Oma eine gebürtige Lettin.
Papi brachte uns zum Hauptbahnhof in Zürich. Das war ein aufregendes Abenteuer. Ganz allein durften wir nach Bülach fahren. Oma wartete schon und drückte uns ganz fest an sich. Es war Mitte Mai und die Frühlingssonne schien warm auf unsere Haut, überall grünte und blühte es. Ein mildes Lüftchen, erfüllt mit süssem Blütenduft, streichelte die Wangen. Das zarte Grün der neuen Blätter von Bäumen und Büschen liess die Sinne aufleben und die Menschen mit neuer Kraft und Energie ihre Tagesgeschäfte erledigen. Sie grüssten auf der Strasse und lächelten einander freundlich zu. Bei einer mächtigen Linde auf dem Hügel machten wir Halt und setzten uns auf die Bank. Ich liebte diese Bank, weil sie die Linde umrundete und man im Kreis herumrutschen konnte. Oma zog eine Tafel Schokolade aus ihrer braunen Handtasche und verteilte sie. Wir genossen die warme Sonne, schauten den Vögeln zu, die fröhlich von Ast zu Ast hüpften und dazu aus Leibeskräften zwitscherten und Oma erzählte uns Geschichten aus ihrer Heimat. Wir liebten Oma über alles. Sie war manchmal sehr streng, aber das war auch nötig, denn wir machten allerlei Dummheiten. Plötzlich stand sie auf. «Kinder, höchste Zeit heimzugehen. Bald kommt Opa von der Glashütte, dann müssen wir zur Hühnerfarm.» Wir bogen in den Grünhof ein. Für meine Schwester und mich was es der schönste Ort auf der ganzen Welt. Auf beiden Seiten der leicht abfallenden Strasse, die in einer Sackgasse endete, standen je fünf schmucke Einfamilienhäuser. Das zweitletzte auf der rechten Seite gehörte Oma und Opa. Oma war mit allen Leuten befreundet und es herrschte eine gute Stimmung im Grünhof und Kinder gab es auch. Sogar gleich im gegenüberliegenden Haus. Auch zwei Mädchen. Die jüngere, Birgit, war fünf Jahre alt, genau wie ich.
Auf der hinteren Seite des Hauses hatte Opa einen Schopf angebaut. Dort standen seine Vespa, Gartenwerkzeug, ein Fahrrad und die Hinterseite des Bienenhäuschens. Bienenzüchten war sein Hobby. Das ganze Haus roch süsslich nach Honig. Im Nachbardorf, ‘Hadlikon’, hatte er noch weitere Völker. Opa gab uns einen Begrüssungskuss. Er war kleiner als Oma, aber dafür sehr sportlich. Seine blonden Haare und die blauen Augen bildeten einen schönen Kontrast zu den braunen Haaren und dunklen Augen seiner grossgewachsenen, schlanken Frau. Unsere Mami hatte die dunklen Haare der Mutter und die blauen Augen des Vaters geerbt.
«Gustel, wir müssen zur Hühnerfarm, kommst du mit?», fragte Oma. «Geht schon einmal vor, Tonie, ich komme gleich!» Oma hatte mit dem geerbten Geld aus dem Verkauf des Bauernhofes in Lettland die Hühnerfarm und ein grosses Stück Land gekauft.
Die Hühner gackerten und rannten in alle Richtungen, als wir den Hof betraten. Oma öffnete die Tür des Hühnerhauses, nahm eine Schüssel und füllte sie mit Hühnerfutter. ‘Putputputput! ’ Die Hühner rannten hinter den gelben Körnern her, die Oma mit schwungvoller Bewegung streute. Wir schauten dem Treiben eine Weile zu. Opa, der inzwischen eingetroffen war, füllte frisches Wasser in die Hühnertröge und Oma nahm den Korb. «Kommt, Kinder, ihr dürft helfen die Eier einzusammeln, aber seid vorsichtig, lasst sie ja nicht fallen.» - «Ich sammle die weissen Eier und du kannst die braunen haben», befahl Irene. Ich hätte auch lieber die weissen gesammelt, aber Irene war älter, wie sollte ich mich gegen sie durchsetzen? Opa scheuchte die wenigen Hühner, die noch nicht schlafen wollten, ins Hühnerhaus. «Opa, warum gibt es eigentlich weisse und braune Eier?» Mit einem gekonnten Griff schnappte er das letzte Huhn, es gackerte jämmerlich und erklärte: «Schaut Kinder, hier auf der Seite am Kopf ist ein weisser Fleck. Das bedeutet, dass dieses Huhn weisse Eier legt. Ist der Fleck braun, legt das Huhn braune Eier. Bei den Menschen gibt es auch braunhaarige wie ihr, oder blonde wie ich, nicht wahr?» Zuhause stellten wir die Körbe in die Waschküche. Die Eier mussten dort mit dem Legedatum versehen und in Eierkörbe verpackt werden. Oma nahm vier Eier heraus und sagte: «Diese werden gleich zu Spiegeleiern, tragt sie vorsichtig hinauf in die Küche. «Wollt ihr die Küken sehen?», fragte Opa. «Oh, ja!» Wir jauchzten. «Also kommt mit auf den Estrich.»
Der Estrich war einer unserer Lieblingsplätze. Oma liebte Pfefferminz Tee. Sie sammelte die Blätter im Sommer und breitete sie auf einem weissen Leintuch zum Trocknen aus. Es roch herrlich frisch. Baumnüsse lagen ebenfalls ausgebreitet auf einem Tuch. Ein Regal, das mit einem Vorhang den Inhalt verbarg, liebten wir ganz besonders. Oma bewahrte dort ihre alten Schuhe und Kleider auf. Manchmal durften wir auf dem Estrich spielen und die alten Sachen anziehen. Wir verwandelten uns in noble Damen mit hochhackigen Stöckelschuhen, schicken, schwarzen Handschuhen und eleganten Kleidern, die alle viel zu weit waren, aber das tat der Fantasie keinen Abbruch. Opa öffnete die Tür und stieg die steile Treppe voran. Licht fiel vom Dachfenster auf einen Brutkasten. «Kommt Kinder, schaut!» Winzige, goldgelbe Küken-Bällchen piepsten und strampelten im weichen Sägemehl herum. «Dürfen wir sie anfassen, Opa? Bitte, bitte!» Irenes Augen bettelten und Opa konnte nicht widerstehen. Vorsichtig öffnete er die Klappe des Kastens, nahm zwei der flauschigen Bällchen und platzierte sie vorsichtig in unsere wartenden Händchen. «Oh, sind die weich und fein! Schau die kleinen Knopfäugelein und das spitzige Schnäbelchen.» Irene formte ihre beiden Hände zu einem Körbchen. Ihr Küken kuschelte sich hinein und fühlte sich offensichtlich wohl im warmen Nest. Wir hätten gerne noch lange mit ihnen gespielt, aber von der Küche her tönte es: «Abendessen ist fertig! Hände waschen!»
Wir waren froh, als Oma nach dem Essen sagte: «Kinder, es ist Zeit für die Federn, schnell, zieht euch aus». Sie wärmte Wasser auf dem Herd, schüttete es in die Gelte (Waschzuber) und fügte noch etwas kaltes Wasser hinzu. «So, hinein mit euch!» Nach dem Bad setzte sie sich zu uns ans Bett und sang mit ihrer warmen, dunklen Stimme: «Müde bin ich, geh zu Ruh, schliesse meine Augen zu, Vater lass die Augen dein über meinem Bette sein.» Nach dem Gebet löschte sie das Licht.
Die Glocken läuteten vom nahen Kirchturm. In der Küche hantierte Oma. Sie liess Wasser in den Steintrog laufen, um sich zu waschen, zwischendurch plauderte sie mit Opa. Ich lag mit offenen Augen im Bett, lauschte den Tönen alltäglicher Handhabungen, roch den süsslichen Duft von Honig und warmer Milch und war glücklich. Bald würde Oma kommen und uns wecken. Sollte ich mich schlafend stellen? Auf dem Nachttisch neben mir hatte Opa seinen Wecker hingestellt. Eine Weile schaute ich dem Sekundenzeiger zu, der sich im Takt Schrittchen für Schrittchen vorwärtsbewegte, bis er den Kreis umrundet hatte. Er blieb aber nicht stehen, sondern wanderte weiter und weiter und weiter. Ich setzte mich auf, nahm den Wecker ins Bett und drehte an den verschiedenen Rädchen. Plötzlich rasselte er mit schrillem Ton los und zitterte in meiner Hand. Erschreckt liess ich ihn auf den Boden fallen, wo er weiter schellte. Opa stand unter der Tür und lachte schallend, als er mich mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund im Bett sitzen sah. «Lachen ist gut», dachte ich, «so schimpft er wenigstens nicht.»
«Steht auf Mädchen, heute ist Waschtag.» Am Abend zuvor hatte Oma die Wäsche in Trögen und Zubern, schön getrennt nach farbiger oder weisser Wäsche, eingeweicht. Frühmorgens, als wir noch tief in den Federn lagen, war sie aufgestanden und hatte in der Waschküche den Kupferkessel mit Wasser gefüllt. Am unteren Teil des Kessels wurde mit Holz geheizt, um das Wasser aufzuwärmen. Zwei Waschbretter standen schon bereit, um die Wäsche zu rubbeln. Oma spülte zuerst die eingeweichte Wäsche. Flecken, die durch das Einweichen noch nicht verschwunden waren, musste man auf dem Waschbrett zünftig rubbeln. Irene und ich durften die Taschentücher von Opa rubbeln. Bald waren wir so nass wie die Wäsche. Das war ein Spass! Die Waschküche war ein einziges Dampfbad. Mit einem riesigen Holzstab, der aussah wie ein grosser Kochlöffel, stiess Oma die kochenden Wäschestücke immer wieder ins Wasser zurück, denn die Luftblasen, die sich unter der Wäsche gebildet hatten, drängte sie an die Oberfläche. Oma war schweissgebadet, ihr ernstes, angestrengtes Gesicht verriet die körperliche Anstrengung. Nach einer Weile hob sie ein Wäschestück nach dem anderen aus dem Kupferkessel in einen Trog mit klarem Wasser. Dreimal musste die ganze Wäsche gespült werden. Die Leintücher und Deckbettenanzüge waren in nassem Zustand besonders schwer. Oma füllte einen Teil der Wäsche in die Schleuder. Respektvoll traten wir einige Schritte zurück. Wir konnten uns noch gut erinnern, wie sie mit uns geschimpft hatte, als Irene mich in die Schleuder hob und den Wasserhahn aufdrehte. Die Schleuder drehte sich, als Oma die Tat entdeckte. Ei, ei, ei, wir bekamen etwas zu hören! Sie warnte uns eindringlich, dies nie wieder zu tun. Dann erzählte sie, dass ein Kind einmal eine Katze in die Schleuder gehoben hatte. Das arme Tier -----!!
Draussen hupte der Milchmann. Er kam jeden Morgen gegen neun Uhr. Oma trocknete sich schnell die Hände an der Schürze, strich sich eine feuchte Strähne Haare aus dem Gesicht und eilte hinaus. Wir rannten auf die Strasse. Der Milchmann war eine beliebte Erscheinung, weil er uns manchmal ein Bonbon gab.
«Na, was darf es denn heute sein, Frau Gundlach? Ich sehe, Sie haben Besuch.» Er zwinkerte uns zu, griff mit einer Hand in die Hosentasche und hielt uns zwei rote Himbeerbonbons hin, die im Nu in unserem Mund verschwand.
«Geben Sie mir zwei Liter Milch und ein kleines Nature-Jogurt.» Die Mutter von Birgit und Ulla standen schon bei der fahrbaren Milchstation. «Dürfen wir mit den Mädchen spielen?» Oma schaute uns prüfend an. «Ja, ihr dürft, unter der Bedingung, dass ihr mir die kleinen Birnen nicht berührt.» Vier Mädchen nickten und versprachen es hoch und heilig. Oma hatte eine spezielle Birnensorte gepflanzt, die an der Hauswand emporwuchs und aromatische Tafelbirnen produzierte. In den letzten Sommerferien hatten wir mit den Nachbarsmädchen Verkaufsstand gespielt und dabei alle kleinen unreifen Birnen abgerissen. Sie eigneten sich vorzüglich als Verkaufsgut. Nur die oberen Birnen konnten wir nicht erreichen, dafür hätten wir eine Leiter gebraucht. Oma und Opa traf fast der Schlag, als sie entdeckten, was mit ihren Tafelbirnen geschehen war. Im Herbst konnten sie nur ein paar wenige Birnen ernten.
Frau Wacker, die Mutter von Ulla und Birgit hatte die Unterhaltung mit angehört und sagte:
«Heute Nachmittag will ich das neue Waffeleisen ausprobieren. Wenn ihr wollt, könnt ihr zu uns kommen und uns helfen.» Oma verschwand mit den Einkäufen im Haus und wir Mädchen machten uns auf den Weg zum Bach, der ganz in der Nähe von Omas grossem Gemüsegarten vorbeifloss.
Die Attraktion war eine schmale Brücke, die über das Bächlein führte. Unter dem Bächlein befand sich eine grosse Röhre, dort konnte man sich verstecken oder ein Rufkonzert veranstalten. Die eigene Stimme tönte hohl, wenn man schrie. Heute wollten wir den Bach stauen und schleppten allerlei Äste, Steine und Erde an. Bald sahen wir aus wie die Wühlmäuse. Schlamm klebte im Haar, weil es einen ausgerechnet dann am Kopf juckte, wenn die Hände mit nasser Erde bedeckt waren. Nach einiger Zeit schlug Irene vor, man könnte doch einmal schauen, was in Omas Garten so alles wuchs. Die Rhabarberstängel waren reif, gross und dick. Ich freute mich auf Omas Rhabarberkompott. Verschiedene Salate, Radieschen, Blumenkohl, Karotten, Kartoffeln, Stangenbohnen, Sellerie, Fenchel und Blumensetzlinge streckten zögerlich die ersten Blättchen aus dem Boden. Auch die Erbsen liessen sich noch nicht als solche erkennen. Ich liebte rohe Erbsen. Sobald sie reif wären, würde ich mir ein paar fette aussuchen, sie zusammendrücken, bis die dicke, grüne Schale platzte. Schön aneinandergereiht würden sie in ihrem geschützten Nest liegen. Ich würde eine nach der anderen genüsslich verspeisen und mit den knackigen, süsslich schmeckenden Erbsen hätte es ein Ende.
Wir spähten durch die Ritzen des Holzzauns, wo das Wasser des öffentlichen Schwimmbades ruhig dalag und noch ein paar Wochen auf Besucher warten musste. Wir erinnerten uns an die letzte Badesaison. Oma und Opa waren leidenschaftliche Schwimmer, deshalb durften wir mit ihnen jeden Tag in die «Badi». Oma packte Wolldecke, Badetücher und ein paar Süssigkeiten in die Tasche und verbrachte den Nachmittag mit uns. Nach der Arbeit kam auch Opa dazu und zeigte uns, wie man vom Sprungbrett einen Kopfsprung macht. Ich getraute mich nicht es zu versuchen.
Als wir nach Hause kamen, flatterte die Wäsche im Wind. Am Abend würde Opa helfen die Leintücher zusammen zu legen und die schwere Zaine in die Wohnung zu tragen und morgen würde Oma bügeln. Sie würde uns zeigen, wie man Taschentücher zusammenfaltet und bügelt, bis sie aussahen, als wären sie neu aus dem Laden.
Am Nachmittag trafen wir uns wie verabredet bei Wackers. Frau Wacker hatte schon den Teig vorbereitet, das Waffeleisen war heiss und wir Kinder wechselten uns ab. Jeder durfte drei Waffeln hintereinander herstellen. Den fast flüssigen Teig musste man mit dem Löffel sorgfältig auf das heisse Eisen geben und den oberen Teil nach unten kippen. Öffnete man das Eisen zu früh, klebte der Teig. Öffnete man es zu spät, waren sie verbrannt. Nach zwei Stunden nahm die Waffelproduktion ein Ende, mangels Teiges, aber wir hatten sowieso genug gebacken, so dass wir die ‘Fröhlich-Kinder’ noch einladen konnten. Wir beschlossen, uns zu verkleiden und einen Umzug ums Haus zu veranstalten. Frau Wacker stellte uns allerlei alte Kleider zur Verfügung und innerhalb Minuten waren wir nicht mehr zu erkennen. Ein paar Pfannendeckel, eine Pfeife und Rassel, vom letzten Jahrmarkt übriggeblieben, wurden wieder nützlich. So verkleidet, zogen wir lärmend ums Haus und lockten die Bewohner des Grünhofs aus ihren Häusern. Danach hatten wir uns die Waffeln wirklich verdient.
Nach ein paar Tagen, als Opa am späten Nachmittag nach Hause kam, erwartete ihn ein Nachbar und sagte, dass er auf einem Apfelbaum einen Bienenschwarm entdeckt hätte: «Willst du mitkommen, Edith? Wir holen ihn.» Natürlich war ich interessiert. Opa nahm eine Bienenkiste, eine mit Leitungswasser gefüllte Sprühdose, Handschuhe und einen Hut, der rundherum mit einem feinen Stoff eingefasst war und als Letztes die kurze Leiter, dann zogen wir los, um den besagten Baum zu suchen. Es war nicht schwer. Schon auf dem Weg hörten wir das Summen aufgeregter Bienen. Opa stellte die Leiter unter den Baum und befahl mir fernzubleiben. Er zog Handschuhe an, stülpte den komischen Hut über den Kopf und besprühte mit einem feinen Wassernebel die nervösen Bienen. Das tat er, um sie vorübergehend flugunfähig zu machen. Dann stieg er mit der Kiste auf die Leiter, schob die Bienentraube in den Kasten und trug die kostbare Last nach Hause in den Garten und liess sie allein:
«Die müssen sich jetzt erst beruhigen», erklärte er mir. «Warum haben sie den Stock verlassen?», fragte ich ihn.
Opa erklärte: «Wenn eine Bienenkönigin alt ist, bauen die Arbeiterinnen, der Königin, Königinnenzellen. In diese Zellen legt die Königin ihre Eier. Die Maden werden überreichlich mit Futterbrei versorgt und wachsen schnell heran. Wenn die Zellen verschlossen werden, hängen sie als lange Wiege weit aus der Wabe heraus. Nach acht oder neun Tagen stopft sich ein Teil der Arbeiterinnen voll mit Honig bis sie fast platzen. Das ist wichtig, denn dieser Honig gilt als Vorrat, bis der Schwarm einen Platz gefunden und sich eingerichtet hat. Jetzt fliegt die Königin mit einem Teil ihrer Treuen davon, um sich an einem anderen Ort wieder neu einzurichten. Es dauert noch einmal eine Woche, bis die jungen Königinnen schlüpfen. Die älteste, die ihre Wabe verlässt, macht sich sofort auf die Suche nach ihren Schwestern, aber nicht etwa, um sie willkommen zu heissen, sondern um sie zu töten. Manchmal bringt sie es sogar fertig, die Waben zu öffnen und die Geschwister umzubringen. Danach sammelt sie Arbeiterinnen und verlässt den Stock, um ihr eigenes Volk zu gründen. Irgendwann aber herrscht wieder Ordnung und es ist nur noch eine Königin im Mutterstock. Eine Bienenkönigin ist grösser und länger als die normalen Bienen, das zeige ich dir gleich.» «Oh, ja, das möchte ich sehen», antwortete ich begeistert.
«Komm, wir beobachten sie. Schau, bei jedem andersfarbigen Eingang laufen Bienen aufgeregt hin und her. Das sind die Soldaten. Sie wissen ganz genau, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Verirrt sich eine fremde Biene, eine Wespe, oder gar ein anderes Insekt und gelangt in die Nähe dieser Soldaten, dann, wehe dem. Schau hier, schnell, siehst du, was die mit der Wespe tun? Donnerwetter, sie stürzen sich auf sie... schon tot!» Tatsächlich hatten die Bienensoldaten den Eindringling getötet und schafften den leblosen Körper vom Eingang weg. Fasziniert blickte ich auf die Szene und Opa erklärte weiter: «Wenn du gut hinsiehst, kannst du erkennen, dass sie mit Pollenhöschen ankommen.» Schwer beladen flogen die Bienen mit gelbem, rotem oder andersfarbigem Blütenstaub an den Füsschen heran und verschwanden schnell im Bienenstock. «Komm, ich zeige dir jetzt eine Königin.» Opa öffnete die Hinterseite eines Bienenhäuschens. «Ei, war das ein emsiges Treiben!» Zu Hunderten krabbelten die Bienen auf den Waben herum. «Hier ist sie!» Opa zeigte auf eine längliche Biene, die einen grünen Punkt auf dem Rücken trug. «Opa, wie kommt der grüne Punkt auf den Rücken?» Verwundert schaute ich zu ihm hoch. «Das werde ich dir morgen zeigen, wenn sich das neue Volk beruhigt hat. Ich werde der neuen Königin einen gelben Punkt auf den Rücken kleben und du darfst zusehen. Jetzt ist aber Zeit fürs Abendessen. Morgen ist auch noch ein Tag.»
Zum Abendessen gab es Joghurt, Brot, Butter und Radieschen aus Omas Garten. Dazu streute sie uns etwas Salz in unsere Teller. Die Radieschen konnte man darin stupfen. Sie schmeckten herrlich zum Butterbrot. «Möchtet ihr etwas flüssigen Honig in euer Joghurt hineinträufeln?“ Wir wollten.
«Opa, darf ich mit dir Vespa fahren?», fragte Irene am nächsten Morgen. Er überlegte kurz und sagte: «Ja, ich glaube das lässt sich einrichten. Ich muss sowieso nach ‘Hadlikon’, um nach den Bienen zu sehen.» Ich wollte auch mit. «Nein, Edith, das geht nicht, deine Beine sind noch zu kurz! Erst wenn sie so lang sind, dass du sie bei den Pedalen aufstützen kannst, darfst du mitfahren.» - «Die sind schon lang, Ehrenwort!» Ich gab mich kämpferisch. «Also, steig auf und lass sehen!», sagte Opa und hob mich auf die Vespa. Ich drückte meinen Hintern fest in den Sitz und machte meine Beine so lang wie möglich. Es half nichts, sie waren zu kurz. So eine Gemeinheit! Traurig stand ich im ‘Schopf’ und sah den Beiden nach wie sie verschwanden.
Mein Blick fiel auf Opas Fahrrad. Es war ein typisches Männerfahrrad, mit einer Stange, die das Lenkrad mit dem hinteren Teil verband. «Warum denn das?», dachte ich. «Bei Damenfahrrädern kann man besser aufsteigen.» Ich schob das Fahrrad auf die Strasse. Wenn meine Beine schon zu kurz für die Vespa waren, wollte ich wenigstens mit dem Rad fahren. Ich überlegte, wie ich es anstellen sollte. Aufsteigen war nicht möglich, wegen der Stange. Aber ich könnte ein Bein unter der Stange durchstecken, um an die Pedale zu gelangen. Ich müsste nicht unbedingt auf dem Sattel sitzen. Ich versuchte es, konnte das Rad aber nicht halten und fiel zur Seite. Beim fünften Versuch hatte ich den Trick los. Schnell treten und versuchen das Lenkrad gerade zu halten. Die Strasse war leicht abfallend und ich war zügig, wenn auch etwas schwankend unterwegs und raste geradezu auf die Mauer am Ende der Sackgasse zu. Ich war so beschäftigt gewesen das Rad in Gang zu bringen, dass ich vergessen hatte, mir Gedanken über das Anhalten zu machen. Kurz vor der Mauer sprang ich ab und das Fahrrad krachte in die Mauer. Oh, je, zwei Speichen hatten sich gelöst und starrten grotesk jede in eine andere Richtung, zudem fiel auch die Kette leblos zu Boden. Ich versuchte sie wieder an den angestammten Platz zu drücken, was aber nicht gelang.
Ich starrte auf meine Hände. Oh, je, schwarz wie ein Kaminfeger! Ich wischte sie an meinem Kleidchen ab, eine Reflexhandlung, die ich mir unbedingt abgewöhnen musste, sie hatte mir schon manchen Ärger eingebracht! Alles was ich anfasste, wurde schwarz. Die Speichen wieder ins Loch zu stecken misslang. So schob ich das ramponierte Rad zurück ins ‘Schöpfli’, setzte mich auf die Treppe, stützte meinen Kopf in die Hände und machte mir gerade Gedanken, wie ich das alles beichten sollte, als Oma nach mir rief. Ich hatte ganz vergessen, dass sie mit mir ins Städtchen gehen wollte, um ein paar Dinge zu kaufen, dazu hatte sie mir extra ein sauberes Kleid angezogen. Sie kam die Treppe herunter, Einkaufstasche in der Hand, und sah mich dort sitzen. Ohne ein Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und kam mit einem Handspiegel zurück, hielt ihn mir hin und sagte: «Da, schau mal hinein, kennst du den Schmierfinken?» Ich tat wie befohlen, war aber nicht sonderlich überrascht, als ich die schwarzen Striemen sah, die sich quer über mein Gesicht verteilt hatten.
«Geh in die Waschküche und wasch dich, ich hole ein anderes Kleid und Socken. Die kannst du auch gleich ausziehen. Weiss sieht anders aus.» In der Waschküche weichte sie das Kleid und die Socken ein und sagte streng: «Wenn wir nach Hause kommen, wirst du diese Sachen auswaschen. Was hast du angestellt?» Ich erzählte ihr den Vorfall und sie meinte: «Opa wird keine Freude haben.» Auf dem Weg zum Einkaufen wünschte ich mir, die Zeit würde einfach stehen bleiben, damit ich Opa nicht unter die Augen treten müsste, dann wünschte ich mir, dass er schnell heimkommen würde, damit ich die Sache hinter mich bringen könnte. Der Einkauf machte keinen Spass. Das Bonbon, welches ich von Frau Meier bekam, steckte ich einfach in die Tasche. Schweigend ging ich neben Oma her. Als wir nach Hause kamen, stand die Vespa vor dem Haus. Mir gerann das Blut in den Adern. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Viel brauchte ich nicht zu erklären. Opa kniete schon vor seinem Fahrrad und war eben dabei die Kette wieder einzuhängen. Ich nahm allen Mut zusammen und stammelte: «Opa?» - «Hm?» - «Ich, äh, es tut mir leid wegen dem Rad!» Endlich war es draussen, ich fühlte mich schon besser. Er drehte sich zu mir, setzte sich auf eine Kiste und sah mich ernst an. «Wie hast du das fertig gebracht?» Er wischte sich die Hände an einem Tuch ab und hob mich auf seine Knie. Ich erzählte ihm alles und bemerkte dabei, dass er mit seinen Händen mein Kleid schwarz machte. Es war mir aber egal, denn diesmal war ich wenigstens nicht schuld. «Wollen wir zusammen die Bienenkönigin markieren?», fragte er, nachdem ich meine Geschichte fertig erzählt hatte.