Frau Appeldorn und der tote Bademeister - Vera Nentwich - E-Book
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Frau Appeldorn und der tote Bademeister E-Book

Vera Nentwich

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  • Herausgeber: Vera Books
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Das Leben von Frau Appeldorn lässt die Höhepunkte vermissen. Die ehemalige Chefsekretärin versucht, sich damit zu arrangieren, dass nach dem Berufsleben die Herausforderungen ausbleiben. Doch dann bekommt sie nach der Wassergymnastik mit, dass sich die Trainerin und der Bademeister streiten. Am Abend wird der Bademeister tot aufgefunden. Ihr kriminalistischer Ehrgeiz erwacht und sie sieht die Chance, ihrem Leben einen Kick zu geben. Unter der zuerst zögerlichen Mithilfe ihres Nachbarn Herrn Büyüktürk taucht sie in das Leben des Opfers ein. War der Partner des Bademeisters eifersüchtig? Welche Rolle spielt die selbstbewusste Gymnastiktrainerin? Mareike Appeldorn lässt nicht locker, bis der Fall aufgeklärt ist, und vergisst dabei niemals, ihren roten Hut zu tragen.

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I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
Möchten Sie wissen, wie es weitergeht?
Die Zwei von der Talkstelle
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Impressum

Frau Appeldorn und der tote Bademeister

Vera Nentwich

 

 

I

„Heute meint sie es aber besonders gut mit uns“, keuchte Frau Appeldorn, während sie angestrengt versuchte, die Poolnudel unter Wasser zu drücken. Dabei bemühte sie sich, die Beinbewegungen nachzuvollziehen, die die Trainerin am Beckenrand vormachte.

„Ja“, bestätigte Elisabeth neben ihr, die nicht weniger kämpfte. „Irgendeine Laus ist ihr über die Leber gelaufen.“

Eine neue Anweisung unterbrach sie, und nun mussten sie sich das Schaumstoffungetüm über den Kopf halten. Frau Appeldorn strampelte tapfer mit den Füßen im Wasser.

„Wir müssen ihr mal sagen, dass wir hier nicht für Olympia trainieren“, meldete sich Ute von der anderen Seite zu Wort und verschluckte sich, als Wasser in ihren Mund schwappte. Heftig hustend stoppte sie ihre Bewegungen. Frau Appeldorn hörte ebenfalls sofort mit der Übung auf und versuchte, der Freundin zu helfen.

„Geht schon“, winkte diese ab.

„Alles in Ordnung?“, rief die Trainerin ihnen zu.

„Ja, sie hat sich nur verschluckt“, erklärte Frau Appeldorn. „Du malträtierst uns heute aber auch ganz schön.“

Der Gesichtsausdruck der Angesprochenen sah erschrocken aus. „Meint ihr?“, fragte sie vorsichtig, woraufhin alle aus dem Wasser ragenden Köpfe heftig nickten.

„Oh, das tut mir leid.“ Janina ließ die Schultern hängen. „Das wollte ich nicht.“ Dann raffte sie sich wieder auf. „Dann machen wir Schluss für heute.“

Ein Aufatmen ging durch die Teilnehmerinnen. Frau Appeldorn begleitete Ute zum Ausstieg aus dem Schwimmbecken.

„Hat sie Ärger mit ihrem Freund?“, fragte Ute.

„Ich weiß gar nicht, ob sie einen Freund hat“, rätselte Elisabeth, als sie sich zu ihnen gesellte.

„Das wäre aber eine Schande“, warf Frau Appeldorn ein. „Janina ist doch eine tolle Frau.“

„Vielleicht wäre er etwas für sie“, meinte Ute, als der Bademeister erschien.

„Hallo, die Damen“, rief er in die Runde und sandte ihnen ein Lächeln, das jeder Zahnpastawerbung den Rang ablief. Seine Mimik änderte sich aber sofort, als er die Trainerin sah. Jetzt wirkte er, als hätte sie ihm sein Lieblingsspielzeug gestohlen.

„So, wie die sich ansehen, wird es nichts mit dem Traumpaar“, stellte Frau Appeldorn fest.

„Das wird sowieso nichts“, meinte Elisabeth, und alle sahen zu ihr. „Wisst ihr es denn nicht?“

Ute und Frau Appeldorn schüttelten die Köpfe.

„Sieht doch ein Blinder mit Krückstock“, Elisabeth genoss ihren Wissensvorsprung sichtlich. „Er steht nicht auf Frauen.“

„Ach, wirklich?“ Frau Appeldorn musterte den Bademeister, der mit der Trainerin in Richtung der Umkleiden verschwand.

„Ja“, bestätigte Elisabeth. „Er lebt doch mit seinem Partner zusammen. Irgend so ein Banker mit jeder Menge Kohle. Ich glaube, sie sind sogar verheiratet.“

„Es sind immer die Bestaussehendsten“, seufzte Ute.

„Mach dir da keine Gedanken.“ Frau Appeldorn winkte ab. „Wir wären auch sonst nicht interessant für ihn.“

„Genau“, bestätigte Elisabeth. „Aber gucken können wir trotzdem.“

Alle kicherten, sammelten ihre Handtücher auf und gingen ebenfalls zu den Umkleiden.

 

Frau Appeldorn trat angekleidet und zum Gehen bereit vor ihre Kabine und schaute sich nach ihren Freundinnen um. Die Trainerin kam ihr angezogen, aber noch mit nassen Haaren, entgegen. Es war klar, dass sie geweint hatte.

„Was ist los, Janina?“, fragte Frau Appeldorn, als sie bei ihr angelangt war.

„Nichts“, antwortete diese und machte Anstalten, in Richtung des Ausgangs zu verschwinden.

„Wenn ich dich so ansehe, merke ich dir aber deutlich an, dass etwas los ist.“ Frau Appeldorn machte einen Schritt auf Janina zu und versuchte, ihren Blick zu erhaschen, aber die Trainerin senkte den Kopf und studierte das Muster der Bodenfliesen. Verstohlen wischte sie sich mit der Hand über das Gesicht.

„Du kannst es mir sagen.“ Frau Appeldorn legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.

Die Trainerin richtete sich wieder auf. „Es ist zum Verzweifeln“, sie seufzte tief.

„Was?“, hakte Frau Appeldorn nach.

„Da will man sich etwas aufbauen, und alle legen einem Knüppel zwischen die Beine.“

„Hat es mit den Plänen für dein Yogastudio zu tun?“, mutmaßte Frau Appeldorn, und die Trainerin nickte.

„Ja, aber lass es gut sein.“ Sie wandte sich ab. „Ich muss los. Wir sehen uns nächste Woche.“

Noch bevor Frau Appeldorn etwas erwidern konnte, war Janina außer Reichweite. Sie blickte ihr noch nach, als Ute und Elisabeth aus ihren Kabinen kamen.

Auch der Bademeister erschien und sah sich suchend um.

„Janina ist gerade weg“, informierte Frau Appeldorn ihn. „Ich dachte, Sie seien befreundet. Jetzt sieht es eher so aus, als ob Sie Streit gehabt hätten.“

Irritiert sah er zu der Fragestellerin auf. „Das geht Sie nichts an“, antwortete er abwesend und verschwand wieder zum Schwimmbecken.

„Das hätte man auch höflicher sagen können“, meldete sich Ute zu Wort.

„Es gab wohl Streit“, erläuterte Frau Appeldorn und sah dem Bademeister nach.

„Das zeigt mal wieder, dass ein knackiger Hintern nichts über den Charakter eines Mannes aussagt.“ Elisabeth grinste.

„Wer will schon Charakter“, warf Ute ein, und alle gackerten los.

Frau Appeldorn betrachtete die lachenden Frauen und beglückwünschte sich innerlich dazu, dem Kulturverein beigetreten zu sein. Sie hatte gute Freundinnen gefunden.

 

Frau Appeldorn fuhr das Auto auf ihre Einfahrt und stoppte den Motor. Die Batterieanzeige verlangte, dass sie den Wagen wieder an die Steckdose anschließen sollte. So öffnete sie das Garagentor und fuhr den Wagen hinein. Dann verband sie ihn mit der Ladebox an der Wand. Als sie das Garagentor hinter sich schloss, kam ihr Nachbar auf sie zu.

„Frau Appeldorn, gut, dass ich Sie antreffe“, sprach er sie auf halbem Weg an.

„Hallo Herr Büyüktürk, gibt es etwas Dringendes?“

„Ja, das kann man so sagen“, stellte er fest, als er bei ihr angelangt war.

„Ach ja?“

„Sie sind schließlich die Verantwortliche für dieses Event mit Ihrem Kulturverein. Ich benötige unbedingt Ihre Meinung zu dem Pressetext, den ich entworfen habe.“

„Darum werde ich mich gleich kümmern.“

„Wenn wir wollen, dass die Lesung ein Erfolg wird, dann müssen wir die Medien rechtzeitig informieren.“

„Ich weiß, lieber Herr Büyüktürk. Ich bin auch wirklich dankbar dafür, dass Sie uns bei der Organisation der Veranstaltung tatkräftig unterstützen. Ich setze mich sofort daran.“

„Dass ein Schriftsteller dieser Güte in unserer Stadt eine Lesung gibt, ist eine Sensation. Da ist es doch selbstverständlich, dass ich mithelfe. Als Germanist kenne ich mich schließlich mit seinen Werken aus.“

„Wie gesagt, wir sind Ihnen sehr dankbar. Ich melde mich heute noch. In Ordnung?“

Er nickte. „Ja, ich erwarte Ihre Anmerkungen.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück zu seinem Haus. Frau Appeldorn sah ihm hinterher, während er durch die Tür verschwand. Hätte sie ihm sagen sollen, dass sie seinen Text schon längst gelesen hatte? Leider war er einfach viel zu trocken. Immerhin hatte sie sich nun noch einige Stunden Karenzzeit verschafft, bis sie sich der Herausforderung stellen musste, den Nachbarn mit ihrer Kritik zu konfrontieren.

 

Sie ging ins Haus und breitete ihre nassen Sachen im Bad aus, damit sie trocknen konnten. Dann ging sie in die Küche, um sich einen Kaffee zuzubereiten. Mit dem Getränk bewaffnet, schlenderte sie zu ihrem Schreibtisch, schaltete den PC ein und rief den Pressetext auf, den ihr der Nachbar geschickt hatte.

Sie las ihn noch einmal, leise vor sich hin murmelnd, und schüttelte mehrfach den Kopf. Zu schwülstig waren die Worte, mit denen Herr Büyüktürk den Schriftsteller Friedrich Meister beschrieb. Natürlich war der frühere Gewinner des Georg-Büchner-Preises eine bekannte Größe in literarischen Kreisen, aber Frau Appeldorn war sich nicht sicher, ob er seitdem überhaupt wieder irgendetwas geschrieben hatte. Schließlich war die Verleihung des Preises an ihn auch schon über zwanzig Jahre her. Aber ihr Nachbar bewunderte Meister. Das war offensichtlich.

Natürlich waren sie und ihre Mitstreiterinnen im Kulturverein sehr dankbar, dass Herr Büyüktürk sich angeboten hatte, seine Kontakte zu nutzen und diese literarische Größe in die Stadt zu locken. Aber es war auch wichtig, das Publikum dazu zu bringen, die Veranstaltung zu besuchen. Frau Appeldorn war sich nicht sicher, ob dieser achtzigjährige Schriftsteller, den nur Literaturbegeisterte kannten, ein größeres Publikum anlocken würde. Auf jeden Fall musste der Pressetext schmissig und modern sein und durfte nicht so klingen wie die Doktorarbeit eines Germanisten. Ihr war bewusst, dass jede Korrektur am Text ihres Nachbarn eine heftige Diskussion hervorrufen würde, aber sie hatte die Verantwortung für diese Veranstaltung. Da durfte sie die Aussicht auf einen Streit nicht behindern. Sie markierte den ersten Absatz im Text und löschte ihn. Dann begann sie zu tippen.

Während sie schrieb, musste sie unweigerlich daran denken, wie sie vor noch gar nicht so langer Zeit im Büro bei Franz Julius GmbH & Co. gesessen hatte. Genauer gesagt war es das Vorzimmer des Seniorchefs gewesen. So viele Jahre hatten sie eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet, und dann, von einem Tag auf den anderen, war alles vorbei gewesen. Sie musste innehalten und sich sammeln, bevor sie weitertippen konnte. Ihr liefen kalte Schauer den Rücken hinunter bei dem Gedanken an das Gespräch mit dem Juniorchef einige Tage nach dem Tod des Seniors. Bedankt hatte er sich für ihre Verdienste. Ha, dieser hinterhältige Mistkerl! Dann hatte er ihr den Ruhestand nahegelegt. Den sie sich schließlich verdient hätte. Sie schüttelte vor Abscheu den Kopf. Verdient hätte sie, dass man ihr eine verantwortungsvolle Aufgabe gab. Nicht, dass man sie auf das Abstellgleis schob.

Sie starrte auf den Text vor ihr auf dem Bildschirm. Wenigstens hatte die Arbeit im örtlichen Kulturverein sie etwas abgelenkt, und sie genoss es, wieder gebraucht zu werden und etwas bewirken zu können. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass die gelegentlichen Veranstaltungen, die sie organisierten, bei Weitem nicht den Herausforderungen gleichkamen, denen sie sich im Berufsleben tagtäglich hatte stellen müssen.

Nachdem sie den geänderten Text an den Absender geschickt hatte, leerte sie den Rest ihres Kaffees. Wann würde es wohl an der Tür klingeln? „Kaum mehr als fünf Minuten“, sagte sie sich selbst und schaute auf die Uhr, um ihre Schätzung später überprüfen zu können.

„Noch nicht einmal drei Minuten“, stellte sie fest, als die Türglocke ausdauernd schrillte. Sie ging zum Hauseingang und fand ihre Vermutung bestätigt. Ihr Nachbar stand davor und wedelte mit einem Blatt.

„Was fällt Ihnen ein“, rief er aus, und Frau Appeldorn konnte nicht umhin zu lächeln, während er da mit hochrotem Kopf stand und mit dem Papier vor ihrem Gesicht herumfuchtelte. Er trug, wie immer, eine ausgebeulte Cordhose, ein hellblaues Hemd und Hausschuhe.

„Sie haben meinen Text komplett verunstaltet“, beschwerte er sich weiter, ohne die Lautstärke zu verringern.

„Kommen Sie doch herein“, flötete sie und trat einen Schritt zur Seite, damit er eintreten konnte. Widerwillig folgte er der Aufforderung, und sie schloss die Tür hinter ihm.

Er wollte schon zu einer weiteren Ausführung ansetzen, aber sie kam ihm zuvor. „Lassen Sie uns in mein Arbeitszimmer gehen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete sie die Tür und ging hinein. Der Nachbar folgte ihr und hielt immer noch das Blatt vor sich wie die Fahne eines Königreiches.

„Setzen Sie sich doch!“ Sie ging um ihren Schreibtisch herum und unterstrich ihre Aufforderung mit einer Handbewegung in Richtung des freien Stuhls. Der Nachbar folgte der Einladung und ließ sich auf den Stuhl fallen, ohne die Hand mit dem Blatt abzusenken. Wieder wedelte er damit. „Wie können Sie …“, setzte er an, doch Frau Appeldorn unterbrach ihn sogleich.

„Lieber Herr Büyüktürk, wir sind Ihnen außerordentlich dankbar, dass Sie es geschafft haben, Herrn Meister für eine Lesung in unserer Stadt zu gewinnen, aber nun müssen wir dafür sorgen, dass dieses Event auch das verdiente Publikum bekommt.“

Der Angesprochene nickte. „Natürlich, deshalb …“

„… deshalb muss der Pressetext auch Menschen ansprechen, die nicht wie Sie in der Literaturszene zuhause sind“, setzte sie seinen Satz fort. „Seien Sie mir nicht böse, aber Ihr Text war nur für Eingeweihte zu verstehen. Ich musste ihn allgemeinverständlicher machen.“

Herr Büyüktürk starrte sie an und ließ dann langsam die Hand mit dem Blatt absinken. Er betrachtete die aufgedruckten Worte. „Aber Friedrich Meister ist einer der größten lebenden Schriftsteller unseres Landes. Er hat seit Jahren keine Lesung mehr gehalten. Dass er nun ausgerechnet zu uns kommt, ist eine literarische Sensation. Aus Ihrem Text lese ich dies aber nicht heraus.“ Wieder hob er die Hand und hielt ihr das Blatt entgegen.

„Doch“, widersprach Frau Appeldorn. „Ich habe sogar das Wort Sensation benutzt.“ Sie zeigte mit dem Finger in Richtung des hochgehaltenen Papiers. „Aber eine Pressemitteilung muss mit den klaren Fakten beginnen, also die Art des Events, Ort und Zeit nennen. Das habe ich vorangestellt. Ich habe Sie sogar zitiert. Haben Sie gesehen?“ Sie deutete mehrfach auf das Blatt.

Ihr Nachbar betrachtete den Text und schien ihn erneut zu lesen. Dann sah er wieder hoch zu ihr. „Sie meinen, das muss so aufgebaut sein?“ Seine Stimme war deutlich leiser geworden.

Sie nickte. „Ja, absolut.“

Er ließ das Blatt wieder sinken und sah zu ihr. „Na gut, dann hoffen wir, dass dies so abgedruckt wird und die Zuschauer zu uns führt.“

„Das wird es“, bestätigte Frau Appeldorn. „Der Chefredakteur der Zeitung ist sehr kulturinteressiert. Es würde mich nicht wundern, wenn er Sie vorab interviewen möchte.“

„Mich?“ Ihr Nachbar sah sie erstaunt an.

„Natürlich Sie. Sie sind doch der Literaturexperte.“ Sie konnte sehen, dass diese Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. Ihr Nachbar richtete sich sichtbar im Stuhl auf. „Nun, ich werde mein Bestes geben.“

„Da bin ich sicher“, bekräftigte sie und musste sich konzentrieren, um nicht zu schmunzeln.

Der Nachbar erhob sich, machte eine kurze winkende Bewegung mit der Hand und war auch schon auf dem Weg aus dem Haus. Frau Appeldorn beeilte sich, ihm zu folgen, und schloss die Haustür hinter ihm.

 

Sie räumte den Staubsauger weg, und ihr Blick fiel auf das Foto, das sie und den Chef zeigte. Der Senior saß an seinem Schreibtisch, während sie ihm die Unterschriftenmappe reichte, wie sie es all die Jahre getan hatte. Sie seufzte. Die Arbeit war ihr Lebensinhalt gewesen. Musste ihr Chef so früh und unerwartet das Zeitliche segnen? Wieder spürte sie den Ärger in sich aufsteigen, als sie an das Gespräch mit dem Junior dachte, als der ihr verkündete, sie solle sich ihren Ruhestand gönnen. Was wusste dieser Schnösel schon? Sie hatte gerade die Krankheit überwunden und fühlte sich bereit und voller Kraft, dem Unternehmen noch lange an vorderster Front zu dienen, und dieser Jüngling katapultierte sie einfach auf die Straße. Sie musste sich schütteln bei diesem Gedanken. Sie öffnete die Tür zu ihrer kleinen Terrasse, an die sich genau vier Meter Garten anschlossen. Sie betrachtete das kurze Stück Rasen und die Pflanzen, die ihn umrahmten. Sie war nie eine wirkliche Garten- oder Pflanzenliebhaberin gewesen, aber wenn es um sie herum sprießte und blühte, konnte sie sich sehr wohl daran erfreuen. Allerdings war sie auch dankbar, dass ihre Freundinnen den Kontakt zu diesem Rentner für sie hergestellt hatten, der sich nun regelmäßig zum Freundschaftspreis um ihr bescheidenes Grün kümmerte. Sie nahm die Decke von ihrem Liegestuhl, setzte sich hinein und legte sich die Decke wieder auf die Beine. Sie war nun auch eine Rentnerin, auch wenn sie diesen Begriff nicht gerne benutzte. Sie dachte an den älteren Herren, der ihre Blumen pflegte. Was hatte sie mit ihm gemein? Na gut, sie war auf dem Papier im Rentenalter, aber das hieß doch nicht, dass sie nun nichts mehr tun konnte. Sie atmete tief ein. Dann griff sie nach ihrem Buch und schlug die Seite auf, an der das Lesezeichen herausragte. Sie lächelte in sich hinein, als sie kurz daran dachte, was wohl ihr Nachbar sagen würde, wenn er wüsste, dass sie lieber diese unterhaltsamen Krimis las, die kaum weiter von der Hochliteratur entfernt sein konnten, die Herr Büyüktürk so ausgiebig studierte. Ihr Nachbar entsprach schon eher dem Bild, das sie von einem Rentner hatte. Als emeritierter Professor für Germanistik hatte er zudem auch etwas vom Klischee eines schusseligen Professors, wie man es aus Filmen kannte. Wieder schmunzelte sie und vertiefte sich in die Geschichte um eine Hobbydetektivin, die in einem Dorf am Niederrhein in einen Mordfall stolperte.

Als das Telefon klingelte, schreckte sie auf. Sie musste eingeschlafen sein. Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Boden neben ihr. Sie griff danach und hoffte, noch die Stelle zu finden, bis zu der sie gelesen hatte, während das Telefon deutlich ihre Aufmerksamkeit verlangte. Hastig steckte sie das Lesezeichen hinein.

„Ich komme ja schon“, sagte sie vor sich hin und hob sich aus dem Liegestuhl. An der Quelle des nervenden Geräusches angekommen, blickte sie auf das Display und seufzte. Sie nahm das Gerät und drückte auf den grünen Knopf. „Hallo, Annemie“, begrüßte sie ihre Schwester. „Welche Überraschung.“

„Hallo, Mareike. Kann ich mir denken, dass es eine Überraschung für dich ist, dass ich anrufe. Du scheinst deine Familie schließlich gänzlich vergessen zu haben.“

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Frau Appeldorn, obwohl sie natürlich wusste, wieso ihre Schwester diese Gedanken hegte.

„Weil du dich schon ewig nicht mehr gemeldet hast. Das weißt du genau. Du hattest versprochen, mir regelmäßig zu sagen, wie es dir geht.“

„Mir geht es gut.“

„Was hat der Arzt denn gesagt?“

„Was soll er schon gesagt haben. Ist alles gut.“

„Mareike, du darfst das nicht so auf die leichte Schulter nehmen. Du hattest Krebs, verdammt nochmal.“

„Die Betonung liegt auf hatte.“

„Ja, aber er kann wiederkommen.“

„Ich kann auch von einem Bus überfahren werden.“

„Jetzt siehst du, warum ich mir Sorgen um dich mache. Du nimmst das einfach nicht ernst.“

Frau Appeldorn atmete tief ein. „Liebes Schwesterchen, jetzt höre mir mal gut zu! Ich hatte Krebs. Ich. Nicht du. Ich muss damit leben, und aktuell geht es mir gut. Ich gehe regelmäßig zur Nachuntersuchung, und bis jetzt ist alles ohne Befund. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass er zurückkommt. Also möchte ich das Leben genießen und nicht tagtäglich darüber nachdenken, dass dieses vielleicht tödliche Teufelszeug irgendwann wieder erscheint. Wenn du also wissen willst, warum ich mich nicht bei dir melde, dann weißt du jetzt, warum. Weil ich mich nicht ständig damit beschäftigen will und es belastend genug ist, mich selbst immer wieder daran zu erinnern, worauf es im Leben ankommt. Da schaffe ich es nicht auch noch, dich immer wieder beruhigen zu müssen. Also, es geht mir gut. Kapiere das endlich!“

Sie hörte nur leises Atmen aus dem Telefon.

„Was macht mein Patenkind?“, lenkte sie ab und schlug damit einen versöhnlicheren Tonfall an.

Ihre Schwester schien einen Moment zu benötigen, um den Themenwechsel zu verarbeiten. „Die ist wie du. Meldet sich auch kaum noch, seit sie in Berlin wohnt.“

Frau Appeldorn hatte plötzlich Mitleid mit ihrer Schwester. Im Gegensatz zu ihr selbst, bei der immer der Beruf im Mittelpunkt des Lebens gestanden und es nie Zeit für den Aufbau einer Familie gegeben hatte, war das Familienleben bei Annemie genau das, worum sich alles drehte. Seit fast vierzig Jahren war sie mit ihrem Mann verheiratet und hatte eine Tochter zur Welt gebracht. Frau Appeldorn konnte mitfühlen, dass es für Annemie schwer sein musste, wenn das Kind weit weg wohnte, sie die Tochter kaum zu Gesicht bekam und dann ihre ältere Schwester auch noch schwer erkrankte. Sie musste große Verlustängste haben.

„Dann fahrt sie doch mal besuchen“, schlug Frau Appeldorn vor. „Berlin ist eine tolle Stadt.“

„Ich glaube, Lea wäre nicht so begeistert, wenn wir plötzlich auftauchen würden.“

„Ihr müsst ihr ja nicht auf die Pelle rücken. Schaut euch einfach die Stadt an. Würde euch sicher guttun, mal wieder aus eurem Kaff herauszukommen.“

„Wir mögen unser Kaff.“

Annemie und ihr Mann waren schon vor Leas Geburt in ein Dorf im Münsterland gezogen. Frau Appeldorn hatte nie verstanden, warum man ausgerechnet in dieser Einöde leben wollte. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie es ihr dort ergehen würde, wo es keine beruflichen Herausforderungen mehr für sie gab. Dort waren befriedigende Alternativen sicher noch schwerer zu finden als hier. Auch wenn ihr Wohnort ebenfalls keine Großstadt war, so lag die Stadt im Einzugsbereich größerer Städte und hatte ein weitaus vielfältigeres kulturelles Leben als die kleine Ortschaft, in die es Annemie gezogen hatte.

„Aber was hältst du davon, wenn wir dich mal besuchen kommen“, hörte sie ihre Schwester sagen und verfluchte sofort, sie auf die Idee einer Reise gebracht zu haben.

„Ja, das wäre sicher schön …“, stammelte sie. „Aber ihr wisst ja, ich bin immer ziemlich eingespannt. Wir müssten mal schauen, wann es einen passenden Termin gibt.“

„Du bist doch jetzt Rentnerin. Was soll es denn da noch an Verpflichtungen geben?“

„Ich bevorzuge den Begriff Privatière. Und du weißt, dass ich sehr in der hiesigen Kulturszene aktiv bin.“

„Pah, alles Ausreden, weil du uns nicht bei dir haben willst.“

„Nein, so ist es nicht …“

„Ich spreche mal mit Bernhard, wann es passen könnte, und melde mich. Mach’s gut, Schwesterchen.“

Frau Appeldorn wollte noch etwas einwenden, aber da hatte ihre Schwester das Gespräch bereits beendet. Sie seufzte. Sie liebte ihre Schwester, schließlich hatten sie nur sich. Aber der Gedanke, sie und ihren Mann bei sich zu Besuch zu haben, behagte ihr gar nicht. Sie stellte das Telefon in seine Halterung und hoffte, dass Annemie die Idee vergessen würde.

II

Bademeister tot aufgefunden prangte auf der ersten Seite des Lokalteils der Zeitung, und Frau Appeldorn stoppte in ihrer Bewegung. Die Kaffeetasse schwebte in halber Höhe über dem Tisch. Langsam setzte sie die Tasse wieder ab und nahm die Zeitung in beide Hände, um den Artikel genau studieren zu können.

Am gestrigen Abend sei der Bademeister Fabian H. auf der Wiese vor dem Schwimmbad tot aufgefunden worden. Allem Anschein nach wurde er erschlagen. Die Polizei bat alle Personen, die etwas gesehen hatten, sich zu melden.

Frau Appeldorn ließ das Blatt sinken und starrte auf ihre Küchenschränke. Der Bademeister tot? Sie hatten ihn am gestrigen Morgen doch noch gesehen. Und nun soll dieser nette Kerl nicht mehr da sein, der immer so freundlich zu ihnen gewesen war? Er war ein Bild von einem Mann gewesen. Sie schüttelte sich, nahm ihre Kaffeetasse und leerte sie mit einem Zug. Wie schrecklich.

Als sie ihre Tasse abstellte, kam ihr wieder der offensichtliche Streit in den Sinn, den Janina mit dem Bademeister gehabt hatte. Sie wird doch nichts mit seinem Tod zu tun haben, schoss es ihr durch den Kopf. Sie tadelte sich für den Gedanken, aber konnte ihn dennoch nicht vollständig vertreiben. Was, wenn doch? Oder was, wenn die Polizei von dem Streit erfuhr und Janina in ihren Fokus geriet? Nein, die Trainerin konnte es nicht gewesen sein. Sie hatte sie so engagiert und mitfühlend erlebt. Es passte nicht zu ihr, dass sie jemanden erschlagen würde. Aber die Vermutung war eine Sache. Es genau zu überprüfen, war die andere. Frau Appeldorn erhob sich entschlossen vom Frühstückstisch.

Kurze Zeit später war sie angekleidet und nahm ihr Markenzeichen aus der Schachtel, den roten Hut, den sie einst bei einer Reise mit ihrem verstorbenen Chef erworben hatte, und der sie seitdem begleitete. Sie setzte ihn auf und betrachtete sich im Spiegel. Sie trug den blauen Rock, der ihre Knie umspielte, eine weiße Bluse und einen Blazer mit einem blau-weißen Muster. Die goldene Kette rundete das Bild ab. Sie griff ihre Handtasche und war bereit, die Trainerin zu befragen, um jeden Zweifel auszuräumen.

Sie öffnete die Haustür und schritt hinaus. Als sie gerade das Garagentor öffnete, kam ihr Nachbar aus seinem Haus.

„Frau Appeldorn, gut, dass ich Sie antreffe“, verkündete er, während er auf sie zukam.

„Ich bin etwas in Eile“, ließ sie ihn vorsorglich wissen.

„Nur ganz kurz.“ Er kam weiter auf sie zu und hielt ihr die Zeitung entgegen. Wieder trug er seine altbekannte Cordhose und Hausschuhe.

„Haben Sie auch von dem Mord gelesen?“, fragte sie.

„Welcher Mord?“ Er sah sie überrascht an. „Nein, es betrifft eher das, was ich nicht gelesen habe. Sie haben gar nichts über unser Event geschrieben.“

„Herr Büyüktürk, wir haben die Pressemeldung erst gestern Nachmittag abgeschickt. So schnell geht das nicht. Es wird einige Tage dauern, bis sie dies aufgreifen.“

„Dann hoffe ich, dass Sie recht haben.“ Er beobachtete, wie sie das Garagentor weiter öffnete. „Welchen Mord meinen Sie denn?“

Sie zeigte mit dem Finger auf die Zeitung. „Erste Seite im Lokalteil. Der tote Bademeister.“

Er blätterte durch die Zeitung, während sie das Ladekabel ihres Wagens von der Ladebox löste und im Kofferraum verstaute. Sie konnte sehen, dass er den genannten Artikel gefunden hatte und anfing zu lesen.

„Ich muss los“, holte sie ihn aus seinen Gedanken. „Ich muss da etwas klären.“

„Zu dem Mord?“, fragte er und sah sie mit einem Blick an, der zwischen fragend und skeptisch hin und her schwankte.

„Ja, irgendwie schon.“

„Wollen Sie sich etwa wieder einmischen? Sie wissen, wie es beim letzten Mal geendet hat.“

„Wie denn? Wir haben den Mörder überführt.“ Sie konnte nicht verhindern, dass Stolz in dieser Aussage mitschwang.

„Ja, okay. Es war aber auch ganz schön gefährlich.“

Sie grinste. „Wollen Sie mitkommen und mich wieder beschützen?“ Sie sendete ihm einen herausfordernden Blick, und er schien zu wirken. Der Nachbar verzog das Gesicht, als ob er darüber nachdenken würde.

„Geben Sie sich einen Ruck“, setzte sie nach. „Oder ich fahre jetzt ohne Sie.“

„Wenn Ihnen etwas passiert, und ich hätte es verhindern können, würde ich mir das nie verzeihen“, konstatierte er. „Ich brauche nur einen Moment.“ Mit wenigen Schritten war er in seinem Haus verschwunden.

Frau Appeldorn stieg in den Wagen und rangierte ihn aus der Garage. Dann stieg sie wieder aus, um das Tor zu schließen. Als sie hinter dem Steuer Platz nahm, kam Herr Büyüktürk aus seinem Haus. Er hatte die Hausschuhe gegen Straßenschuhe getauscht, und zur Cordhose trug er nun sein obligatorisches Tweedsakko. Er öffnete die Tür auf der Beifahrerseite und stieg ein.

„Wohin geht es denn?“, fragte er, als Frau Appeldorn den Wagen auf die Straße lenkte.

„Zu unserer Gymnastiktrainerin.“

„Warum das?“

Sie erläuterte ihm die Hintergründe, und er nickte, als sie geendet hatte.

„Ein guter Anfang“, stellte er fest, und Frau Appeldorn musste wieder lächeln.

 

Sie hielt an der Straße bei einem Fitnessstudio. Herr Büyüktürk sah von dem großen Schild am Haus zu seiner Begleiterin. „Hier wollen Sie sie treffen?“, fragte er.

Frau Appeldorn nickte. „Ja, sie arbeitet noch einige Stunden in der Woche in diesem Studio, bis sie ihr eigenes eröffnen kann. Ich hoffe einfach, dass sie jetzt hier ist.“

Sie stiegen aus und gingen auf das Gebäude zu. Es hatte eine große Fensterfront, durch die man hineinsehen und die Leute bei ihren Übungen an diversen Geräten beobachten konnte. Sie öffneten die Glastür und gingen auf eine lange Theke zu, an der ihnen ein durchtrainierter, junger Mann entgegenlächelte.

„Guten Tag, die Herrschaften“, begrüßte er sie. „Sind Sie hier, um eine kostenlose Probestunde auszumachen?“

Frau Appeldorn schüttelte heftig den Kopf. „Nein, Gott bewahre! Wir sind auf der Suche nach Janina. Ist sie hier?“

Er betrachtete sie skeptisch und sah dann zu ihrem Nachbarn. Auch ihn begutachtete er mit einem Blick, der Missfallen ausdrückte.

„Worum geht es denn?“

„Wir kennen uns. Es ist privat.“ Frau Appeldorn sah sich um und prüfte, ob sie die Gesuchte entdecken konnte, aber es waren nur ein paar Männer da, die an Geräten schwitzten.

Der Mann an der Theke schaute auf die große Uhr über ihm an der Wand. „Janina hat noch einen Kurs. Der ist in fünf Minuten zu Ende. Wenn Sie so lange warten wollen.“ Er wies mit der Hand auf einige Hocker an der Theke.

Frau Appeldorn sah zu ihrem Nachbarn, und der zuckte mit den Schultern. Dann zogen sie sich jeweils einen Hocker heran und setzten sich.

„Kann ich Ihnen einen unserer Powerdrinks anbieten? Wir haben Maracuja, Granatapfel oder Ananas-Kokos-Flavour.“

„Für mich nicht“, antwortete Frau Appeldorn.

„Ananas-Kokos?“, fragte dagegen ihr Nachbar, und sie sah ihn überrascht an.

„Ist unser Verkaufsschlager“, ergänzte der muskulöse Bursche.

„Probiere ich mal.“ Der Nachbar blickte zu Frau Appeldorn. „Was ist? Klingt doch lecker.“

Sie lachte und beobachtete, wie der Mann hinter der Theke das Getränk mixte und vor Herrn Büyüktürk hinstellte. „Lassen Sie es sich schmecken.“

Während der Nachbar an seinem Getränk saugte, sah sich Frau Appeldorn um. Vor ihr erstreckte sich ein großer Saal, der mit den Trainingsgeräten der unterschiedlichsten Art vollgestellt war. Die breite Fensterfront ermöglichte beim Training einen Ausblick auf das Geschehen draußen. Das hatte sie ja schon von außen festgestellt. Komisch, dass es die muskelbepackten Männer nicht störte, dass sie jeder beobachten konnte, wie sie sich an Maschinen abmühten. Ihr selbst wäre das jedenfalls unangenehm. Aber der Gedanke, dass sie dieser Art von Körperertüchtigung nachgehen würde, war sowieso völlig abwegig. Sie ließ den Blick in den hinteren Bereich des Saales schweifen. Dort lehnten und hingen verschiedene Hanteln und Gewichte. Zudem war ein großer Teil der Wand mit einem Spiegel versehen. Ein Mann stand davor und hob die Hantel in einer Hand langsam hoch, während er sich dabei im Spiegel betrachtete. Dann senkte er den Arm auf die gleiche Weise, ohne sich selbst aus den Augen zu verlieren. Frau Appeldorn überlegte, ob dies nun eine Notwendigkeit war, um diese Übung korrekt durchzuführen, oder einfach nur der Eitelkeit des Trainierenden geschuldet war.

Neben der Spiegelwand führten mehrere Türen in einen hinteren Bereich. Eine davon öffnete sich, und einige erhitzte Frauen in Sportkleidung kamen heraus und wischten sich den Schweiß mit Handtüchern ab. Hinter den Frauen kam Janina aus dem Raum. Sie sprach kurz mit den anderen Frauen, die dann entweder durch eine der anderen Türen verschwanden oder sich an verschiedene Geräte begaben, um dort mit ihren Übungen zu beginnen.

Janina kam auf den Eingangsbereich zu, und als sie nahe genug war, konnte man ihren überraschten Gesichtsausdruck erkennen.

„Mareike? Ich hätte nie gedacht, dass du in ein Fitnessstudio gehst.“ Sie trat hinter die Theke, nahm eine Trinkflasche aus einem Fach, füllte sich ein Getränk darin ab und nahm einen kräftigen Schluck.

Frau Appeldorn sah die Trainerin an. „Nein, liebe Janina, da liegst du ganz richtig. Ich bin nicht zum Trainieren hier. Ich wollte mit dir sprechen.“

Janina stockte in ihrer Bewegung und machte einen Schritt von hinten auf die Theke zu. „Ach ja?“

Frau Appeldorn nickte in Richtung des jungen Mannes hinter der Theke, der Gläser spülte. „Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

Die Trainerin zeigte auf einige Stühle im Eingangsbereich. „Dort können wir uns setzen.“

Frau Appeldorn tippte ihren Nachbarn an, der gedankenverloren an seinem Getränk schlürfte. „Kommen Sie?“

Er schrak auf.

Frau Appeldorn lächelte. „Scheint aber gut zu schmecken.“

Der Nachbar sah auf das leere Glas vor ihm, dann wieder zu ihr, dann nickte er.

„Kommen Sie“, forderte sie ihn erneut auf und beide rutschten von ihren Hockern, um der Trainerin zu folgen.

---ENDE DER LESEPROBE---