Frauenliebe - Hilde Schmölzer - E-Book

Frauenliebe E-Book

Hilde Schmölzer

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Beschreibung

Sieben berühmte Frauenpaare aus verschiedenen Epochen werden in dem Buch beschrieben; wie sie gelebt, wie sie geliebt haben, in welche Zeit sie eingebunden waren, wie die Gesellschaft auf ihre Beziehung reagiert hat und wie sie sich selbst damit zurecht gefunden haben. Das Zeitalter der Romantik ist durch das Paar Bettine Brentano und Karoline von Günderrode vertreten, auch George Sand und Marie Dorval fallen noch in diese Zeit. Die Vertreterinnen der ersten österreichischen Frauenbewegung, Auguste Fickert und Ida Baumann, konnten hingegen nur noch zum Teil von der Toleranz profitierten, die diesen "romantischen Freundschaften" entgegengebracht wurde. Virginia Woolf, vor allem aber Vita Sackville-West standen bereits unter dem Einfluss der Sexualwissenschaftler. Berühmtheiten wie Gertrude Stein und mit ihr Alice B. Toklas schafften es, sich zu ihren Neigungen zu bekennen und sich gleichzeitig von der anrüchigen Aura eines lesbischen Paares weitgehend zu befreien, wobei die Anspielungen auf sexuelle Freuden mit der Partnerin in Steins Texten verschlüsselt sind und von Stein-Experten vielfach erst nach ihrem Tod enträtselt wurden. Anna Freud und Dorothy Burlingham hingegen, die in einer über fünzigjährigen Beziehung wie ein Ehepaar zusammen lebten, haben eine lesbische Beziehung immer energisch bestritten, was mit dem ungeheuren Druck, unter dem die Tochter des berühmten Sigmund Freud gestanden ist, erklärt werden kann und nur Vermutungen zulässt. Hilde Schmölzers Doppelbiographien erzählen über Glück und Unglück, Liebe, Begehren und Streit, über Konflikte, gegenseitigen Beistand, ein gemeinsames Leben und die jeweiligen historischen Zusammenhänge. Die Autorin hat ein kulturgeschichtliches Buch über oft verdrängte Frauenbeziehungen geschrieben.

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Seitenzahl: 487

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Hilde SchmölzerFRAUENLIEBEBerühmte weibliche Liebespaare der Geschichte

Die Drucklegung der Publikation wurde ermöglicht durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung / Wien und die Magistratsabteilung 7 der Stadt Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

© 2009 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m. b. H., Wien

Homepage: www.mediashop.at

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Karin Ballauff

Umschlaggestaltung: Gisela Scheubmayr

Buchgestaltung: Jo Schedlbauer

ISBN 978-3-85371-295-5

978-3-85371-846-9

Fordern Sie einen Gesamtprospekt des Verlages an:

Promedia Verlag, Wickenburggasse 5/12

A-1080 Wien, Fax: 0043/1/405 715 922

E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

1Sodomiten, Tribaden, Lesbierinnen

2Romantische Frauenfreundschaften

Bettine Brentano (1785–1859) undKaroline von Günderrode (1780–1806)

3Die „exotische Lesbierin“ der französischen Décadence

George Sand (1804–1876) undMarie Dorval (1798–1849)

4Frauenliebe im viktorianischen England

Charlotte Brontë (1816–1855) undEllen Nussey (1817–1897)

5Lesbianismus und Erste Frauenbewegung

Auguste Fickert (1855–1910) undIda Baumann (1845–1913)

6Der medizinische Diskurs

Virginia Woolf (1882–1941) undVita Sackville-West (1892–1962)

7Lesbische Subkultur im Paris der Zwischenkriegszeit

Gertrude Stein (1874–1946) undAlice B. Toklas (1877–1967)

8Sigmund Freud und die weibliche Homosexualität

Anna Freud (1895–1982) undDorothy Burlingham (1891–1979)

9Die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts

Anmerkungen

Literatur

Die Autorin

Hilde Schmölzer, 1937 in Linz geboren, arbeitete 25 Jahre lang als freiberufliche Journalistin. Seit 1990 ist sie ausschließlich als Autorin tätig. Zuletzt erschienen von ihr im Promedia Verlag: „Rosa Mayreder. Ein Leben zwischen Utopie und Wirklichkeit“ (Wien 2002) und „Die abgeschaffte Mutter. Der männliche Gebärneid und seine Folgen“ (Wien 2005). Hilde Schmölzer ist Mutter eines Sohnes.

Vorwort

Die Liebe zwischen Frauen sorgte zu allen Zeiten für Begriffsverwirrungen, und das bis zum heutigen Tag. Wann ist eine Frau als Lesbe zu bezeichnen? Genügt es, Frauen zu lieben, innige, auch zärtliche Beziehungen einzugehen, oder ist die Voraussetzung dafür der sexuelle Kontakt? Geht es im Lesbisch-Sein vornehmlich um Liebe, Begehren und die Umsetzung in die sexuelle Praxis, oder um Widerstand gegen tradierte Weiblichkeitsnormen und diskriminierende, patriarchale Gesellschaftsstrukturen?

Die in diesem Band vorgestellten Paare sollen als lesbisch bezeichnet werden, auch wenn sie sich vielleicht selbst nicht immer so gesehen haben, auch wenn sie möglicherweise nicht alle ihre Beziehung sexuell ausgelebt haben und auch wenn es diesen Begriff in seiner heutigen Bedeutung erst seit dem 19. Jahrhundert gibt. Aber sie haben einander geliebt, haben manchmal fast ihr ganzes Leben zusammen verbracht, und sie haben ihre Liebe der Liebe zu Männern vorgezogen. Niemand käme auf den Gedanken, die sexuellen Beziehungen eines heterosexuellen Paares zu hinterfragen und daraus einen Zweifel an seiner Berechtigung abzuleiten. Es geht nicht darum, welche Art der Liebe diese Frauen gelebt und praktiziert haben, sondern darum, dass sie füreinander da waren, eine Liebes- und/oder Arbeitsgemeinschaft bildeten und in einem wechselseitigen Geben und Nehmen eine liebevolle und/oder leidenschaftliche Beziehung entwickelten.

Die bis heute anzutreffende Umschreibung oder Vermeidung des Begriffes „lesbisch“ erklärt sich daraus, dass ihm ein Stigma anhaftet, dass er immer noch für ein Außenseitertum sorgt und dass jene, die sich als lesbisch outen, nach wie vor gegen Diskriminierung anzukämpfen haben.

Da Homosexualität jedoch ebenso alt ist wie Heterosexualität, haben Frauen – und Männer –, die einander lieben, immer Wege gefunden, diese Liebe in welcher Form auch immer auszuleben. Oft allerdings haben Heimlichkeiten, das Verstecken der eigenen Gefühle und Angst vor der Entdeckung ihre Beziehungen geprägt. Nicht zuletzt wird die Lektüre dieses Buches deutlich machen, dass gerade auch in der Öffentlichkeit stehende, „berühmte“ Frauen darum bemüht waren, ihre lesbischen Beziehungen zu verschleiern bzw. geheimzuhalten.

Hilde SchmölzerWien, im Jänner 2009

1Sodomiten, Tribaden, Lesbierinnen

Bereits im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurde über weibliche Homosexualität gerätselt. Da in einer phallozentrischen Gesellschaft Sexualität nur aus einem männlichem Blickwinkel möglich schien, war es die Tribade, der Hermaphrodit, die männliche Frau, die des gleichgeschlechtlichen Verkehrs verdächtigt wurde. Ihr konnte am ehesten angelastet werden, worum es im männlichen Selbstverständnis ging: nämlich um Penetration – entweder durch verschiedene Gegenstände oder durch eine abnorme körperliche Ausstattung.

Der phallozentrische Blick vergangener Jahrhunderte richtete sich nicht nur auf sexuelle Praktiken, sondern auch auf den Körper der Frau. So etwa sah man in ihren Geschlechtsorganen die nach innen gekehrten Organe des Mannes: Die Gebärmutter oder auch die Vagina entsprachen dem Penis, die Eileiter den Hoden. Auch produzierte sie in dieser Vorstellung so wie der Mann einen eigenen Samen, der zur Empfängnis beitrug. Die innere Lage der weiblichen Genitalien – so meinte bereits der griechisch-römische Arzt Galen (vgl. Schmölzer, Die abgeschaffte Mutter, 2005) – sei auf eine gehemmte Entwicklung zurückzuführen, sie seien sozusagen unvollkommen, während der Mann die vollkommene Geschlechtlichkeit besitze. Diese Ansicht wurde bis Mitte des 18. Jahrhunderts vertreten, beeinflusste jedoch die allgemeine Vorstellung von der „sexuellen Gier des Weibes“ nicht. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, als Frauen ihre Sexualität abgesprochen wurde, galten sie in der frühen Neuzeit und auch später noch als wollüstig, sexuell unersättlich und waren deshalb Angst einjagend. Ihre gefährliche Sexualität war einer der Gründe für die Hexenverfolgungen, denn ihre übergroße „Begierde“ – wie im „Hexenhammer“ nachzulesen ist – konnte von keinem sterblichen Mann, sondern nur von „den Dämonen“ (= Teufel) gestillt werden. 1)

In den ersten pornografischen Schriften des 17. Jahrhunderts finden sich auch Sexszenen zwischen Frauen, dabei vornehmlich zwischen Prostituierten, Darstellungen von verheirateten Frauen, die junge Mädchen verführen und Nonnen, die Masturbation und Flagellation betreiben.

Es schien daher selbstverständlich, dass die Strafbestimmungen für die so genannte Sodomie im späten Mittelalter ebenso wie in der Frühen Neuzeit Frauen in gleicher Weise wie Männer trafen. Unter Sodomie fielen alle sexuellen Akte, die nicht der Fortpflanzung dienten: Selbstbefriedigung, Anal- oder Oralverkehr, Sex mit Tieren, Leichen, dem Teufel und gleichgeschlechtliche Handlungen. Sie galt als schweres Verbrechen und wurde meist mit dem Tod bestraft. Die „Peinliche Gerichtsordnung“ Karls V. etwa, die berühmte „Constitutio Criminals Carolina“ aus dem Jahr 1532, verfügte für „unkeusch treiben“ von „mann mit mann, weib mit weib“ die Todesstrafe durch das Feuer.

Erst im Zuge der Aufklärung wurden diese harten Strafen etwas „abgemildert“, der „Codex iuris bavarici criminalis“ von 1751 sieht den Tod durch Enthauptung vor, was als leichtere und ehrenvollere Todesart galt. Die österreichische „Constitution Criminalis Theresiana“ von 1768 hingegen bestimmte immer noch den Flammentod für „Personen einerley Geschlechts, als Mann mit Mann, Weib mit Weib, oder auch Weib mit Mann wider die Ordnung der Natur Unzucht getrieben wird“. 2) Erst Joseph II. erließ 1787 ein neues Gesetz, in dem „Entwürdigung der menschlichen Natur“ durch „fleischliche Begierden nach dem eigenen Geschlecht“ zu einem „politischen Verbrechen“ erklärt wurde, das mit Kerkerhaft, Zwangsarbeit und Prügel bestraft wurde. Auch Friedrich der Große, der selbst homosexuell gewesen sein soll, ersetzte im „Allgemeinen Preußischen Landrecht“ 1794 die Todesstrafe für Sodomie durch Kerkerhaft, Prügel und Verbannung auf Lebenszeit. 3)

Die praktische Auswirkung dieser Gesetze ist bis heute unklar, es gibt kaum Berichte über Frauen, die wegen Sodomie vor Gericht standen. Eine deutlich mildere Beurteilung als Männer erfuhren sie jedoch erst im 19. Jahrhundert, als ihnen sexuelle Lust abgesprochen wurde und man sie damit derartiger Vergehen für unfähig erklärte. Das „Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten“ von 1851 beschränkte zum ersten Mal „widernatürliche Unzucht“ auf „Personen männlichen Geschlechts“. In Österreich hingegen blieb die Strafverfolgung von Frauen aufrecht und wurde erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgehoben.

Der männlichen Logik zufolge war es also das Mannweib, das am ehesten des Vergehens gleichgeschlechtlicher Handlungen fähig war. In den wenigen bekannten Prozessen ging es daher auch um Frauen, die sich als Männer ausgegeben, Frauen geheiratet und mit ihnen Sex gehabt hatten. Sie benutzten häufig Dildos aus Leder oder anderen Materialien oder waren mit einer übergroßen Klitoris ausgestattet, die sie auf dieselbe Weise wie Männer den Penis benutzten. Die von medizinischen Autoren des Mittelalters ignorierte Klitoris war im 16. Jahrhundert „wiederentdeckt“ worden, wobei man sich auf die griechische Tribade berief, deren große Klitoris als Penisersatz diente. Während ursprünglich der Gebrauch einer vergrößerten Klitoris lediglich Frauen aus fernen, als exotisch geltenden Kontinenten wie Asien und Afrika unterstellt wurde, tauchte die Tribade ab dem 17. Jahrhundert auch in europäischen Texten auf. Der italienische Rechtsgelehrte Lodovico Maria Sinistrari etwa behauptete, nur mit einer penisähnlichen Klitoris sei es Frauen möglich, miteinander zu verkehren, wobei die durch die Sünde der Masturbation überentwickelten Kitzler noch vergrößert würden, was den männlichen Gelehrten Angst einflößte. Überführte Tribaden, so die Folgerung, müssten hingerichtet werden. In England forderten im 18. Jahrhundert James Parsons und Robert James die Amputation einer angeblich zu großen Klitoris, um den sodomitischen Missbrauch zu verhindern. 4)

Der Schriftsteller Henry Estienne berichtet 1566 von einer als Mann verkleideten Frau, die 30 Jahre zuvor in Fontaine bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Sie hatte sieben Jahre als Stallbursche gearbeitet, war dann Weinbauer gewesen, hatte schließlich eine Frau geheiratet und einen Dildo benutzt, „um die Aufgabe des Ehemannes nachzuahmen“. Auch Montaigne schreibt 1580 im „Journal de voyage“ von der Hinrichtung einer Transvestitin, die in Montirandet als Mann gelebt und eine Frau geheiratet hatte, wobei sie ebenfalls einen Dildo für den Geschlechtsverkehr benutzte. 5)

Strafwürdig war es auch, wenn Frauen als Männer auftraten, wenngleich es nicht unbedingt die Todesstrafe zur Folge hatte. Doch nahmen sie sich damit Rechte, die ausschließlich dem männlichen Geschlecht vorbehalten waren. So lange sie sich in ihre Geschlechterrolle fügten, Frauenkleider trugen und ein geschlechtsspezifisches Verhalten zeigten, blieben sie meist unbehelligt. Todeswürdig hingegen war der Gebrauch des Phallus – ob es sich um eine angeblich vergrößerte Klitoris oder aber um ein Instrument handelte.

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der phallische Vollzug ausschlaggebend für das Strafmaß. Unzucht zwischen Frauen war nur vorstellbar als Imitation des mann-weiblichen oder mann-männlichen Aktes.

Quellen zufolge gab es seit dem 16. Jahrhundert eine große Zahl von Frauen, die sich als Männer verkleideten und Frauen heirateten. 6) Sie übten einen männlichen Beruf aus, zogen in den Krieg, unternahmen ausgedehnte Reisen. Möglicherweise galt die allgemeine Aufmerksamkeit weniger anatomischen Feinheiten wie der Stimme oder den Gesichtszügen, sondern vor allem der Kleidung, der ein hoher Symbolwert zugesprochen wurde. Tatsache ist, dass Frauen oft jahrelang als Männer lebten, auch mit Frauen Sex hatten, bis durch irgendeinen Umstand ihr wahres Geschlecht bekannt wurde. Anzunehmen ist, dass nicht nur sexuelles Interesse an anderen Frauen so manche Frau dazu brachte, sich als Mann auszugeben, sondern auch die Lust am Abenteuer und die damit verbundene Freiheit, die Frauen verwehrt war.

Die ausführlichsten Dokumente entstammen den Prozessakten der Catharina Margaretha Linck, die 1721 in Halberstadt hingerichtet wurde. Auch bei ihr war Sodomie – begangen mit einem aus „Leder gemachten ausgestopfften Männlichen Glied“ – der Grund für die Hinrichtung.

Linck war in einem Waisenhaus aufgewachsen, tauschte nach einer Lehrzeit im Knopfmacher- und Kattundruckerhandwerk ihre Frauenkleider gegen Männerkleider und schloss sich einer christlichen Sekte an. Als Anastasius Lagrantinus Rosenstengel zog sie zwei Jahre betend und lehrend durch Deutschland, kämpfte anschließend sieben Jahre als Soldat in verschiedenen Armeen und heiratete schließlich in Halberstadt die zwanzigjährige Catharina Margaretha Mühlhahn. Deren Mutter allerdings schöpfte Verdacht, schlitzte bei einem Streit Rosenstengels Hose auf und entdeckte einen Lederdildo und ein Horn zum Urinieren, woraufhin sie ihren Schwiegersohn, der keiner war, anzeigte.

Im anschließenden Inquisitionsprozess wurde Aussehen und Beschaffenheit des ledernen männlichen Gliedes ausführlich erörtert, daran seien „zwey ausgestopffte von Leder gemachte testiculi gehängt, mit einem ledern Riemen an ihre Schaam gebunden … und wenn Sie mit ihrer vermeinten Frau zu Bette gegangen, habe Sie derselben solch ledern Ding in den Leib gesteckt, und solcher Gestalt den Beyschlaff mit ihr würcklich verrichtet …“ 7)

Die Gattin Catharina Margaretha Mühlhahn verteidigte sich mit der Beteuerung, von der ledernen Beschaffenheit des Gliedes nichts bemerkt zu haben, auch die Brüste ihres Mannes seien ihr nicht aufgefallen. Da sie die strafbare Handlung einer Penetration nicht begangen hatte, also innerhalb ihrer weiblichen Geschlechtsrolle blieb, erwarteten sie lediglich drei Jahre Spinnhaus. Link/Rosenstengel hingegen wurde enthauptet, obwohl es bereits zu Diskussionen kam, ob in diesem Fall von Sodomie gesprochen werden kann, da ja kein Sperma verschwendet wurde.

Catharina Margaretha Linck war vermutlich die letzte Frau, die wegen gleichgeschlechtlicher Handlung hingerichtet wurde. Obwohl es in der Folge in Europa zu ähnlichen Fällen kam, wurde kein Todesurteil mehr verhängt. Der Schriftsteller Henry Fielding, der zugleich Richter war, beschreibt 1746 die Geschichte der Abenteuerin Mary Hamilton, die nach ihren Ehen mit drei verschiedenen Frauen für den Gebrauch eines Dildos zwar öffentlich ausgepeitscht und eingesperrt wurde, aber mit dem Leben davon kam. Ähnlich ging es Henrica Schuria, die wie Linck als Soldat gedient hatte, nach ihrer Rückkehr eine Affäre mit einer Frau hatte, was bekannt wurde. Nach Aussagen von Hebammen habe Henrica Schuria eine Klitoris von der Länge eines halben Fingers gehabt. Sie wurde „lediglich mit Ruten gepeitscht und dann verbannt, weit weg von der Partnerin ihrer Sünden“. Auch Anne Grandjean, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Grenoble lebte und ihren Namen in Jean-Baptiste Grandjean änderte, wurde nach ihrer Heirat mit einer Frau als „Schänderin des ehelichen Sakramentes“ an den Pranger gestellt und ins Gefängnis gesperrt. Nachdem eine Untersuchung „hermaphroditische“ Züge festgestellt hatte, wurde sie wieder entlassen, musste jedoch ihre weibliche Identität annehmen und ihre Ehe annullieren. 8)

Nicht nur die Aufklärung führte einen Gesinnungswandel herbei, sondern ebenso verwiesen medizinische Einsichten die Vorstellung einer penisähnlichen Klitoris zunehmend in das Reich der Phantasie. Auch der Dildo scheint seine überragende Bedeutung eingebüßt zu haben. Stattdessen kam allmählich die Bezeichnung „sapphistisch“ für das gleichgeschlechtliche Begehren zwischen Frauen in Mode. „Lesbische Liebe“ wird im deutschen Sprachraum zum ersten Mal 1784 in „Krünitz’ Lexikon“ erwähnt. Doch hatte dieser Begriff noch nicht die heutige Bedeutung, sondern bezog sich in erster Linie auf die BewohnerInnen der Insel Lesbos. Auch im folgenden Jahrhundert wurde „lesbisch“ verschieden definiert, eine eindeutige Begriffsbestimmung fehlt bis heute.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchte der Begriff „Uranierin“ auf: Eine „Uranierin“ unterschied sich von der „Lesbierin“ dadurch, dass sie auch mit Männern verkehrte. In dem nun einsetzenden medizinischen Diskurs wurden weitere Ausdrücke geboren wie „konträrsexuelle Frau“, „Invertierte“ oder „Urningin“. Diesen Frauen war aus der Sicht der Mediziner und Psychiater eines gemeinsam: Sie waren mit einem abnormen Makel behaftet, krank und – auch wenn jetzt nicht mehr physisch, so doch – psychisch deformiert.

2Romantische Frauenfreundschaften

Frauen liebende Frauen haben es zu allen Zeiten verstanden, die Kategorisierungen einer männlichen Wissenschaft zu unterlaufen. Die meisten machten kein Geheimnis aus ihren innigen Beziehungen und wurden darin auch akzeptiert, solange sie nicht aus den ihnen zugeschriebenen weiblichen Verhaltensmustern ausbrachen. Frauen haben einander geliebt und begehrt und hatten durchaus sexuelle Beziehungen, ohne dass es in ihrer Umgebung aufgefallen wäre. Denn wahrscheinlich war es gerade die Vorstellung der Asexualität der Frau, wie sie seit Ende des 18. Jahrhunderts von Philosophen und Medizinern propagiert wurde, die die häufig leidenschaftlichen Beziehungen zwischen Frauen begünstigte. Die von Natur aus keusche Frau konnte auf keine „unreinen“ Gedanken kommen, das passte nicht in das Bild von weiblicher Anständigkeit.

Trotzdem existieren Zeugnisse erotischen und sexuellen Begehrens, die die Ansicht rein platonischer Liebe, wie sie bis ins späte 20. Jahrhundert auch von Historikerinnen vertreten wurde 1), dementieren. Sexuelle Handlungen mögen Frauen unter dem Aspekt einer phallozentrischen Logik häufig nicht als solche bewusst gewesen sein, und weil sie unter einem starken gesellschaftlichen Druck standen, haben sie kaum darüber gesprochen oder geschrieben. Die eindeutigen Bekenntnisse von Anne Lister Mitte des 19. Jahrhunderts sind eher eine Ausnahme (siehe dazu Kapitel „Frauenliebe im viktorianischen England“), doch gibt es weitere Hinweise auf sexuelle Kontakte zwischen Frauen.

So erregte Anfang des 19. Jahrhunderts die Affäre zwischen zwei schottischen Lehrerinnen, Jane Pirie und Marianne Woods, die Öffentlichkeit. Eine Schülerin namens Jane Cumming hatte berichtet, dass die beiden Frauen im Bett zusammen waren, sich aufeinanderlegten und küssten. Außerdem habe Jane Pirie eines Nachts gesagt: „Du bist am falschen Ort“, Marianne Woods habe erwidert: „Ich weiß“ und erklärt, sie mache es „aus Spaß“. In einer anderen Nacht habe Pirie geflüstert: „Oh, tu es, Liebling.“ Dann habe sie ein Geräusch vernommen, das sich anhörte, wie „wenn man einen Finger in einen nassen Flaschenhals steckt“ 2). Wie wurden solche Beobachtungen bewertet?

Die Richter waren sich nicht einig, Einer meinte, wenn jede Frau schuldig gesprochen würde, die mit einer anderen Frau zusammen im Bett geschlafen hat, müssten sämtliche Frauen Schottlands schuldig gesprochen werden. Für körperliche Zärtlichkeiten unter Frauen war im England und in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts der Ausdruck „Busensex“ gebräuchlich, wobei niemand eindeutig definieren konnte, was darunter zu verstehen sein sollte. Aber nachdem es dabei nicht um Penetration ging, erregten sie auch keine besondere Aufmerksamkeit.

Einer der bekanntesten Philosophen, der Frauen ihre Sexualität absprach, ist Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). Nach ihm ist die Triebhaftigkeit des Mannes ebenso wie die Trieblosigkeit der Frau nicht nur natur-, sondern auch vernunftbedingt. „Im unverdorbenen Weibe“ – meint er in „Grundlagen des Naturrechts“ – „äußert sich kein Geschlechtstrieb und wohnt kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen. Es ist allerdings ein Trieb, der dringend seine Befriedigung heischt: aber diese seine Befriedigung ist nicht die sinnliche Befriedigung des Weibes, sondern die des Mannes; für das Weib ist es nur Befriedigung des Herzens.“ 3)

Inwieweit die Befriedigung des Mannes erfolgreich war, sei dahingestellt. Die Herstory weiß von einer zunehmenden Entfremdung der Geschlechter, von unglücklichen Ehen, die als reine Zweckgemeinschaften geschlossen wurden. Umso wichtiger war die Frauenliebe geworden, sie bot einen Ersatz für unbefriedigende heterosexuelle Beziehungen, in denen jede/r in eigenen Welten lebte, die Gemeinsamkeiten ausschlossen. Einander liebende Frauen hingegen fanden Verständnis, Hilfe, Trost, Achtung füreinander, gegenseitigen Respekt und Akzeptanz. Ihre Beziehungen waren nicht geächtet, sondern erwünscht, weil sich Männer dadurch entlastet fühlten, ohne dass ihre Vormachtstellung in irgendeiner Weise angegriffen wurde. Es entstand eine weibliche Kultur, die sich durch Nähe, freies Äußern von Gefühlen, Umarmungen und Küssen in aller Öffentlichkeit auszeichnete. Sie bot Möglichkeiten, die in der Beziehung zum anderen Geschlecht tabuisiert und darum selten waren.

Auch heute bedeutet Lesbischsein die Verwirklichung einer Alternative zur männlichen Kultur, jetzt allerdings nicht nur im Innenraum privater Freundschaften, sondern ebenso als Ausdruck eines politischen Bewussteins, das den Frauen im 18. und 19. Jahrhundert noch verwehrt war.

Frauen schrieben einander zärtliche Briefe, beteuerten einander ihre Liebe, waren eifersüchtig auf andere Freundinnen oder Freunde, wollten zusammen leben und taten das auch gelegentlich, wenngleich für die übliche und akzeptierte Form dieser Freundschafts- und Liebesbünde der jeweilige Gatte wichtig war. Trotzdem hätten sie sich niemals als lesbisch bezeichnet und wurden auch nicht so gesehen. In einer überströmenden und sehr sinnlichen Sprache fanden Frauen eine Möglichkeit, ihrem Begehren Ausdruck zu geben und gleichzeitig im Rahmen von Sitte und Anstand zu bleiben.

Es gibt unzählige Beweise solch leidenschaftlicher Liebesbeteuerungen.

„Liebe süße Sarah! Wie liebe ich dich. Du bist die Freude meines Lebens … Mein Schatz, wie sehne ich mich danach, dich wiederzusehen“, schreibt die Amerikanerin Jeannie Musgroves an ihre Freundin Sarah Butler Wistar, die sie 1849 im Internat kennen lernte und mit der sie bis ins hohe Alter eine enge Freundschaft verband. Auch Sarah meint, sie sehne sich sehr danach, bei ihrem „teuersten Schatz“ zu sein. „ Ich kann dir keine Vorstellung davon geben, wie verzweifelt ich deiner bedarf.“ 4)

Die englische Dichterin Anna Seward schrieb in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Hymnen an ihre Geliebte Honora Sneyd, mit der sie jahrelang zusammen gelebt und Tisch, Bett und Geldbeutel geteilt hatte:

„ Ich schreibe, Honora, auf dem glitzernden Sand /… Honoras Name ziert wieder den Strand / … – So schrieb die Natur ihre Reize auf Dein Antlitz / Der Wangen samtener Hauch, der Lippe purpurner Schimmer.“ 5)

Auch Madame de Staëls Liebesbriefe an ihre langjährige Freundin Juliette Récamier unterscheiden sich nicht von heterosexuellen Liebesbeteuerungen: „Du stehst in meinem Leben an erster Stelle … Als ich Dich sah, schien mir, als ob von Dir geliebt zu werden bedeutete, mit dem Schicksal in Eintracht zu sein … Adieu, meine Geliebte und Angebetete. Ich drücke dich an mein Herz … Mein Engel, sag am Ende Deines Briefes zu mir: Ich liebe Dich …“ 6)

Frauenliebe war nicht auf das 18. und 19. Jahrhundert beschränkt. Bereits 1636 schrieb Constance Fowler ihrer künftigen Schwägerin: „Ich gestehe, ich bin so furchtbar in sie verliebt, wie es je eine Liebende war.“

1670 bezeichneten sich die englische Thronerbin Maria Stuart und ihre Freundin Frances Apsley in ihren Briefen gegenseitig als „Gatte“ und „Gattin“. 7)

Bettine Brentano und Karoline von Günderrode sind das wohl berühmteste Frauenpaar der deutschen Romantik. Die Einzigartigkeit dieser Frauenbeziehung, die nur wenige Jahre bis zu Karolines frühem Tod dauerte, mag auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass hier zwei hochbegabte Frauen zusammentrafen, die einander in einem fruchtbaren Gedankenaustausch anregten, Pläne schmiedeten, Konzepte entwickelten, die – wenn auch damals noch nicht realisierbar – durchaus Modellcharakter hatten. Dass Bettine fast 35 Jahre nach Karolines Tod den Briefroman „Die Günderode“ herausbrachte, der auf teilweise authentischen, teilweise überarbeiteten und erdichteten Briefen der Freundin beruht, ist nicht nur auf den Wunsch zurückzuführen, das Andenken Karoline von Günderrodes zu wahren. Es zeigt darüber hinaus, dass sie den zahlreichen, in der Literatur dokumentierten Männerfreundschaften ein ebenbürtiges Frauenpaar gegenüberstellen wollte. Und tatsächlich ist es vor allem dieses ungemein reizvolle, lebendige und leidenschaftlich-schwärmerische Zeitdokument, das diese Frauenfreundschaft berühmt machte.

„Die Günderode war mein Spiegel“

Bettine Brentano(1785–1859)

Karoline von Günderrode(1780–1806)

Wir befinden uns in Frankfurt am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Freie Reichsstadt, in der die römischen Kaiser deutscher Nation gekrönt wurden, besaß damals noch mittelalterlichen Charakter. Die hochgiebeligen, schmalbrüstigen Häuser der wohlhabenden Handelsherren, die diese Stadt zum berühmten Umschlagplatz für die Güter des Nordens, Südens und Westens gemacht hatten, drängten sich innerhalb der Wälle, außerhalb besaßen die Kaufleute ihre Gärten, in denen ausgelassene Feste gefeiert wurden.

Darüber hinaus hatte Frankfurt mit Theater, Konzerten, Bällen und Maskeraden einiges an kulturellen Veranstaltungen zu bieten. Es gab auch eine intellektuelle Elite, die sich der Lektüre soeben erschienener Bücher von Goethe, Schiller, Hölderlin, Novalis, Schelling oder der Brüder Schlegel widmete.

Bettine war im November 1802 aus Offenbach, wo sie nach dem Tod der Eltern bei ihrer Großmutter – der Schriftstellerin Sophie von La Roche – gelebt hatte, nach Frankfurt zurückgekehrt, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden.

Schließlich fand ihr Halbbruder Franz, der die Geschäfte und die Vormundschaft über die vielen jüngeren Geschwister und Halbgeschwister übernommen hatte, dass ihr ein passender Mann zugeführt werden sollte.

Doch Bettine verspürte nicht die geringste Lust auf die Ehe und vermisste das freie Leben in Offenbach, den schönen Garten der Großmutter, wo sie auf die Bäume geklettert, sich an den Blumen gefreut und in mondbeschienenen Nächten unter Pappeln ihren Träumen nachgegangen war. „Wenn ich an Frankfurt denke, wird’s mir übel“, beklagt sie sich und: „Ich habe sie alle recht herzlich lieb, aber die Dächer und Straßen und Langeweile und besonders mein Dortsein ist mir unerträglich.“ 1)

Die Tochter des Kaufmanns Pier Antonio Brentano und der Maximiliane von Laroche, in die Goethe nach seiner Trennung von Charlotte Buff verliebt gewesen war, galt als Problemkind, Außenseiterin, als schwarzes Schaf der Familie. Sie entsprach in keiner Weise dem Kanon schicklicher Weiblichkeit, verblüffte stattdessen mit exzentrischen Ideen und verbarg ihre Sensibilität und Empfindlichkeit hinter einem als sonderbar und ausgefallen empfundenen Verhalten. Ein „grillenhaftes, unbehandelbares Geschöpf“ nannte sie ein englischer Besucher, das gerne „auf Apfelbäumen herumkletterte und eine gewaltige Schwätzerin war.“ 2)

Die Kaufmannsfamilie Brentano aus Tremezzo am Comer See hatte im 17. Jahrhundert im Haus zum Goldenen Kopf in Frankfurt eine Niederlassung gegründet. Die Mutter war gestorben, als Bettine acht, ihr Vater, als sie elf Jahre alt war. Die sensible und künstlerisch interessierte Maximiliane war in der Ehe mit dem leicht aufbrausenden, etwas pedantischen und 19 Jahre älteren Mann nicht glücklich gewesen. Erschöpft von zwölf Geburten starb sie mit nur 37 Jahren. Sie war die zweite Frau Antonios, der schließlich noch eine dritte Ehe einging, wodurch sich die Geschwisterzahl Bettines auf neunzehn erhöhte, von denen allerdings neun noch vor 1800 starben. Die Kindersterblichkeit dieser Zeit war hoch. Auch Frauen starben häufig früh bei rasch aufeinander folgenden Geburten, was im allgemeinen Selbstverständnis der gottgewollte Lauf der Welt war, in den der Mensch nicht eingreifen konnte.

Bettine kam in eine Klosterschule nach Fitzlar bei Kassel, vier Jahre darauf zu ihrer Großmutter nach Offenbach.

Jetzt fühlte sie sich in Frankfurt inmitten ihrer großen Familie allein und fremd, die sogenannte „gute Gesellschaft“ langweilte sie. „Dieses Mädchen“, schrieb ihr Bruder Clemens 1802 an Achim von Arnim, „ist sehr unglücklich, sie ist sehr geistreich und weiß es nicht, sie ist durch und durch mißhandelt von ihrer Familie und erträgt es mit stiller Verzehrung ihrer selbst.“ 3)

Die Freundschaft mit Karoline von Günderrode, die um diese Zeit begann, erschien ihr wie ein Geschenk des Himmels, befreite sie aus ihren Depressionen und gab ihr neuen Lebensmut. „Mein Gott“, schreibt Bettine in einem Brief an die Günderrode im November 1805, „ich habe niemand, mit dem ich ernstlich sprechen könnte, ohne daß er mir gerade ins Gesicht sagen würde: ‚Du sprichst Kinderei, Du lügst, Du bist gespannt, Du extravagierst‘, und meistens in den Augenblicken, wo mir Gott die Gnade verleiht, mich in der Sprache auszudrücken … Du allein, wenn Du auch nicht zu meinen Ideen eingingst, hättest doch eine Art von Achtung vor denselben, wie vor aller Phantasie der Dichter hat.“ 4)

Karoline lebte als Stiftsdame im Kronstettischen, adelig evangelischen Damenstift am Rossmarkt in Frankfurt. Sie war erst siebzehn, als sie dort zwei Zimmer im Erdgeschoss mit Garten bezog. Für ihren Eintritt mussten ausnahmsweise die Statuten gelockert werden, ursprünglich betrug das Mindestalter für die Aufnahme 30 Jahre. Auch Karoline langweilte sich in der Gesellschaft meist schon recht betagter Damen, denn obwohl sie sich nicht immer an die Hausordnung hielt – sie besuchte häufig ihre Familie in Hanau, auch gelegentlich das Theater und sogar auf einem Maskenball soll sie gesehen worden sein – war diese Stätte zur Verwahrung mittelloser Adelstöchter für ein junges Mädchen doch ein recht trauriger Ort.

Ihre Mutter Louise von Günderrode, die nach dem Tod des Vaters Hektor Wilhelm von Günderrode, Regierungsassessor in Karlsruhe, mit einer geringen Pension sechs Kinder durchbringen musste, sah offenbar keinen anderen Weg, die halbwüchsige Tochter standesgemäß unterzubringen. Gab es doch vorläufig auch keinen Freier, der sich für ein verarmtes Adelsfräulein interessierte. Zudem scheint das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nicht besonders gut gewesen zu sein. Es gibt Dokumente, die auf Erbstreitigkeiten hinweisen, weil Louise von Günderrode aufgrund ihrer bedrängten Lage das Erbteil und die Mitgift ihrer Töchter angegriffen hatte, um ihre Schulden zu tilgen.

Obwohl es sich bei dem Kronstettischen Damenstift also nicht um ein Kloster im eigentlichen Sinn handelte, ergab sich durch die vielen Vorschriften doch ein eher eingeschränkter Lebensstil. So musste für längere Reisen eine Erlaubnis eingeholt werden, Männerbesuche, die Teilnahme an Bällen oder sonstigen größeren Gesellschaften wurden nicht gerne gesehen. Karoline, die das schwarze Ordenskleid mit hohem weißem Kragen und dem Kreuz auf der Brust zwar nur zu besonderen Anlässen trug, fürchtete sich, das Tischgebet vor den anderen Stiftsdamen laut zu sprechen. In dieser Zeit entdeckte sie eine andere Welt, die innere Welt der Literatur, der Poesie, der eigenen Gedanken, die ihr niemand streitig machen konnte und in die sie sich in den folgenden Jahren immer tiefer vergrub.

Es war der Marburger Rechtsgelehrte Friedrich Carl von Savigny, der die Günderrode mit den Brentanos bekannt machte. Karoline hatte sich im Frühsommer 1799 bei einer Begegnung auf einem Landsitz von Freunden in Savigny verliebt, und auch ihm war sie nicht gleichgültig. Er beauftragte sogar einen anonymen Freund, Nachforschungen über Karolines Ehefähigkeit einzuholen. Ihre Verarmung, der Witwenstand ihrer Mutter hatte ihn, der sich eine respektable Professorengattin wünschte, wohl nicht ermutigt. Außerdem erschreckten ihn ihre ungewöhnliche Bildung und Intelligenz, während er sich dennoch von ihrer „sanften Weiblichkeit“ angezogen fühlte. Freunde mahnten zur Vorsicht, und er fragte sich, ob er „dem Gerücht glauben soll, nach dem sie kokett oder prüd oder ein starker männlicher Geist sein müsse.“ 5) Schließlich jedoch begann er, die nicht übermäßig begabte, aber vermögende Kaufmannstochter Gunda Brentano, Bettines Schwester, zu umwerben. Auch Clemens Brentano war kurzfristig in Karoline verliebt, schrieb ihr schwülstige Briefe voller Bewunderung für ihre Dichtung, die erst in das Gegenteil umschlug, als er von ihr abgelehnt wurde.

Im Winter 1800/1801 begegneten sich die sechzehnjährige Bettine Brentano und die einundzwanzigjährige Karoline von Günderrode zum ersten Mal: Bettine – eigensinnig, unangepasst, als schwer zu behandeln und „unweiblich“ verschrien, und die wenige Jahre ältere Karoline – scheu, anmutig, besonnen, einen Ausgleich zwischen idealistischen Vorstellungen und beengten Verhältnissen suchend.

Es waren die Gegensätze, die anziehend wirkten. Die Günderrode vermittelte der ekstatischen, ihre Inspirationen aus spontanen Einfällen beziehenden Bettine die Notwendigkeit von ordnenden Strukturen, während Bettine der Freundin nicht nur die Unmittelbarkeit eines starken Naturgefühls, sondern auch die Fähigkeit zur kritischen Analyse näherbrachte.

Wahrscheinlich hat Bettine bereits 1802 die Günderrode eingeladen, sie bei einem ihrer Besuche in Offenbach zu begleiten und dort an den literarischen Zirkeln ihrer Großmutter teilzunehmen. Sophie von La Roche war durch ihren empfindsamen Briefroman „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ bekannt geworden, ein Bestseller der damaligen Erziehungsliteratur mit Vorbildcharakter für eine ganze Töchtergeneration. Bettine hat diese Begegnung in ihren Erinnerungen festgehalten, wie sie beide im Garten der Großmutter stehen, über den Geist der Natur sprechen und von einer natürlichen ästhetischen Ordnung der Dinge. Die Ergriffenheit Bettines, ihre Dankbarkeit, einer Frau wie Karoline begegnet zu sein und ihre Verehrung machen die Worte deutlich spürbar: „Du kamst mir vor wie ein hoher Baum, von den Naturgeistern bewohnt und genährt. Und wie ich meine Stimme hörte, die Dir antworten wollte, da schämte ich mich, als sei ihr Ton nicht edel genug für Dich … Du wolltest mir helfen und sagtest: ‚Der Geist strömt in die Empfindung, und die geht aus allem hervor, was die Natur erzeugt, der Mensch habe Ehrfurcht vor der Natur.‘ Wie sehr hab’ ich an Dich gedacht und Deine Worte, und an Deine schwarzen Augenwimpern, die Dein blau Aug’ decken, wie ich Dich gesehen hatt’ zum allererstenmal … und Deine Hand, die mein Haar streichelte. Ich schrieb auf: Heut’ hab’ ich die Günderode gesehen, es war ein Geschenk von Gott.“ 6)

Aber Karoline war um diese Zeit noch um die Freundschaft mit Gunda bemüht, die ihr auf die teils flehenden Briefe meist nicht einmal antwortete. In dem Dreiecksverhältnis mit Savigny im umworbenen Mittelpunkt musste Karoline unterliegen. Sie litt darunter, hielt aber an dem freundschaftlichen Kontakt fest, ließ sich den leicht tändelnden Ton Savignys gefallen, der sie „lieb Günderrödchen“ nannte, während er sich längst für Gunda entschieden hatte. Karoline versuchte, sich ihre Leidenschaft auszureden und in eine unkomplizierte Freundschaft zu verwandeln, was ihr aber nicht gelang. Anvertraut hat sie sich damals ihrer intelligenten und gebildeten Freundin Lisette Mettingh, die mehrere Sprachen beherrschte und Bücher übersetzte, aber nach ihrer Heirat mit Christian Nees von Esenbeck ihre philosophischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse ausschließlich in den Dienst der Universitätskarriere ihres Mannes stellte. Mit Lisette hatte sie nicht nur intensive Gespräche über die Benachteiligung der Frau, sondern offenbar auch eine stark erotisch geprägte Beziehung. In einem Brief vom Sommer 1800 macht die literaturkundige Lisette Karoline zu „Carlos“, um ihr Begehren auszudrücken – sie spielt auf das Paar Elisabeth und Carlos in Schillers „Don Carlos“ an: „Ich kan Dir kaum sagen wie seltsam mir eben itzt zu Muthe ist: ohngefähr so als wie an jenem Abend bey Dir … es war da alles so mystisch und mir war als wenn Du mein Geliebter wärest; da dachte ich O mein Carlos, wenn wirst Du erscheinen! Siehe ich harre Deiner am heimlichen Pförtchen und mein Herz klopft wenn ich etwas rauschen höre … Die Frühlingswinde bewegen die laue Luft – O Lüfte tragt Carlos meinen Kuß entgegen …“ 7)

„O Sklavenheit, in der ich geboren bin …“

Nach der Heirat Savignys mit Gunda Brentano im April 1804 intensivierte sich Karolines Beziehung zu Bettine, der sie anfangs eher kritisch gegenüber stand. „Diese (Bettine) wird mir immer unangenehmer“, schrieb sie noch 1803 an Gunda. 8) Aber bereits Ende März desselben Jahres beschreibt Bettine ihrem Bruder Clemens, worüber bei den nun häufiger werdenden Treffen gesprochen wurde: „O, welch schwere Verdammnis, die angeschaffnen Flügel nicht bewegen zu können … O Sklavenheit, in der ich geboren bin! … Wie! Ihr habt den Geist eingesperrt und einen Knebel ihm in den Mund gesteckt und den großen Eigenschaften der Seele habt Ihr die Hände auf den Rücken gebunden … das sind so nachwehende Töne aus meinen Unterhaltungen mit der Günderode.“ 9)

In ihrem Freiheitsdrang, der Verurteilung des „Philistertums“ und in ihrem Streben nach den Idealen von Bildung und Vollkommenheit waren sich die beiden Frauen einig. Gleichzeitig aber war ihnen auch die Schwierigkeit, fast Unmöglichkeit bewusst, als Frauen diese Ideale verwirklichen zu können. Es war vor allem Bettine, die leidenschaftlich um die Freundin warb: „Ich fühl’s recht, mein Leben ist bloß aufgewacht weil Du mir riefst, und wird sterben müssen, wenn es nicht in Dir kann fortgedeihen“, lässt sie ihr junges Ich im Buch über Günderrode sagen, und weiter: „… wenn Du nicht wärst, was wär mir die ganze Welt? kein Urteil, kein Mensch vermag über mich, aber Du! auch ich bin gestorben schon jetzt, wenn Du mich nicht auferstehen heißest und willst mit mir leben immerfort …“ 10)

Wahrscheinlich ist diese frühe Liebe der jungen, stürmischen Bettine Brentano ihre einzige große Leidenschaft gewesen. Die spätere Ehe mit Achim von Arnim war zwar von Zuneigung geprägt, aber leidenschaftslos. Auch nach seinem Tod erreichte keine der eher spielerischen Beziehungen zu jüngeren Männern die Intensität ihrer Liebe zu Karoline von Günderrode. Diese allerdings reagierte zurückhaltender, sie war wohl zärtlich um die Freundin bemüht, leidenschaftlich geliebt aber hat sie vorerst Savigny, dann mit tödlicher Konsequenz den Altertumsforscher Friedrich Creuzer.

„Sie war so sanft“, beschreibt Bettine sie, „und weich in allen Zügen, wie eine Blondine; sie hatte braunes Haar, aber blaue Augen, die waren gedeckt mit langen Augenwimpern; wenn sie lachte, so war es nicht laut, es war vielmehr ein sanftes, gedämpftes Girren, in dem sich Lust und Heiterkeit sehr vernehmlich aussprach: sie ging nicht, sie wandelte … ihr Wuchs war hoch, ihre Gestalt war zu fließend, als daß man es mit dem Wort schlank ausdrücken könnte; sie war schüchtern – freundlich und viel zu willenlos, als daß sie in der Gesellschaft sich bemerkbar gemacht hätte.“ 11)

Die Verschiedenheit der Freundinnen drückt sich auch in ihrem Äußeren aus. Bettine wird als klein und koboldartig beschrieben, mit dunklen, etwas zerzausten Locken und lebhaften Gesichtszügen. Sie war die„Selbstdenkerin“, die Unangepasste, die sich an keine Konventionen hielt, nicht nur auf Bäume kletterte, sondern auch waghalsig Mauern und Türme bestieg, die an ihre eigenen – weiblichen – Empfindungen, Gedanken und Anschauungen glaubte und theoretisches Wissen vielfach verwarf.

Karoline hingegen maß sich an den literarischen und philosophischen Größen ihrer Zeit, unterwarf sich einer patriarchal strukturierten Literaturtradition, aus der weibliche Empfindungen und Erfahrungen ausgeschlossen waren. Viele ihrer Werke verkörpern die von Johann Joachim Winkelmann propagierte „edle Einfalt und stille Größe“, ein an griechischer Kunst orientiertes „klassisches“ Schönheitsideal. Sie schrieb neben Lyrik und Dramen auch tiefsinnige philosophische Dialoge.

Während Gunda und Savigny auf ihrer Hochzeitsreise in Italien waren – Karoline hatte das Angebot, sie zu begleiten, abgelehnt –, begannen die fast täglichen Besuche Bettines bei der Freundin im Damenstift. Es war einsam geworden um Karoline. Sie hatte nicht nur ihre drei Schwestern Louise, Charlotte und Amalie verloren, die – bis zuletzt von Karoline aufopfernd gepflegt – an „Auszehrung“, Tuberkulose, starben, sondern auch ihre enge Freundin Lisette Metthing, die nach ihrer Heirat mit Christian Nees von Esenbeck auf das Gut Sickershausen bei Würzburg gezogen war. Auch Lisettes Schwester Wilhelmine hatte geheiratet, Karl du Bos du Thil. Lisette berichtet Karoline von der Veränderung, die seitdem mit ihr vorgegangen sei: sie wirke „höflich, förmlich und ganz vertrauenslos“, spreche außerdem „nur von ihrer Wirthschaft, von oberflächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen u.s.w. aber keine Sylbe von ihrem inneren Leben – es stirbt ab, oder bewegt sich in abgemessenen Schritten zwischen ihr und du Thil ganz allein.“ 12)

Karoline, mit 24 Jahren bereits ein „spätes Mädchen“, schien übrig zu bleiben, wobei wir nicht wissen, ob sie das Leben in ihrer Studierstube nicht dem betriebsamen, durch ständige, lebensgefährliche Geburten ausgefüllten Dasein einer Ehefrau vorgezogen hat. Dass ein der Bildung und Kreativität gewidmetes Leben bei einer Frau mit Argwohn betrachtet wurde, war ihr bekannt. In „Kein Ort, nirgends“ beschreibt Christa Wolf die Situation der Karoline von Günderrode als Außenseiterin, die keinen Platz fand in dieser Welt und das auch wusste. In ihren Freiheitsphantasien zeigt sich die Unvereinbarkeit eines hohen, an männlichen Vorbildern geschulten Anspruches, dem sie mit einer beschränkten weiblichen Realität nicht genügen konnte. „Schon oft hatte ich den unweiblichen Wunsch, mich in ein wildes Schlachtengetümmel zu werfen, zu sterben – warum ward ich kein Mann! Ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglückseligkeiten. Nur das Wilde, Große, Glänzende gefällt mir. Es ist ein unseliges, aber unverbesserliches Mißverhältnis in meiner Seele; und es wird und muß so bleiben, denn ich bin ein Weib und habe Begierden wie ein Mann, ohne Männerkraft. Darum bin ich so wechselnd und so uneins mit mir“, 13) schrieb sie am 29. August 1801 an Bettines brave Schwester Gunda, die wahrscheinlich über diesen Gefühlsausbruch erschrocken war.

Aber Bettine lauschte den Ausführungen der älteren Freundin bewundernd. Sie saß zu ihren Füßen im kleinen Garten des Damenstifts, der an jenen der Familie Gontard grenzte, bei der Hölderlin Hauslehrer war und Susette Gontard, seine besungene Diotima kennen gelernt hatte. Karoline hatte sich durch intensive Studien geschichtliche, philosophische und sprachliche Kenntnisseangeeignet, sie war umfangreich gebildet, las unter anderem Jean Paul, Hölderlin, Herder, Kant, Fichte, Schiller, Rousseau und Shakespeare und war geschult an Schellings Naturphilosophie. Außerdem legte sie ein „Studienbuch“ an, in das sie die Ergebnisse ihrer Lektüre sowie ihre Gedichte, Prosatexte und philosophisch-naturwissenschaftliche Abhandlungen eintrug.

Bettine hingegen erhielt Privatunterricht in den üblichen praktisch-musischen Fächern wie Handarbeiten, Gesang und Gitarre, später allerdings auch Geschichte und Mathematik.

Wegen Karolines Augenleiden, das häufig zu starken Kopfschmerzen führte – sie hatte es sich möglicherweise durch eine Infektion während der Pflege ihrer Schwestern zugezogen –, las ihr Bettine aus Schellings Naturphilosophie vor, schrieb Briefe für sie und notierte ihre Gedichte. Sie tranken Schokolade, Bettine spielte selbstkomponierte Melodien auf der Gitarre und sang dazu.

Dann träumten sie sich in ferne Länder, nach Indien und Damaskus: „Besinn Dich doch auf unsere Reise-Abenteuer“, schreibt Bettine in ihren Erinnerungen, „die Erlebnisse am Ganges und Indus, die schönen Knaben, die uns da begegneten, wo wir uns versteckten und sahen sie vorübergehen, und sich waschen in den heiligen Fluten und Gebete tun; da sagtest Du, das müssen wohl Tempelknaben sein, … und da waren Goldfruchtbäume und Trauben und Melonen …. Wir waren doch so glücklich; wie schwärmte mein Kopf von brennenden Farben der Blütenwelt, wie waren wir entzückt vom Duft der uns umwallte …“ 14)

Während die Männer aus ihrem Umfeld – Bettines Bruder Clemens, Achim von Arnim, die Brüder Humboldt und Savigny – durch Europa und die Welt reisten, blieb den Frauen nur die Reise in der Phantasie.

Aber es ging bei diesen regelmäßigen Treffen nicht nur um Ausflüge in die Phantasie. Karoline betätigte sich auch als Lehrmeisterin und versuchte, angetrieben durch Clemens, Bettine für Geschichte und Philosophie zu begeistern. Anfangs lief alles gut. Bettine richtete sich ein eigenes Zimmer zum Studieren ein. Sie begeisterte sich an den glanzvollen Gestalten der Vergangenheit und bereicherte den Geschichtsstoff, wenn er ihr zu eintönig wurde, mit eigenen Geschichten. Aber bald überwog die Langeweile, vor allem die Geschichtsstunden bei einem Herrn Arenswald, die sie außerdem erhielt, strapazieren ihre Geduld: „Babylonische Geschichte umfaßt sechzehnhundert Jahr’, hat um elf Uhr angefangen und Glockenschlag zwölf Uhr aus, ich spring’ in Garten.“ 15)

Für Karoline hingegen bedeutete die Beschäftigung mit Geschichte das Eintauchen in eine andere, tröstliche Welt, sie flüchtete in eine Vergangenheit, die sie die unvollkommene Gegenwart ertragen ließ.

„Deine Schellingphilosophie ist mir ein Abgrund …“

Noch weniger allerdings begeisterte sich Bettine für Philosophie, die für Karoline jedoch wesentlich war, weil ihr Weg zum Wissen auf der abstrahierenden Methode logischen Denkens beruht, während Bettine Welterkenntnis aus der Erfahrung der Sinne, dem eigenen Erleben gewinnt. „Den philosophischen Aufsatz … schenk’ ich Dir, ich nenne ihn einen steifstelligen, verschnippelten, buchsbaumernen Zwerg, ein fataler, grüner Würgengel von superklugem Gewäsch, ohne Sprach’, ohne Musik …“ 16)

Trotzdem ist ihr Wunsch, der Freundin zu gefallen, so groß, dass sie sich zu einem Lerneifer zwingt, der nicht vorhanden ist: „Deine Schellingphilosophie ist mir zwar ein Abgrund, es schwindelt mir, da hinabzusehen, wo ich noch den Hals brechen werd’… aber Dir zulieb’ will ich durchkriechen auf allen Vieren.“ 17)

Schließlich erkrankt Bettine, wohl als Reaktion auf die von ihr verlangte, eiserne Disziplin, an einem „Nervenfieber“, das die erschrockene Günderrode, die sie hingebungsvoll pflegt, zum Nachgeben zwingt: „Ich habe mir fest vorgenommen, diesen Winter nur solche Sachen mit Dir zu treiben, die Dir recht von Herzen zusagen.“ 18)

Nicht nur Karoline, auch Bettine geriet mit nicht mal 20 Jahren nach Ansicht ihrer Familie in Gefahr, das Einlaufen in den Ehehafen zu verpassen. 1803 hat sich ein Johann Isaak von Gerning für sie interessiert, aber Bettine reagierte wütend: „Ich schimpfte wie ein Rohrspatz, machte dem Franz bitterste Vorwürfe, mir so einen Esel als Mann anzutragen.“ 19)

Auch der Bruder Clemens versuchte, seinen Studienfreund Friedrich Carl von Savigny für Bettine zu begeistern. Aber Savigny, dem schon Karoline zu gescheit war, fand auch Bettine zu schwierig und eigenwillig. Schließlich schien Achim von Arnim als geeigneter Heiratskandidat – doch auch daraus wurde vorerst nichts.

Bettine selbst fühlte sich gespalten. Einerseits empfand sie sich mit ihrem ungeheuren Freiheitsdrang und ihrer ekstatischen Naturbegeisterung als ungeeignet für die Ehe. Andererseits jedoch war ihr bewusst, dass sie als unverheiratete Frau keine Zukunft hatte. „Lieber tot als übrig sein“, meint sie in ihrem Günderode-Buch. Schließlich waren „Sitzengebliebene“ damals als lästiges Anhängsel auf die Gnade ihrer Verwandtschaft angewiesen: ein trauriges Los. Sie befand sich in einer ähnlichen Situation wie ihre Freundin Karoline, fühlte sich „ohne Perspektiv“, im Wartestand der Ehe, wie so viele Mädchen damals und auch später noch. Auch für sie gab es keinen Ort, auch sie flüchtete sich in den Traum: „Wohinaus ich will: wahrlich, das weiß ich selbst nicht.“ 20)

In der Freundin hoffte sie, eine Gefährtin für ihre Freiheitsphantasien zu finden: „… wir müssen doch miteinander eine große Freiheit erringen “, 21) schreibt sie im Sommer 1804 an Karoline. Aber diese war eben dabei, sich in den Altertumsforscher Friedrich Creuzer zu verlieben und zeigte keine große Bereitschaft, auf die beschwörende Aufforderung der Freundin einzugehen.

Um Abwechslung in ihr oft eintöniges Leben zu bringen und weil ihnen Weltreisen versagt blieben, reisten die beiden Frauen häufig in ihre nähere Umgebung. Karoline fuhr nicht nur zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Hanau, sondern auch zu ihrem Großvater nach Butzbach, zu ihrer Freundin Karoline von Barkhaus nach Lengfeld und auf das Gut der Savignys in Trages, ebenso nach Würzburg, Heidelberg, Mannheim und Darmstadt. Bettine hingegen besuchte immer wieder ihre Großmutter in Offenbach, ihre Schwester Lulu, die mit dem Bankier Johann Karl Jordis in Kassel verheiratet war, sie kurte in Schlangenbad/ Taunus und lebte längere Zeit bei den Savignys in Marburg. Zusammen unternahmen sie Reisen beim Mondschein auf dem Rhein, wollten den kranken Hölderlin in Homburg besuchen, heimlich, denn Bettines Familie war dagegen. Das würde, so hieß es, Bettines „Überspanntheit“ noch fördern. „Du bist nicht recht gescheut“, meinte der Halbbruder und Vormund Franz, „was willst du bei einem Wahnsinnigen? Willst Du auch ein Narr werden?“

Aber Bettine hatte ihre eigenen, durchaus modern anmutenden Ansichten über Wahnsinn. Sie unterhielt sich oft mit Hölderlins engen Freund Isaak Sinclair, der meinte, dass „Hölderlins ganzer Wahnsinn aus einer zu feinen Organisation entstanden“ sei. Sie war überzeugt, dass er nur durch die „heilende Liebe“ von seiner Krankheit und fortschreitenden Isolation befreit werden kann. „… Mir kommt dieser Wahnsinn so mild und so groß vor. Ich weiß nicht … wär das so was Unerhörtes, zu ihm zu gehen und ihn zu pflegen?“ 22)

Im Frühsommer 1804 erschien Karoline von Günderrodes erstes Buch, „Gedichte und Phantasien“, lyrisch-epische Dichtungen, Dramenfragmente und ein Prosastück unter dem männlichen Pseudonym „Tian“. Schließlich schien es ratsam, bei einer Männern vorbehaltenen Thematik das weibliche Geschlecht zu verbergen. Tatsächlich herrschte vorerst Ratlosigkeit in der allgemeinen Literaturkritik. Goethe etwa meinte: „Diese Gedichte sind wirklich eine seltsame Erscheinung.“ 23)

Als das Geheimnis um das Pseudonym gelüftet war, kam es, wie es kommen musste: Ausgerechnet in dem angesehenen, von Kotzebue herausgegebenen Literaturblatt „Der Freimüthige oder Ernst und Scherz“ hieß es, dass Frauen nur schön dichten können, wenn sie die ihnen gemäße häusliche und familiäre Sphäre nicht überschreiten. Dass die Günderrode philosophische und mythische Themen behandelte, wurde als Affront betrachtet, als Angriff auf ein männliches Terrain. Aber nicht alle Rezensionen waren abwertend. Christian Nees von Esenbeck, der Ehemann von Karolines Freundin Lisette etwa schreibt in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“ lobend und anerkennend, er bescheinigt der Dichterin die Gabe, Probleme der Vernunft in poetischer Sprache darzustellen, womit er Günderrodes Anliegen traf, Kunst und Natur, Schreiben und Leben in einer einheitlichen Form darzustellen. Clemens Brentano, auf dessen Urteil Karoline großen Wert legte, reagierte in einem Brief vom 1. Mai 1804 vorerst begeistert: „… Ich habe sie mit Entzücken gelesen, es scheint mir möglich, daß sie von Ihnen seien, aber ich kann dann wieder nicht begreifen, daß ich eine solche Vollendung in Ihrem Gemüt nicht sollte verstanden haben … ich habe weinen müssen über das wunderbare Geschick meiner Empfindungen, und nun weiß ich doch nicht mehr als vorher, ob die Lieder von Ihnen sind. Kein Weib hat noch so geschrieben, noch so empfunden.“ 24)

Gleichzeitig bat er sie flehentlich um die Wiederaufnahme ihrer einstigen engen Freundschaft. Als Karoline jedoch von einer innigen Beziehung nichts wissen wollte, fand Clemens die Gedichte nicht mehr so gut, zu sehr, wie er meinte, mit Bildungsgut beladen. Im September 1804 schrieb Friedrich Creuzer an die Günderrode, „Clemens Urtheil“ sei, „du habest gar keine Poesie.“ 25)

Bettine hingegen bewunderte die Freundin vorbehaltlos. Nach Trages, wo sich Karoline Ende April bis Juni 1804 aufhielt, schrieb sie einen Brief voll des Lobes, die Gedichte hätten ihr „einen großen Trost gewährt … es ist eine Poesie der Poesie darin, oder vielmehr die Poesie hat sich hier vermählt und abermals vermählt.“ 26)

In ihren Erinnerungen berichtet Bettine von gemeinsamen Abenden, in denen sich Poesie und Erotik untrennbar vermischen: „So im Mondschein im Zimmer an der Erde liegen und ihm nachrücken und Geschichten erfinden wie wir den Winter, und wenn ich Dein Haar flechten wollt’, da hast Du mich’s lassen aufflechten und wieder flechten und erfandest Ossians Gesänge, während ich es kämmte:

‚Deine Locken gleich den Raben düster,

Deine Stimme wie des Schilfs Geflüster,

Callas Tochter sank zum Schlafe nieder,

O! Wann grüßtest Du den Morgen wieder?

Schöngelockte, wirst Du lange ruhn?

Sonne, birg in Wolken deinen Schimmer!

Denn sie schläft der Frauen erste! – Nimmer

Kehret sie in ihrer Schönheit mehr‘

Weißt Du noch, wie ich’s Dir still nachsang, was Du so schauerlich mir vorsagtest, und weißt Du wohl, daß da mein Herz ganz voll Tränen war … Ich wollt’ Dir’s nicht zeigen, wie tief das in mich ging …“ 27)

Bettine ahnt die Todessehnsucht der Freundin und ist ergriffen. Gleichzeitig lernt sie ihre Gedichte auswendig und komponiert Melodien dazu: „Ich nahm Dein Darthula-Gedicht … und sang draus … es sind die zwei Stellen, die ich aus Deinem Lied auswendig weiß, weil Du sie in meiner Gegenwart gemacht hast im Dunkel und sagtest zu mir: ‚Behalt es auswendig, bis Licht kommt, ich will unterdes weiter dichten‘, und ich wiederholte immer vier Verse, bis noch vier dazu fertig waren … Günderode, wie schön war doch das? – Wie wird’ ich je Schöneres erleben als mit Dir?“ 28)

Bettine möchte eine „Schwebereligion“ erfinden, in der sie die Welt neu entwerfen, die „Ketten der Gewohnheit“ brechen kann. „Lasset uns doch eine Religion stiften, ich und Du … und streng danach leben und ihre Gesetze entwickeln, wie sich ein junger Königssohn entwickelt, der einst der größte Herrscher sollt werden der ganzen Welt. – So muß es sein, daß er ein Held sei und durch seinen Willen alle Gebrechen abweise und die ganze Welt umfasse und daß sie müsse sich bessern.“ 29)

Als oberstes Prinzip schlägt sie vor, „daß wir keine Bildung gestatten – das heißt, kein angebildetes Wesen, jeder soll neugierig sein auf sich selbst … die ganze Bildung soll darauf ausgehen, daß wir den Geist ans Licht hervorlassen.“ 30)

Dies ist eine für diese Zeit unerhört kühne Aufforderung zu einem freien, unabhängigen weiblichen Denken: „Selbstsein ist Held sein; das will ich sein. Wer selbst ist, der muß die Welt bewegen, das will ich.“ 31)

Weltverbesserungsideen werden Karoline gefallen haben, aber sicher nicht Bettines Vorschlag, von der Bildung zu lassen, die für Karoline mehr und mehr zum eigentlichen Lebensinhalt wurde. „Du willst ungereimtes Zeug vorbringen … Deine Projekte sind immer ungemein waghalsig, wie eines Seiltänzers, der sich darauf verlässt, daß er balancieren kann.“ 32)

Sie scheint vor Bettines Eifer zurückzuschrecken, auch ein eigenes Ungenügen zu empfinden: „Ich werd’ eingeschüchtert von Deinen Behauptungen, ins Feuer gehalten von Deiner Überschwenglichkeit. Hier am Schreibtisch verlier’ ich die Geduld über das Farblose meiner poetischen Versuche.“ 33)

Wieder zeigen sich die Gegensätze zwischen den Frauen, wie sie auch in einem Originalbrief Karolines an Bettine vom Winter 1805/06 nach Marburg zum Ausdruck kommen: „Dein Brief hat mich gefreut und gerührt … ich weiß nicht wie viel du thun kanst, aber so viel ist mir gewiß, daß mir nicht allein durch meine Verhältniße, sondern auch durch meine Natur engere Gränzen in meiner Handlungsweise gezogen sind, es könnte also leicht kommen, daß Dir etwas möglich wäre, was es darum mir noch nicht sein könnte. Du must dies bei deinen Blikken in die Zukunft auch bedenken.“ 34)

Karoline war zwar bewegt von Bettines Eifer, dennoch erschienen ihr diese Gedankenspiele utopisch, undurchführbar, vor allem für sie selbst, da nicht nur ihre Lebensumstände, sondern auch ihr Wesen für solche Grenzüberschreitungen ungeeignet waren. Der Entwurf einer kämpferischen, sozialen Utopie, einer Verbesserung des Menschen durch den Menschen hatte wenig mit Karolines Verständnis gemein, die die reale Welt lediglich als Vorstufe zu einer eigentlichen, erfüllten Existenz nach dem Tod betrachtete. Schon früh war ihr klar, dass sie ihr eigenes Alter auf keinen Fall erleben wollte. „Recht viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist und dann früh sterben; ich mag’s nicht erleben, daß mich die Jugend verläßt“ 35), heißt es im Günderrode Buch. Damit unterschied sie sich grundsätzlich von der lebensbejahenden Bettine. Ebenso legt ein anderer (Original-) Brief die Vermutung nahe, dass sie sich von der Freundin in ihrem eigentlichen Anliegen missverstanden fühlte: „… es scheint überhaupt, als habest Du meine Art zu sein vergessen und ein fremdes Bild dafür untergeschoben.“ 36)

Auch Bettine sah das Anderssein der Freundin, sie litt darunter, wollte trotzdem Brücken schlagen. Über 30 Jahre nach ihrem Tod holt sie die Erinnerung zurück: „Du redest von Dir, als seist Du anders wie ich, ganz anders … und doch hast du mich immer vertreten; ja, gewiß ich, ich bin anders wie Du, ich fühl’s auch heut aus jeder Zeile Deines Briefs, die mir doch so wahr sind und den tiefen Grund Deiner Seele beleuchten.“ 37)

Doch es gab auch Gemeinsamkeiten. Neben einem starken Freiheitsdrang ist es die Vorstellung einer geistigen Kraft und einem seelischen Empfinden, die unsterblich sind, weil sie Raum und Zeit überwinden. Gemeinsam ist ihnen die Suche nach innen, zu den Ursprüngen des Seins, die sich bei Karoline in ihrer Sehnsucht nach dem Jenseits ausdrückt, Bettine hingegen meint, „die eigne irdische Natur wie ihr Besitztum und alles dranzusetzen … uns über sie hinauszuschwingen, das deucht mir göttliche Gabe.“ 38)

Trotzdem hat sich Karoline ihrer Freundin Bettine nicht anvertraut, als ihre Liebe zu dem Altertumswissenschaftler Friedrich Creuzer begann, den sie im Sommer 1804 in Heidelberg bei ihrer Freundin Sophie Daub kennen lernte. Bettine schien ihr zu sprunghaft, unfertig und beschäftigt mit ihren Problemen, um die eigene innere Zerissenheit zu verstehen. Creuzer war verheiratet mit der neun Jahre älteren Witwe seines verstorbenen Gönners, eines Leipziger Professors, deren er sich aus Dankbarkeit angenommen hatte. Allerdings brachte sie ein kleines Vermögen mit in die Ehe, und dieser finanzielle Rückhalt beruhigte den mittellosen Creuzer, der nur durch die finanzielle Unterstützung von Freunden studieren konnte. Das Verhältnis war also von Beginn an belastet und ohne Zukunft. Bettine wusste zwar von dieser unglücklichen Beziehung der Freundin, hatte sich auch in Marburg über den unschlüssigen Geliebten lustig gemacht, maß ihm allerdings keine große Bedeutung bei. Stattdessen warb sie weiter um Karoline, wobei sich leidenschaftliches Begehren mit der Angst vor einem frühen Ende der Freundin mischt, deren Todessehnsucht Bettine nur zu bewusst war.

In ihrem „Günderode-Brief“, der in dem 1835 veröffentlichten, berühmten Briefroman „Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde“ erschien, werden diese Gefühle deutlich ausgesprochen. Bettine beschreibt darin rückblickend den dramatischen Verlauf ihrer Freundschaft und Liebe zu Karoline Günderrode, wobei sie ihre Leidenschaft und Verzweiflung mit der des jungen Werther vergleicht.

Besonders aufschlussreich ist jene Szene, in der ihr die Günderrode ihre Todesbereitschaft deutlich macht:

„Ich küsste sie zum erstenmal an ihren Mund …“

„Einmal kam sie mir freudig entgegen und sagte: Gestern hab’ ich einen Chirurg gesprochen, der hat mir gesagt, daß es sehr leicht ist, sich umzubringen, sie öffnete hastig ihr Kleid, und zeigte mir unter der schönen Brust den Fleck; ihre Augen funkelten freudig, ich starrte sie an, es ward mir zum erstenmal unheimlich, ich frage: nun! – und was soll ich denn thun, wenn du todt bist? – O, sagte sie, dann ist Dir nichts mehr an mir gelegen, bis dahin sind wir nicht mehr so eng verbunden, ich werd’ mich erst mit Dir entzweien; – ich wendete mich nach dem Fenster, um meine Thränen, mein vor Zorn klopfendes Herz zu verbergen … – nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, konnt’ ich mich nicht mehr fassen, – ich brach in lautes Schreien aus, ich fiel ihr um den Hals, und riß sie nieder auf den Sitz und setzte mich auf ihre Knie, und weinte viel Thränen und küßte sie zum erstenmal an ihren Mund, und riß ihr das Kleid auf und küßte sie an die Stelle, wo sie gelernt hatte das Herz zu treffen, und ich bat mit schmerzlichen Thränen, daß sie sich meiner erbarme, und fiel ihr wieder um den Hals; und küßte ihre Hände, die waren kalt und zitterten, und ihre Lippen zuckten, und sie war ganz kalt und todtenblaß, und konnte die Stimme nicht erheben; sie sagte leise: Bettine, brich mir das Herz nicht.“ 39)

Die Sorge Bettines um die selbstmordgefährdete Freundin äußert sich hier in heftigem Begehren. Gleichzeitig wirkt die Haltung Karolines ambivalent: Einerseits nimmt sie eine verführerische Haltung ein, indem sie ihre Brust entblößt, andererseits aber reagiert sie auf Bettines leidenschaftlichen Ansturm kalt und starr.

Es gibt eine weitere aussagekräftige Stelle in dem „Günderode-Brief“. Nachdem ihr Karoline den Dolch gezeigt hat, nimmt Bettine ihn in die Hand und schneidet sich daran, „da floss gleich Blut; sie erschrak; … und wenn ich jetzt mit dem Messer auf Dich eindringe, – siehst Du, wie Du Dich fürchtest? – sie zog sich ängstlich zurück; der alte Zorn regte sich wieder in mir unter der Decke des glühendsten Muthwills; ich ging immer ernstlicher auf sie ein, sie lief in ihr Schlafzimmer hinter einen ledernen Sessel, um sich zu sichern; ich stach in den Sessel, ich riß ihn mit vielen Stichen in Stücke, das Rosshaar flog hier und dahin in der Stube, sie stand flehend hinter dem Sessel und bat, ihr nichts zu thun; – ich sagte: eh’ ich dulde, daß Du Dich umbringst, thu’ ich’s lieber selbst. Mein armer Stuhl! rief sie; ja was. Dein Stuhl … ich gab ihm ohne Barmherzigkeit Stich auf Stich, das ganze Zimmer wurde eine Staubwolke, so warf ich den Dolch weit in die Stube, daß er prasselnd unter das Sofa fuhr …“ 40)

Angela Steidele liefert für diesen Text eine interessante Interpretation. Sie sieht in Bettines Angriff eine Anspielung auf Grillparzers Tragödie „Sappho“, die Bettine nachweislich gekannt hat und in der ebenfalls eine sexuell aggressive Frau mit einem Dolch die sich verweigernde Freundin bedroht. In beiden Fällen, so Steidele, fungiert der Dolch als phallisches Instrument und wird der Mordversuch symbolisch zum Vergewaltigungsversuch, womit die Autorin das Begehren Bettines in die lesbische Traditionslinie einordnet. Denn da sexuelles Begehren männlich definiert war und eine Frau, die eine Frau begehrt, nur innerhalb von heterosexuellen Konstruktionen der Sexualität vorstellbar war, wurde es auch mit männlichen Attributen – hier dem Dolch, der in den Körper eindringt – beschrieben. Steidele spricht von einer „auffälligen Häufung Dolche schwingender Figuren in literarischen Texten, die Frauenliebe behandeln“, die sich aus dem Zusammenhang von Begehren, „Männlichkeit“ und Aggression erklären. 41)

Tatsächlich begehrt Bettine ihre Freundin im „Günderode-Brief“ nicht nur sexuell, sie will auch mit ihr zusammenleben und ist zornig, dass Karoline sich verweigert: „… Ich sagte: Du kannst sicher auf mich bauen, … komm vor mein Fenster und pfeif’ um Mitternacht, und ich geh’ ohne Vorbereitung mit Dir um die Welt. Und was ich für mich nicht wagte, das wag’ ich für Dich: – aber Du! – was berechtigt Dich, mich aufzugeben? – wie kannst du solche Treue verrathen …“ 42)

Im Winter 1805/06 scheint eine Entfremdung zwischen den Freundinnen eingetreten zu sein. Bettine, die sich zu dieser Zeit zusammen mit ihrer Schwester Meline bei den Savignys in Marburg aufhält, schreibt zwar weiter sehnsüchtige Briefe an Karoline, bekommt aber nur noch selten Antwort. Bettine berichtet von Turmbesteigungen in der Nacht, Schnee im Mondlicht und einsamen Spaziergängen. Wieder und wieder beschwört sie die Liebe der sich entziehenden Freundin: „Mir aber liegt ein Schmerz in der Seele, den ich oft unterdrücke in deiner Gegenwart … aber eine geheime Sehnsucht, Dich Dir selber zu entführen, Dich Dir selber vergessen zu machen … und in meiner Waldhütte einzukehren.“ Und weiter: „Ich weiß nicht, was Du bist, es schwankt in mir, aber wo ich einsam gehe in der Natur, da ist es immer, als suche ich Dich, und wo ich ausruhe, da gedenk ich Deiner …“ 43)

Außerdem beschwert sie sich über „die Frankfurter“, die sich über ihre Studien bei einem gelehrten Juden mokieren und ihr „häusliche Tugenden“ beibringen wollen. „Wo ich einen Mann hernehmen will, wenn ich Hebräisch lern? – So was ekelt einen Mann, schreibt der lieb gut Engels-Franz … Ich schrieb ihm, er soll nur immer mitspotten, denn es sei jetzt nicht mehr Zeit, mich zu ändern; und der ganz Jud sei nur in meine Tagesordnung einrangiert, um mich vor dem Mottenfraß der Häuslichkeit zu bewahren.“ 44)