Tote Trolle meckern nicht - Vera Nentwich - E-Book

Tote Trolle meckern nicht E-Book

Vera Nentwich

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Beschreibung

Was tust du, wenn dich jemand bedroht und gegen dich hetzt? Trolle jagen! Alles scheint sich gegen Sabine »Biene« Hagen verschworen zu haben. Ihr Versuch, eine Detektei aufzubauen wird nur belacht, mit dem Freund Jochen ist Beziehungspause, der Geschäftspartner Jago weilt in Argentinien und im Netz hetzt ein Troll über sie. Zu allem Überfluss bekommt sie auch noch Drohbriefe und wird von Albträumen geplagt, nachdem sie bei ihrem letzten Einsatz als Privatermittlerin in Notwehr jemanden erschossen hat. Dann gibt es wieder einen Mord, bei dem Biene zu den Verdächtigen zählt. Ihr Durchhaltevermögen wird zusätzlich auf eine harte Probe gestellt, als dieses Mal auch ihre Freunde in Gefahr geraten. Kann sie alleine auf sich gestellt, dem Urheber der Drohungen auf die Spur kommen? Wird sie den Internetroll fassen? Wer lustige Krimis für Erwachsene mag, wird Biene Hagen lieben. Die ideale Urlaubslektüre muss nicht an der Nordsee oder in Bayern spielen. Grefrath am Niederrhein kann locker mithalten. Greifen Sie gleich zu und erleben sie entspannte Stunden mit dem neuen Abenteuer von Biene Hagen.

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Die Autorin
Die neue Ermittlerin

Tote Trolle meckern nicht

Vera Nentwich

 

I

Wenn diese olle Tusse nicht langsam ihre Teilchen zusammengestellt hat, gibt es hier den nächsten Mord. »Werden Sie endlich mal fertig?« Die dusselige Blonde dreht sich erschrocken zu mir um, und Micha hinter der Theke der Bäckerei sieht schockiert aus. »Was ist?«, frage ich. »Andere wollen auch endlich mal drankommen.« Ich drehe mich zu dem jungen Mann hinter mir, aber sein Blick bringt nicht die erwartete Unterstützung.

»Entschuldigen Sie«, säuselt Micha der Kundin zu und sendet mir einen Blick, der mich auf der Stelle tot umfallen lassen müsste. Ich zeige ihr durch eine Handbewegung meinen Unmut. Micha gehört zu meinen ältesten Freundinnen. Sie müsste eigentlich nicht arbeiten, denn ihr Mann Olaf verdient als Techniker für Kartonmaschinen genug. »Was soll ich denn zu Hause?«, sagt sie immer, wenn das Thema darauf fällt. Kinder wollten die beiden schließlich nie. So arbeitet sie eben in der Bäckerei. Sie braucht eben den Kontakt zu den Menschen. Gemeinsam mit Annette und Betty bilden wir die Vierermädelsbande. Aber im Moment scheint Micha nicht auf meiner Seite zu sein.

Die Kundin sieht sich noch einmal unsicher zu mir um, als sie die Bäckerei verlässt.

»Na endlich!«, murre ich, als ich einen Schritt auf die Theke zu mache. »Machst du mir eine Latte?«

»Du kannst warten«, bestimmt Micha und wendet sich dem Mann zu. »Was kann ich für Sie tun?«

Der Mann sendet mir ein verächtliches Grinsen und bestellt dann zwei Brötchen. Er sieht aus wie ein Hipster mit seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe und der Nerdbrille. Hier in Grefrath wirkt das irgendwie fehl am Platze. Ich beobachte das Prozedere, bis er mit seiner Brötchentüte aus der Tür ist.

»Sag mal, spinnst du? Was fällt dir ein, eine Kundin so anzumachen?«, schimpft Micha los, ohne Anstalten zu machen, mir den gewünschten Kaffee zuzubereiten.

»Mein Gott, die hat doch ewig gebraucht.«

»Das ist noch kein Grund, so ausfallend zu werden.«

»Was regst du dich auf? Mach mir einfach meinen Kaffee.«

»Biene, was ist los mit dir? In letzter Zeit bist du unausstehlich.«

»Nix ist los. Kriege ich jetzt endlich meinen Kaffee?«

Micha schüttelt den Kopf und geht zum Kaffeeautomaten. »Ich nehme an zum Mitnehmen?«

»Klar.«

Sie dreht sich wieder zu mir und hält mir einen dieser Coffee-to-Go-Becher hin, die wiederverwendbar sind. »Weißt du, wie viele Kaffeepappbecher stündlich in Deutschland weggeschmissen werden und die Umwelt belasten? Wir bieten jetzt diese wiederverwendbaren Becher an für nur drei Euro, und die erste Latte macchiato ist umsonst. Willst du einen?«

»Lass mich mit diesem Umweltscheiß in Ruhe. Gib mir einen Pappbecher und fertig.«

Micha schüttelt erneut den Kopf und macht sich daran, die Milch aufzuschäumen.

Als sie den Pappbecher vor mich hinstellt, sieht sie mich durchdringend an. »Biene, du musst dir Hilfe holen. So geht das nicht weiter.«

Ich schmeiße das Geld auf die Theke, greife den Becher und drehe mich zum Gehen. »Lasst mich doch einfach alle in Ruhe.«

Während ich über den Deversdonk in Richtung meines Büros schlurfe, denke ich darüber nach, dass mich in Grefrath einige für ziemlich verrückt halten. Schließlich falle ich als arbeitslose Steuerfachangestellte, die nun mit aller Kraft eine Detektei aufbauen möchte, bei vielen aus dem Raster der Normalität. Ich könnte mich genau damit trösten, dass in Grefrath jeder Sabine Hagen kennt. Zumeist nutzt man den Spitznamen Biene, der nicht von ungefähr seit meiner Kindheit immer wie das Insekt geschrieben wird. Soll meinem Charakter entsprechen. Ich hoffe, dass dies auf den Fleiß der Biene gemünzt ist. Bin mir da aber nicht sicher. Die mehr als dreißig Jahre meines Lebens habe ich hier in Grefrath verbracht. Hier kenne ich nahezu jeden, und jeder kennt mich. Oder wenn man mich nicht kennt, dann meine Oma, bei der ich lebe, seit meine Eltern vor mehr als zwanzig Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen sind. Im Moment scheint in meinem Leben aber alles aus den Fugen geraten zu sein. Ich versuche, mir meine aktuelle Situation vor Augen zu führen. Alle haben mich verlassen. Jochen und ich haben eine Beziehungspause eingelegt, von der ebenfalls niemand weiß, ob sie je beendet sein wird. Mit Jochen ist das so eine Sache. Wir können nicht miteinander und nicht ohne einander. Seit der Grundschule sind wir mehr oder weniger zusammen. In letzter Zeit haben wir es mit einer Beziehung versucht, aber es hakt. Jochen ist als Polizist die Ordnung in Person, und ich bin eher das Gegenteil. Da sind Spannungen unvermeidlich. Und da ist da noch Jago. Er ist zurück nach Argentinien, und niemand weiß, ob er je wiederkommen wird. Er ist der Finanzier der Detektei und es gab da diesen Kuss, bevor er abgereist ist, der mir nicht aus dem Kopf gehen will. Wenigstens meine Oma ist zwischenzeitlich wieder zurück von ihrer Kreuzfahrt, aber nun nistet sich ihr Lover Karl immer fester bei uns ein. Nicht, dass ich es meiner Oma nicht gönnen würde, aber für mich ist kein Mensch mehr da. Zu allem Überfluss hat es irgendein Troll im Internet auf mich abgesehen und hetzt auf Facebook über mich. Biene Hagen ist eine Gefahr, steht dort. Man sollte sie einsperren, weil sie eine Gefahr für alle ist.Warum schreitet die Polizei nicht endlich ein und sperrt sie für immer weg? Ich versuche, Facebook zu meiden, aber es gärt in mir. Es hilft auch nicht, dass ich seit Wochen kaum noch schlafe, weil ich nachts immer und immer wieder aufschrecke. Im Traum liege ich jedes Mal wieder in dem Auto. Der Gestank von Benzin ist überall, und dann sind da diese Schüsse. Im Auftrag von Herrn Gerhard, dem reichsten Mann in Grefrath, hatte nämlich ein Killer versucht, Jochen und mich umzubringen. Ich habe ihn erschossen, und seitdem werde ich die Erinnerung an diesen Moment nicht mehr los. Ich muss auch jetzt meinen Kopf kräftig schütteln, um den Gedanken daran zu vertreiben. In einer Kurzschlussreaktion trete ich gegen einen Kieselstein, der gegen eines der parkenden Autos knallt und eine merkliche Beule in der Tür hinterlässt. Ich sehe mich erschrocken um, ob jemand mein Malheur gesehen hat, aber der Platz ist glücklicherweise menschenleer. Ich beschleunige meine Schritte.

Mein Blick fällt auf Jagos Aston Martin, der vor dem Büro parkt. Ein paar Herbstblätter liegen auf der Motorhaube, und ein Vogel hat genau die Mitte der Windschutzscheibe mit seinem weißen Schiss getroffen. Ich betrachte kurz den Wagen und öffne dann die Bürotür. Ein paar Briefe und ein Päckchen liegen auf dem Boden. Ich nehme alles auf und sehe es durch. Ein Angebot für ein Abonnement der FAZ, eine Einladung zu einem internationalen Symposium zur Wirtschaftsentwicklung in China und eine Fachzeitschrift für Logistiker. Ein Brief trägt keinen Absender. Bei dem Päckchen habe ich eine Ahnung, was es ist. Während ich mich frage, welcher Adressenvertrieb da wieder mit unserer Anschrift Geld verdient und Kunden abgezockt hat, betrachte ich den Umschlag ohne Absender. Die restliche Post schmeiße ich in den Papierkorb.

Seit mehr als einer Woche war ich nun nicht mehr im Büro, und ganze drei Werbesendungen sind in der Post. Das ist nicht gerade ein Zeichen für ein florierendes Unternehmen. Vielleicht enthält dieser unbeschriftete Umschlag ja eine positive Überraschung, auch wenn mein Bauchgrummeln etwas anderes anzeigt. Doch bevor ich ihn aufreiße, gehe ich in Jagos Büro und öffne ein Fenster. Die Luft steht in den Räumen. Jago hat eindeutig mehr Geschmack als ich, und so wirkt sein Büro edel. Kein Wunder, dass alle ihn für den Chef halten. Der Mahagonischreibtisch, aus ökologisch einwandfreiem Holz gefertigt, ist perfekt aufgeräumt. Ein Montblanc-Kugelschreiber liegt schmückend vor der Schreibtischunterlage. An der Seite rundet das Sideboard aus demselben Holz den Gesamteindruck ab. Ich gehe in mein Büro, öffne auch hier das Fenster und spüre dem Luftzug nach, der sich entwickelt. Mein Schreibtisch könnte im typischen Büromöbel-Hellgrau kaum unterschiedlicher sein. Die bekritzelte Schreibtischunterlage und die wild verstreuten Utensilien und Papiere unterstreichen dies noch. Ich setze mich auf meinen Bürostuhl, schiebe das Durcheinander aus Papieren, Büroklammern und Stiften mit Werbeaufdruck beiseite, lege das Päckchen auf den Schreibtisch und öffne den Brief.

Du Schlampe, steht dort mit krakeliger Schrift geschrieben. Es wird Zeit, dass du dich verziehst. Du hast genug Schaden angerichtet, und du solltest aufpassen, dass es dich nicht irgendwann erwischt. Als Unterschrift ist ein Kreuz unter die Zeilen gemalt.

Ich lasse das Blatt angewidert auf den Schreibtisch fallen. Ist das eine Todesdrohung? Dieser Troll treibt nicht nur im Netz sein Unwesen, und es wird immer schlimmer. Ich packe den Brief mit spitzen Fingern, öffne die unterste Schreibtischschublade und stopfe ihn zu den anderen. Seit Wochen gibt es diese Briefe, und ich dachte, es würde sich irgendwann von alleine legen. Tut es aber wohl nicht. Ich trete gegen die Schublade, so dass sie sich mit einem lauten Knall schließt, und wende ich mich dem Päckchen zu. Als ich es aufreiße, wird meine Vermutung bestätigt. Ein schwarzes Mäppchen liegt vor mir. Ich öffne es, breite den Inhalt vor mir aus und denke an den Werbetext, der mich zur Bestellung bewogen hat. Mit diesem Set wird Sie kein Schloss mehr aufhalten, stand auf der Internetseite. Zufrieden schließe ich das Mäppchen und packe es in meine Handtasche.

Das Klingeln des Telefons holt mich aus meinen Gedanken. Betty steht auf dem Display, und ich klicke auf den grünen Hörer. »Hallo, Betty«, begrüße ich meine Freundin. Sie ist so ziemlich das genaue Gegenteil von mir. Seit wir uns in der Schule kennengelernt haben, hat sie ein klares Ziel verfolgt und es auch erreicht. Sie hat sich Georg als Mann geangelt, der stellvertretender Filialleiter der hiesigen Sparkasse ist. Die beiden haben ein Haus gebaut und die dazugehörigen zwei Kinder gezeugt, natürlich einen Jungen und ein Mädchen. Dazu ist sie meine beste Freundin. Gegensätze ziehen sich eben an.

»Hallo, meine Liebe«, klingt es mir fröhlich entgegen. »Was machst du gerade?«

»Sitze im Büro.« Ich versuche, die herumliegenden Stifte alle parallel auszurichten.

»Oh.«

»Hm, ist ruhig hier.«

»Ja, die Grefrather brauchen lange, bis sie jemandem vertrauen.«

»Die kennen mich doch schon von Geburt an.« Ich nehme einen der Stifte und kritzele Strichmännchen auf meine Schreibtischunterlage. »Mir können sie vertrauen.«

»Na ja, die meisten kennen dich nicht wirklich. Lass ihnen Zeit. Das wird schon. Es hilft allerdings nicht, wenn du Kundinnen in der Bäckerei anschreist.«

»Ach, hat sich Micha etwa bei dir ausgeweint?«

»Sie macht sich Sorgen um dich. Wie wir alle.«

»Du hast gut reden. Hast du mal gelesen, was da im Internet so über mich geschrieben wird?«

»Ach, das interessiert doch keinen.«

»Das glaubst du, die gerade mal ihre E-Mails abruft. Ist doch alles Scheiße. Wenn jemand einen Detektiv sucht und meinen Namen googelt, wird er gleich auf die Hetzkommentare stoßen und dann bestimmt nicht zu mir kommen.«

»Hast du denn eine Ahnung, wer da so eine Kampagne im Netz gegen dich startet?«

Ich schüttele heftig den Kopf und bemerke dann, dass sie es nicht sehen kann. »Nein. Diese Trolle im Netz verstecken sich immer hinter Fake-Accounts«, füge ich an.

»Trolle? Haben die grüne Strumpfhosen an?« Betty lacht, und nach einem kurzen Unmut über die unpassend erscheinende Reaktion muss ich doch mitlachen.

»Die mit den Strumpfhosen sind Elfen, glaube ich. Aber da bin ich auch nicht sicher. Als Trolle bezeichnet man die Typen, die im Netz Hasskommentare posten und nur auf Provokation aus sind.«

»Ach so. Nur gut, dass ich mich nicht im Netz herumtreibe.«

»Ja, ja. Hilft mir aber jetzt auch nicht.« War klar, dass Betty mir in solchen Dingen keine Hilfe sein würde.

»Na ja, du willst doch Detektivin sein …«

»Wie meinst du das?«

»Was machen Detektivinnen so im Normalfall?« Ihr Tonfall klingt, als ob sie mit einem Kleinkind sprechen würde, das selbstständig aufs Pöttchen gehen soll.

»Du meinst, ich sollte mal nachforschen?«

»Ja, schlaues Kind.« Wieder lacht sie. »Vielleicht kannst du den Typen zur Rede stellen und es beenden.«

»Betty, du bist ein Schatz. Das ist es. Ich werde diesen Mistkerl ausfindig machen und ihm kräftig den Marsch blasen. Wieso bin ich da selbst noch nicht drauf gekommen?«

Bettys Lachen ist jetzt noch lauter. »Das frage ich mich allerdings auch. Dass du Detektivin bist, musst du wohl noch mehr verinnerlichen. Ach ja, es könnte übrigens auch eine Mistziege und nicht nur ein Mistkerl sein.«

Ich muss mitlachen. »Na klar, das könnte auch sein.«

Wir beenden das Telefonat, und ich verspreche, ihr zu berichten, was ich herausfinde.

Ich laufe in meinem Büro auf und ab. Beim Gehen sollen Ideen kommen, und ich brauche eine Idee, wo ich bei meiner Suche nach dem Troll ansetzen könnte. Ich greife Jacke und Tasche und verlasse das Büro. Der Deversdonk liegt vor mir. An dem zentralen Platz in Grefrath befinden sich neben der Bäckerei unter anderem ein Drogeriemarkt, ein Blumengeschäft und auch die hiesige Polizeiwache. Letztere ist allerdings nur an zwei Tagen zu jeweils zwei Stunden besetzt. Ich schlendere in Richtung Hohe Straße. Die ist so etwas wie die Einkaufsstraße von Grefrath und führt zum Marktplatz direkt an der katholischen Kirche St. Laurentius. Immerhin gibt es noch ein paar Geschäfte in Grefrath, und der Marktplatz sieht sogar recht ansehnlich aus. Heute ist ein sonniger Tag, und es sitzen schon ein paar Menschen vor der Eisdiele und schlürfen ihren Kaffee. Ja, Grefrath hat etwas Beschauliches. Bei dem Gedanken wird mir sogar ein bisschen warm ums Herz. Ich bin schließlich Grefratherin durch und durch. Gut, geboren bin ich hier nicht, weil es hier kein Krankenhaus mehr gibt, aber das ist nur eine Formsache. Von klein auf spielte sich mein ganzes Leben in Grefrath ab. Deshalb ist es für mich so unverständlich, dass mir nun ein derart kalter Wind entgegenbläst. Ich weiß genau, dass sich die Leute das Maul über mich zerreißen. Aber dieser verdammte Troll mit seinen ständigen Falschmeldungen über mich im Netz und diesen Drohbriefen setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Er hätte sich dazu keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, schließlich bin ich derzeit so ziemlich auf mich alleine gestellt. Aber wie kann ich ihn ausfindig machen? Die Briefe sind das Einzige, das ich von dem Mistkerl habe. Für mich ist es einfach ein Mistkerl, auch wenn es sich irgendwann herausstellen sollte, dass es eine Frau ist. Es gibt unzählige Posts im Netz von ihm. Aber das sind immer irgendwelche Fake-Accounts, und ich konnte bisher nie eine Spur zu einem realen Menschen finden. Die Briefe sind vielleicht meine einzige Chance, aber sie sind alle unfrankiert und unadressiert. Sie lagen einfach bei der normalen Post im Briefkasten. Ich betrachte den Marktplatz und drehe um, zurück zum Deversdonk. In den Serien, die ich so gerne gucke, gibt es immer irgendwelche Überwachungsbilder, die auf die Spur des Täters führen. Es wäre toll, wenn so eine Kamera meinen Troll beim Einwerfen der Briefe gefilmt hätte. Aber am Deversdonk gibt es keine Kameras. Zumindest nicht, soweit ich weiß. Als ich wieder dorthin einbiege, halte ich Ausschau nach möglichen Kameras, aber ich kann nichts entdecken. Es müsste irgendwer etwas gesehen haben. Aber ich weiß nicht einmal, wann die Briefe eingeworfen wurden. Ich bin ja immer nur alle paar Tage mal im Büro gewesen. Es waren drei Briefe in vierzehn Tagen. Also muss dieser Mensch drei Mal hier gewesen sein. Das könnte schon jemandem aufgefallen sein. Die einzige Stelle, die mir spontan einfällt, an der ich fragen könnte, ist die Bäckerei, an der ich gerade vorbeischlendere. Aber Micha gehe ich momentan besser aus dem Weg. Die Bäckerei ist wahrscheinlich sowieso zu weit weg, als dass man von dort etwas sehen könnte. Ich schaue von meiner Position zu meinem Büro. Aus der Entfernung lässt sich niemand erkennen, der nicht erkannt werden will. Der Einzige, der mir sonst noch einfällt, den ich um Hilfe bitten könnte, ist Jochen. Ich beschleunige meine Schritte in Richtung Büro. Beziehungspause hin oder her, hier geht es um ein potenzielles Verbrechen, da muss er ran. Dienst ist schließlich Dienst.

II

»Warum sagst du mir denn nichts davon?« Jochen steht vor meinem Schreibtisch und wedelt mit dem heutigen Drohbrief. In seiner blauen Uniform wirkt er immer etwas martialisch, aber auch verdammt sexy. »Das sind handfeste Drohungen. Damit ist nicht zu spaßen.« Seine Kollegin steht etwas abseits im Türrahmen und nickt zustimmend.

»Ihr habt ja recht«, gebe ich kleinlaut zu. »Aber ich dachte, es würde sich schon wieder legen.«

Jochen sieht mich besorgt an. »Du bist vielleicht in Gefahr, Biene!«

»Jetzt übertreib mal nicht. Mir wird schon nichts passieren.«

»Ach ja, das weißt du weshalb? Weil du noch nie in bedrohliche Situationen geraten bist?« Er sieht mich herausfordernd an und verschränkt die Arme vor seiner Brust.

»Nein, weil ich sie alle überlebt habe«, stelle ich trotzig fest.

»Weil wir dich jedes Mal rausgeholt haben. Und es war immer fünf vor zwölf.« Seine Stimme wird lauter. »Ich bin gerade erst wieder im Dienst nach der letzten Aktion und der Zeit im Krankenhaus. Ich habe keine Lust, noch einmal für dich angeschossen zu werden, wenn ich dich mal wieder aus der Klemme retten muss..«

»Was soll ich deiner Meinung nach denn machen? Ich kann mich schlecht einschließen.«

Jochens Blick wird versöhnlicher. »Dass du mir davon erzählt hast, ist ein guter Schritt. Hast du eine Idee, wer dahinterstecken könnte?«

Ich schüttele den Kopf, stehe auf und gehe um den Schreibtisch auf ihn zu. »Ich habe mir schon das Hirn zermartert, aber ich kann mir niemanden vorstellen, der so etwas tun würde.«

Jochen verzieht das Gesicht und sieht mich an. Wir stehen uns gegenüber.

»Was ist?«, frage ich nach.

»Du bist einfach zu naiv, um Detektivin zu sein.«

»Wieso?« Jetzt ist es an mir, die Stirn zu runzeln.

»Das fragst du noch?« Jochen legt seine Hände auf meine Schultern. »Weißt du eigentlich, wie vielen Leuten du in letzter Zeit auf die Füße getreten bist?«

»Ach ja? Und wem?«, hake ich trotzig nach.

Jochen nimmt die Hände von meinen Schultern und sieht mir streng in die Augen. »Jetzt tu nicht so blöd.« Er löst den Blick von mir. »Ich weiß gar nicht, wo ich mit dem Aufzählen anfangen soll. In den letzten Wochen hast du wohl jeden beleidigt, der dir irgendwie über den Weg gelaufen ist. Dann sind da die ganzen Mitarbeiter von den Gerhards, die jetzt den Job verloren haben, seit du ihren Chef in den Knast gebracht hast. An möglichen Verdächtigen mangelt es wirklich nicht.«

Herr Gerhard ist so etwas wie der Oligarch von Grefrath. Ihm gehören ganze Straßenzüge und noch einiges mehr. Er hat damals den Unfall meiner Eltern in Auftrag gegeben und den Killer auf Jochen und mich gehetzt. Jetzt sitzt er im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess wegen Mordes. Sein Unternehmen musste Insolvenz anmelden und deswegen alle Mitarbeiter auf die Straße setzen. Ging vor Kurzem durch die Presse. Ich sehe Jochen überrascht an. »Der hat meine Eltern umbringen lassen und einen Killer auf uns gehetzt. Da können die mir doch nicht böse sein.«

»Da kennst du aber die Menschen schlecht.«

»Echt?« Ich versuche, in Gedanken nach Personen zu suchen, von denen ich weiß, dass sie für Herrn Gerhard gearbeitet haben. Mir fallen aber keine ein. Eigentlich habe ich damals nur die Assistentin kennengelernt. Okay, sie war immer recht biestig zu mir. Sie könnte tatsächlich wütend genug auf mich sein, um solche Drohbriefe zu schreiben. »Mir fällt nur seine frühere Assistentin ein«, erläutere ich Jochen meinen Gedanken. »Sie konnte mich nicht leiden. Jedenfalls hat sie in einem Artikel mir die Schuld für ihre Misere gegeben. Ich hätte ihren Chef falsch beschuldigt. Wie heißt sie noch? Sandra Bauer oder Brauer, ich erinnere mich nicht genau. Sonst kenne ich gar keine Ex-Mitarbeiter von ihm.«

Jochen nickt. »Ist ein Anfang. Wir machen uns mal schlau.« Er nickt seiner Kollegin zu, und die nickt zurück.

»Hast du schon mal herumgefragt, ob jemand was gesehen hat?«, hakt er nach.

»Nein, bisher nicht. Ich könnte höchstens mal in der Bäckerei fragen.«

Jochen sieht in Richtung der Bäckerei, als ob er durch Wände schauen könnte und den Deversdonk abscannen würde. »Die sind zu weit weg. Du bist mir ja eine schöne Detektivin.« Er grinst und sieht zu seiner Kollegin. »Wir werden mal die Nachbarn befragen.« Dann macht er einen Schritt auf mich zu und sieht mir tief in die Augen. »Und du bist vorsichtig, ja?«

»Klar.«

Als sich die Tür hinter ihnen schließt, meldet sich mein Magen mit einem lauten Knurren. Noch in Gedanken an das Gespräch schaue ich auf die Uhr. Es ist schon fast ein Uhr. Oma wartet gewiss mit dem Mittagessen auf mich. Vor noch nicht langer Zeit wäre ich nun schnell nach Hause gehetzt und hätte mich auf das Essen mit ihr gefreut. Zum einen, weil ich Omas Küche einfach nur liebe, und zum anderen, weil ich Oma liebe. Doch nach ihrer Rückkehr von der Kreuzfahrt mit Karl, den sie mittlerweile gelegentlich schon als ihren Freund bezeichnet, ist irgendetwas anders. Ich weiß nicht, was es ist, aber wenn ich daran denke, nach Hause zu gehen, grummelt mein Magen schon wieder. Wenn dieses Grummeln nicht aufhört, bekomme ich noch Magengeschwüre. Ich überlege, ob ich mir stattdessen einen Döner holen soll, aber der Gedanke gibt mir kein befriedigendes Gefühl. Ich kann Oma nicht ständig aus dem Weg gehen. Das würde ihr wehtun, und wenn ich eines nicht möchte, dann das.

Als ich das Büro verlasse und mich auf den Weg machen möchte, fällt mein Blick auf Jagos Aston Martin vor der Tür. Ich könnte jetzt den ganzen Weg bis zum Feldchen laufen, aber es wäre sicherlich bequemer, mit dem Auto zu fahren. Jago hat gesagt, dass er den Autoschlüssel hier lassen würde. Ich schaue auf den Wagen und den großen Vogelschiss auf seiner Windschutzscheibe. So ein Auto darf nicht nur herumstehen. Das muss bewegt werden. Wie ein hochgezüchtetes Rennpferd. Die Zweifel, ob es Jago wirklich recht wäre, sind schnell weggewischt. Ich gehe zurück ins Haus und in Jagos Büro. Auf dem Schreibtisch liegt nichts außer dem Edelkugelschreiber. Ich öffne die Schubladen. Auch nichts Passendes zu sehen. Lediglich ein viereckiges Ding mit Aston-Martin-Logo ist zu entdecken. Sollte das der Schlüssel sein? Ich drehe und wende es in meiner Hand. Es sind Tasten mit Symbolen zu sehen, die darauf schließen lassen, dass sich damit Autotüren öffnen lassen. Das muss es sein.

Zurück am Auto drücke ich auf einen der Knöpfe, und die Türverriegelung gibt ein sonores Klack von sich. Zaghaft ziehe ich an der Tür, die überraschend leicht den Zugang zum Wageninneren freigibt. Vorsichtig gleite ich auf den Ledersitz und schließe die Tür. Jago ist etwas größer als ich, und ich suche den Griff, um den Sitz etwas nach vorne zu schieben. Stattdessen finde ich einige Knöpfe, und als ich auf einen drücke, bewegt sich der Sitz leicht surrend in die gewünschte Richtung. Nachdem ich mich angeschnallt habe, atme ich tief ein und suche einen Startknopf. Vergeblich. Ich betrachte den Schlüssel. Ist da irgendwo ein Startknopf? Aber auch dort finde ich nichts. Wie geht diese Kiste denn nur an? Ich suche auf der Mittelkonsole nach irgendeinem Ding, das wie ein Starter aussieht. Können die nicht einfach einen dicken, roten Knopf mit dem Wort »Start« darauf anbringen? Anscheinend nicht, denn ich finde nichts. Muss ich jetzt doch laufen, weil ich diese Luxuskarre nicht mal gestartet kriege?

Mein Blick fällt auf eine rechteckige Öffnung in der Konsole.

---ENDE DER LESEPROBE---