Tote Models nerven nur - Vera Nentwich - E-Book

Tote Models nerven nur E-Book

Vera Nentwich

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  • Herausgeber: Vera Books
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Was macht man, wenn die Erzfeindin tot im Teich liegt? Richtig! Man sucht auf eigene Faust nach dem Mörder. Das zumindest denkt sich Sabine, als alle aus ihrem Dorf sie für die kaltblütige Killerin von Supermodel Judith halten. Nun stellt sich die Frage, ob Sabines Ex-Freund der Polizist Jochen ihr unter die Arme greifen wird oder ob Jago, der gutaussehende Verlobte von Judith, ihr in mehr als einer Weise behilflich sein kann. Leserstimmen: »Flapsige Dialoge, eine supersüße Oma und Bienes Temperament lassen bis zum Schluss keine Langeweile aufkommen.« »Ein spannungsbeladener Krimi mit außergewöhnlichen Protagonisten, die das Leserherz im Sturm erobern werden.« »Miss Bienchen Marple auf der Suche nach dem wahren Modelmörder.....Spannend und unterhaltsam bis zur letzten Seite.« Wer lustige Krimis für Erwachsene mag, wird Biene Hagen lieben. Die ideale Urlaubslektüre muss nicht an der Nordsee oder in Bayern spielen. Grefrath am Niederrhein kann locker mithalten. Greifen Sie gleich zu und erleben sie entspannte Stunden mit dem neuen Abenteuer von Biene Hagen.

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I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
Die Autorin
Bienes zweiter Fall

Tote Models nerven nur

Vera Nentwich

I

Sie ist tot. Verdammt! Ich wollte mich entschuldigen, du blöde Kuh. Was mache ich jetzt nur? Die Polizei rufen wäre logisch. Aber ich zögere. Vor mir liegt die Leiche von Judith Schöller mit dem Kopf im Teich. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das sportliche Starmodel mitten im Schwingbodenpark einen plötzlichen Herzinfarkt bekommen hat. Nein, die Zeichen deuten auf einen gewaltsamen Tod hin. Und wenn man die Menschen in Grefrath fragen würde, wer Judith am meisten hasst, dann würde wahrscheinlich nur ein Name fallen: meiner. Schließlich musste sie erst vor zwei Tagen wegen mir ins Krankenhaus gefahren werden. Das sieht nicht gut aus. Gar nicht gut.

Es war vor der Bäckereifiliale am Deversdonk. Ich wollte mir eine Latte macchiato im Becher holen. Ich liebe es, mit so einem coolen Becher zur Kanzlei zu marschieren. Wenigstens für einen kurzen Moment habe ich dann das Gefühl, doch kein so langweiliges Leben zu führen. Da erschien Judith auf der Bildfläche. Wenn ich geahnt hätte, dass sie demnächst als Leiche vor mir liegen würde, hätte ich den Kaffeebecher sicher nicht nach ihr geworfen. Judith Schöller, das Supermodel aus Grefrath, das es in der großen weiten Welt zu etwas gebracht hat, in Begleitung eines erschreckend gutaussehenden Mannes, und ich, Sabine Hagen, die es nie aus der Gemeinde Grefrath hinausgeschafft hat. Als Judith vor mir stand, kamen wieder alle Erinnerungen aus unserer Jugendzeit hoch. Wie sie mir damals in den Rücken gefallen war. Sie, die ich doch für meine beste Freundin gehalten hatte. Als sie mich dann mit den Worten begrüßte »Da ist ja auch Biene, das Landei« konnte ich nicht anders. Ich musste etwas tun, und da ich gerade den Becher mit der noch dampfenden Latte macchiato in der Hand hielt, war es naheliegend, diesen nach ihr zu werfen. So flog er unaufhaltsam auf ihr makelloses Gesicht zu. Leider verfehlte der Becher mein eigentliches Ziel und traf nur ihren Oberkörper, der nun durch einen größer werdenden Kaffeefleck wenigstens etwas von seiner Perfektion einbüßte.

»Bist du wahnsinnig, du blöde Gans? Das Shirt ist von Armani! Ich werde dir zeigen …« Judith machte einen Schritt auf mich zu und ließ mich in Abwehrhaltung gehen. Doch ihr charmanter Begleiter hielt sie im letzten Moment fest. »Sie hat es bestimmt nicht so gemeint.« Eigentlich sagte er »Ssie hatt esss besstimmt nikt sso gemeint.« Sein spanischer Akzent war unüberhörbar und richtig süß. Hatte etwas von einem jungen Antonio Banderas in Zorro. »Doch, sie hat das so gemeint«, stellte ich fest und versuchte meiner Stimme einen gelassenen Unterton zu geben. »Lass mich los!«, keifte Judith ihren Lover, oder was immer er war, an. »Ja, lass sie ruhig los.« Ich winkte ihr zu, so wie es Tom Cruise in den Actionfilmen tut, wenn er sich sicher ist, dem Gegner gleich den Todesstoß verpassen zu können. Lässig zückte ich dabei mein Handy. Das gab ein erstklassiges Foto für meinen Blog. Grefraths Starmodel, wie es die Contenance verliert. Dafür sollte ich mindestens den Pulitzer-Preis bekommen. Aber der süße Spanier hinderte sie mit aller Kraft daran. Ich machte erst mal ein Foto von ihm. »Bitte kein Foto«, flehte er und hielt sich die freie Hand vor das Gesicht. Doch die verbliebene Hand reichte nicht aus, um Judith festzuhalten. Sie riss sich von ihm los und stürzte sich auf mich. Ich konnte einige Male auf den Auslöser drücken, bis das Starmodel zum Würgegriff ansetzte. Meine Hände waren damit beschäftigt, das Handy nicht zu verlieren. Aber die Beine waren frei. Eines nutzte ich, um ihr einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein zu verpassen. Sie jaulte auf und der Würgegriff löste sich etwas. Es gelang mir, mich zu befreien und heftig nach Luft zu schnappen. Die Verschnaufpause dauerte aber nur einige Sekunden, denn Judith setzte zum erneuten Angriff an. Ihre Augen funkelten so wütend, dass ich jeden Moment mit einem Laserstrahl rechnete, der mir die Birne zum Schmelzen bringen würde. Glücklicherweise erwachte der Spanier aus seiner Schockstarre und versuchte nun wieder, Judith von einem Mord abzuhalten. Sie kreischte in einem Ton, der alles Glas im Umkreis zum Zerplatzen bringen müsste, es aber zu meiner großen Überraschung nicht tat.

Da ist sie im wahrsten Sinne des Wortes noch quietschlebendig gewesen.

Ich sehe noch die Menschenmenge, die sich um uns versammelt hatte. Mann, was haben wir denen eine Show geliefert, nicht wahr Judith? In Grefrath passiert schließlich nicht so viel und mit unserer daraufhin folgenden Prügelei kann man die Gespräche für mindestens eine Woche interessant gestalten. Ich hatte mein Handy in die Hosentasche gesteckt und war abwehrbereit. Judiths Sprung konnte ich nach rechts lenken, so dass sie meinen Hals nicht zu fassen bekam. Ich erreichte dafür wenigstens ihre Taille und griff zu. Wir fielen. Einer der Stühle flog zur Seite und die Menschenmenge jauchzte auf. Wir rollten hin und her. Gerade war dummerweise Judith über mir. Ihr schönes Armani-Shirt war nun nicht mehr nur durch einen großen Kaffeefleck veredelt, sondern hatte auch durch einen Riss von unten links in die Mitte einen extravaganten Touch bekommen. Sie sah das aber anders. Statt sich darüber zu freuen, dass sie durch mich als Modeikone in die Geschichte eingehen könnte, versuchte sie mich zu würgen. Ich bin nicht sonderlich gelenkig, daher verlangte mir die Abwehrbewegung alles ab. So schwungvoll ich nur konnte, versuchte ich meine Beine und den Po nach oben zu schleudern. Okay, es wirkte nicht so recht wie ein Schleudern. Bei den vermaledeiten Bauch-Beine-Po-Übungen versage ich immer jämmerlich. Aber auch wenn es kein wirkliches Schleudern wurde, so genügte die Bewegung dennoch, Judith etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nun nur noch eine beherzte Seitwärtsbewegung. Es klappte. Judith löste sich von meinem Hals und fiel zur Seite. Es gab ein dumpfes Klong. Dann war Stille. Mühsam befreite ich mich von Judiths Extremitäten, die auf mir lagen. Sie wehrte sich nicht. Stattdessen lag sie reglos vor mir. Genau wie jetzt auch.

»Du hast sie umgebracht«, stöhnte der süße Spanier auf und kniete sich zu ihr. Sein Blick sah mich mit einer Mischung aus Empörung und etwas an, das ich nicht einordnen konnte. Verdammt, ein Katzenbaby hätte in diesem Moment keine tieferen Gefühle in mir auslösen können. »Hab ich gar nicht«, stellte ich trotzig fest. Und um dies zu beweisen, rüttele ich kräftig am leblos daliegenden Körper des Starmodels. Er bewegte sich tatsächlich nicht.

Ich erinnere mich, wie ich kurz befürchtete, sie wirklich umgebracht zu haben. War das eine Art Prophezeiung?

Ich versuchte aufzustehen. Die Menschen starrten mich an. Der Spanier kniete neben meiner Rivalin und legte sein Ohr an die Stelle, wo bei anderen Menschen das Herz ist. Ich bezweifelte, dass dort auch bei Judith etwas Menschliches zu hören war. Ich wurde eines Besseren belehrt, denn er rief erleichtert aus: »Sie lebt!«

Vor zwei Tagen habe ich noch mal Glück gehabt und sie nicht umgebracht. Nicht dass ein falscher Eindruck entsteht: Ich neige nicht zur Mörderin. Ich habe sie auch jetzt nicht umgebracht. Ehrlich. Wenn eine Fliege in meinem Schlafzimmer nervt, reiße ich bei kältesten Temperaturen alle Fenster und Türen auf, bis sie mein Zimmer freiwillig verlassen hat. Nie käme ich auf die Idee, sie zu töten. Ich bin wirklich friedliebend. Na gut, ich hasse Judith. Ich habe sie gehasst. Aber umbringen? Nein, das kann niemand ernsthaft glauben.

Aber der feurige Spanier, der sich so herzzerreißend um Judith kümmerte, kannte mich nicht und hatte nun einen denkbar schlechten ersten Eindruck von mir bekommen. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Aber schließlich hatte Judith auch die Nachricht erreicht, dass sie noch lebte, denn sie bewegte sich. Und sie stöhnte. »Bleib liegen Schatz«, forderte der Spanier sie auf. Schatz? Ich muss jetzt noch den Kopf schütteln, wenn ich daran zurückdenke. Dann zog er zu allem Überfluss auch noch sein schickes Jackett aus, knubbelte es zusammen und legte es ihr unter den Kopf. Dadurch kam ich wenigstens in den Genuss, seinen makellosen Oberkörper genauer in Augenschein nehmen zu können. Ich wollte unbedingt noch ein Foto machen. Als ich mein Handy wieder aus der Hosentasche holte, schimpfte der Spanier los. Er war wirklich wütend, denn er verfiel in seine Muttersprache. Ich verstand kein Wort, aber wütend war er definitiv. Das merkte ich daran, dass er aufsprang und versuchte, mir das Handy zu entreißen. Ich konnte aber noch ein paar Mal auf den Auslöser drücken. Gerade als er mich fast erreichte, kam Bewegung in die Menschenmenge. Sie gab einen Gang frei und hindurch kamen zwei Polizisten.

»Was ist denn hier los?« Jochen stand da in seiner blauen Uniform und an seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er versuchte, das Bild, das sich ihm bot, zu analysieren. Dann erblickte er mich. Ich muss dazu sagen, dass Jochen und ich eine wechselvolle Geschichte haben. Wir kennen uns von Kindheitstagen an. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche. Wir waren auch schon einige Male ein Paar, aber das ist nie lange gutgegangen. »Biene? Was ist hier los?« Der Spanier ließ mein Handy los und ich steckte es schnell wieder in die Hosentasche. »Tja, wie soll ich das sagen«, stammelte ich. Ja, wie sollte ich das sagen, damit ich nicht allzu schlecht dastand? Es fiel mir erschreckend schwer. Nun hatte Jochen die vor mir liegende Judith entdeckt. »Was hast du getan?«, fragte er mich. Noch bevor ich die Empörung über diese Unterstellung äußern konnte, beugte er sich zu ihr. »Judith? Kannst du sprechen?« Judith nickte und öffnete den Mund. Ich konnte nicht hören, was sie sagte. Sie zeigte aber mit einem Finger sehr energisch in meine Richtung. »Der Krankenwagen ist gleich da«, sagte Jochen und drehte sich dann zu mir. »Komm mal mit!« Er packte mich an der Schulter und schob mich durch die Menschenmenge.

»Was hast du verdammt nochmal getan?« Jochen schaute mich mit einem Blick an, den ich nicht so recht deuten konnte. Wir hatten gerade wieder eine Getrennt-Phase in unserer wechselvollen gemeinsamen Geschichte. Und wie immer hatte ich Schluss gemacht. Eine Tatsache, die Jochen sich jedes Mal schwer zu Herzen nahm. Ich sollte also alle seine Blicke kennen, aber den konnte ich nicht einordnen. »Was ist los mit dir? Du bringst dich in Teufels Küche!« Immerhin schien er sich aber noch Sorgen um mich zu machen. »Wieso schimpfst du mit mir? Die blöde Zicke hat mich beleidigt und gewürgt. Schau hier.« Ich zeigte ihm meinen Hals in der Hoffnung, er würde noch Würgemale erkennen können. »Da ist nichts.« »Sie hat mich aber gewürgt. Ich konnte mich nur knapp befreien.« »Und dann versuchst du, sie umzubringen?« »Also das ist jetzt echt übertrieben. Sie ist auf mich losgegangen und ich habe mich nur gewehrt. Dabei ist sie gegen irgendwas geknallt. Das war wirklich nicht meine Schuld.« »Ja, ja, es ist ja nie deine Schuld. Jeder weiß doch, dass du Judith zutiefst hasst und ihr die Pest an den Hals wünschst. Was soll ich denn da denken, wenn ich hier ankomme und du stehst über der leblosen Judith?« »Jetzt hör aber mal auf. Du denkst doch nicht wirklich, dass ich ihr etwas antun würde?« »Wieso nicht? Hast du doch oft genug angedroht.« »Das, das war wirklich nur Spaß«, murmelte ich, und wenn ich Pinocchio gewesen wäre, hätte meine Nase auf einen Meter anwachsen müssen. Nicht auszudenken, was er sagen würde, wenn er mich jetzt hier neben der Leiche stehen sehen würde.

Jeder in Grefrath weiß, dass Judith und ich in einem immerwährenden Streit verbunden sind. Ich hasse diese blöde Zimtzicke, seit sie überall rumerzählt hat, mein Vater sei an dem Unfall schuld gewesen, bei dem meine Eltern und das Ehepaar Wolters ums Leben gekommen sind. Wie konnte sie das tun? Schließlich war sie damals meine beste Freundin gewesen. Aber seitdem ist sie für mich gestorben und unser ewiger Streit begann. Wäre sie doch in Mailand geblieben, oder wo sie sonst gerade so jetsetete. Aber ich beteuere noch einmal, Mord gehört nicht zu meinem Repertoire. Ich muss allerdings zugeben, dass es vorgestern von außen betrachtet anders ausgesehen haben musste.

»Wenn sie dich anzeigt, Biene, dann kriegst du richtig Ärger. Körperverletzung ist kein Pappenstiel.« Jochen ist die Korrektheit in Person. Welch eine Herausforderung muss ich für ihn sein? »Soll sie ruhig. Dann zeige ich sie auch an. Schließlich hat sie mich beleidigt. Es gibt lauter Zeugen.« »Ach Biene.« Jochen seufzte. Wie meinte er das? Er musste doch nicht wegen mir seufzen. Ich wollte gerade etwas sagen, als der Krankenwagen eintraf und die Sanitäter zu Judith stürmten. »Wir reden später«, sagte Jochen und wendete sich ebenfalls dem Geschehen zu.

Die Sanitäter packten Judith auf eine Trage, während diese theatralisch litt und laut aufstöhnte. Ich hatte große Lust, ihr noch einen Schlag zu verpassen, damit sie wirklich etwas zu leiden hatte. Blöde Kuh. Jochen sprach kurz mit ihr, dann kam er wieder auf mich zu. »Wie es scheint, hast du Glück. Sie wird keine Anzeige erstatten, wenn du dich bei ihr entschuldigst.« Ich starrte ihn an. Er schien das ernst zu meinen. »Ich mich entschuldigen? Niemals!« »Biene, sei vernünftig. Wenn sie dich anzeigt, kriegst du richtig Ärger.« »Wir müssen los.« Ein Sanitäter winkte Jochen zu. Der winkte zurück, die Sanitäter stiegen in den Krankenwagen und fuhren los. Anscheinend hatte ich noch mal Glück gehabt. Vorerst. Es sollte ja schlimmer kommen, aber das ahnte ich da noch nicht.

Der Spanier stand etwas bedröppelt da und schien mit sich zu ringen, was er nun tun sollte. Ich hätte ihm einen Tipp geben können. »Vergiss die blöde Zicke«, hätte ich ihm geraten. Aber ich war mir recht sicher, dass er dies in diesem Moment nicht hören mochte. Er sprach mit Jochen und stieg dann in seinen edlen Sportwagen. Hatte nicht James Bond das gleiche Model? Der Motor startete und mit einem leisen Blubbern setzte sich das Traumauto in Bewegung Richtung Krankenhaus in Kempen.

Die Schaulustigen gingen wieder ihres Weges. Einige setzten sich zurück an die Tische in der Bäckerei und begannen, das Geschehene genauer zu erörtern. Andere wendeten sich wieder ihren Besorgungen zu. Ein normaler Dienstagmorgen am Deversdonk. Ich hätte auch längst in der Kanzlei sitzen sollen. Aber was sollte aus einem Tag werden, wenn man seine erste Latte macchiato jemanden an den Kopf schmeißen musste? Da konnte nichts Gutes mehr kommen. Ich kämpfte mit dem Bedürfnis, gleich wieder nach Hause zu gehen und mich ins Bett zu legen. Hätte ich vielleicht tun sollen, doch dann fielen mir die Fotos ein.

»Machst du mir eine neue Latte?« Auch Michaela war wieder an ihren Platz hinter der Theke der Bäckereifiliale zurückgekehrt. »Wem willst du sie denn jetzt an den Kopf schmeißen?« Sie grinste. »Pass auf, dass es dich nicht erwischt.« »Das würdest du glatt fertigbringen.« Wir mussten beide lachen. Micha ließ die Espressomaschine aufgurgeln. »Was macht Judith überhaupt wieder hier in Grefrath?« Man hätte mich ruhig mal vorwarnen können. Micha stellte mir den Kaffeebecher hin. »Hast du es nicht gehört?« »Was nicht gehört? Ich beschäftigte mich eher wenig mit dem Tratsch um sie. Eigentlich versuche ich, sie zu ignorieren.« »Na, es heißt doch, dass sie ihren Verlobten den Eltern vorstellen will.« »Du meinst, der Spanier ist ihr Verlobter?« »Na klar, was denkst du denn? Soll mächtig Kohle haben. Ist übrigens kein Spanier, sondern Argentinier. Sein Vater ist ein hohes Tier dort und Sohnemann verprasst das Geld im hiesigen Jetset.« »Woher weißt du das alles?« »Ich war gestern beim Friseur. Steht alles in der Regenbogenpresse.« Ich legte das Geld auf die Theke und griff den Kaffeebecher. »Dann werde ich der Regenbogenpresse mal neues Material liefern.« Ich hatte zwar gerade keinen Spiegel, aber ich war mir sicher, dass mein Grinsen diabolisch war. Zumindest fühlte es sich so an. Ein richtig gutes Gefühl. »Wie meinst du das?« Micha schien meinen Blick ähnlich zu interpretieren und wirkte besorgt. »Na ja, mein Blog lechzt nach neuen Artikeln und ich habe ein paar richtig gute Fotos gemacht.« Micha schüttelte den Kopf. »Ach Biene«, seufzte sie. Warum seufzten nur alle?

II

Mein Chef war nicht da. Dienstags war er sonst meistens im Büro. Heute hatte er allerdings einen unheimlich wichtigen Termin, wie er angekündigt hatte. Wahrscheinlich war er nur auf dem Golfplatz und machte einen auf dicke Hose. Manfred Schmitz, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, stand auf dem hochnäsigen Bronzeschild rechts neben der Tür. Dabei ist die einzige Wirtschaft, die er prüft, die Stammkneipe seiner Jagdkumpanen beim »Ansitzen«. Aber mir war es recht, dass er andere Ambitionen hatte und mir mehr oder weniger freie Hand ließ. Ich bin die Office-Managerin der Kanzlei. Zumindest nenne ich es so. Offiziell bin ich wohl nur eine gewöhnliche Steuerfachangestellte. Nicht gerade der abenteuerliche Job, den ich mir früher immer gewünscht hatte.

Ich stellte den Kaffeebecher auf meinen Schreibtisch und schaute den Poststapel durch. Nichts, was einer dringenden Erledigung bedurfte. Nachdem mein Rechner hochgefahren war und sich orientiert hatte, meldete er eine Telefonnachricht. Ich hörte sie ab. Ein Mandant fragte, wann seine Steuererklärung fertig sein würde. »Morgen«, murmelte ich vor mich hin. Der musste sich noch gedulden. Ich hatte Wichtigeres zu tun.

Ich öffnete das Verzeichnis mit den vom Handy synchronisierten Fotos und schaute mir die Ausbeute des Morgens an. Die meisten waren sehr verwackelt, aber ein oder zwei zeigten Judith mit einem herrlich wütenden Gesicht. Die waren ideal für meinen Blogartikel. Ich blieb beim Foto vom Spanier im Hemd hängen. Es malte sich deutlich seine gut konturierte Bauchmuskulatur ab und am Ausschnitt war das dunkle Brusthaar erkennbar. Ich muss jetzt noch nach Luft schnappen, wenn ich an dieses Bild denke. Sabine bist du etwa neidisch? Ich nenne mich immer mit meinem richtigen Namen, wenn ich mich selbst ermahnen will, aber alle nennen mich nur Biene, seit ich denken kann. Was fand dieser gutaussehende, reiche Kerl nur an der Zicke Judith? Okay, sie war ein bekanntes Model. Und wenn ich meinen jahrelang gehegten Hass gegen sie mal außer Acht lasse, muss ich zugeben, dass sie nicht schlecht aussah. Zumindest, als sie noch nicht als Leiche vor mir gelegen hat. Sie wirkte immer etwas künstlich, aber nicht unansehnlich. Ich bin dagegen eher natürlich. Sehr natürlich. Liegt vielleicht daran, dass ich mir aus Make-up und Aufhübschen nicht so viel mache. Zumeist laufe ich in meiner Jeans herum, wechsele gelegentlich das T-Shirt und das ist es.

Natürlich hatte sich die Nachricht meines turbulenten Zusammentreffens mit Judith schnell im Ort verbreitet. Es dauerte nicht lange und mein Handy piepste. Eine neue WhatsApp-Nachricht wurde angekündigt. Es war Betty. »Was hast du mit Judith gemacht?«, stand da. Auch du, meine beste Freundin? »Gar nichts!«, schrieb ich ihr und ergänzte es mit einem möglichst böse dreinblickenden Smiley, um meinen Missmut über die Unterstellung zu verdeutlichen. »Es wird erzählt, du hättest sie K.O. geschlagen.« »Habe ich nicht!« »Dann ist es ja gut. Komm mal wieder vorbei.« »Mache ich.« Anscheinend hatten alle in Grefrath damit gerechnet, dass ich Judith etwas antun würde. Was werden sie erst denken, wenn sie die Leiche finden?

Das Internet war ergiebig und spuckte einige Geschichten zu Judith und ihrem Verlobten aus. Der Blogartikel, den ich daraufhin schrieb, wurde ein Hit. Natürlich, mit dem Titel!

 

Grefrather Starmodel wird zur Furie

Das bekannte Model Judith Schöller beehrte heute überraschend ihren Heimatort Grefrath. Im Schlepptau hatte sie Jago Diaz Fernández, Sohn aus reichem argentinischen Hause. Angeblich, so schreibt die Regenbogenpresse, möchte sie ihren Verlobten den Eltern vorstellen. Doch von trautem Liebesglück kann erst einmal keine Rede sein. Denn zuerst lief Judith Schöller durch ihren beschaulichen Heimatort und präsentierte sich arrogant gegenüber ihren früheren Nachbarn und Freunden. Es kam sogar zu einer von ihr provozierten Schlägerei, in deren Verlauf das Model zu Boden ging und schließlich mit dem Krankenwagen ins nächstgelegene Krankenhaus musste. Auch ihr angeblicher Verlobter zeigte sein wahres Gesicht und griff die Berichterstatterin tätlich an. Da scheint sich ein besonderes Paar gefunden zu haben.

Meine Fotos hatten den Artikel treffend ergänzt und so verbreitete er sich rasend schnell im Netz. Eine Tatsache, die mich jetzt in einem sehr schlechten Licht dastehen lässt.

Ich frage mich, ob es wirklich Zufall war, dass dies alles ausgerechnet am zwanzigsten Todestag meiner Eltern stattgefunden hat. Oder war das ein Zeichen? Irgendein schräges Signal des Schicksals. Wenn ja, dann verstehe ich die Botschaft nicht. Vielleicht war es die Strafe dafür, dass ich beinahe vergessen hätte, zum Grab meiner Eltern zu fahren. Ich lebe bei meiner Oma, seit meine Eltern vor nun mehr zwanzig Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen sind. Oma hat mich damals aufgenommen, denn sie ist meine einzige Verwandte. Mein Vater war Vollwaise und meine Mutter ein Einzelkind. Opa ist auch kurz darauf gestorben und seit der Zeit haben wir nur uns. Eine Gänsehaut kriecht an mir hoch. Nicht, weil vor mir Judith leblos daliegt, sondern weil ich daran denke, dass ich fast das Datum vergessen hätte. Fünfter August 2014. Es ist jetzt noch, als ob ich einen Felsblock verschluckt hätte, der in meinem Magen hin und herrollt und sämtliche Eingeweide mit sich reißt. Ein Schmerz, der mich schreien lässt und nie aufzuhören scheint. Zuerst die Prügelei mit Judith und dann drohte ich, den Todestag meiner Eltern zu vergessen. Was für ein verdammter Tag. Als ich nach Hause gekommen war und mir bewusst wurde, was ich vergessen hatte, war ich hektisch zu Oma gerannt. »Oma, Oma, weißt du, welches Datum heute ist?« Oma sah mich fragend an. »Es ist ihr Todestag! Wie konnte ich das vergessen?« »Ach Kengk«, sagte meine Oma nur. »Ich muss zu ihnen«, schrie ich und rannte hinaus, schnappte mein Fahrrad und radelte los. Am Feldchen hinunter, durch die Rosenstraße und quer über den Markt. Die Menschen vor mir stoben auseinander. Einige schimpften oder zeigten mir den Finger. Das war mir egal. Ich hatte noch nie einen Todestag meiner Eltern vergessen und auch am zwanzigsten würde ich zu ihrem Grab fahren. Ich radelte, so schnell ich konnte, die Wankumer Straße hoch, bog beim Supermarkt ab und gab in der Schaphauser Straße nochmal richtig Gas. Hinter dem Beerdigungsinstitut ging es in den Seiteneingang zum Friedhof. Ich stieg vom Fahrrad und schob es den Rest des Weges, bis ich am Grab meiner Eltern stand.

»Entschuldigt, dass ich so spät komme«, keuchte ich. Das Grab sah schön aus. Ich stellte mein Fahrrad ab und betrachtete den Grabstein aus braunem Marmor. Günther Hagen stand dort. Und Marion Hagen. Gestorben am 5. August 1994. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Es war ein Freitag. Meine Eltern wollten zum Kegeln, wie jeden ersten Freitag im Monat. Ich durfte dann bei Oma schlafen und freute mich schon darauf. Bei Oma schlafen bedeutete, so lange Fernsehen gucken, wie ich wollte und nur ungesunde Sachen essen. Ich liebte es. Dann kam der nächste Morgen. Als ich in die Küche kam, saß dort ein Polizist und Oma sah sehr verweint aus. Sie nahm mich gleich in den Arm und ich wusste, es musste etwas Schreckliches geschehen sein. Dann sagte sie, dass meine Eltern nicht mehr wiederkommen würden, weil sie einen Autounfall hatten. Meine Eltern und das Ehepaar Wolters waren dabei ums Leben gekommen.

Bei dem Gedanken an meine Eltern laufen mir gleich die Tränen meine Wangen hinunter. Ich wische sie mit meinem Ärmel ab. »Ach Mama. Ach Papa.« Wie oft habe ich schon überlegt, was in meinem Leben anders gelaufen wäre, wenn ich meine Eltern nicht verloren hätte. Meine Oma ist wirklich toll und immer für mich da, aber so manches Mal habe ich mir einen Vater gewünscht.

Mein Vater war mein Held. Sportlich. Er sah super aus. Meine Freundinnen waren immer total neidisch. Er war Ingenieur und arbeitete in Düsseldorf an wichtigen Projekten. Als dann im Dorf erzählt wurde, er hätte den Unfall verursacht, weil er betrunken gefahren sein sollte, brach eine Welt für mich zusammen. Das konnte nicht sein. Oma sagte immer, ich sollte nicht auf das Geschwätz der Leute hören. Vater würde nie betrunken Auto fahren. Aber die Leute hörten nicht auf, dies zu behaupten. Dann fing auch noch Judith damit an. Wir waren damals unzertrennlich. Beste Freundinnen. Aber als auch sie behauptete, mein Vater sei an allem schuld gewesen, war es damit vorbei.Ich muss kurz dem Reflex widerstehen, ihrem leblosen Körper einen Tritt zu verpassen. »Ach Papa, ach Mama, ich vermisse euch so.«

Vielleicht sollte ich mich doch etwas mehr mit den aktuellen Problemen befassen. Schließlich stehe ich neben einer Leiche. Noch dazu der Leiche einer Person, bei der jeder davon ausgeht, dass ich sie umgebracht habe. Ich sollte also etwas tun. Nur was? Ich könnte Jochen anrufen. Er ist Polizist und weiß sicher, was zu tun ist. Schließlich sitze ich ja wegen ihm in diesem Schlamassel. Hätte er nicht von mir verlangt, mich bei Judith zu entschuldigen, wäre alles in bester Ordnung. Entschuldigen? Wegen ein paar Fotos bei Facebook und eines Blogartikels? So ein Kinkerlitzchen. Ich schreibe ja schließlich nicht für den Stern. Aber Betty hatte mich ja auch gewarnt.

Nach dem Besuch am Grab meiner Eltern war mir nach einem netten Gespräch gewesen. Und zu Abend hatte ich auch noch nicht gegessen. Das schrie nach einem Abstecher zu Betty. Lag ja praktisch auf dem Weg.

Richtung Brunsgarten musste ich unweigerlich über die Weststraße. Die Schöllers wohnen auf der Weststraße und ich erblickte den Aston Martin des Spaniers schon von weitem. Meine Neugier ließ mich anhalten, das Fahrrad abstellen und zum Haus der Schöllers schleichen. Verrückt – als ob sie mich hätten sehen können. Ich schüttelte gerade über mich selbst den Kopf und wollte wieder aufs Fahrrad steigen, als sich am Haus der Schöllers etwas tat. Der Spanier stürmte heraus und hinter ihm Judith. Sie schien wieder fit zu sein. Und alle dachten, ich hätte sie krankenhausreif geschlagen. Das musste ich korrigieren und kramte mein Handy aus der Tasche. Die beiden stritten heftig. Er schrie etwas auf Spanisch und sie schrie zurück. »Es ist meine Familie!«, konnte ich verstehen, als ich auf den Auslöser der Handykamera drückte. Es blitzte. Mist, wieso blitzte dieses blöde Ding. Es war doch noch gar nicht dunkel. Judith und Jago sahen erschrocken in meine Richtung. Hastig steckte ich mein Handy ein, stieg aufs Fahrrad und trat so kräftig in die Pedale, wie ich nur konnte. Jago kam auf mich zugerannt, konnte mich aber nicht mehr erreichen. Ich streckte ihnen als Abschiedsgruß den Mittelfinger entgegen. Sollten sie sich nur aufregen. Das Foto würde der Hit bei Facebook. Von wegen Traumpaar.

»Ach Biene.« Auch Betty seufzte. Ich hatte ihr nur meinen Schnappschuss gezeigt. Sie trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch und hängte es an einen Haken. Wie immer trug sie Jeans und ein langes Shirt, das ihre ausladenden Hüften etwas schmälerte. Früher haben wir sie immer gehänselt und behauptet, dass sie auf dem Fahrrad zwei Rückleuchten benötige, für jede Pobacke eine – wegen Überbreite. Ihrem Selbstbewusstsein hatte dies aber nicht geschadet. Im Gegenteil, sie ist Muttertier durch und durch. Ihre braunen Haare sind meistens mit einem einfachen Gummi zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Der wackelte neckisch, als sie sich wieder mir zuwandte und mir ihren besorgten Blick zuwarf. »Guck nicht so! Ich sage dir, bei denen ist irgendetwas im Busch.« »Ja, ja.« Betty schob mich aus der Küche in Richtung ihres Handarbeitszimmers. Sie macht gar keine Handarbeiten. Dieses Zimmer ist viel mehr ihr Rückzugsort, wenn selbst ihr als geborenem Muttertier die Familie mal zu viel wird. Und das kommt öfter vor, als man es vermuten würde. Sie schubste mich auf die gemütliche Couch, die den kleinen Raum dominiert. »Trinkst du einen Prosecco mit?« »Hmm.« Während sie den Sekt holte, schnitt ich den entscheidenden Ausschnitt aus dem Foto und postete das Ergebnis bei Facebook. Betty kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück, die sie auf das kleine Tischchen neben der Couch stellte. Dann begann sie, an dem Verschluss der Flasche zu pulen. »Wie geht es dir heute?« »Gut.« Sie schenkte Sekt ein und hielt mir eines der Gläser hin. Dann setzte sie sich neben mich. Wortlos prosteten wir uns zu. »Warst du auf dem Friedhof?« »Hmm.« Was sollte ich ihr sagen? Dass ich nach zwanzig Jahren meine Eltern immer noch vermisste? Dass ich ständig darüber nachdachte, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte dieser Unfall nicht alles verändert? Dass ich dann vielleicht nicht mehr in Grefrath säße und mich nicht jeden Tag in einer Steuerberatungskanzlei langweilte? Schließlich hatte ich mal Träume, aber die sind damals mitgestorben. Sollte ich ihr das alles sagen? Wozu? Wahrscheinlich wusste sie es schon und würde nur Dinge sagen, wie »Biene, nach zwanzig Jahren musst du dein Leben leben.« Aber welches Leben ist mein Leben? Schließlich hatte das Leben, das für mich bestimmt war, damals abrupt geendet.

Bilder von Maya und Sven stehen auf dem Sideboard. Wie alt waren sie da? Vielleicht fünf oder sechs, schätze ich. Das Hochzeitsfoto von Betty und Georg prangt daneben. Bettys Plan war Realität geworden. Seit ich denken kann, hat sie davon gesprochen, dass sie heiraten wollte. Dann sollten es zwei Kinder sein und die Familie in einem Eigenheim mit Vorgarten leben. So ist es gekommen. Ich war ihre Trauzeugin. Damals war ich gerade mal wieder mit Jochen zusammen und er hat mich natürlich begleitet.

---ENDE DER LESEPROBE---