Franz Werfel - Norbert Abels - E-Book

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Norbert Abels

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Beschreibung

Franz Werfel (1890 – 1945) war einer der beliebtesten deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein ereignisreiches Leben führte ihn von Prag über Wien und Venedig nach Beverly Hills. Er gilt als entscheidender Vertreter des lyrischen Expressionismus, als vielseitiger Dramatiker und Romancier und als Vermittler von Judentum und Christentum. Zu seinen  Hauptwerken gehörten das Epos über das armenische Schicksal «Die vierzig Tage des Musa Dagh» sowie sein utopisch-dystopischer Roman «Stern der Ungeborenen». Werfels umfangreiches Gesamtwerk ist bestimmt von der Grundidee, dass Leben immer Mitteilung ist und einzig an darin versäumter Liebe zu zerbrechen droht. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Norbert Abels

Franz Werfel

 

 

 

Über dieses Buch

Franz Werfel (1890–1945) war einer der beliebtesten deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Sein ereignisreiches Leben führte ihn von Prag über Wien und Venedig nach Beverly Hills. Er gilt als entscheidender Vertreter des lyrischen Expressionismus, als vielseitiger Dramatiker und Romancier und als Vermittler von Judentum und Christentum. Zu seinen Hauptwerken gehörten das Epos über das armenische Schicksal Die vierzig Tage des Musa Dagh sowie sein utopisch-dystopischer Roman Stern der Ungeborenen. Werfels umfangreiches Gesamtwerk ist bestimmt von der Grundidee, dass Leben immer Mitteilung ist und einzig an darin versäumter Liebe zu zerbrechen droht.Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Norbert Abels, geboren 1953, Dramaturg, Publizist, Dozent, Musiker. Er ist seit 1985 an internationalen Bühnen tätig. Als Professor für Musiktheaterdramaturgie und Theatergeschichte unterrichtet er seit 2005 an der Folkwang Universität der Künste, seit 1980 als Dozent für Weltliteratur am mediacampus frankfurt als stellvertretender Studienleiter für Kultur- und Theatergeschichte an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main sowie als Lehrbeauftragter an der dortigen Johann Wolfgang Goethe-Universität. Seit 2006 Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Von Spielzeit 1997/98 bis Spielzeit 2019/20 war er Chefdramaturg der Oper Frankfurt, von 2003 bis 2011 Produktionsdramaturg der Bayreuther Festspiele. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem 50 Klassiker: Theater–Die wichtigsten Schauspiele von der Antike bis heute; Ohrentheater–Szenen einer Operngeschichte (2009); Notenlese–Die Sprachen der Oper (2016); Fadenzähler–Miniaturen zu literarischen Welten (2020). 2008 erschien bei rowohlts monographien sein Buch über Benjamin Britten.

Jugend in Prag

Fremde sind wir auf der Erde alle, / Und es stirbt, womit wir uns verbinden, so lautet der Anfang von einem der schönsten Gedichte Franz Werfels. Fremdheit als Daseinsbestimmung gilt für den Menschen und seine Werke gleichermaßen. Auch der Schlag des Herzens – Bewußt noch im Schlaf lauscht mein Herz seinem Klopfen – ist nur geliehen. Nicht der Schöpfung heimatlich vertraut, sondern fremd, so urfremd, daß mir graut, steht das Ich im All.[1]

Fremdheit ist das zentrale Motiv im Werk Werfels. Ins Metaphysische erhoben, hat es dennoch seine Wurzeln in der Erfahrung. Das Erbteil aller nichtslawischen, zumal jüdischen Prager sei allemal doppelte und dreifache Heimatlosigkeit. In Prag vermischt sich, wie nirgendwo sonst in der österreichisch-ungarischen Monarchie, die Fremdheit mit dem Untergangsgefühl. Proportional zum Übergang der provinziellen deutschen Literaten Prags zu einer Literatur von Weltbedeutung vollzieht sich das Bewusstsein des drohenden Endes der alten Welt und ihrer porösen Werteskala. An einem schönen Spätfrühlingstag im Jahre 1914, kurz vor dem tatsächlichen Untergang, trifft Franz Kafka seinen alten Freund Werfel auf der Straße und sagt: «Franz, merkst du nicht auch, daß das alles bald vorbei ist? Das sind keine Menschen mehr, nur noch Gespenster, sie wissen’s nur nicht.»[2]

Praha, die Kreuzung inmitten Europas, von durchwandernden Armeen und Kaufleuten, Gelehrten und Mystikern immer wieder aufgesucht, kann nur ein transitorischer Ort sein. Von den vier großen deutschen Prager Dichtern – Kafka, Kisch, Rilke und Werfel – ist Kafka der einzige, der die Fremdheits- und Untergangsphänomene nicht konsequent mit der Entfernung aus Prag quittiert. Als er, endlich doch vom «Lebensstrom»[3] ergriffen, die Stadt verlassen will, ist er bereits vom Tode gezeichnet. Die anderen drei Prager bereisen, aus ganz unterschiedlichen Gründen, die Kontinente der Welt. Prag ist ein Potemkin’sches Dorf, ein Schattenreich. In einem Interview mit dem «Prager Tageblatt» sagt Werfel: Für den Nichttschechen, so scheint es mir, hat diese Stadt keine Wirklichkeit, sie ist ihm ein Tagtraum, der kein Erlebnis gibt, ein lähmendes Ghetto, ohne auch nur die armen Lebensbeziehungen des Ghetto zu haben, eine dumpfe Welt, aus der keine oder falsche Aktivität herkommt. Prag kann man nur als einen Drogenrausch, als eine Fata Morgana des Lebens ertragen.[4]

Weil Prag eine Kreuzung, ein Schnittpunkt und eine Schwelle ist, wird der Bahnhof zur Daseinsmetapher bei Werfel. Die Eisenbahn sei «ein ganz früher Kindheitseindruck»[5] gewesen, erinnert sich die Mutter. Ja, wir sind Kinder der Eisenbahn per saecula saeculorum, und weiter werden wir’s nicht bringen. Dort, der Dreijährige, der ich bin, starrt noch immer zum Viadukt empor und ruft in der Zullersprache der dampfenden Lokomotive begeistert zu: «Machina!»[6] Direkt gegenüber der Wohnung in der «Reitergasse» der Prager Neustadt, in der Werfel in der Nacht des 10. September 1890 geboren wird, liegt – Verkörperung der Fremdheit – der gelbliche Staatsbahnhof, wo die riesigen Räder der Lokomotiven sich drehen und der lärmend ausgestoßene Rauch an der gewölbten schmutzigen Decke haften bleibt. Auch der «Untergang» meldet sich beizeiten. Werfel wird geboren, als gerade ein Hochwasser die ufernahen Stadtteile überschwemmt, die Synagogen der Josephstadt müssen ausgepumpt werden. Die steinernen Heiligen der zerbrochenen Karlsbrücke stürzen ins Wasser. Die leer gebliebenen Standplätze werden den Kindern später gezeigt und erklärt. Es dauerte dann «lange Jahre, bevor neue Heilige an ihrer Statt dort aufgestellt»[7] werden. O Traum, den viele Kindernächte trugen, / O Traum der Brücke, die inmitten brach[8], heißt es rückblickend in den nach Dantes Vorbild geschriebenen Terzinen aus dem Ersten Weltkrieg.

Meine Vorfahren gehören der deutschböhmischen Judengemeinschaft an, notieren die ersten Zeilen einer kurzen autobiographischen Skizze.[9] Carl Werfel, ein entfernter Verwandter der Familie und Oberbeamter der Böhmischen Escomptebank, hat herausgefunden, dass die Familie «Würfel», «Wörfel» und «Werfel» seit über dreihundert Jahren in Nordböhmen ansässig ist. Ein von Rudolf Werfel, dem Vater des Dichters, 1920 erhaltenes Zeugnis der Kultusgemeinde Böhmisch-Leipa besagt jedenfalls, dass der 1728 geborene Abraham Wörfel der Erste gewesen ist, der den Familiennamen in Werfel umänderte, wobei es dann blieb.[10] Dem Sohn Gottlieb Werfel, «seinem Stande nach Schutzjud»[11], folgt 1794 Franz Werfels Urgroßvater Judah Werfel, dem man – der damaligen Bürokratie gemäß – eigens das Recht auf die Gründung einer Familie attestiert. Judahs Frau trägt den Namen Maria. Für die Steuer zur Heiratsbewilligung nach dem jüdischen Steuerpatent muss er sogar eine Hypothek auf die Hälfte seines Hauses aufnehmen. Als «Stabsfurier der Napoleonischen Armee auf dem russischen Feldzug»[12] wird der knapp zwanzigjährige assimilierte Jude dort mit gemischten Gefühlen die jüdischen Gemeinden betrachtet haben, die den Zaren unterstützen, wenn nicht gar für ihn kämpfen. Der Sohn Nathan, im Mai 1828 geboren, wird Geschäftsmann in Böhmisch-Leipa. Später siedelt er sich im mittelböhmischen Jungbunzlau an und heiratet die theaterbegeisterte Pragerin Amalia Elbogen, die sich im greisen Alter noch einen Parkettsitz in der Oper hält.

Franz Werfels Vater Rudolf kommt in dieser Stadt, dem einstigen Zentrum der Böhmischen Brüder-Unität, am 21. September 1857 zur Welt. Um 1860 zieht die Familie nach Prag. Dem Sohn, den Nathan auf eine bayrische Internatsschule schickt, hinterlässt er bei seinem Tod nur die Schulden aus dem Bankrott seines Geschäfts. Mit zähem Fleiß kämpft Rudolf Werfel sich nach oben und meldet am 15. Februar 1889 die Eröffnung seiner Handschuherzeugung. Am 15. Dezember 1889, nicht ganz neun Monate vor der Geburt von Franz Viktor, heiratet er die neunzehnjährige Albine Kussi, die aus Zihle stammende Tochter des Mühlenbesitzers Bernard Kussi. Dieser Müller erreicht im Jahre 1932 tatsächlich das 100. Lebensjahr. Albine Werfel berichtet, dass er auf die Frage, was ihm in seinem Leben den tiefsten Eindruck gemacht habe, nach kurzem Nachdenken die verblüffende Antwort gab: «Die Aufhebung der Leibeigenschaft.»[13] Der Blick auf den Stammbaum der jüdischen Familie Kussi zeigt eine erschreckende Zahl von in Theresienstadt, Auschwitz und anderen Vernichtungslagern Ermordeten. Der in Mauthausen umgekommene Cousin Rudolf Kussi, der die Familienmühle in Pilsen weiterbetrieben hat, ist – nicht zuletzt durch seine musikalische Passion – ein guter Freund Werfels gewesen.

Noch nicht einmal zehn Jahre sind seit der offiziellen Gleichberechtigung der böhmischen Juden, dem Recht, sich an jedem Ort des Reiches ansässig zu machen und nach eigenem Entscheid eine Familie zu gründen, vergangen, als Rudolf geboren wurde. Gerade als er seine Handschuhfabrik gründet, beginnt die Epoche des schleichenden wirtschaftlichen Untergangs. Das agrarische, zentrifugale und anachronistische Österreich-Ungarn fällt im Zeitalter des Imperialismus weit hinter den Standard der europäischen Industriestaaten zurück. Rudolf Werfels Geschäft aber, inzwischen durch die Gründung einer zweiten Fabrik bei Pilsen erweitert, floriert. Nach dem finanziellen Rückschlag durch den väterlichen Bankrott, den er später mit der leicht erregten Pathetik eines glücklichen Zeitalters als bürgerlichen Schiffbruch[14] bezeichnet, erholt sich die Firma. Unter dem Namen Rudolfum Werflem erscheint im Jahre 1901, als sich nur noch 45 Prozent der Prager Juden zur deutschen Sprache bekennen, ein Buch über die österreichische Handschuhindustrie und die neuen Handelsverträge. Mit Rücksicht auf die von Tschechen bestimmte Prager Genossenschaft der Handschuherzeuger veröffentlicht Rudolf Werfel das Buch auf Tschechisch. Trotz solcher Optionen für die zukünftige kompakte Majorität nimmt auch der tschechische Antisemitismus rapide zu. Dessen Agitatoren rekrutieren sich aus den Gewerkschaften der Handschuhmacher: «… man darf vermuten, daß ihr Großteil aus den Werfelschen Fabriken kam.»[15] Rudolf Werfel gelingt es, sich in diesen finsteren Episoden über Wasser zu halten. Erst durch die Okkupation der Nazis 1939 muss er die geliebte Stadt verlassen.

Fest steht, dass er seine Kinder geliebt hat. Ein guter Vater, lautet das Resümee, das der Sohn am Ende seines eigenen Lebens zieht.[16] Beizeiten nimmt Rudolf Werfel seine Kinder mit in die Oper und ins Schauspiel. Zu hohen Feiertagen geht er mit dem Jungen in die nahe gelegene Hochsynagoge, die Meyslsynagoge. Zu Hause beschränken sich die religiösen Zeremonien auf das Nötigste. Das große Abendessen zu Pessach und der von Segenskerzen erhellte Gabentisch am Chanukkah-Fest gehören zu den wenigen Anlässen, die wirklich an die Zugehörigkeit zum Judentum erinnern. Dennoch bestehen emotionale Bindungen. Nach dem musikalisch ausgestalteten Maskir, dem «In-Erinnerung-Bringen» der Verstorbenen, kommt Rudolf Werfel stets mit verweinten Augen aus dem Tempel.

Den literarischen Neigungen des Sohnes, der am väterlichen Betrieb keinerlei Interesse zeigt, schaut er so lange wohlwollend zu, bis sich herausstellt, dass Franz sein ganzes Leben damit auszufüllen gedenkt. Später aber, als sich der angezweifelte Erfolg einstellt, verstummt seine nur allzuberechtigte, aber bitter nörgelnde Kritik[17], und er wird zum liebevollen Agenten des Sohnes.

Als «charmante, etwas zu dramatische Dame»[18] hat Adolf D. Klarmann die Mutter Franz Werfels beschrieben. Albine Werfel ist eine hübsche, hochgewachsene, schwarzhaarige Frau, die großen Wert auf Distinguiertheit und Etikette legt, eine «liebenswürdige, feine Gesellschaftsdame»[19], die ihre Kinder liebt, ohne diese Liebe zeigen zu können. Sie ist seelisch unerlöst, nicht frei genug[20], charakterisiert sie ihr Sohn, der sich oft auch über mangelnde Fürsorge beklagt. Eine autobiographische Stelle in der Erzählung Kleine Verhältnisse gibt das emotionale Defizit genau wieder: Mama, die nachts das Licht im Zimmer des Buben bemerkt hat, beugt sich über ihn und lauscht. Sie glaubt, dass er schläft und streicht die Decke des Sohnes glatt, aber schon mit achtlosen Händen, gleichsam nur um sich selbst ein wenig konventionelle Mütterlichkeit vorzuspielen[21]. Diese Geste ihres eigenen Schuldgefühls macht die grundsätzliche Fremdheit klar, die das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn lebenslang bezeichnet.

Als Kafka im Dezember 1914 in der Mariengasse seine Erzählung von der «Strafkolonie» vorliest, betrachtet er hernach Werfels «schöne Schwestern», die achtzehnjährige Hanna und die fünfzehnjährige Marianne Amalia. «Die ältere lehnt am Sessel, schaut seitwärts öfters in den Spiegel, zeigt, doch schon genügend von meinen Augen verschlungen, mit dem Finger leicht auf eine Brosche, die mitten auf ihrer Bluse eingesteckt ist.»[22] Hanna ist Werfels Lieblingsschwester. Ihr liest er seine frühesten literarischen Versuche vor. Später, 1925, als Hanna Alban Bergs so große und unerfüllte Liebe wird – sie schenkt ihm den Goldcrayon, mit dem er die «Lulu» schreibt –, verteidigt der Bruder sie vor den pseudomoralischen Vorwürfen der Wiener Gesellschaft und übergibt Hanna heimlich die Liebesbriefe des Freundes. Auch im Exil dauert das aufrichtige und liebevolle Verhältnis der Geschwister an. Größere Schwierigkeiten hat Werfel dagegen mit der jüngeren Schwester Marianne, die ihm sein «Verschwinden ins Manuskript» und die «Flucht vor dem Alltäglichen» zum Vorwurf macht.[23] Mizzi emanzipiert sich früh vom Elternhaus. Um der «Werfelschen Exklusivität» zu entkommen, arbeitet sie im Spital, in der Akademie, stürzt sich in unglückliche Liebesgeschichten, verkehrt mit tschechischen Freunden, die nicht zur ‹guten Gesellschaft› gehören, ist mittellos und steht doch mitten im Leben. Später heiratet sie Ferdinand Rieser, den Direktor des Züricher Schauspielhauses, schreibt selbst Gedichte, psychoanalytische Novellen, Theaterstücke und Revuen.

Erst mit dem um die Jahrhundertwende erfolgten Umzug in die Mariengasse 41 gelangt die Familie in die obersten Schichten der Prager Gesellschaft. Nur hundert Schritte sind es bis zur Fabrik des Vaters. Direkt gegenüber dehnt sich der große Stadtpark, hinter dem gerade der neue Franz-Josephs-Bahnhof gebaut wird. Die Sommerfrische verbringen die Werfels meist in Marienbad, Karlsbad oder im Salzkammergut.

Schon früh gibt es für Franz zwei Hauptwirklichkeiten. Da ist die Familie, die Fabrik, die Synagoge und schließlich die gefürchtete Einschulung. Barbara Šimůnková, genannt Babi, ist die andere, eigentliche Wirklichkeit[24]. Nicht nur die Frau selbst, sondern alles, was mit ihr zusammenhängt, gehört zu dieser eigentlichen Wirklichkeit. 43 Jahre arbeitet sie als Kinderfrau und Köchin für die Familie Werfel. Stundenlang erzählt die Kinderfrau dem Jungen Märchen, Heiligenlegenden und Gedichte wie das von der Polednice, der Mittagsfee. Hanna, die Schwester, berichtet, dass der vierjährige Franz mit Babi zum ersten Mal zur Messe gegangen sei. Babis Frömmigkeit zeigt sich in keinerlei heiligem Gehaben, nicht in frommen Anrufungen und Gebeten, oder gar in einer leidenschaftlichen Kirchlichkeit, sie zeigt sich vielmehr in einer tiefen und gleichmäßigen Ruhe[25], in einem Aufgehobenheitsgefühl, das für Franz Werfel zum entscheidenden Element seines Lebens wird und das schon früh das Erwachen der kindlichen Religiosität bezeichnet: Gott war der Schlaf, auf dem man dahingleitet, das warme Bett, in dem einem keine böse Macht etwas anhaben kann.[26] Durch Babi lernt Franz die barocke Katholizität der Stadt, an jedem Vorsprung Kruzifix und Bild[27], die Heiligen, die Mutter Gottes und die ihr gewidmeten Wallfahrtsstätten kennen. Barbara selbst wird zum Inbegriff der Erlösung: Unter der Himmelsmutter stellte er sich nicht viel anderes vor als eine jüngere und schöngekleidete Barbara, eine Barbara aller Menschen, die über den Wolken wohnte.[28] In seinem Schlafzimmer hängen auch später noch neben den großen Idolen Verdi und Dante die Raffael’schen Engelsköpfe. Die Kirche, die einzige übermoralische Mutter im Weltall, die Mutter aller Mütter, die vor keinem ihrer Kinder Grauen empfinden kann[29], gilt ihm von Anfang an mehr als das Judentum.

In einer deutlichen Anlehnung an die Tempelreinigung im Matthäus-Evangelium erinnert sich Werfel 1919 in seinen Erguß und Beichte betitelten autobiographischen Gedanken: Ich mag vielleicht zehn Jahre gewesen sein, als ich im Chor dieses Prager Tempels die Stimme einer Sopranistin hörte, die mir unendlich beglückend und zugleich tödlich unanständig erschien. Es muß eine richtige Theaterstimme gewesen sein, schamlos zudringlich, eitel und sexuell. Sie berauschte mich und erzeugte ein Unbehagen, das mir mit einem Schlag den ganzen Gottesdienst peinlich machte. Ich sah die alten Männer, dichtgedrängt, die sich nach allen Seiten wandten, über Tausende Dinge sprachen, Händedrücke tauschten, eine laute Vertraulichkeit zeigten, ich hörte ein Gemurre und Gemurmel wie in einem Caféhause.[30] Franz Kafkas fast zur gleichen Zeit geschriebener «Brief an den Vater» weist in vielen Details eine so starke Übereinstimmung mit Werfels Erinnerung auf, dass eine gegenseitige Kenntnisnahme der Texte offensichtlich ist. Genauso abstoßend, eine ignorante Büberei, präsentiert sich der Religionsunterricht, der so mechanisch und stumpf verläuft, dass Franz Werfel ihn von einem bestimmten Zeitpunkt an regelmäßig zu schwänzen beginnt. Wenn er in einem Brief an Sigmund Freud aus dem Jahre 1926 von einem areligiösen Milieu, in dem er aufgewachsen sei, spricht, meint er unmissverständlich ein sich auflösendes Judentum, das keine religiösen Gefühlskatastrophen[31] mehr vermitteln kann. Orthodoxe Juden aus Galizien gar, mit Kaftan und Schläfenlocken, lösen größtes Unbehagen aus: Diese Menschen waren uns fremdartig und unheimlich, sie sprachen eine andere Sprache als wir, ihr Gehaben gehörte einem anderen Erdkreise an.[32] Zutiefst suspekt bleibt ihm lebenslang der Zionismus. Das Fazit, das er zieht, gilt fast für alle deutsch-jüdischen Prager Künstler dieser Generation: Das Judentum war mir in meiner Kindheit kein «Erlebnis» geworden, sondern nur ein halbbewußter Vorstellungsinhalt, der kein großes Gefühl in sich schloß, sondern ganz im Gegenteil den Wunsch, dort niemals wieder anzuknüpfen.[33] Erst der Krieg, Auseinandersetzungen mit Max Brod und Martin Buber und die Entdeckung der Zusammengehörigkeit von Christus und Israel zerstören das Ressentiment. Mehr als zwei Jahrzehnte benötigt Werfel dann, um das in der Jugend entstandene geistige Vakuum des Judentums aufzufüllen.

Mit Barbara und später mit der zu ihrer Entlastung eingestellten Gouvernante Erna Tschepper[34] durchstreift Franz die Stadt. Der direkt vor der Haustür liegende Stadtpark wird zum abenteuerlichen Dschungel, und «der große Sandplatz ist eine Welt»[35]. Auch Willy Haas, später Werfels bester Freund, und der nur sechs Tage ältere Ernst Deutsch werden dort bei schönem Wetter von ihren Kinderfrauen spazieren gefahren. Die Buben durchlaufen vom «Spielplatz der Babys» bis zum Schlag- und Fußballplatz alle Stationen des Parks. Vor dem kleinen künstlichen Teich inmitten des Stadtparks, dem Lieblingsplatz der Bonnen und Kindermägde, werden gruselige Geschichten von ertrunkenen Selbstmörderinnen erzählt. Franz, meist im frischgebügelten Matrosenanzug, lässt dort seinen kleinen, «Bohemia» getauften Raddampfer schwimmen. Den Höhepunkt kindlichen Entsetzens nimmt der von Werfel mehrfach verewigte stelzbeinige Wächter Kakitz ein, auch Kranich genannt, der freilich um sechs Uhr brav seine biedere Wohnung in der Mariengasse aufsucht. Das gesamte lyrische Werk ist angefüllt mit Erinnerungen an den Park. Die zweite Strophe des nach dem Tod der Kinderfrau im Jahre 1935 geschriebenen Gedichts Die Verklärte Magd lautet:

Ich geh durch meiner Kindheit Park.

Die aufgeschürfte Erde klafft.

Doch überall machst du sie stark,

O Magd, mit deiner Liebeskraft.[36]

Ängstlich und keineswegs neugierig betritt Franz Werfel in Begleitung seines Vaters im September 1896 die Piaristenschule in der Herrengasse. An Kruzifixen und Heiligenbildern vorbei gelangt er durch einen rechtwinklig gebogenen Schulgang in den Klassenraum. Der Kuttenmann auf dem Katheder ruft mit rauer Stimme die Namen auf. Hinter ihm ragt stolz eine Karte der Donaumonarchie. Franz weint, als der Vater ihm ermutigend zunickt. Abschließend wird zu Lehrers Winselgeige[37] das Kaiserlied geplärrt, und die Buben werden fürs Erste entlassen. Ein katholisches Institut ist die Volksschule nur dem Namen nach. Aus dem Klassenverzeichnis geht hervor, dass gut zwei Drittel der Schüler der «mosaischen Konfession» angehören, darunter auch der Musterschüler Ernst Deutsch, der nur im Zeichnen nicht brilliert. Das gemeinsame Gebet am Anfang eines jeden Schultags ist freilich von allen gemeinsam zu sprechen. «Piaristen, schlechte Christen!», rufen die tschechischen Buben aus der Übungsschule der Lehrerbildungsanstalt von nebenan, wenn die Schüler aus dem großen Tor mit der Aufschrift «Collegium Clericorum Regularium Scholarum Piarum» treten.

Franz ist von Anfang an ein schlechter Schüler. Das ändert sich auch auf dem Grabengymnasium nicht, das er bis zur Tertia, die er wiederholen muss, besucht. Der letzte Vers der Höllenpforteninschrift in der «Divina Comedia» – «Laciate ogni speranza, voi eh’ entrate!» (Beim Eintritt hier lasst alle Hoffnung fahren) steht noch in der Vision des Sechsundzwanzigjährigen über dem Eingang zum Direktorat. Zusammen mit Willy Haas und dem ebenfalls nicht gerade musterhaften Schüler Paul Kornfeld verbringt Werfel die letzten Jahre seiner miserablen Schulkarriere auf dem Stephansgymnasium. Vergeblich bemühen sich die Schüler, Texte von Heine und Hebbel interpretieren zu dürfen. Bücher wie Schnitzlers «Reigen» werden unter der Schulbank gelesen. Im langweiligen Religionsunterricht macht der Schüler auf diese Weise auch Bekanntschaft mit Georges «Algabal». Zur Leitfigur wird für ihn eine Zeitlang Byrons zerrissener und hybrider Held Manfred. Die Reclam-Ausgabe des «Faust», die er beständig in der Jackentasche mit sich herumträgt, begleitet ihn noch auf dem Weg an die galizische Front.

Die erste und einzige Persönlichkeit, die den Schülern auf dem Katheder entgegentritt, ist der Ordinarius und Lateinlehrer Karl Kyovsky. Mit den ehrbaren Begriffen Tugend, Strenge, Milde, Komik[38] wird er, der Inbegriff des altösterreichischen Menschen und Beamten, in dem autobiographischen Roman Der Abituriententag bedacht. Als ein Leierkasten im Schulhof das Sextett aus «Lucia di Lammermoor» von Donizetti spielt und Werfel es sofort erkennt, lächelt er «ganz glücklich» und behandelt den Schüler von nun an bevorzugt.[39] Als dieser aber bei Kyovskys respektvollem Aussprechen der unsäglich langen und feierlichen Titulatur «Seiner apostolischen Majestät, unseres allergnädigsten Herrn, Kaiser Franz Joseph» zu grinsen wagt, wirft ihm der Lehrer «mit einem ungeheuren Schwung … das Klassenbuch mitsamt der Kaiserproklamation quer durch das Klassenzimmer … an den Kopf»[40].

Zu Werfels hervorstechenden Leistungen in der Schulzeit gehört ein präzise ausgearbeiteter Schwänzplan, der diverse Vergnügungen auch während der Schulstunden ermöglicht. Favorisiert wird von den Schülern das in der Gemsengasse gelegene «Gogo», wo eine literaturbegeisterte Prostituierte namens Angela arbeitet. Vielleicht ist sie es gewesen, die dem unablässig Verdi-Arien schmetternden Werfel den Spitznamen «Carrousseau» gegeben hat, den sie, «um ihre Bildung zu zeigen»[41], französisch ausspricht. In dem noch ganz im Stil der Makart-Ära ausstaffierten, mit Plüschmöbeln, Goldschnörkeln, Samtvorhängen und erotischen Stichen überladenen Bordell pflegt sich auch Gustav Mahler bei seinen Prag-Besuchen aufzuhalten, um im japanischen Zimmer bei zwei Flaschen Sekt bis zum Morgengrauen Klavier zu spielen. Am «Schülertisch» aber debattiert man bei Lagen schwarzen Kaffees und bei Melniker Wein über Kierkegaard, Augustinus und die letzte Theaterpremiere: «…die halbnackten Mädchen bildeten bunte Reihen mit den knabenhaften Philosophen, stellten gelegentlich praktischere Fragen …»[42]

Um 1907 gilt das schwüle Klima jener hysterischen Prüderie nicht mehr, welches noch zehn Jahre zuvor bewirkt hat, dass eine Dame statt «Hose» die Bezeichnung «die Unaussprechliche» wählen musste. Die Aufteilung der weiblichen Welt in «käuflich» und «unberührbar bis zur Ehe» begleitet aber auch noch Werfels erste Annäherungsversuche. Es gibt für den Gymnasiasten drei «Kasten» von Frauen: die eleganten Damen in zarten Schneiderkleidern oder tiefausgeschnittenen Roben, zu denen keine Brücke, nicht einmal die der Träume[43] führt; die gleichaltrigen gutbürgerlichen Mädchen, deren Eltern es den Schülern erlauben, gewissen Unterhaltungen beizuwohnen, die sie für ihre Töchter veranstalten; und drittens das stiere nackte Fleisch der Prostituierten, das statt Freuden nur Schauder und Beklemmung schafft. Es war eine andere Zeit. Die Mädchen kehrten mit ihren Röcken die Straße, kicherten ununterbrochen und trugen einen Panzer, der aus Angst, Reinheit und Berechnung geschmiedet war. Sie schienen zu fordern, daß man sie zwar für schön und anbetungswürdig halte, zugleich aber nicht wisse, daß die anbetungswürdige Schönheit über Füße, Waden, Schenkel, Brüste und einen ganzen Körper verfüge.[44] Werfel empfindet beim Anblick des angebeteten Mädchens Mizzi die spezifische Gymnasiastenscham, eine Null zu sein, ihr nachzustehen, auf keine Heldentat und auf kein Kunstwerk zurückblicken zu können[45]. Die gleichaltrige Maria Glaser, Tennisspielerin und Hausballschönheit, ist Werfels erste große Liebe. Das Herzklopfen und die leichten Schwindelanfälle, das stundenlange vergebliche Patrouillieren um das Haus des eher uninteressierten Mädchens, das schon bald einen Ingenieur heiratet, sedimentieren sich später in vielen hymnischen Gedichten und dem 1910 verfassten kleinen romantischen Drama Der Besuch aus dem Elysium, in dem freilich aus der einstigen Himmelsfrau eine Spießerin, eine Provinzmadonna, aber auch eine unglückliche Ehefrau und vereinsamte Mutter geworden ist.

Die spätere Einsicht, dass die Liebe deswegen grausam ist, weil sie das Bedürfnis hat, um des Erbarmens willen[46] ihren Gegenstand leiden zu sehen, geht auf dieses frühe platonische Erlebnis zurück. Noch kurz vor dem Tod erinnert sich der Verschmähte von einst an das Fräulein Marie, die Tochter des Schokoladenfabrikanten, wie sie ihm im langen, hellen Frühlingskleid und breiten Florentiner Hut mit kapriziöser Ungeduld zuruft: Worauf warten wir noch? Ich komme ja zu spät.[47]

Als Werfel im Sommer 1909 vor einer Kommission von Professoren die mündliche Maturaprüfung übersteht und die schul-füchsisch-bürokratische Lehrweise, mit der die vorgeschriebenen Disziplinen zu Tode gehetzt wurden[48], endlich zur Vergangenheit gehört, ist er bereits ein gedruckter Autor. Am 23. Februar des Vorjahrs hat «Die Zeit», ein Wiener Tagblatt, gleich auf der ersten Seite seiner belletristischen Beilage das Gedicht Die Gärten der Stadt publiziert. Werfel beschreibt in dem 1912 an einem Manövertag geschriebenen kleinen Drama Die Versuchung seine Reaktion schon mit ironischer Distanz. In diesem Gespräch des Dichters mit dem Erzengel und Luzifer geht es um die Scheinhaftigkeit des sogenannten Lebensglücks. Der Dichter lehnt Satans Angebot der Reiche dieser Welt spöttisch als Ausgeburt bürgerlicher Potentatenhybris ab. Über den künstlerischen Ruhm heißt es in Anspielung auf das erste gedruckte Gedicht: Vor Warenhäusern, Wagenreihen, Kaffees blieb ich stehen und war erstaunt, als ich erkannte, wie tief das Ereignis meines gedruckten Werkes in die Welt gegriffen hatte; etwas schien an allem vorgegangen zu sein, alles schien auf mich zu deuten mit einem achtungsvoll schielenden «Aha».[49]

Unaufhaltsam naht nach dem Erhalt des Matura-Zeugnisses der gefürchtete Zeitpunkt, an dem vor dem Vater Rechenschaft über die Gestaltung der Zukunft abgelegt werden muss. Zu nichts hat Franz weniger Lust, als sich hierüber Gedanken zu machen. Zunächst zieht er mit Ernst Deutsch durch Deutschland. Sobald ihnen, wie in Frankfurt, das Reisegeld ausgeht, schicken die Väter Nachschub. Zurück in Prag hospitiert Werfel an der Deutschen Universität, ohne sich dort zu immatrikulieren. Er besucht philosophische, juristische und kriminalpathologische Vorlesungen, ohne sich für ein Studium entscheiden zu können. Für kurze Zeit geht er auf Wunsch des Vaters sogar auf die höhere Handelshochschule. Neben jenen frühen Gedichten, die dann in den Band Der Weltfreund eingehen, sind bereits kleine Erzählungen und novellistische Skizzen entstanden, von denen sich nur wenige erhalten haben. Die Katze, noch in der Schulzeit geschrieben, geht, wie die Schwester Hanna beteuert, auf ein schreckliches pubertäres Spiel während der Ferien im Salzkammergut zurück. Das große Verwandtschaftsgefühl aller Kreatur, das der Junge verspürt, schlägt jäh um in den sadistischen Impuls, in einem kindlich grausamen Wollustschauer[50], die Katze zu quälen. Zum ersten Mal erscheint ein Motiv, das Werfel dann immer wieder gestalten wird: das Auge des geschundenen Tiers.

Auf strengstes Geheiß des Vaters muss Werfel im Spätsommer 1910 allein nach Hamburg reisen, um dort bei der Spedition Brasch & Rothenstein seine anbefohlene kaufmännische Lehrzeit durchzustehen. An Max Brod schreibt er: Jetzt schreibe ich unter dem Schreibpult Verse, wie ich in der Schule unter dem Lateinheft Gedichte gemacht habe.[51] Verwundert betrachtet der Prager Bürgersohn, wenn er sich morgens um sieben von seiner Pension auf den Weg zur Firma begibt, wie mit ihm tausende junge Mädchen scharenweise in die Kontors[52] zur Arbeit ziehen. Unfähig, die Geschäftsbriefe für den Seegüterverkehr zu bearbeiten, befördert er sie wütend durch die Wasserspülung ins Meer.[53] Schon nach wenigen Wochen erteilt ihm sein Prinzipal das consilium abeundi[54]. Werfel bleibt auf eigene Faust noch ein paar Monate. Mit Franz Theodor Csokor spaziert er zum Elbe-Hafen, betrachtet die Dampfer, die kleinen Hafenjollen und über allem den nebligen Sonnenuntergang. Er ist zum ersten Mal seit der Kinderzeit wieder glücklich und frei zugleich: … das glänzend laute Bild einer glücklichen selbstzufriedenen Zeit umgab uns, wir aber standen, ganz und gar in die innere Welt verkapselt, und sagten einander unsere neuen Gedichte auf.[55] Später wird in einer Kneipe in St. Pauli «bei Austern und Burgunder»[56] das Gespräch fortgesetzt. Nach acht Monaten verlässt er Hamburg. Das schrankenlose Glück dieser Zeit hält er in dem Gedicht Dampferfahrt im Vorfrühling fest. Die letzten Zeilen lauten:

O Tanzlokale am Ufer, o Brüder, o Dampfer, Fährhaus, Erd und Himmelsgeleit!

Ich bin ein Geschöpf! – Ich bin ein Geschöpf!

Und breite die Arme weit …[57]

Am 25. Mai 1911 kehrt er nach Prag zurück. Europa 1911! Goldene Abendröte eines Zeitalters, dessen schwerste Sorgen uns heute paradiesisch erscheinen[58], erinnert sich Werfel. Bis Ende September, dem Beginn des Militärdiensts beim k.u.k. Feldhaubitzen-Regiment No. 8 auf dem Hradschin, hat er endlich Zeit zur schriftstellerischen Arbeit. Die Jahre 1910 bis 1912 zeichnen sich durch eine ungeheure Produktivität aus. Das Interesse an neuen Büchern ist größer denn je. Geschichtliche Ereignisse wie die Marokko-Krise, der Italienisch-Türkische Krieg oder die Balkankriege werden nur am Rande zur Kenntnis genommen. Dagegen ereifert man sich über den «Rosenkavalier» und «Die Biene Maja», über «Das Lied von der Erde» und den Einfluss der Schwerkraft auf die Ausbreitung des Lichts. Im Prager Konzert- und Kunsthaus «Rudolfinum» verteidigt «auch mit Fäusten und Stuhlbeinen»[59] die Freundesphalanx Otto Pick, Franz Werfel und Willy Haas die radikalen Melodramen von Arnold Schönbergs «Pierrot lunaire». Trotz des frenetischen Applauses der Jungen stürzt Schönberg wie nach einer verlorenen Schlacht aus dem Konzertsaal. Kunstskandale sind wichtiger als Politik. Noch bewohnen die sozialen und nationalen Heilande, im ungestörten Vollbesitz ihrer Defekte, nicht die Reichskanzleien, sondern die Nachtasyle[60]. Man sieht sie gelegentlich in den Literatur-Cafés, den Pflanzstätten der wechselnden künstlerischen Moden, aber auch geistigen Hexenküchen eines zukünftigen Grauens[61].

Das Café «Arco» gilt inzwischen als das Zentrum der deutschen Prager Literatur. Es ist ein elegantes Lokal mit großen Spiegeln und Marmortischen im Parterre eines schönen alten Prager Zinshauses in der Hyberngasse. Durch die breite Fensterfront kann man schon vor dem Eintritt erkennen, wie viele und welche «Arconauten» sich versammelt haben. Kafka hat diese Perspektive festgehalten. Über Werfel schreibt er: «Wie er von der Ferne beim Kaffeehaustisch aussieht. Geduckt, selbst im Holzsessel halb liegend, das im Profil schöne Gesicht an sich gedrückt, vor Fülle (nicht eigentlicher Dicke) fast schnaufend, ganz und gar unabhängig von der Umgebung, unartig und fehlerlos. Die hängende Brille erleichtert durch ihre Gegensätzlichkeit das Verfolgen der zarten Umrißlinien des Gesichtes.»[62] Gäste aus Wien oder aus dem «Reich» wie Franz Blei oder Otto Gross werden von den Insassen des Kaffeehauses, dem auserwählten Kreis derjenigen, die den «Bourgeois» in sich überwunden hatten[63], gierig ausgefragt. Stammgast ist auch Werfels alter Schulkamerad Ernst Polak, dessen Belesenheit allgemein bewundert wird. Wie später mit Robert Musil, Joseph Roth und Hermann Broch diskutiert Polak, hauptberuflich Fremdsprachenkorrespondent der Prager Filiale der österreichischen Landesbank, mit den Autoren über ihre entstehenden Werke.

Die wichtigen europäischen Tageszeitungen, Periodika, auch Kunstrevuen liegen aus. Die tschechischen Maler kommen, um zu erfahren, was die Kunstwelt, «wahrhaftig die ganze Welt»[64] interessiert. Das sowohl Karl Kraus, Alfred Polgar, Anton Kuh und auch Egon Erwin Kisch in den Mund gelegte Bonmot: «Es brodelt und werfelt und kafkat und kischt» trifft die ausgewogene Mischung aus Sinnlichkeit und Intellektualität so wenig wie das böse Wort vom «Schmockkästlein der Monarchie». Die geistige Atmosphäre des «Arco» kennt keine nationalen, kulturellen und künstlerischen Schranken. Einen magnetischen Zauber üben auf Werfel die endlosen Diskussionen im Zigarettendunst aus. Man diskutiert über Dostojevskij, den «Schutzheiligen unserer Generation», über Walt Whitman, Jules Laforgue und Paul Claudel, der als hoher Diplomat für eine Zeit in einem Büro am Prager Stadtpark arbeitet. Von ihm erfährt Werfel bei einem Spaziergang «Regeln, wie man dichtet»[65]. Seinen geistigen Antipoden, den in Prag noch unbekannten André Gide und dessen «Nouvelle Revue Française», stellt Ernst Polak vor. Mit Kafka und Oskar Baum unterhält sich Werfel über den von Franz Blei übersetzten Ferdinando Galiani und dessen Zeitgenossen François Quesnay. Freilich ist die Atmosphäre aus Kameradschaft und Gehässigkeit, aus rührender Hilfsbereitschaft und giftigstem kritischen Hochmut[66] auch gespalten.

Nach dem Aufsehen um den gerade entstehenden Gedichtband Weltfreund – in Prag war’s ein ausgesprochen unliebsames Aufsehen[67] – hat Werfel vor seinen gleichaltrigen Freunden immerhin den Vorsprung, ein gedruckter Autor