Frau Appeldorn und der tote Maler - Vera Nentwich - E-Book
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Frau Appeldorn und der tote Maler E-Book

Vera Nentwich

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  • Herausgeber: Vera Books
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Plötzlich Ruhestand. Was macht man dann? Mörder jagen! Für die Chefsekretärin Mareike Appeldorn ist der Ruhestand eine unangenehme Vorstellung. Ihr Beruf war ihr Leben, doch nach dem Tod des Seniorchefs gab es keine Verwendung für sie. Auf der Suche nach neuen Herausforderungen landet sie im örtlichen Kulturverein und organisiert den Tag der offenen Ateliers. Ausgerechnet dort wird am Ende des Tages der Maler Martin Borger tot aufgefunden und die Hauptverdächtige ist auch noch die neue Citymanagerin, die sich als Tochter von Frau Appeldorns Nachbarn herausstellt. Mit diesem Herrn Büyüktürk, einem emeritierten Professor für Germanistik, ist sie im Streit verbunden. Parkt er doch seinen Mercedes ständig vor ihrer Einfahrt. Nun hat auch er ein großes Interesse, herauszubekommen, wer wirklich schuld am Tod des Malers ist. Frau Appeldorn und Herr Büyüktürk, ein ungleiches Paar geht auf Mörderjagd. Vielleicht ist Ruhestand doch nicht so langweilig. Nominiert zum Innocent Award 2023 - BEST BOOK

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I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
Möchten Sie wissen, wie es weitergeht?
Die Zwei von der Talkstelle
Die Autorin

Frau Appeldorn und der tote Maler

Vera Nentwich

I

Die Suche nach einem neuen Lebensinhalt war die größte Herausforderung für Frau Appeldorn, seit sie nach dem Tod ihres Chefs von einem Tag auf den anderen in den Ruhestand versetzt worden war. Der Junior, dieser gelackte Schnösel, hatte sie dazu sogar noch beglückwünscht. Sie schnaubte. Dann erhob sie sich vom Frühstückstisch und sah auf die Uhr. Heute sollte ein entscheidender Tag auf dem Weg zu ihrer neuen Aufgabe sein. Sie hatte sich in die Konzeption und Planung der Veranstaltung richtig reingehängt. Heute war es so weit, der Tag der offenen Ateliers würde über die Bühne gehen. Und es würde sich zeigen, dass sie die Gelegenheit, ihr Organisationstalent unter Beweis zu stellen, gut genutzt hatte.

Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Sie erhob sich vom Frühstückstisch und sah auf die Uhr. Ihre Mitstreiterinnen im Kulturverein würden erwarten, dass sie als Erste erschien. Sie hatten die Verantwortung für den Tag der offenen Ateliers und jetzt musste alles reibungslos funktionieren. So, wie ihre Zuverlässigkeit in all den Jahren in der Position als rechte Hand des Chefs ihr Markenzeichen gewesen war, so würde es auch sein, wenn sie als Pensionärin ehrenamtliche Aufgaben übernahm.

Sie ging in die Diele und betrachtete die Bilder an der Wand. Sie hatte sich ihr neues Heim gemütlich eingerichtet. Es war eine gute Idee gewesen, das neue Leben mit einem Umzug zu beginnen. Und dieses kleine Häuschen in einem Wohngebiet am Stadtrand hatte es ihr sofort angetan. Die Miete war zudem überraschend günstig, und gegenüber ihrer vorherigen Wohnung im zweiten Stock hatte dieses neue Domizil sogar den Vorteil, für sie auch begehbar zu bleiben, wenn sie irgendwann einmal gebrechlich werden würde. Aber bis es so weit käme, würde noch viel Zeit vergehen.

Jetzt hieß es erst einmal, den neuen Lebensabschnitt einzuläuten. Sie lächelte sich im Spiegel an, schlüpfte in ihren Mantel und setzte sich ihr Markenzeichen auf: den dunkelroten Hut, den sie einst auf einer Dienstreise mit ihrem Chef in einem kleinen Geschäft erworben hatte, und der sie seitdem stets begleitete. Sie prüfte ein letztes Mal ihre Erscheinung und schritt dann aus der Haustür.

„Oh, nein, nicht heute“, stöhnte sie, als ihr Blick auf den dunkelblauen Mercedes fiel, der vor ihrer Ausfahrt parkte und ihr mal wieder den Weg versperrte. Seit sie in ihr Häuschen eingezogen war, blockierte der Wagen des Nachbarn ständig ihre Einfahrt. Es kam ihr vor, als wäre sie jeden Tag der letzten Monate den Weg durch den Vorgarten nebenan gegangen. Immer das gleiche Spiel. Sie klingelte an der Tür. Der Nachbar, dessen Namen sie so schwer aussprechen konnte, kam heraus, murrte irgendetwas und machte dann den Weg frei, damit sie von ihrem Grundstück fahren konnte. Jedes Mal hatte sie ihn höflich, aber bestimmt aufgefordert, zukünftig bitte nicht mehr dort zu parken. Jedes Mal hatte er etwas Unverständliches gebrummt und war wieder in seinem Haus verschwunden.

Sie sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Heute durfte sie auf keinen Fall zu spät kommen. Sie presste ihren Finger auf den Klingelknopf und der durchdringende Ton, den sie, seit sie hier wohnte, schon so oft gehört hatte, schrillte zu ihr heraus. Sie tippte mit den Fingern auf dem Holz der Tür herum. Wo blieb dieser blöde Kerl nur? Wieder sah sie auf die Uhr. Dann drückte sie den Klingelknopf erneut. Doch außer dem bekannten Geräusch konnte sie keine Regung im Haus bemerken. Sie ging zu dem kleinen Fenster neben der Tür und versuchte, ins Haus zu sehen, aber sie konnte nichts erkennen. Zurück an der Tür donnerte sie ihre Hand auf den Klingelknopf und löste sie erst wieder, als sie das nervenzerfetzende Geräusch nicht mehr ertragen konnte. Könnte es sein, dass ihr Nachbar gar nicht zuhause war? Panik kam in ihr auf. Sie sah zu ihrem Auto und dann zu dem Gefährt, das ihre Einfahrt blockierte. Nein, daran würde sie niemals vorbeikommen. Noch einmal drückte sie diesen vermaledeiten Knopf. Wieder geschah nichts.

Sie holte ihr Handy aus der Handtasche und wählte Utes Nummer.

„Hallo Mareike, bist du noch nicht unterwegs?“, begrüßte sie die Vereinskollegin.

„Ich kann hier nicht weg. Mein Nachbar versperrt schon wieder meine Ausfahrt und er scheint nicht zuhause zu sein. Jedenfalls öffnet er nicht.“

„So ein Mist. Dann musst du ihn endlich mal abschleppen lassen. So oft, wie er dich jetzt schon blockiert hat.“

„Ich weiß nicht, wie das geht. Ich denke, ich bestelle mir ein Taxi.“

„Wenn du meinst, aber ich würde ihn nicht damit durchkommen lassen. Ruf doch die Polizei. Die müssen dem Herrn mal die Leviten lesen.“

„Ich weiß nicht …“

„Doch das solltest du tun. Sonst hört das nie auf. Wir halten hier so lange die Stellung.“ Frau Appeldorn hörte, wie jemand Utes Namen rief. „Du, ich muss los. Sieh zu, dass du bald hier bist“, sagte sie, und dann legte sie auf.

Frau Appeldorn betrachtete das Telefon. Sollte sie wirklich die Polizei alarmieren? War das nicht zu viel des Guten? Sie drückte ein weiteres Mal auf die Klingel, doch auch dieses Mal geschah nichts. Natürlich könnte sie sich jetzt ein Taxi rufen, aber dann hätte sie morgen wieder das Problem. Und übermorgen und an jedem weiteren Tag. Als sie daran dachte, dass sie womöglich zu spät kommen würde, stieg Wut in ihr auf. Ausgerechnet heute! Ute hatte recht, ihm mussten die Leviten gelesen werden. Sie tippte die 110 auf dem Telefon.

 

Kurz darauf ging sie auf die Polizeibeamtin zu, die am Rand ihres sorgsam gepflegten Vorgartens darauf wartete, den Grund für den Ruf nach der Polizei zu erfahren. Frau Appeldorn sagte sich selbst immer wieder, dass sie nun wirklich nicht anders gekonnt hätte als dieses Mal energischer zu reagieren.

„Schauen Sie sich diese Karosse dort an.“ Frau Appeldorn winkte in Richtung ihrer Garageneinfahrt. „Ich habe den Kerl nun schon unzählige Male aufgefordert, nicht immer vor meiner Einfahrt zu parken, aber es ändert sich nichts. Und heute muss ich dringend weg. Bitte tun Sie etwas!“ Die Beamtin wandte den Blick in Richtung von Frau Appeldorns ausgestrecktem Arm. Dann nickte sie ihrem am Wagen lehnenden Kollegen zu. Er notierte das Kennzeichen des Autos und stieg in das Polizeifahrzeug.

„Sie kennen den Halter dieses Fahrzeugs?“

„Ja, natürlich.“ Wieder fuchtelte Frau Appeldorn mit dem Arm in die Richtung des Nachbarhauses. „Das ist mein Nachbar.“

„Wie heißt Ihr Nachbar?“

„Bütürtürk oder so ähnlich. So ein Name mit vielen Üs. Ich kann mir den einfach nicht merken. Sie müssen mit ihm reden.“

Sie spürte, wie die Beamtin sie musterte. Doch Frau Appeldorn war es gewohnt, prüfenden Blicken standzuhalten. Über die Jahre als Chefsekretärin hatte sie unzähligen wichtigen Herren Paroli geboten. Sie war keine Frau, die man so leicht einschüchtern konnte. Sie hatte sich heute Morgen für die weiße Bluse entschieden und war sicher, die Beamtin würde erkennen, dass es sich um ein edles Stück handelte. Dazu trug sie den blauen Rock, der ihr bis knapp über die Knie reichte, wie es sich gehörte. Hautfarbene Strümpfe und flache Schuhe rundeten das Bild ab. Sie griff sich lässig ins Haar, das nach dem gestrigen Friseurbesuch wieder goldig glänzen sollte. Dann versicherte sie sich kurz mit einem weiteren Handgriff, dass sie die goldene Kette trug, die ihr der Chef als Dank für ihren Einsatz in der Krise 2008 geschenkt hatte.

Die Polizeibeamtin wandte den Blick von ihr ab. „Warten Sie bitte einen Moment. Wir überprüfen das.“ Sie ging zum Polizeiwagen, sprach kurz mit ihrem Kollegen, und kam dann wieder zurück.

„Wir haben die Angaben überprüft. Der Halter ist Herr Büyüktürk, wie Sie sagten. Wissen Sie, ob Ihr Nachbar zuhause ist?“

Frau Appeldorn zuckte mit den Schultern. „Wenn sein Auto hier steht, nehme ich es an. Gesehen habe ich ihn heute noch nicht, und auf mein mehrfaches und ausdauerndes Klingeln hat er nicht reagiert. Das ist es ja!“

„Sie warten bitte hier. Oder am besten gehen Sie zurück ins Haus. Wir klären das und kommen gleich wieder zu Ihnen.“

„Sie müssen das Auto abschleppen lassen.“

„Wir werden erst einmal mit Ihrem Nachbarn reden. Bitte gehen Sie solange ins Haus.“

Zögerlich trottete Frau Appeldorn in Richtung Tür. Auf halber Strecke drehte sie sich noch einmal um. „Was ist, wenn er nicht da ist?“, rief sie der Polizistin zu.

„Das werden wir dann sehen“, antwortete diese.

Frau Appeldorn sah ihnen nach, aber anstatt ins Haus zu gehen, blieb sie im Eingang stehen, um die Szenerie weiterhin beobachten zu können.

Die Beamten gingen nach nebenan und drückten die Klingel. Es dauerte eine Weile, bis sich endlich die Tür öffnete. Ihr Nachbar, Mitte sechzig, mit graumeliertem, kurzem Haar, einem für sein Alter noch überraschend vollen Pony und einer goldgeränderten Brille, erschien. Er trug ein T-Shirt, Jeans und altmodische Pantoffeln. Frau Appeldorn war irgendwie erleichtert, dass er nicht auch zuhause mit Tweedsakko herumlief, wie sonst, wenn sie ihm auf der Straße begegnete. In der Hand hielt er die Tageszeitung, und um den Hals trug er einen dieser dicken Kopfhörer, mit denen man immer öfter Menschen auch auf der Straße sah. Frau Appeldorn reckte sich etwas, um verstehen zu können, was er sagte.

„Oh, die Polizei. Was kann ich für Sie tun?“

„Sind Sie Herr …“, die Beamtin blickte in Ihre Notizen. „Alican Büyüktürk?“

Der Nachbar nickte. „Ja, bin ich.“

„Gehört Ihnen der Mercedes dort?“ Sie zeigte auf den Wagen vor Frau Appeldorns Einfahrt.

„Ja, der gehört mir. Hat mich diese Hexe etwa angezeigt?“

Frau Appeldorn wollte zu ihnen gehen und sich über diese Beleidigung beschweren, aber dann besann sie sich. Zuerst wollte sie sehen, was die Polizei tun würde.

„Ihnen ist also bewusst, dass Ihr Wagen ordnungswidrig vor einer Einfahrt parkt?“

„Ja, sicher. Aber ich habe ihr doch gesagt, dass ich sofort wegfahre, wenn sie raus muss.“ Er wies mit dem Kopf in Richtung der Straße. „Schauen Sie sich doch mal um! Hier gibt es nirgends freie Parkplätze, und ich wollte gestern nicht kilometerweit laufen.“

„Das Parken vor einer Einfahrt ist eine Ordnungswidrigkeit“, stellte die Beamtin fest. „Der Mangel an Parkplätzen rechtfertigt dies nicht. Ich muss Ihnen daher leider eine Verwarnung ausstellen. Bitte fahren Sie zudem Ihr Fahrzeug unverzüglich weg, ansonsten müssen wir es kostenpflichtig abschleppen lassen.“

„Sie hätte doch bloß eben klingeln müssen, und ich wäre schon weg gewesen. Stattdessen ruft sie gleich die Polizei.“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Wir sind doch Nachbarn.“

Nun hielt es Frau Appeldorn nicht mehr auf ihrem Beobachtungsposten. Sie machte ein paar Schritte in Richtung des Geschehens. „Ich habe geklingelt. Mehrfach. Sie haben nicht geöffnet. Was hätte ich denn tun sollen?“

Der Nachbar sah sie überrascht an und griff mit der Hand an den Kopfhörer. „Oh, dann habe ich es wohl nicht gehört. Aber trotzdem ruft man doch nicht gleich die Polizei.“

„Nicht gehört? Wie lange sollte ich denn darauf warten, bis dem Herrn genehm ist, mal zu reagieren?“

„Frau Appeldorn, bitte“, versuchte die Polizistin, die Kontrolle zurückzugewinnen. Sie hielt dem Nachbarn den Zettel mit der Verwarnung hin. „Bitte fahren Sie unverzüglich das Fahrzeug weg.“

Er nahm den Zettel und sandte einen wütenden Blick in Richtung seiner Nachbarin. „Ja, ja. Mache ich. Sofort. Ich hole nur eben den Schlüssel.“ Er verschwand im Haus.

„Bitte gehen Sie wieder in Ihr Haus.“ Auf der Stirn der Polizistin hatte sich eine steile Falte gebildet. Frau Appeldorn seufzte und ging bereitwillig bis zu ihrer Haustür. Dort blieb sie stehen.

Kurze Zeit später erschien der Nachbar mit dem Autoschlüssel in der Hand. Die Polizistin folgte ihm zum Wagen und beobachtete, wie er einstieg.

„Bitte parken Sie zukünftig nicht mehr vor der Einfahrt“, ermahnte sie ihn, als er murrend die Autotür zuzog und den Motor startete.

Als er den Wagen auf die Straße lenkte, kam die Beamtin wieder zu Frau Appeldorn. „Herr Büyüktürk wird nicht mehr vor Ihrer Einfahrt parken.“

„Das hoffe ich.“

„Ich empfehle Ihnen, mit Ihrem Nachbarn das Gespräch zu suchen, um zukünftige Unstimmigkeiten zu vermeiden. Sie wollen sicher nicht ständig die Polizei rufen müssen, nicht wahr?“

„Nein, natürlich nicht“, murmelte sie.

„Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.“ Die Polizistin wartete keine Erwiderung ab, sondern ging zu dem Polizeiwagen, wo ihr Kollege auf sie wartete. Frau Appeldorn beobachtete, wie sie einstiegen und wegfuhren, als Herr Büyüktürk wieder um die Ecke kam.

„Sie mussten natürlich gleich die Polizei rufen!“, rief er ihr zu.

„Von wegen gleich! Sie wissen genau, dass Sie mich, seit ich hier wohne, ständig einparken, und ich muss heute zu einem wichtigen Termin.“

Herr Büyüktürk war vor seinem Haus angekommen. „Wenn Sie nochmal geklingelt hätten, wäre ich sofort weggefahren.“

„Parken Sie einfach nicht mehr vor meiner Einfahrt.“ Frau Appeldorn drehte sich um, ging ins Haus und schloss die Haustür. Das ging ja gut los heute! Sie atmete tief durch.

Dann eilte sie ins Wohnzimmer, um ihre Handtasche zu holen, die sie dort in der Hektik abgestellt hatte, und ihr Blick fiel auf ihr Bücherregal. In der Mitte prangte das Foto, das sie mit dem Seniorchef zeigte. Er thronte an seinem Schreibtisch, während sie ihm die Unterschriftenmappe reichte. Sie seufzte. Sie war in ihrer Arbeit aufgegangen, außerdem hatte sie ihr gerade im Kampf gegen ihre Krankheit Halt gegeben. Schon früh hatte sich gezeigt, dass sie nicht für den klassischen Lebensweg mit Familiengründung und Mutterschaft geschaffen war. Natürlich, damals in der Beziehung mit Armin hatte es schon Überlegungen in diese Richtung gegeben. Doch dann hatte er sie verlassen, und es sollte nie wieder ein Moment kommen, an dem sie derartige Gedanken hatte. Sie hatte es nie bereut. Schließlich hatte sie in der Firma ihre Erfüllung gefunden. Erst der plötzliche Tod des Seniors hatte alles jäh beendet. Die Stille und das Ticken der Uhr kamen ihr auf einmal noch lauter vor als sonst.

Aber sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Der Verein zur Förderung der örtlichen Kultur war ein Anfang, sich neue Aufgaben zu schaffen, und sie war mit offenen Armen aufgenommen worden. Schließlich waren Frauen wie Frau Appeldorn überall gerne gesehen, Menschen, die es gewohnt waren, anzupacken. Sie nahm die Handtasche und ging wieder zurück in die Diele. Dabei fiel ihr Blick auf den Zettel, der an ihrem Garderobenspiegel klebte. Montag, 11:15 Uhr, Dr. Klein, stand dort geschrieben. Nein, heute wollte sie nicht daran denken, was ihr der Doktor sagen könnte. Heute ging es nur um ihr Vorhaben. Sie würde jetzt zwar zu spät kommen, aber das änderte nichts daran, dass sie dieses Projekt zum Erfolg machen würde. Der Tag der offenen Ateliers würde ihr Einstieg in ein erfolgreiches Leben als Pensionärin werden. Ein Tag, an dem die unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstler des Ortes ihre Räume geöffnet hatten und die Menschen einluden, sie zu besuchen und die Werke zu betrachten. Die Organisation war eine Herausforderung gewesen, denn schließlich mussten viele einzelne Beteiligte unter einen Hut gebracht werden, und es hatte unzähliger Abstimmungen bedurft. Frau Appeldorn hatte es genossen, die Fäden bei der Organisation in der Hand zu halten, wichtige Entscheidungen zu treffen und den Frauen im Kulturverein Führung zu geben, auch wenn ihr dabei manchmal die Citymanagerin ins Gehege gekommen war, die überall die Finger im Spiel hatte.

Das Wetter hätte nicht geeigneter für diesen Tag sein können. Es war mild. Nicht so kalt, dass man sich nicht heraustraute, aber auch nicht so warm, dass man permanent schwitzte. Der Himmel war leicht bewölkt, aber Regen war nicht in Sicht. Zufrieden stieg sie in ihr Auto und fuhr los in Richtung Innenstadt, wo sie sich mit den Mitstreiterinnen des Vereins treffen wollte.

Sie hatten ihre Organisationszentrale im Foyer des Rathauses aufgeschlagen, und Ute Neumann winkte ihr bereits zu, als sie durch die Glastür ins Foyer trat.

„Guten Morgen Mareike, gut, dass du kommst. Bist du nun mit einem Taxi gekommen, oder hast du meinen Rat befolgt?“, rief sie ihr zu.

„Ich habe die Polizei gerufen. Wie du es gesagt hast.“ Frau Appeldorn umarmte ihre Freundin und deutete Küsse auf beide Wangen an. „Ich denke, es musste sein.“

„Das denke ich auch. Hoffentlich bringt ihn das zur Vernunft.“

Frau Appeldorn nickte. „Sind denn alle da?“

Sie ließ ihren Blick schweifen und beobachtete, wie die Frauen einen Biergartentisch mit einer Tischdecke bedeckten, der später der Informationsstand werden sollte, und die Programmflyer für den Tag der offenen Ateliers darauf ausbreiteten. „Sieht auf den ersten Blick alles gut aus.“

„Keine Sorge, Probleme gibt es nicht“, beruhigte sie die Freundin. „Frau Dammer war nur schon da und hat nach dir gefragt.“

„Ach, ist die Frau Citymanagerin nervös? Hat sie gesagt, was sie wollte?“

„Deine Ex-Firma stellt doch den Shuttlebus, und sie wollte nachfragen, wo er bleibt. Mittlerweile ist er aber angekommen.“ Sie nickte in Richtung des Vorplatzes, und Frau Appeldorn folgte ihrem Blick. Durch die Glasfassade konnte sie den Kleinbus dort stehen sehen. Ein Mann lehnte daran und zog an einer Zigarette. Frau Appeldorn blickte auf die Uhr. „Noch eine Viertelstunde, dann muss er zur ersten Tour aufbrechen. Weiß er Bescheid?“

„Elisabeth, hast du mit dem Fahrer alles besprochen?“

Die Angesprochene sah von den Flyern auf, die sie akribisch an der Tischkante ausrichtete. „Oh, nein. Mache ich sofort.“ Sie ließ die restlichen Flyer aus der Hand fallen und hastete aus der Tür zum Fahrer. Durch die Scheiben konnte man beobachten, wie sie mit ihm sprach und dabei mehrfach auf ihre Armbanduhr tippte.

Ute Neumann verzog das Gesicht. „Wenn man ihnen nicht alles drei Mal sagt.“ Sie nahm sich einen der Flyer. „Wo beginnst du mit deinem Rundgang?“

Frau Appeldorn ergriff ebenfalls einen Plan und faltete ihn auf.

„Ich denke, ich werde von hier aus zu Fuß starten.“ Sie tippte auf das Papier. „Die meisten Stationen sind ja gleich hier in der Nähe.“

Ihre Freundin nickte. „Okay, dann steige ich in den Bus und fahre die erste Tour mit ihm. Wir treffen uns dann irgendwo auf der Strecke.“

Pünktlich um zehn Uhr, zum offiziellen Start des Tages der offenen Ateliers, trat Frau Appeldorn aus dem Foyer des Rathauses auf den Marktplatz. Der Platz war leer. Nur im Augenwinkel konnte sie sehen, wie Ute in den Bus einstieg. Aus der gegenüberliegenden Kirche konnte man leise Orgelklänge erahnen. Wenn die Sonntagsmesse vorüber war, würde sich der Platz mehr füllen. Wie sehr hatte die Stadt in den letzten Jahren dafür gekämpft, dass sich Cafés und Restaurants hier ansiedeln, um die Innenstadt zu beleben. Doch es gab nur eine Eisdiele und ein Restaurant. Vor der Eisdiele standen Stühle und Tische, und eine Kellnerin arrangierte Aufsteller mit der Eisauswahl auf den Tischen. Auch vor dem Restaurant standen ein paar Tische, die darauf warteten, von Frühstücksgästen oder Spaziergängern bevölkert zu werden. Frau Appeldorn ging daran vorbei und beobachtete den Wirt des Restaurants, der an der Theke lehnte und missmutig die leeren Tische betrachtete.

Der heutige Tag der offenen Ateliers war eine der Initiativen der neuen Citymanagerin, der Stadt mehr Leben einzuhauchen. Die Einstellung der jungen Frau war nicht unumstritten gewesen, und sie stand unter großem Druck, schnell Akzente zu setzen. Sie hatte dann den Kulturverein angesprochen und um Mithilfe gebeten. Frau Appeldorn war froh gewesen, dass es gleich zu ihrem Einstieg in den Verein ein lohnenswertes Projekt geben sollte, und hatte ihre Mitstreiterinnen zur Mitarbeit bewegen können. Auch wenn es niemand offiziell ausgesprochen hatte, so war sie doch eine Art Projektleiterin geworden. Ihr Blick fiel auf eines der Plakate für die heutige Veranstaltung, das an einem der leerstehenden Ladengeschäfte prangte.

Am Ende des Marktplatzes bog sie in die Seitenstraße ein. Dort sollte das erste Atelier sein, das sie aufsuchen wollte. Sie suchte nach der Hausnummer, aber es erübrigte sich, als sie vor dem Haus stand. Die Haustür stand offen. Ein Plakat zeigte an, dass man eine der Stationen erreicht hatte, und Pfeile wiesen ins Haus. Frau Appeldorn trat ein und blickte sich um. Sie stand in einer größeren Diele. Von dort aus folgte sie einem weiteren Hinweis und gelangte in ein Zimmer, das der Bezeichnung Atelier alle Ehre machte. Die Wände waren über und über bedeckt mit Bildern. In der rechten Ecke türmten sich Malerutensilien, und ein paar Staffeleien lehnten an der Wand neben weiteren unzähligen Bildern. Der Duft frisch gemahlenen Kaffees wehte durch den Raum.

„Oh, Frau Appeldorn. Wie schön, dass Sie mein erster Gast sind.“

Von links kam eine Frau strahlend auf sie zu. „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Gerade erst aufgebrüht.“

„Oh, danke, nein. Das ist nett, aber ich habe nicht so viel Zeit.“ Frau Appeldorn betrachtete gebannt die Gemälde. Sie erkannte Häuser und Plätze der Stadt. Doch wenn sie in der Realität oft eher grau und unscheinbar wirkten, so waren sie in den Bildern bunt und lebendig. Liebevoll hatte die Künstlerin die Menschen der Stadt an diesen Orten gezeichnet und so ein Leben dargestellt, das sich alle wünschten. „Beindruckend“, ließ Frau Appeldorn verlauten, während sie in ihrem Gehirn nach dem Namen der Malerin kramte.

„Finden Sie?“ Die Frau sah sie zweifelnd an.

„Ja, absolut. Sehr stimmungsvoll.“

Die Künstlerin strahlte. „Wenn Sie wüssten, wie glücklich mich das macht.“

Frau Appeldorn betrachtete die Frau, die sie auf Mitte fünfzig schätzte. „Die Bilder werden Ihnen sicher aus den Händen gerissen.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Oh, nein. Ich verkaufe sie nicht. Mir geht es nicht ums Geld. Mir geht es um das Malen selbst, und darum, dass Menschen glücklich sind, wenn sie sie betrachten.“

„Aber dann müssten Sie Ihre Werke doch erst recht verkaufen, damit sie hinaus in die Welt gehen und überall bekannt werden.“

Die Frau lächelte. „Aber es sind meine Babys. Ich kann sie nicht weggeben.“

Frau Appeldorn ließ ihren Blick noch einmal durch den Raum und über die Bilder an den Wänden schweifen. „Dann hoffe ich, dass heute viele Menschen zu Ihnen kommen und sich an Ihren Bildern erfreuen.“

„Ja, das wäre schön“, bestätigte die Malerin und ergriff entschlossen Frau Appeldorns Hand. „Danke, dass Sie diese Gelegenheit geschaffen haben.“

„Oh“, konnte Frau Appeldorn nur stammeln. Überfordert von dem Überschwang der Künstlerin entzog sie sanft ihre Hand der Umklammerung. „Ich muss weiter.“

Sie drehte sich um und verließ schnellen Schrittes das Haus. Auf der Straße angekommen, sah sie noch einmal zurück. Die Malerin stand in der Tür zu ihrem Atelier und winkte ihr zu. Frau Appeldorn winkte zurück und schaute, dass sie aus dem Blickfeld der Künstlerin kam. „Diese Künstler. Kein Wunder, dass sie nie auf einen grünen Zweig kommen“, murmelte sie vor sich hin. Sie war es gewohnt, zielstrebig zu arbeiten. Schon bei der Organisation der Veranstaltung bei ihren vielen Gesprächen mit den Künstlern hatte sie bemerkt, dass diese ganz anders an die Dinge herangingen und Frau Appeldorns Vorstellung von Professionalität nicht unbedingt teilten. Umso besser also, dass sie jetzt die Führung übernommen hatte.

Sie ging weiter die Straße hinunter, verließ die verkehrsberuhigte Zone und bog am Ende nach rechts in die Hauptstraße ab. Die vorbeifahrenden Autos rissen sie aus ihren Gedanken, und ihre Augen suchten nach ihrem Ziel. Dort weiter vorne erblickte sie das alte Firmengebäude, das an die Zeit erinnerte, als die Textilproduktion in der Region blühte. Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie bei dem bronzenen Schild über dem Eingang ankam. Krawattenmanufaktur Meurer & Co. stand dort geschrieben. Sie erinnerte sich, welche Wellen es damals geschlagen hatte, als die Firma ihre Pforten endgültig schloss. Sie hatte gerade ihre Ausbildung in einer Anwaltskanzlei abgeschlossen, war auf der Suche einer neuen Tätigkeit gewesen, und plötzlich waren viele Menschen ohne Arbeit. Ihr fröstelte bei der Erinnerung an die Ängste, die sie damals umgetrieben hatten. Doch dann hatte sie zum Glück die Stelle bei Franz Julius GmbH & Co. gefunden und war alsbald zur Chefsekretärin aufgestiegen.

Das Gebäude der alten Krawattenfabrik beherbergte ein Mischmasch aus Büros für Existenzgründungen, Arbeitsräumen der unterschiedlichsten Arten und eben Werkstätten von Künstlern. Auch hier zeigte ein Plakat auf einer Staffelei am Eingang an, dass die Ateliers heute ihre Türen dem Publikum öffneten.

Sie trat ein, und der Charme eines Firmengebäudes aus den Siebzigern des letzten Jahrhunderts umfasste sie. In der Luft hing eine Mischung aus dem Geruch von Farbe, verbranntem Metall und etwas Undefinierbarem, was durchaus noch die Ausdünstung der früher hier behandelten Stoffe sein konnte. Rechts und links ging jeweils ein langer Gang ab. Auf einer weiteren Staffelei stand eine Tafel, die aufführte, welche Künstler und Künstlerinnen im Gebäude zu finden waren und in welchen ehemaligen Büros sie residierten. Frau Appeldorn entschloss sich, zuerst nach links zu gehen und sich dort zum Ende und wieder zurück bis zum rechten Ende des Ganges durchzuarbeiten.

Gleich hinter der ersten Tür auf der rechten Seite verbarg sich ein Atelier. Wobei Frau Appeldorn beim Blick in den Raum nicht sicher war, ob der Begriff Atelier wirklich passte. Es wirkte eher wie eine Werkstatt. Eine große Werkbank prägte den Raum. Ein großes Stück Metall steckte in einem mächtigen Schraubstock. „Augen zu“, rief eine brummige Stimme, und Frau Appeldorn sah in die Richtung, aus der die Stimme kam, als ein helles Licht sie blendete. Reflexartig hielt sie sich die Hand vor die Augen. Ein Zischen, wie das Abbrennen einer Wunderkerze, und der Geruch von brutzelndem Metall umfing sie. „Was soll das? Sie können doch hier nicht die Besucher blenden!“, rief sie gegen den Lärm an, der abrupt aufhörte. Vorsichtig senkte sie die Hand und blickte einem Mann in Blaumann und mit Schweißermaske entgegen.

„Das ist mein Atelier“, brummte der Mann.

„Ja, aber es kommen doch heute Besucher. Es ist gefährlich, wenn Sie hier einfach mit Ihrem Schweißgerät herumfuchteln.“

„Ich fuchtele nicht. Ich schaffe ein Kunstwerk“, protestierte der Angesprochene, während er dennoch die Schweißelektrode schwenkte, um seine Aussage zu unterstreichen. Er betrachtete sein Werk. „Man erkennt doch deutlich den Textilarbeiter, nicht wahr? Eine Auftragsarbeit. Eine Hommage an die Geschichte dieses Ortes.“ Er schien aus seinen Gedanken aufzuschrecken und sah zu ihr. „Wer sind Sie überhaupt?“

„Ich bin Frau Appeldorn vom Kulturverein. Sie dürfen die Besucher und Besucherinnen nicht gefährden. Sie müssen wenigstens ein Warnschild aufstellen und sofort aufhören, wenn jemand hereinkommt.“

Er brummte etwas, was Frau Appeldorn nicht verstand, und legte die Elektrode beiseite. Sie verließ die Werkstatt und bemerkte noch, wie der Herr Künstler hinter ihr die Tür zuschmiss. Sie schüttelte den Kopf und wollte gerade einen Schritt zum nächsten Atelier machen, als eine Frau aus einem der Räume stürmte, laut schimpfte und auf sie zu rannte. Frau Appeldorn versuchte noch, zur Seite zu treten, aber es ließ sich nicht vermeiden, dass die Frau sie rammte. Frau Appeldorn musste sich an der Wand abstützen, um nicht umzufallen. Dabei verrutschte ihr Hut und drohte, ihr vom Kopf zu fallen. Die Frau murmelte nur etwas, was eine Entschuldigung hätte sein können, und rannte weiter, während Frau Appeldorn versuchte, wieder sicheren Stand zu bekommen und gleichzeitig ihren Hut festzuhalten. Als sie das Gleichgewicht wiedererlangt hatte und den Hut richtete, seufzte sie auf. Was war das für ein Morgen? Erst hatte der unbelehrbare Nachbar sie gezwungen, die Polizei zu rufen, dann wurde sie beinahe ihres Augenlichts beraubt und jetzt auch noch umgerannt. Das sollte doch wohl kein Omen für den Tag werden?

Sie atmete tief ein und ging zum nächsten Raum. Noch bevor sie eintreten konnte, hörte sie eine männliche Stimme. „Kommen Sie herein“, forderte sie diese auf, und Frau Appeldorn folgte der Einladung. Das klang doch schon etwas besser. Ein Mann lächelte sie an und streckte ihr die Hand entgegen.

„Mein Name ist Robert Gläser. Wie schön, dass Sie den heutigen Reigen eröffnen.“

Frau Appeldorn ergriff zaghaft die Hand des Mannes und sah sich um.

„Mareike Appeldorn vom Kulturverein“, stellte sie sich vor. „Interessant.“ Mehr konnte sie in Anbetracht der Bilder, die rundherum an den Wänden hingen nicht sagen. Sie überlegte, um welche Art Kunst es sich handeln könnte. Wenn es Malerei war, dann kannte sie die Technik nicht. Alle Leinwände waren ganz und gar mit verschieden breiten und farbigen Streifen bedeckt. „Was ist das?“, rutschte ihr heraus. Vorsichtig musterte sie den Künstler, um zu erforschen, ob er beleidigt war. Doch der bemerkte ihr Unbehagen nicht. Es machte den Anschein, als ob er nur auf die Frage gewartet hätte.

„Ungewöhnlich, nicht wahr?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr sogleich fort. „Ich habe die Technik selbst entwickelt.“ Er hielt eine Rolle Klebeband hoch. „Ich arbeite mit Klebeband“, erklärte er dazu. „Ich klebe es über die Leinwand und fixiere es mit Lack.“ Stolz zeigte er auf ein Exemplar, das mit blauen, roten, grünen und grauen Streifen bedeckt war.

„Aha“, war das Einzige, was Frau Appeldorn erwidern konnte. Herr Gläser fasste dies als Aufforderung auf, weitere Ausführungen anzuhängen.

„Sehen Sie hier“, wies er auf ein anderes Bildnis hin, auf dem ebenso farbige Streifen in anderer Ausrichtung und Mischung angeordnet waren. „Hier habe ich breiteres Klebeband benutzt. Es wirkt ganz anders, nicht wahr?“ Er sah Frau Appeldorn erwartungsfroh an. Die Angesprochene konnte nur vorsichtig nicken.

„Ich arbeite nun mit verschiedenen Breiten und mische sie. Es gibt den Bildern jedes Mal eine völlig andere Tiefe.“ Er betrachtete gebannt eines seiner Werke, und vor den Augen von Frau Appeldorn drohten die vielen Streifen zu verschwimmen. „Ja, äh, sehr schön.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“

„Ich verkaufe die Werke auch“, bemerkte der Künstler, als sie einen Schritt auf den Ausgang zu machte. „So ein Bild gibt Ihrem Zuhause einen besonderen Pfiff.“

Frau Appeldorn stockte und drehte sich zu ihm. „Danke. Gut zu wissen.“ Dann beeilte sie sich, das Atelier zu verlassen und zum nächsten zu gehen.

Sie befürchtete, der Klebebandkünstler würde ihr nachkommen und hastete gleich in den nächsten Raum.

„Au!“ Eine Männerstimme schreckte sie auf. Als sie den Blick in Richtung des Schmerzenslautes wendete, erschrak sie. „Oh, Entschuldigung, Herr Bü… , äh, Bü…, was weiß ich, Herr Büllerbü, was machen Sie denn hier?“

„Ich heiße Büyüktürk“, korrigierte ihr Nachbar sie sachlich, aber in einem leicht säuerlichen Tonfall. „Was soll ich hier schon machen? Ich schaue mir die Kunstwerke an.“

„Oh.“

„Was ist? Dachten Sie, Türken interessieren sich nicht für Kunst?“

„Nein, nein, natürlich nicht. Ich hatte nur nicht mit Ihnen gerechnet.“

„Warum nicht?“

Frau Appeldorn versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und wieder die Kontrolle über die Situation zu erlangen. Sie war es nicht gewohnt, dass man sie aus der Fassung brachte. „Ich hatte Sie nicht für einen Kunstliebhaber gehalten.“

„Ich bin offen für vieles.“

„Schön zu wissen.“ Sie richtete sich auf und sah sich im Raum um. Auch hier hingen Bilder an den Wänden, und eine Staffelei stand inmitten des Raums. Ein Mann betrachtete sie und Herrn Büyüktürk.

„Sie kennen sich?“, fragte der Mann.

Frau Appeldorn nickte. „Wir sind Nachbarn. Sie sind der Künstler?“

„Ja“, bestätigte der Mann. „Martin Borger ist mein Name. Gefallen Ihnen die Bilder?“ Er wies mit der Hand die Wand entlang. Frau Appeldorn betrachtete die Werke genauer, während sie im Augenwinkel ihren Nachbarn im Blick behielt. „Ja, sie gefallen mir sehr“, antwortete sie. „Ach, dann haben wir schon mehrfach telefoniert. Ich bin Frau Appeldorn vom Kulturverein.“ Sie reichte ihm die Hand und während er sie ergriff, musste sie daran denken, wie er sie und ihre Mitstreiterinnen mit seinen ständigen Anrufen und Sonderwünschen genervt hatte.

„Ach, wie schön, dass Sie vorbeikommen“, erwiderte er. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr belästigt.“

„Nein, natürlich nicht“, log sie und tadelte sich innerlich dafür.

Die Bilder von Herrn Borger zeigten Szenen am Meer. Sie ging auf ein Bild zu, dass einen Strand mit Strandkörben darstellte. An der Seite ragte anscheinend eine Seebrücke ins Bild. Dahinter war das Meer blauschimmernd zu sehen, und in der Ferne konnte man einen Ozeanriesen erkennen. Sie machte einen weiteren Schritt darauf zu, um weitere Details aufnehmen zu können. „Ist das an der Ostsee?“

Der Maler stellte sich neben sie. „Ja, das haben Sie gut erkannt. Das gibt meine Erinnerung an einen Urlaub auf Rügen wieder.“

„Sehr schön.“

Ihr Nachbar kam zu ihnen. „Ja, die Atmosphäre ist wirklich sehr gut erfasst. Malen Sie auch die türkische Küste?“

„Dort war ich noch nicht“, klärte der Künstler auf. „Aber ich kann mir vorstellen, dass es dort auch ganz besondere Ansichten gibt.“

Herr Büyüktürk nickte. „Oh ja, das Wasser ist türkis und klar. Die Sonne scheint und glitzert in den Wellen. Der Anblick gibt bestimmt einmalige Bilder.“

„Ich werde es mir merken.“

Frau Appeldorn ging zum nächsten Bild, das wieder eine Meeresszene zeigte. „Das ist aber nicht an der Ostsee.“

Der Maler kam wieder zu ihr.

---ENDE DER LESEPROBE---