Liebe vertagen, Mörder jagen - Vera Nentwich - E-Book

Liebe vertagen, Mörder jagen E-Book

Vera Nentwich

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  • Herausgeber: Vera Books
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Was prickelt mehr als eine heiße Liebesnacht in Paris? Mörder jagen! Eigentlich hat sich Biene auf eine heiße Liebesnacht in Paris gefreut. Die kommt aber nicht. Dafür erreicht sie eine folgenschwere Nachricht: In ihrer Heimat wurde ein Mann ermordet. Ausgerechnet Jochen, ihr Ex-Freund und überkorrekter Polizist, soll in den Mord verwickelt sein. Das kann Biene nicht glauben und sie entschließt sich zur Rückkehr. Schließlich prickelt eine Mörderjagd doch mindestens so sehr wie eine Liebesnacht. Auf eigene Faust stürzt sie sich in die Ermittlungen und steckt nicht nur bald mittendrin in einem Netz aus Vorurteilen und Vorlieben, sondern erfährt auch Dinge; die sie lieber nicht erfahren hätte. Wird Biene den wahren Mörder finden und damit Jochen entlasten? Kann Biene eine wichtige Entscheidung für ihre eigene Zukunft treffen? Und was ist eigentlich mit der Liebe? Wer lustige Krimis für Erwachsene mag, wird Biene Hagen lieben. Die ideale Urlaubslektüre muss nicht an der Nordsee oder in Bayern spielen. Grefrath am Niederrhein kann locker mithalten. Greifen Sie gleich zu und erleben sie entspannte Stunden mit dem neuen Abenteuer von Biene Hagen.

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X
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XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
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Die Autorin
Die neue Ermittlerin

Liebe vertagen,Mörder jagen

Vera Nentwich

 

I

Ein Mord ist kein Grund, sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Und mein Ziel ist es, heute eine heiße Nacht mit Jago zu verbringen. Daran kann auch Omas Bericht von einem neuen Mordfall in Grefrath nichts ändern. Dieses Mal bin ich schließlich nicht persönlich involviert. Kann die Polizei zeigen, ob sie es auch ohne mich hinbekommt.

Ich bleibe hier in Paris und kämpfe weiter gegen das Gefühl an, hier nicht hinzupassen. Da ist alleine schon diese Sprache. Französisch klingt ganz gut, aber ich verstehe es nicht. Obwohl ich nun schon vier Wochen hier bin, kriege ich kaum ein französisches Wort außer Bonjour oder Bonsoir heraus. Sprachen liegen mir einfach nicht. Zahlen, ja. Praktische Dinge, auch. Bei Sprachen versage ich. Deshalb kann ich auch jetzt nur nett zuschauen, wie sich Jago mit dem Kellner unterhält, und die Atmosphäre in diesem Restaurant in mich aufnehmen. Mehrere Herren in schwarzen Hosen, weißen Hemden und dem obligatorischen Handtuch am Hosenbund schweben herum und erfüllen die Wünsche der Gäste nahezu lautlos. Jago und der für uns zuständige Herr blicken in meine Richtung und sagen etwas. Ich lächele und sie lächeln zurück.

Wahrscheinlich sprechen sie gerade darüber, dass ich Glubschaugen habe und meine Brüste zu klein sind. Was nicht wahr ist, aber was weiß ich, was Männer so quatschen.

Allerdings kann ich mir bei Jago nicht vorstellen, dass er schlecht über mich redet. Er ist ganz und gar ein Gentleman. Ein gutaussehender, vermögender Gentleman und ich bin mit ihm in Paris, der Stadt der Liebe. Da knistert es schon, wenn man nur davon spricht. Doch seit wir hier sind, nächtige ich brav im Gästezimmer seiner schönen Wohnung. Anfangs konnte ich seine Zurückhaltung verstehen. Schließlich war gerade erst seine Verlobte umgebracht worden. Und ein Jago Diaz Fernandez springt nicht gleich zur nächsten Frau. Aber als er mir das Angebot gemacht hat, mich nach Paris mitzunehmen, da habe ich schon gedacht, er hätte Interesse an mir.

Es gibt auch durchaus Anzeichen dafür. Vorgestern zum Beispiel. Wir waren essen, wie fast jeden Abend, und ich fragte ihn, ob wir nicht noch einmal kurz zum Eiffelturm fahren könnten. Ich liebe es, nachts dieses Wahrzeichen der Stadt zu betrachten, wenn es so herrlich erleuchtet ist. Wir stiegen in die Metro und fuhren zum Trocadéro. Dort setzten wir uns auf die Stufen und genossen die Stimmung. Ich weiß nicht, was über mich kam, denn ich lehnte mich an seine Schulter. Ich hatte kurz Angst, er würde sich mir sanft aber bestimmt entziehen. Doch er tat es nicht. »Judith hat den Eiffelturm auch gemocht«, murmelte er und ich tätschelte seine Hand. Da saßen wir nun. Sabine Hagen, die ehemalige Steuerfachangestellte aus Grefrath am Niederrhein und Jago, der Sohn eines Großgrundbesitzers aus Argentinien, aneinandergelehnt vor dem Eiffelturm. Mein ganzes Leben habe ich mich nach Abenteuern gesehnt und danach, die Welt zu sehen. Nun scheine ich dem endlich näher zu kommen. Noch ein Schritt weiter und mein Leben ist perfekt.

Der Kellner verlässt uns, nicht ohne mir einen freundlichen Blick zu senden, und Jago wendet sich mir zu. »Er hat gesagt, du siehst wunderhübsch aus.« Ich liebe es, wenn er die Konsonanten so betont. ›Err hatt gesssagttt‹, das klingt so herrlich spanisch und feurig. Man erwartet sofort, einen Stier aus der Ecke auf ihn zustürmen zu sehen, den er dann mit seiner Serviette lässig abwehrt. »Danke«, murmele ich. Hoffen wir mal, dass dieser Franzose dies wirklich gesagt hat. Unmöglich wäre es nicht. Die Französinnen haben nämlich etwas auf mich abgefärbt. Ich bewundere sie, wie sie auch bei niedrigsten Temperaturen in luftigen Kleidchen und Röckchen über die Avenues und Boulevards dieser Stadt flanieren können, ohne sich den Hintern abzufrieren. Dabei sehen sie aus, als müsste jeder Mann bei ihrem Anblick unverzüglich in Ohnmacht fallen. Ich bin eher der Jeans-und-T-Shirt-Typ. Aber dieser Pariser Flair hat mich angesteckt und Jago hat zusätzlich ab und zu durchblicken lassen, dass ihm dieser französische Chic an mir gefällt. Da habe ich mir gleich mehrere Kleider gekauft. Das, was ich jetzt trage, ist eigentlich nur ein Hauch von einem Kleid. Ich muss immer wieder an mir hinuntersehen und prüfen, ob ich es wirklich trage, denn ich spüre es kaum. Aber dadurch habe ich das Geheimnis der Französinnen gelüftet. Weil ihre Kleider so leicht sind, haben sie immer das Gefühl, nackt zu sein. Da geht man dann automatisch verführerischer. Ich hoffe, mir gelingt das heute auch irgendwie. Denn heute will ich verführen. Vorgestern am Eiffelturm hat es geknistert zwischen Jago und mir. Das bilde ich mir nicht ein. Heute Abend werde ich ihm die Sinne so rauben, dass es nur in einer heißen Liebesnacht enden kann. Ich sende ihm ein Lächeln, in das ich alle meine Erotik lege. Er lächelt zurück. »Was möchtest du essen?« Er zeigt auf die vor mir liegende Speisekarte und ich hoffe inständig, dass mein Blick nicht nur hungrig gewirkt hat. Wie war das noch mal? Escargot ist Schnitzel oder war es Escalope? Viande ist Fleisch, genau. Lieber etwas mit Viande bestellen. Nicht, dass ich nachher hier sitze und Schnecken aus ihren Häuschen pulen muss. Die Franzosen sind ja vor nix fies, sagt Oma immer. Ich zeige auf ein Gericht mit dem Wort Viande im Titel und hoffe, es sind keine Innereien. »Gute Wahl.« Jagos Lächeln lässt mich kurz erzittern, dann senke ich unsicher den Blick. Er winkt den Kellner heran und nennt ihm unsere Bestellung. Dann schenkt er Wein nach.

Das Gericht schmeckt vorzüglich und sollte es irgendwelche Sauereien enthalten, dann merke ich es nicht. Danach nippen wir an unserem Kaffee und Jago bestellt die Rechnung. Während des Essens haben wir ständig Blicke ausgetauscht und ich spüre, wie das Kribbeln in meinem Körper stetig steigt. Einige Funktionen müssen erst wieder zum Leben erweckt werden, aber ich bin zuversichtlich, dass mir dies heute gelingt. Oma wird zufrieden mit mir sein.

Sie ist sehr darauf erpicht, dass ich ein regelmäßiges Sexleben habe. »Kengk, eine junge Frau in deinem Alter muss regelmäßig Sex haben. So lange ohne, das ist nicht gut für dich«, hat sie gesagt, als wir heute Mittag telefoniert haben und ich die Nachricht vom erneuten Mordfall verdauen musste. Morgen werde ich ihr Vollzug melden können.

Jago legt das Geld auf den bereitgestellten Silberteller mit der Rechnung und wir stehen auf. Jago geht los, um unsere Jacken zu holen. Ich folge ihm mit Abstand. »Jago?« Die schrille Stimme lässt mich zusammenzucken. Vom Eingang des Lokals kommt eine Frau auf Jago zugestürmt und fällt ihm um den Hals. Wenn diese Unterbrechung unseres Vorspiels nicht so störend wäre, müsste ich fast lachen. Die Frau überragt Jago um Kopfeslänge und er muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihr rechts und links auf die Wange küssen zu können. Dass er dabei fast in ihre Brust fällt, lässt mein Lachen jäh ersticken.

Diese dünne Gestalt in Klamotten, die laut und deutlich »teuer« schreien und dieses zickige Gehabe. Einfach nur nervig. Ich sende ein Lächeln in die Richtung der Bohnenstange und tippe Jago auf die Schulter. »Kommst du?« Zumindest befreit er sich aus der Umklammerung. Der erste Schritt ist getan. Nun nur nicht lange aufhalten. Er hat heute noch eine Aufgabe. Doch er begrüßt die Frau auf Englisch und sie antwortet. Dann dreht er sich zu mir. »Oh, Biene, sieh mal, wer da ist.« Jago hält diesen dürren Garderobenständer an der Hand und strahlt mich an. Was soll ich sagen? Jago wartet keine Antwort ab. »Das ist Kimberley. Sie ist eine liebe und gute Freundin und nun hier, weil sie für Lagerfeld läuft.« Was soll das denn heißen? Sie läuft für Lagerfeld. Ich laufe nur für mich selbst. Dann wendet er sich Kimberley zu und erklärt ihr auf Englisch, wer ich bin. Zumindest vermute ich es. Englisch verstehe ich besser und es fällt mein Name. Das Model dreht sich zu mir, mustert mich und hebt die Mundwinkel leicht an. Soll das ein Lächeln sein? »Hello Sabine, how are you?«, sagt sie. Dann hält sie mir ihre Hand hin. Ich nehme sie. Sie liegt weich und schwammig in der meinen. Ein kurzer Druck und dann muss es gut sein. Aber was macht Jago da? Er dreht sich um, geht zurück zu unserem Tisch und zieht einen Stuhl für Kimberley heran. Dann nimmt er einen zweiten Stuhl und sieht mich lächelnd an. »Wir trinken noch ein Gläschen, nicht wahr?«

Aus dem Gläschen ist eine Flasche geworden. Ich drehe das Weinglas lustlos in meinen Händen, während sich das dürre Gestell und Jago angeregt unterhalten. Ein paar Mal ist das Gespräch auf Judith gekommen, seine Verlobte, die jetzt tot ist.

Judith Schöller war eine Schulfreundin oder besser Feindin von mir, die umgebracht worden ist. Deshalb bin ich letztendlich hier in Paris gelandet, aber das ist eine längere Geschichte und ich habe keine Lust mehr auf Geschichten. Weder aus Judiths Leben noch von Kimberleys letzten Aufträgen. Ich habe Lust auf etwas ganz anderes, aber das scheint weiter entfernt zu sein als je zuvor. Seit dieses Modepüppchen hier ist, sieht mich Jago gar nicht mehr. Ich bin aus Verzweiflung bereits mehrfach auf die Toilette gegangen, in der Hoffnung, er würde meinen erotischen Gang bemerken, wenn ich zurückkomme. Hat aber nicht geklappt. Keine Ahnung, ob mein Gang vielleicht doch nicht so erotisch war. Aber die Vermutung liegt näher, dass es dieses verdammte Model ist. Ich spüre, wie das Blut in mir in Wallung gerät. Leider nicht aus dem Grund, den ich mir für heute erhofft habe. Es ist Wut, die in mir gärt. Mich würde es nicht wundern, wenn der Wein in meinem Glas zu kochen beginnen würde. Ich koche jedenfalls. Es ist genug. Wenn er es heute nicht bemerkt, dann kann er mich mal. Zur Unterstützung meiner Entscheidung stelle ich das Weinglas mit Nachdruck auf den Tisch. Zu viel Nachdruck. Es zerbricht und ich halte nur noch den Stiel in der Hand. Der Kelch mit dem restlichen Rotwein trudelt durch die Luft, um fröhlich seinen Inhalt an die Umgebung abzugeben. Ich springe auf, um mein schönes Kleid in Sicherheit zu bringen. Dummerweise ist dies für die Weinflasche das Signal, sich dem Reigen anzuschließen und aus den Tropfen roten Weines einen Sturzbach werden zu lassen. Kimberley schreit auf. Jago sieht mich fassungslos an. An den umliegenden Tischen bricht Hektik aus. Frauen kreischen und Männer schimpfen. Ich habe nur ein Ziel. Raus hier! Ich renne los, reiße meine Jacke von der Garderobe, natürlich nicht ohne einigen anderen Jacken und Mänteln die Freiheit zu schenken, und stürme aus dem Lokal. Die kühle Nachtluft tut mir gut und ich rechne damit, es würde ein zischendes Geräusch geben, wenn sie auf meine überhitzte Haut trifft. Ein Taxi steht vor der Tür und ich steige ein. Der Fahrer dreht sich zu mir. »Bonsoir«, sagt er und noch irgendetwas. Ich nenne ihm die Adresse. Er sieht mich fragend an. Verdammt, wie sprecht ihr Franzosen das denn aus? Ich wiederhole und versuche, so französisch wie möglich zu klingen. Er nennt unsicher die Adresse, um sich zu vergewissern, ob er es richtig verstanden hat. Ich nicke. »Nun fahr schon!«, schicke ich hinterher und er sagt etwas, das nicht freundlich klingt.

»Es war fürchterlich.« Ich sitze auf dem Place des Vosges und berichte Oma von dem desaströsen Restaurantbesuch. Sie ist mitfühlend. Das Kind hatte schon wieder keinen Sex und Oma ist zu weit weg, um wenigstens etwas Gutes zu kochen. Plötzlich habe ich unendliches Heimweh. Warum muss ich bei Heimweh an Jochen denken? Schließlich ist Jochen nicht mein Freund. Doch, natürlich ist er ein guter Freund, aber nicht mein Freund im sexuellen Sinne. Zumindest ist dies zur Zeit so. Wir haben es ja gelegentlich mit einer Beziehung versucht, aber es hat nicht geklappt. Ich habe dies jedes Mal so entschieden. Jochen war immer anderer Meinung. »Wie geht es Jochen«, frage ich ins Telefon. Oma druckst herum. »Was ist los?«, hake ich nach. »Jochen, dem geht es wohl nicht so gut.« »Wie meinst du das? Ist er erkältet? Das kenne ich. Wenn er einen Schnupfen hat, will er immer gleich sterben und muss umsorgt werden.« »Nein, das ist es nicht, Kengk.« »Was ist es dann? Hatte er einen Unfall?« Vor meinem inneren Auge laufen bereits Bilder ab, wie er als Polizist in eine Schießerei gekommen ist, obwohl dies in Grefrath eher weniger wahrscheinlich ist. »Ist er etwa angeschossen worden?« »Nein, nein, er ist suspendiert worden, erzählt man sich.« Die Nachricht ist unglaublich. Jochen, der überkorrekte Polizist, soll etwas getan haben, was eine Suspendierung rechtfertigt? Das kann nicht sein.

»Das kann nicht sein«, wiederhole ich. »Warum denn?« Es dauert etwas, bis Oma antwortet. »Er soll in den Mordfall verwickelt sein.« Jochen steht unter Mordverdacht? Ich traue meinen Ohren nicht. »Was?«, frage ich entsetzt ins Handy. Wohl etwas laut. Der Japaner, der gerade seine Familie kunstvoll vor einem Baum drapiert hat, um sie abzulichten, sieht mich erschrocken an. Ich lächele entschuldigend und versuche Kopfnicken anzudeuten, wie man dies in den asiatischen Gefilden so macht. Jochen, dieser Mann, der trotz allem Hin und Her in unserer Beziehung immer für mich da ist, der soll nun jemanden ermordet haben? Das kann nicht sein. Ich suche nach Worten, während Oma am anderen Ende der Leitung fragt, ob ich noch da sei. Vor mir spielen ein paar Kinder auf der Wiese. Die Japaner sind weitergezogen. Die Sonne scheint und setzt die Reiterstatue Ludwig des Dreizehnten in Szene. Sie krönt den Place des Vosges, der zu meinem Lieblingsplatz in Paris geworden ist. Hier sitze ich gerne auf einem der schattigen Plätze unter den Bäumen und beobachte die Pariser und die vielen Touristen bei ihrem Treiben. Der ideale Platz, um mit Oma zu telefonieren und mich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Zumeist beziehen sich ihre Erzählungen auf ihre aktuellen Fahrradtouren oder Geschichten, was ihre Vögelchen auf der Terrasse so treiben. In so einer kleinen Gemeinde am Niederrhein passiert eben nicht so viel. Es ist schon schockierend genug, dass es wieder einen Mordfall in Grefrath gibt. Zuerst dieser Mirko, dann Judith und jetzt das. Aber jetzt soll sogar Jochen darin verwickelt sein? Was ist nur los? Ich versuche, mehr zu erfahren.

»Jochen soll jemanden ermordet haben? Wer kommt denn auf so einen Blödsinn?« »Kengk, ich weiß es nicht.« Oma ist hörbar aufgeregt. »Es heißt, er sei suspendiert worden, weil man bei der Leiche Spuren von ihm gefunden hätte. Der Hannes von der Fahrradgruppe hat erzählt, dass sich Jochen und der Tote am Abend noch bei Beate an der Theke gestritten haben.« Bei der Erwähnung der Wirtschaft von Beate bekomme ich schlagartig Appetit auf Jägerschnitzel, Pommes und ein Alt. »Weißt du denn mittlerweile, wer der Tote ist?«, frage ich nach. »Den kennt keiner. Kommt wohl aus Krefeld oder Willich.« »Aber Jochen hat ihn gekannt?« »Scheint so, Kengk. Jedenfalls hat man die Leiche vorgestern Morgen im Straßengraben bei Mülhausen gefunden. Das ist nicht weit von Jochens Wohnung weg.« »Wie geht es ihm denn?« »Weiß ich nicht, Kengk. Es hat ihn niemand gesehen. Der arme Kerl.« Oma hat Jochen schon immer gemocht und ist enttäuscht, dass es zwischen ihm und mir nie so richtig funktionieren wollte. »Der Jochen würde sich jetzt bestimmt über Beistand freuen.« Oma greift meine Gedanken auf. »Schließlich ist er auch immer für dich da.« Da hat sie recht. Meine Oma ist meine Stütze im Leben, seit meine Eltern vor über zwanzig Jahren bei einem Autounfall gestorben sind. Oma hat mich bei sich aufgenommen und nun wohne ich bei ihr im Haus. Sie weiß, wie sie die Dinge einzuschätzen hat. »Meinst du, er redet überhaupt mit mir?« So, wie ich Jochen vor den Kopf gestoßen habe, indem ich einfach mit Jago nach Paris abgereist bin, kommen mir Zweifel. »Da bin ich sicher«, beruhigt mich Oma. Ich sage zu, es mir zu überlegen, aber innerlich weiß ich, was zu tun ist. Oma verspricht mir, mich auf dem Laufenden zu halten. Ich stecke das Handy in die Tasche und stehe auf. Noch ein letzter Blick über diesen Platz und zu den Arkaden um ihn herum, dann sauge ich die Pariser Luft ein. Die Entscheidung ist getroffen.

»Sabine Hagen, du bist und bleibst ein Mädel vom Lande«, raune ich mir selbst zu und der Kellner, der gerade auf dem Bürgersteig mit einem Espresso auf seinem Tablet an mir in Richtung eines Tisches vorbeistürmt, sieht mich verdutzt an.

Wieder lächele ich nur, weil mir die französischen Worte für eine schlagfertige Erklärung meiner Selbstgespräche fehlen. Stattdessen schaue ich noch mal auf meine Armbanduhr. Ich könnte es schaffen.

»Brauchst du noch etwas?«, fragt Jago mitfühlend, als ich ihm von meinem Entschluss erzähle. »Nein, alles klar. Um sechs geht der Thalys und das Ticket habe ich schon im Internet bestellt.« Er sieht mich traurig an. »Das war’s?«, frage ich nach. »Was meinst du?« Jago schreckt auf. »Ich meine, ich sage, dass ich fahre, und du nickst nur?« »Si, was soll ich sonst machen?« »Du könntest sagen: ›Biene, geh nicht!‹.« »Aber du musst doch einem Freund helfen?« »Trotzdem. Tut es dir denn gar nicht leid, dass ich gehe?« »Warum?« »Wie, warum? Was bin ich denn für dich?« Ich kann nichts dafür, aber meine Stimme wird lauter. In mir baut sich Druck auf und der muss heraus. Jagos Blick sieht besorgt aus. »Du bist liebe Freundin«, sagt er. »Ach?« Ich winke ab. »Für dich bin ich nur ein Spielzeug, das du nett anziehen und überall rumzeigen kannst.« »No, ist nicht wahr«, protestiert Jago. »Was denn sonst? Dann sag’s mir doch.« »Hab ich doch. Du bist Freundin. Und du bist lustig.« Lustig? Hat er gerade gesagt, ich sei lustig? Es ist ein Reflex, der mich nach irgendetwas greifen lässt, was in meiner Nähe steht, um es mit aller Wucht in Jagos Richtung zu schleudern. Er kann ausweichen, so knallt mein Wurfgeschoss gegen die Wand, um dort in seine Einzelteile zu zerspringen. Es stellt sich heraus, dass es das Foto von Judith und Jago ist, das nun inmitten des zerstörten Bilderrahmens auf dem Boden liegt. »Da hast du deinen Spaß«, schicke ich hinterher. Ich greife meinen Koffer, den ich mir gekauft habe, als die Zahl meiner Kleidungsstücke stetig stieg, und wuchte ihn in den klapprigen Aufzug. Dann drücke ich auf den Knopf mit der Null. Die Tür schließt sich. Als ich das Haus verlasse, sieht Jago oben aus dem Fenster. Ich beeile mich, um die Ecke zu biegen, damit ich aus seinem Blickfeld verschwinde. Der Koffer quietscht etwas und bringt mir überraschte Blicke der Menschen ein, die ich überhole. Ein letztes Mal betrachte ich die Häuser im Marais, bevor ich in die Metrostation hinabsteige und die Bahn in Richtung Gare du Nord nehme.

Nun stehe ich am Bahnsteig in Düsseldorf und halte Ausschau nach Betty, die ich gebeten habe, mich abzuholen. Während der Fahrt konnte ich mich etwas beruhigen und nun freue ich mich auf die Heimat und meine Freunde. Gerade als ich mein Handy aus der Tasche fingere, um Betty noch einmal anzurufen, sehe ich sie die Treppe zum Bahnsteig hinaufkommen. Ich muss unweigerlich lächeln, als ich sie auf mich zu wackeln sehe. Ihr ausladendes Becken schwingt, wie man es sonst nur von afrikanischen Frauen kennt. Ihre Haare, die wie immer zu einen Pferdeschwanz zurückgebunden sind, versuchen die Bewegungen des Körpers nachzuholen, schaffen es aber nur mit Verzögerung, was ein verwirrendes Bild ergibt. Dabei drückt sie ein Selbstbewusstsein aus, das einem auf hundert Meter Entfernung entgegenstrahlt. Sie breitet die Arme aus, als wir noch Meter voneinander entfernt sind, um mich dann beherzt in diese zu schließen, als wir uns erreicht haben. »Ach wie schön, dass du wieder da bist.« »Ich freue mich auch wieder auf zu Hause.« »Gut siehst du aus. Der Pariser Chic.« Sie drückt mich etwas von sich und mustert mich von oben bis unten. »Na ja, von Chic bin ich noch meilenweit entfernt.« Betty lächelt. »Ich finde, du siehst toll aus. Du hast mir noch gar nicht erzählt, was dich zu der plötzlichen Heimkehr bewogen hat.« Ich greife meinen Koffer und wir besteigen die Rolltreppe. »Ach, frag nicht.« Sie runzelt die Stirn. »Oma hat mir das mit Jochen erzählt«, füge ich zur Erklärung an. »Ach, das. Ja, merkwürdige Geschichte. Aber es glaubt doch keiner, dass Jochen etwas damit zu tun hat.« »Die Polizei anscheinend schon.« »Glaube ich nicht. Die müssen einfach nur korrekt sein.« Betty sieht sich im Bahnhof um. »Hier lang.«

Wir fahren an dem Platz mit den Palmen vorbei und biegen in Richtung Graf-Adolf-Straße ab. Betty schimpft über ein Taxi, das plötzlich vor uns die Spur wechselt. »Was hat Jago denn dazu gesagt, dass du so plötzlich wegwolltest?« »Er hat Verständnis«, erwidere ich mürrisch. »So, so.« Sie grinst. »Ich habe dir doch erzählt, dass zwischen uns nicht viel gelaufen ist.« »So, so.« Ich knuffe sie an den Arm. »Kannst du auch was anderes sagen?« »Was soll ich schon sagen, wenn du deine beste Freundin verarschen willst. Du fährst mit einem rassigen Spanier nach Paris und sagst mir, es ist nichts passiert.« »Er ist Argentinier und es ist wirklich nichts passiert.« »So, so.« »Ach, guck auf die Straße«, schimpfe ich und muss selbst lächeln.

Das Licht in der Küche brennt, als ich die Haustür öffne. Die bekannte Duftmischung aus Omas Kochkünsten und meinem ganzen bisherigen Leben umfängt mich. »Oma, ich bin wieder da!« Ich stelle meinen Koffer ab und gehe in die Küche. Doch niemand ist dort. Stattdessen empfängt mich ein Durcheinander. Ein Stuhl ist umgefallen. Da höre ich Geräusche. Sind das Stimmen? Was ist hier los? Sind Verbrecher im Haus?

Mein Herz beginnt, wie wild zu pochen. In meinem Kopf rennen die Gedanken aufgescheucht herum. Polizei rufen, sagt ein Gedanke. Ich brauche eine Waffe, sagt ein anderer. Ja, das ist gut.

Ich sehe mich in der Küche um. Ich greife ein Messer, doch als ich es in meiner Hand sehe, lasse ich es erschrocken fallen. Bilder, wie meine Hand das Messer in einen Körper rammt und überall Blut herausspritzt, rauben mir den Atem. Nein, das kann ich nicht. Ich brauche eine andere Waffe. Eine, die nicht gleich ein Massaker auslöst. Irgendetwas. In der Ecke steht Omas Wasserpumpgun, mit der sie die Tauben verjagt. Sie sieht martialisch aus und als ich sie in der Hand halte, fühle ich mich wie Rambo. Kurz denke ich darüber nach, mir ein Tuch um die Stirn zu binden, um dem Gegenüber meine Entschlossenheit zu verdeutlichen. Aber die Kanone muss reichen. Ein Strahl davon dem Verbrecher direkt ins Auge und alles ist klar.

Ich schleiche in den Flur und in Omas Wohnzimmer, aber auch das ist leer. Die Geräusche kommen aus dem Schlafzimmer. Oh nein, er wird doch nicht? Wie machen sie das im Fernsehen immer? Ein Tritt gegen die Tür? Ich zähle innerlich bis drei. Eins. Zwei. Drei. Dann trete ich mit aller Kraft gegen die Schlafzimmertür. Sie gibt nach wie Butter. Ich habe mit mehr Widerstand gerechnet und gerate ins Stolpern. Am Bett meiner Oma komme ich zum Stehen und reiße die Pumpgun hoch. »Lass sofort meine Oma los oder ich schieße!« Vor mir streckt sich der nackte Hintern eines älteren Herren in die Luft, der in seiner Bewegung innehält. Darunter lugt meine Oma hervor. »Ach, Kengk, du bist wieder da. Das ist aber eine Überraschung.« Oh mein Gott! Ich weiß nicht, wohin mit mir. »Äh, Entschuldigung«, stammele ich und versuche, so schnell wie möglich die Tür hinter mir zu schließen, verheddere mich aber im Bettvorleger. Die Pumpgun zittert in meinen Händen. Mit einem Tritt befreie ich mich von dem Teppich und stolpere aus dem Zimmer. Schnell schließe ich die Tür und spüre nach, ob mein Herz noch in einem erkennbaren Rhythmus schlägt oder ich bereits einem Infarkt erliege. Mein Atem rast und ich schnappe unaufhörlich nach Luft. »Beruhige dich, Sabine«, versuche ich, mich selbst zu hypnotisieren.

Ich gehe in die Küche, denn ich muss mich setzen. Die Pumpgun halte ich immer noch in Händen. Als ich dies bemerke, lasse ich sie hastig auf den Tisch fallen. Ich habe schon viele peinliche Momente erlebt, aber dieser schlägt alles.

Oma kommt aus dem Schlafzimmer. Sie trägt ihren Morgenmantel und sieht zerzaust aus. Ist ja kein Wunder. »Es tut mir so leid. Ich dachte, es wären Einbrecher im Haus«, murmele ich schuldbewusst. »Warum hast du nicht gesagt, dass du nach Hause kommst?« »Es war eine spontane Entscheidung. Tut mir leid.« »Ach, alles ist gut, Kengk. Komisch war es ja schon, wie du da standest mit der Wasserpistole.« Sie lacht und ich muss mitlachen. Die Schlafzimmertür öffnet sich und der Mann geht auf Zehenspitzen in Richtung Haustür. Er dreht sich zu mir. Ich kenne ihn. Er ist in Omas Radfahrgruppe. »Hallo, Biene«, sagt er vorsichtig. Wir starren uns an. Mein Blick wandert zu Oma und zurück zu ihm. »Das ist Karl«, unterbricht Oma die bedrückende Stille. Karl hebt die Hand zu einem unsicheren Winken und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. »Karl, du kannst jetzt gehen«, wendet sich Oma an ihn. Er nickt mürrisch und öffnet die Haustür. Als die sich hinter ihm schließt, sehe ich zu Oma. Sie lächelt. »Ich habe wenigstens ein Sexleben, Kengk.«

Ich will etwas erwidern, aber es geht nicht. Ich muss verdauen, was ich gesehen habe. Sie hat recht. Meine Oma hat mit ihren über Siebzig mehr Sex als ich. Ich könnte heulen. Sie sieht mich mitleidig an. »Hast du etwas gegessen? Soll ich dir etwas machen?« Sagt man nicht, Essen sei Sex des Alters? Bin ich schon soweit? Ich schüttele den Kopf. »Nein, danke. Ich habe im Zug gegessen.« Ich betrachte die Haustür und dann Oma. Es scheint sich einiges verändert zu haben, während ich weg war. Wenigstens gibt es wieder einen Mordfall in Grefrath. Darauf kann ich mich stürzen und gleichzeitig einem Freund helfen. Sex wird sowieso überbewertet. Mörder jagen bringt dagegen das wirkliche Prickeln.

II

Wenn ich noch fester gegen die Tür hämmere, haue ich ein Loch hinein. »Jochen, ich weiß, dass du da bist. Nun mach endlich auf!« Wieder lasse ich meine Fäuste gegen das Holz schlagen und ergänze das Ganze mit einem Tritt. »Lass mich in Ruhe!« Jochens Stimme klingt durch das geschundene Holz. »Jochen, nun mach endlich auf. Ich bin’s, Biene.« Es ist still hinter der Tür, dann wird der Schlüssel im Schloss herumgedreht und die Tür öffnet sich. Die Gestalt, die mir entgegenblickt, sieht mitleiderregend aus. Shorts und ein Doppelrippunterhemd, bei dem mich schon die Tatsache schockiert, dass Jochen so etwas überhaupt besitzt. »Biene? Was machst du hier? Du bist doch in Paris.« »Wie du siehst, bin ich das nicht mehr. Du siehst schrecklich aus. Lass mich rein!« Ich dränge mich an ihm vorbei und stehe in seiner Küche. Der Wohnungseingang ist eine umfunktionierte Terrassentür und so landet man nicht in einem Flur, sondern direkt in der Küche. Allerdings erinnert dieser Raum, in dem ich nun stehe, nur noch schwach an eine Küche. Es sieht eher aus wie eine Abstellkammer nach einer Orgie. Der Boden ist übersät mit leeren Flaschen, ein paar Pizzakartons und diversen gefüllten Mülltüten. Ich hebe den Blick von diesem Chaos und prüfe, ob der Mann in diesem schrecklichen Unterhemd wirklich Jochen ist. Der Jochen, den ich als ordentlich, ja fast schon penibel, kenne und dessen Wohnung stets so gut aufgeräumt ist, dass es mir ob meiner Unordnung immer wieder die Schamesröte ins Gesicht treibt. Er sieht aus wie dieser Jochen, aber er ist nicht mehr der Mann, den ich kenne. Was ist nur geschehen?

»Jochen, was ist los mit dir? Du bist doch erst seit gestern suspendiert, aber hier sieht es aus, als ob du seit Wochen Orgien feierst.« »Ich bin nicht suspendiert. Sie wollten mich versetzen, da habe ich Urlaub genommen.« »So sieht bei dir Urlaub aus?« »Was geht dich das an?« Er dreht sich um und schlurft in Richtung seines Wohnzimmers. Ich folge ihm, unsicher, ob ich das, was mich dort erwartet, wirklich ertragen kann.

Das Wohnzimmer ist verdunkelt. Nur der übergroße Flachbildfernseher beleuchtet die Szenerie. Zwei tätowierte Kerle auf einem Schrottplatz erzählen irgendwas, aber der Ton ist ausgeschaltet. Jochen fläzt sich in einen Sessel und greift eine Bierflasche aus der Batterie, die auf dem Tisch steht. Als er feststellt, dass er eine leere Flasche gegriffen hat, stellt er sie ungehalten zurück und stößt dabei mehrere Flaschen um, die scheppernd über den Tisch rollen. Eine fällt herunter und zerspringt klirrend auf dem Boden, während vom Tisch Bier auf sie hinabtropft. »Mensch, Jochen, was für eine Sauerei!« Ich ziehe den Rollladen hoch und öffne das Fenster. Es kommt mir so vor, dass ich von dem Druckausgleich, den es gibt, als der Sauerstoffgehalt im Wohnzimmer wieder auf den der Außenluft angeglichen wird, regelrecht umgeweht werde. Jochen grunzt nur. »Scheiße!« Ich renne in die Küche und versuche, einen Putzlappen zu finden. Schließlich greife ich je eine Rolle Küchenpapier und Plastiktüten. Im Wohnzimmer beginne ich, das Bier aufzuwischen und die Flaschen in eine Tüte zu stopfen. Jochen schlürft ungerührt an seiner Bierflasche. Ich trete gegen seine ausgestreckten Beine, um die restlichen Scherben aufsammeln zu können. Murrend zieht er seine Füße weg.

Nachdem ich den Müll halbwegs beiseitegeschafft habe, postiere ich mich vor ihm. »So, jetzt raus damit: Was ist los?« »Geh weg«, sagt er und versucht, an mir vorbei auf den Bildschirm zu sehen. Ich greife die Fernbedienung und drücke auf den Ausschaltknopf. »Hey!« Jochen versucht, mir die Fernbedienung zu entreißen, aber ich schmeiße sie beherzt durch das offene Fenster. »Hast du sie noch alle?« Jochen macht Anstalten aufzustehen, aber ich drücke ihn zurück in den Sessel. Er sieht mich wütend an. »Hau doch ab! Nach Paris oder wo du sonst so herumhurst.« »Was?« Es ist wieder ein Reflex. Bei dem Wort ›huren‹ kann ich nicht anders. Ich verpasse ihm eine schallende Ohrfeige. Sein Gesicht färbt sich rot. Nicht, weil mein Schlag so heftig war. Das war er nämlich nicht. Jochen wird wütend. Richtig wütend. So habe ich ihn noch nie gesehen. Schlummert in dem braven, lieben, hilfsbereiten und immer korrekten Jochen ein gewalttätiges Monster? Er springt auf und ich weiche einen Schritt zurück. Es würde mich nicht überraschen, wenn Dampf aus seiner Nase käme. Er schnauft heftig. Dann macht er einen Schritt auf mich zu und ich weiche weiter zurück. Wenn der durchtrainierte Jochen mich schlagen würde, wären meine Tage gezählt. Sein Gesicht hat mittlerweile die Farbstufe Dunkelrot erreicht und die Explosion steht unmittelbar bevor. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand, im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Augen werden zu Schlitzen, bis sie fast ganz verschwunden sind. Dann beginnt sein Körper zu beben und ich hebe die Hände vor mein Gesicht. Jeden Moment rechne ich damit, dass mich ein Schlag aus den Angeln hebt und mich, wie im Film, über den Flachbildfernseher gegen das Regal krachen lässt. Dann spüre ich etwas an meiner Schulter. Es ist kein Schlag. Es ist Jochens Kopf. Ich nehme die Hände vom Gesicht und lege sie um seinen Oberkörper, der sich heftig schüttelt. Jochen schluchzt laut auf. »Scheiß Weiber.« Wieder wird sein Körper von einem Beben heimgesucht. Das zerreißt mir das Herz. Ich streichele über seinen Hinterkopf. »Ach, Jochen. Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.« Er löst sich aus meiner Umarmung und starrt mich an. »Ach nee. Was wolltest du dann? Du denkst doch sowieso immer nur an dich.« Er macht eine abfällige Handbewegung und geht zurück zu seinem Sessel, in den er sich kraftlos fallen lässt.

---ENDE DER LESEPROBE---