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Das Buch «Koza» ist eine Fortsetzung des dritten Bandes «Flügge werden ist sooo spannend» aus der Serie: «Lieder unseres Lebens. Jung, unbeschwert, unvoreingenommen anderen Kulturen gegenüber, begibt sich Edith Brunner auf eine abenteuerliche Reise ins Ungewisse. In einem Buschspital arbeitet sie mit zwei weissen Ärzten einer Krankenschwester und zwölf Einheimischen Pflegern zusammen. Spannende, ungewohnte Aufgaben erwarten sie. Als Ausgleich dient die Freizeit, zusammen mit anderen jungen Menschen, in der faszinierenden Naturlandschaft von Nord-Kamerun.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Das Buch «Koza» ist eine Fortsetzung des dritten Bandes «Der Ernst des Lebens» aus der Serie: «Lieder unseres Lebens.
Es beschreibt die Reise, Aufenthalt und Abenteuer in Afrika Nord-Kamerun, von Edith Brunner. Jung, unbeschwert, unvoreingenommen anderen Kulturen gegenüber, begibt sie sich auf eine abenteuerliche Reise ins Ungewisse. In einem Buschspital arbeitet sie mit zwei weissen Ärzten einer liebgewonnenen Kollegin und zwölf Einheimischen Pflegern zusammen. Die Aufgaben sind spannend, vielfältig und herausfordernd und manchmal auch traurig, denn menschliches Leid gibt es überall auf der Welt.
Als Ausgleich dient die Freizeit, zusammen mit anderen jungen Menschen, in der faszinierenden Naturlandschaft im Busch von Nord-Kamerun.
Der einjährige Aufenthalt auf dem afrikanischen Kontinent erweitert ihren Horizont in vielerlei Hinsicht und ist die Weiterentwicklung ihres zukünftigen Lebens.
Januar 2021
Edith Fehr-Brunner
Transit? – Nie gehört!
Alte Welt: Adé! Neue Welt Hallo!
Leben und arbeiten in Koza
Alltag
Das Telegramm
Esel
Feurige Geburt
Goha
Scho-Scho
Not-Operation
Zwei Männer und ein Fisch
Sabbatausflüge
Diebstahl
Alain
Wazapark
Der feurige Elia
Der brennende Kühlschrank
Yagoua/Garoua
Mosogo
Professor Dr. Lukas
Maiduguri, Nigeria
Zwei Freunde verlassen Koza
Die neue Hebamme Bluette
Der „Heimweh-Berg“
Ruedi
Jörg’s Abreise
Briefwechsel
Abreise
Kribi
Das kleine Grüppchen Menschen in der Abflughalle Zürich Kloten wurde immer schweigsamer, je näher der Zeitpunkt des Abschieds rückte. Meine Eltern taten mir leid. Vor allem meinem Vater war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, die mittlere seiner drei Töchter, das „Frech-Gesicht“, wie er mich liebevoll nannte, ziehen zu lassen.
Dann war es soweit. Umarmungen folgten, auch ein paar Tränen. Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich brachte keinen Ton hervor. Mamis letzte Worte begleiteten mich durch die Pass-Kontrolle. „Edith, vergiss nicht, gib niemals deinen Pass aus den Händen!“, dann war ich allein. Es dauerte noch eine Weile, bis ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Flugzeug besteigen würde.
Draussen schien die Sonne. Der 15. Oktober 1971 präsentierte sich als milder Herbsttag. Ich war im Juli 21 Jahre alt geworden, sah aber aus wie ein Teenager, vielleicht, weil ich eher klein gewachsen und schlank war. Trotzdem wirkte ich keineswegs zerbrechlich, mit meinen breiten Schultern und den sportlich trainierten Beinen. Das dunkelbraune Haar trug ich kurz, in der Mitte gescheitelt, mit Ponyfransen, die mir bis zu den braunen Augen reichten, diese blickten immer etwas schelmisch in die Welt. Die Natur hatte mich zudem mit einer Stupsnase ausgerüstet. Das alles ergab das „Frech-Gesicht“.
Am Abend würde ich afrikanischen Boden betreten, genau genommen im Tschad landen und am nächsten Tag nach Kamerun weiterfliegen, wo ich ein Jahr als Krankenschwester in einem Buschspital arbeiten durfte. Mein Kindertraum hatte sich erfüllt.
Endlich war es soweit! Schwer schleppend kletterte ich die schmale Treppe zum wartenden Metallvogel hinauf. Das Gewicht der Taschen riss mir fast die Arme aus. „Das ist aber eng hier drinnen!“, dachte ich und versuchte meine Platzangst in den Griff zu bekommen, die ich mir in einem Kleiderschrank geholt hatte. Meine beiden netten Schwestern hatten mich eingesperrt, als ich noch ein Kind war. Zum Glück bekam ich einen Fensterplatz. Meine Familie stand auf der Zuschauer Terrasse und schaute zu meinem Flugzeug hinüber. Ich hätte gerne das Bullauge geöffnet, um ihnen zu zeigen, wo ich sass. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich einsam und verlassen, aber dann rollte die Maschine zum Start. Die Motoren heulten auf und drehten immer schneller. Die Umgebung raste an mir vorbei, oder umgekehrt? Der Kasten ächzte und stöhnte. Gleich würde alles auseinanderfallen. Nichts fiel, stattdessen hoben wir vom Boden ab und waren – tatsächlich in der Luft! Was für ein herrliches Gefühl! Das Flugzeug flog direkt über die Zuschauer Terrasse, wo winkende Menschen ihren Angehörigen und Freunden einen letzten Gruss schenkten. Meine Familie war unter ihnen, aber ich sah sie nicht.
Wir befanden uns hoch über der Sahara. Sand und Steinwüste wechselten sich ab und die Sonne brannte erbarmungslos durchs Fenster. Hin und wieder leuchtete eine grüne Fläche in der Einöde auf, wie Farbkleckse auf ockerfarbenem Grund. Wahrscheinlich waren es Oasen, wo unter Schatten spendenden Palmen halbnackte Kinder spielten und Erwachsene in langen, luftigen Gewändern den Pflichten des täglichen Lebens nachgingen. Vielleicht tränkten sie die Kamele, nach einer langen Wanderung durch die Wüste. Vielleicht waren Beduinen, darunter die sich mit Vorräten eindeckten, um mit ihren Zelten wieder in die Wüste zu verschwinden, weit ab von jeglicher Zivilisation.
Was lange währte, nahm endlich ein Ende. Schon konnte ich unter mir Strassen erkennen, die sich zwischen Blechdächern und Feldern wanden. Ich staunte nicht schlecht über die rostbraune Farbe der Erde. Die Landschaft war topfeben. Das Flugzeug setzte zur Landung an. Die Passagiere rafften ihr Gepäck zusammen und strömten dem Ausgang zu. Ich reihte mich ein und trat hinaus ins Freie. Eine Welle heisser, trockener Luft raubte mir fast den Atem und die Kleider klebten am Körper.
Eine Air Hostess stand unten an der Metalltreppe, einen Stapel Karten in der Hand und rief: „Transit, Transit!“ „Was dieses Wort wohl bedeuten mochte?“ Einige Passagiere waren höflich und nahmen die dargebotene Karte, damit der Stapel in ihrer Hand kleiner wurde. Ich war es nicht. Erstens hatte ich keine Hand frei und zweitens war es nicht der Zeitpunkt, ungelernte Wörter zu analysieren.
Wie ein Schaf trottete ich in der Herde mit, die sich in Richtung Flughafengebäude begab, wo ein totales Chaos herrschte. Schwarze Angestellte durchwühlten die Gepäckstücke der Passagiere. In meinen Augen sahen alle gleich aus. Schwarze Haut, schwarze Kraushaare, schwarze Augen. Den Kontrast lieferten die weissen Zähne und das Weiss in ihren Augen. Afrikanische Frauen, eingehüllt in buntleuchtende Stoffe, die sie kunstvoll um ihren Körper geschlungen hatten, schleppten ihre Koffer, Kartonschachteln und Kinder in Richtung Ausgang. Laute, fremdländische Sprachen, Rufen und Lachen reizten meine angeschlagenen Nerven, dazu diese Hitze!
In der wartenden Menge versuchte ich, einen weissen Pastor namens Bodenmann zu entdecken. Er war mir persönlich unbekannt, aber allzu viele Weisse gab es ohnehin nicht.
Ein Afrikaner prüfte mein Flugbillett und den Pass, dann stellte er mir eine Frage, die ich aber nicht verstand. Das Flugbillett gab er mir zurück, den Pass hingegen reichte er einem Kollegen, der damit verschwand. Ich war sehr beunruhigt. Meine Koffer und Taschen wurden durchwühlt. Als man mich nach der Rechnung meines Fotoapparates fragte, platzte mir der Kragen.
„Ich will jetzt endlich meinen Pass wiederhaben, und lassen sie die Finger von meinen Sachen!“, schrie ich den verdutzten Wühler an. Dieser packte in Windeseile meine Sachen zusammen und wies mich zur Tür. Die wartenden Passagiere lachten.
So stand ich also in der Empfangshalle und stellte fest, dass von meiner Rasse nur eine Dame und zwei junge Burschen das Flughafengebäude noch nicht verlassen hatten. „Prima, Edith, da stehst du nun. Dein Pass ist weg, die Koffer kannst du nicht aus den Augen lassen, von Bodenmann fehlt jede Spur, und die Weissen werden auch verschwinden!“, dachte ich entmutigt. Mein Gepäck schleppend näherte ich mich der Dame.
„Entschuldigen Sie, ich muss zur Mission Adventiste, wissen Sie, wo die sich befindet?“ Sie wusste es nicht, dafür schalteten sich die beiden Burschen ein: „Oh, Mademoiselle, das ist nicht schwierig, kommen Sie mit uns, wir wissen, wo die ist!“
Ihr Transportmittel entpuppte sich als Deux Chevaux (auch Ente genannt), bei dem man die hinteren Sitze entfernt hatte. Eingeklemmt zwischen meinem Gepäck schaukelten wir der Mission Adventiste entgegen. Nach einer Viertelstunde hielten wir vor einem weissen Haus. Froh meine Beine strecken zu können, kletterte ich aus dem Wagen, meine beiden Begleiter hiessen es mich bewachen und verschwanden im Gebäude. Neugierige Kinder strömten von allen Seiten auf mich zu, zeigten mit dem Finger auf mich und kicherten. Einige tanzten um mich herum und riefen: „Le Blanc, le Blanc!“. Ein paar ganz Mutige streckten ihre Hände nach mir aus und strichen mir über die Haut und befühlten meine Haare. Ich erlaubte mir ebenfalls ihre Köpfe anzufassen. Wie Wolle fühlte sich ihr Haar an. Was für ein guter Schutz gegen die sengende Sonne!
Die beiden Franzosen erschienen mit enttäuschten Gesichtern, daraus schloss ich, dass sie mich zur falschen Mission gefahren hatten. Nach zwei weiteren erfolglosen Versuchen erklärte uns eine Dame, dass sich die Mission ausserhalb der Stadt befände. Es war schon dunkel, als wir endlich ankamen. Eine Frau mittleren Alters trat vor die Tür und musterte uns. Plötzlich schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Du musst die Krankenschwester sein, die für Koza bestimmt ist! Warum bist du schon hier und nicht im Hotel?“
„Oha, das ist wahrscheinlich nicht böse gemeint, aber sehr gastfreundlich tönt es auf jeden Fall nicht“, dachte ich beklommen.
„Mein Mann ist vor einer halben Stunde losgefahren, um dich abzuholen. Es war geplant, dass du mit uns den Abend verbringst und er dich anschliessend wieder ins Hotel zurückfährt“, erklärte sie weiter.
Meine beiden französischen Wohltäter waren froh, mich los zu werden, deshalb bedankte ich mich für ihre grosse Geduld und Mühe, dann fuhren sie in die Dunkelheit und ich betrat mit Frau Bodenmann das Haus. Ein halbwüchsiger Junge und seine zwei Schwestern gaben mir schüchtern die Hand. Die Vorbereitungen zum Abendessen waren im vollen Gange, als draussen ein Fahrzeug hielt.
„Schnell, Edith, verstecke dich in der Küche, wir wollen meinen Mann überraschen!“, kicherte Frau Bodenmann. Die Kinder klatschten begeistert in die Hände, die Küchentür blieb offen, damit ich hören konnte, was im Wohnzimmer gesprochen wurde.
„Wo hast du die Krankenschwester, Albert? fragte seine Frau verwundert. Ihr Mann war nicht aus der Ruhe zu bringen und antwortete: „Ich verstehe es nicht. Am Flughafen hat man mir gesagt, dass die Maschine eine Stunde früher als geplant angekommen ist. Ihr Pass ist am Flughafen deponiert, aber von dem Mädchen fehlt jede Spur. Ich bin zum Hotel gefahren, aber dort ist sie nie eingetroffen. Sie war auf der Liste der Transitgäste, man hat sie jetzt aber gestrichen.“
Es wurde Zeit den armen Pastor zu erlösen, deshalb holte man das verlorene „Subjekt“ aus der Küche. Alle lachten und waren froh, dass die Geschichte so positiv geendet hatte. Fazit: Kleines Wort! Grosse Wirkung!
Edith vor Abflug am Flughafen Zürich
DC8 der UTA
„Albert, sieh nur, unser Gast ist müde. Ich glaube sie versteht nicht mehr viel von dem, was du ihr über das Leben in Afrika erzählst!“
Frau Bodenmann hatte recht. Es war ein langer Tag gewesen für mich. „Kinder, räumt den Tisch ab, wir setzen uns noch für ein paar Minuten hin und sagen dem lieben Gott gute Nacht.“ Pastor Bodenmann sprach es und holte dabei die Familienbibel aus dem Büchergestell. Wir setzten uns in der Stube in die geflochtenen Korbsessel. Er schlug einen Bibeltext auf, las und erklärte ihn, dann knieten wir nieder und jeder durfte ein Gebet sprechen.
Das Gästezimmer, mit separater Eingangstür, führte in einen winzigen Raum, in dem sich ein grob gezimmertes Holz Bett mit Moskitonetz, ein Tisch und Stuhl befanden. Die offenen Fenster waren vergittert. Ausgebleichte Nachtvorhänge sollten die Privatsphäre schützen. Eine kleine Eidechse klebte an der Wand und beäugte uns Eindringlinge mit ihren schwarzen Knopf Äuglein. Mit einer sanften Handbewegung wollte ich sie aus dem offenen Fenster scheuchen.
„Halt!“, schrie Frau Bodenmann. Ich zuckte zusammen. Was hatte ich nun schon wieder falsch gemacht? Lachend erklärte Herr Bodenmann: „Edith, hier in Afrika sind die Eidechsen unsere Freunde. Sie fressen die Mücken, welche die Malariakrankheit übertragen wie du sicher weisst.“ Er fuhr fort: „Morgen früh wecken wir dich um fünf Uhr früh. Ich will dich beizeiten zum Flughafen fahren.“ Frau Bodenmann stellte eine Petroleumlampe auf den Tisch. „In einer halben Stunde stellen wir den Strom ab, wir haben hier unseren eigenen Generator“, fügte sie als Erklärung hinzu. Beide wünschten mir eine gute Nacht. Ich war endlich allein, todmüde und erschöpft, aber trotzdem glücklich.
Das Einschlafen war ein Ding der Unmöglichkeit. Die Sonne hatte sich zwar vor Stunden verabschiedet, aber es war immer noch brütend heiss. Das Bett war nichts anderes als ein Brett mit einer hauchdünnen Schaumgummiauflage, vom Kissen ganz zu schweigen. Wie zu warm gewaschene Wattekugeln, die sich zu Tennisbällen mutiert hatten. Ich schaute aus dem Fenster: Tiefschwarzer Himmel übersät mit tausend und abertausend Sternen. Die Nacht war erfüllt von ungewohnten Geräuschen. Grillen zirpten, Bäume rauschten im Wind, der keine Abkühlung brachte. Fledermäuse schwirrten als dunkle Schatten an meinem Fenster vorüber. Von irgendwoher rief ein Käuzchen seinem Weibchen und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. Zu Tode erschreckt und schweissgebadet schnellte ich hoch. Was war das? Hatte ich recht gehört? Schnelle, rhythmische Trommelschläge drangen durchs offene Fenster in mein Zimmer, dazu der näselnde Klang einer Hirtenflöte, die nur fünf Töne in wechselnder Reihenfolge von sich gab, eintönig und doch im Einklang mit dem immer schneller werdenden Rhythmus der Trommeln. Neue unbekannte Welt! Lange sass ich im Bett und lauschte dem noch nie gehörten, fremden Klang und stellte mir dabei einen grossen Kochtopf vor, in dem mindestens ein Mensch darin Platz hätte. In meiner Fantasie tanzten schwarze Einheimische in farbigen Baströcken um den brodelnden Topf, grausige Masken vor dem Gesicht bis........ Na, ja!
Ich musste eingeschlafen sein. Lautes Klopfen an der Tür liess mich hochschrecken: „Zeit aufzustehen!“, rief eine Männerstimme. Es war dunkel wie in einer Höhle. Den Lichtschalter brauchte ich erst gar nicht zu betätigen. Petroleum Lampe! Ich musste die Petroleum Lampe entfachen. Vorsichtig tastete ich mich der Wand entlang, bis ich auf dem Tischchen eine Schachtel Streichhölzer ertasten konnte. Ich entzündete eines, um damit die Lampe zu studieren. Immerhin, zwei ganze Streichhölzer blieben übrig, bis ich herausfand, wie man eine Petroleumlampe betätigt. Sie flackerte hell und tauchte den Raum in golden farbiges Licht. Ich musste mich beeilen. Die Zeit war schon weit fortgeschritten, als ich mich endlich zum Frühstück meldete.
Am Flughafen herrschte reges Treiben. Es schien als wollten alle Passagiere auf einmal bedient werden. Es wurde gedrängelt und geschupst, was jedoch die Dame am Abfertigungsschalter nicht im Geringsten störte. Langsam, aber stetig durchsuchte sie jeden Pass und übergab ihn dem Besitzer wieder. Später begriff ich die Hektik der Passagiere besser. Ein Flugticket zu besitzen, bedeutet in Afrika nicht unbedingt auch den dazugehörenden Sitz im Flugzeug gesichert zu haben. Meistens sind die Flugzeuge überbucht. Wer am schnellsten das Rennen in die Maschine schafft, ergattert einen Sitz. Die Letzten dürfen es bei der nächsten Maschine wieder versuchen.
Freudiges Wiedersehen mit meinem Pass! Zusammen mit dem Ticket bekam ich sogar einen Sitz in der nicht mehr neuwertigen DC4 Propellermaschine, allerdings fehlten daran einige Schrauben, was bedeutete, dass ich mit meinem Sitz jede Flugbewegung mitmachte, einmal nach vorn, nach rechts, nach links. Niemand indessen störte sich daran und so war es mir auch egal. Die DC4 flog nicht sehr hoch, (heute fliegt sie überhaupt nicht mehr) und so konnte ich unter mir die topfebene Landschaft betrachten, die sich wie ein Bilderbuch vor mir entfaltete. Schneeweisse Wattebausch-Wolken hoben sich in malerischem Kontrast vom tiefblauen Himmel ab. Hin und wieder wich die Maschine grossen Wolkengebilden aus. Der Flug von Fort Lamy nach Maroua dauerte etwas mehr als eine Stunde. Auch ohne sichtbare Grenze war nicht schwer zu erahnen, dass ich meinem einstweiligen Ziel nahe war. Steinige Hügel, bewachsen mit niederen Sträuchern, vertrieben die Eintönigkeit der flachen Gebiete des Tschad. Unsanft landete die Maschine auf der recht holprigen Landebahn von Maroua. Als die Tür des Flugzeugs geöffnet wurde, trat ich hinaus, dem unbarmherzigen, stechend heissen Sonnenlicht ausgeliefert. Nicht gerade elegant balancierte ich mit meinem Handgepäck die schmale, wackelige Treppe hinunter dem sicheren Erdboden entgegen.
Das Flughafengebäude bestand aus einem gemauerten einräumigen Gebäude, welches sowohl als Zoll als auch zur Abfertigung benutzt wurde. Die meisten Passagiere waren heimkehrende Kameruner. Mein weisses Gesicht würde fortan Grund des Aufsehens sein, daran musste ich mich schon einmal gewöhnen. In kurzer Zeit war ich eine der letzten nicht abgeholten Passagiere. Es wurde ruhig. Erwartungsvoll schauten mich die Zöllner an.
„Mademoiselle, voulez-vous passer la nuit ici “? 1 Was sollte ich antworten? Ich hatte mir geschworen, den nächsten Flughafen nicht auf eigene Faust zu verlassen.
Die Zöllner langweilten sich. Sie durchwühlten mein Gepäck, weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Ich liess sie gewähren. Gestern hatte mich derselbe Vorgang in Panik versetzt, heute verstand ich ihre Neugier. Einer der Gründe, warum ich hier stand, weit weg von meiner Heimat und allem Vertrauten, buchstäblich Mutterseelen allein, war genau derselbe: Abenteuerlust und Neugierde. Ich wollte dieses Land und die Menschen, die so anders aussahen und lebten wie ich, verstehen und erleben. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen nach Afrika zu reisen, um dort die Welt zu verbessern. Ich habe in späteren Jahren genug übereifrige Weisse kennen gelernt, die schon in ihrem Heimatland wussten, wie sie den „armen Schwarzen“ helfen wollten. Sie wurden alle mit dem Kulturschock „belohnt“.
Ich setzte mich auf eine Holzbank und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Sie kamen, etwa eine Stunde später, in Form eines verstaubten Peugeot 404 Kombi, der sich in rasantem Tempo dem Flughafen näherte. Ein grosser, schlanker Mann, ich schätzte ihn Mitte dreissig, in kurzer Hose und geblümtem Hemd, die nackten Füsse in Sandalen, sprang aus dem Fahrzeug, grinste mich an und begrüsste mich mit stark österreichischem Dialekt:
„Schön, dass du da bist Edith!“ (Natürlich, sogar schon vor ihm!) „Hast du eine schöne Reise gehabt?“ Franz Krakolinig hievte mein Gepäck ins Fahrzeug und während der Fahrt nach Maroua erzählte er mir von seiner Arbeit. „Ich betreue zwei Missionsstationen. Die eine ist in Dogba. Du wirst sie heute noch zu sehen bekommen und eine Nacht dort schlafen. Morgen fahren wir alle, das heisst meine Familie und du natürlich, nach Koza. Spitzbübisch grinsend fuhr er fort: „Ich bin reich, weil ich zwei Häuser habe, eines in Dogba, das andere in Koza. Dogba ist etwas kleiner als Koza. Nebst einer Schule befindet sich auch eine ambulante Klinik auf der Station, die von meiner Frau betreut wird. Die Menschen kommen teilweise von sehr weit her, um sich behandeln zu lassen, allerdings übergeben wir die schweren Fälle dem Spital in Maroua. Geburten leiten gehört auch zu ihrer Aufgabe!“, meinte Franz. Die Fenster des Land Rovers waren geöffnet. Ein heisser, trockener Wind zerzauste unsere Haare und meine Kehle war ausgetrocknet. „Hier ist Wasser, trink! Du musst viel trinken, sonst bekommst du Probleme mit den Nieren.“ Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. „Wir trinken bis zu fünf Liter Wasser pro Tag, das ist hier normal. Zuerst kochen wir es und dann schütten wir’s in grosse Filter, um die Schmutzpartikel zu entfernen“, erklärte Franz.
Wir näherten uns der Stadt Maroua mit ihren ca. 70’000 Einwohnern. Hin und wieder wurden wir von anderen Autos überholt, wobei die meisten sich in einem Zustand befanden, als hätte man sie aus dem Schrottplatz entführt, um ihnen einen langsamen Tod zu ersparen. Am Strassenrand balancierten Frauen auf ihren Köpfen grosse Bündel Holz, Wasser oder undefinierbare Waren in Stofftücher gewickelt. Ich staunte, wie graziös sie die schweren Lasten trugen. Plötzlich erschrak ich. „Franz, was macht der Kerl dort? Sieh nur, was er am Lenkrad seines Fahrrades hat!“ Vier lebende Hühner hingen, Kopf nach unten, je zwei auf jeder Seite angebunden am Lenkrad. „Du meine Güte, das ist Tierquälerei!“, rief ich empört. Franz blickte ernst. „Ja, Edith, du wirst hier die Erfahrung machen, dass man in Afrika weder mit Menschen noch mit Tieren zimperlich umgeht. Nur starke Naturen können überleben.“ Die Hühner gehörten offensichtlich nicht dazu, denn sie würden auf dem Markt als Suppenhühner verkauft werden.
Wir erreichten Maroua. Zu beiden Seiten säumten blühende Bäume die Hauptstrasse, ihre delikaten, roten Blüten schmückten sie wie vornehme Damen auf dem Opernball. Runde Lehmhütten hoben sich farblich kaum vom rötlichen Sand der Strasse ab, davor spielten und tanzten lachende Kinder. Streunende Hunde, Ziegen, Hühner mit ihren Küken fühlten sich zuhause, sozusagen auf freier Wildbahn. Männer in langen, kunstvoll gestickten Gewändern mit dazu passender Kopfbedeckung, standen in Grüppchen und diskutierten miteinander. Männer, ich staunte, betätigten vor ihren Hütten alte Tret-Nähmaschinen.
„Sie sind sehr wertvoll hier, weil sie das Einkommen ganzer Familien sichern“, erklärte Franz. „Die Menschen sind ausserordentlich geschickt mit ihren Händen. Schau dir mal diesen Jungen mit dem selbst gebastelten Auto an!“ Franz zeigte auf einen kleinen Buben, der uns angrinste, sofort zu unserem Fahrzeug rannte und rief: „Vous acheter pas cher!“2 Er streckte mir ein sorgfältig gefertigtes Spielzeugauto aus leichtem Holz entgegen, bei dem alle nötigen Details vorhanden waren. Am hinteren Teil befand sich eine Steuervorrichtung mit einem langen Stab, ebenfalls aus Holz, damit konnte man das Auto in jede beliebige Richtung schieben.
„Was meinst du?“, fragte ich Franz etwas unsicher. Er lachte. „Kaufs ihm ab, wenn du Lust hast.“ Er verhandelte den Preis und übergab mir die Kostbarkeit. Ich fand, er hätte ihm ruhig den Preis zahlen können, den der Bub von Anfang an gewollt hätte, aber Franz belehrte mich.
„Tue das ja nie, Edith. Wenn du etwas kaufst, sollte es nie mehr als einen Drittel des genannten Preises kosten. Wir können leider in letzter Zeit einen sehr schlechten Trend feststellen. Daran sind die Touristen schuld. Sie vergleichen die Preise mit denen ihres Heimatlandes und finden, dass die Kunstgegenstände spottbillig seien. Das hat dazu geführt, dass die einst mit Liebe angefertigten Decken, Lederartikel, Körbe, Holzgegenstände und Spielsachen schnell und unsorgfältig hergestellt werden. Bis dahin ungekannte Profitgier ist die Folge. Zudem sind die Afrikaner eine fröhliche Rasse, die gerne Theater spielt und das kann man so herrlich tun beim Handeln, aber es braucht Zeit, aber davon haben sie genug. Ein Afrikaner hat einmal gesagt: (Ihr Europäer habt die Uhr, wir Afrikaner die Zeit.)
Wie es sich für einen guten Europäer gehört, schaute Franz plötzlich auf seine Uhr.
„Du meine Güte, schon so spät! Wir müssen noch einkaufen!“ Er steuerte den Peugeot in Richtung Markt und gab mir schnell ein paar Anweisungen: