Fremd Gehen - Antje Rávik Strubel - E-Book

Fremd Gehen E-Book

Antje Rávik Strubel

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Beschreibung

Ein geheimnisvolles nächtliches Berlin, ein Mord, eine Liebesgeschichte. Daniel Stillmann, Student im siebten Semester der Mathematikwissenschaft, mag keine Probleme, für die es genau zwei einander widersprechende Lösungen gibt. Als er Zeuge eines Verbrechens an der Kreuzberger Admiralsbrücke wird, läßt ihn die kalte Logik seiner Formeln im Stich. Er steht vor einer großen Unbekannten, gerät in eine Spirale aus Angst und fürchtet immer mehr, die Geschichte eines anderen zu leben. – So jedenfalls haben Marlies und die Ich-Erzählerin sich das ausgedacht, die ihre Figur Daniel in den unheimlichen Bann eines alten Mannes treiben, bis eines Tages auf mysteriöse Weise auch Marlies verschwindet. Für diesen Fall erweisen sich die Grenzen der Geschlechter als ebenso unzuverlässig wie die Naturgesetze von Raum und Zeit.

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Seitenzahl: 218

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ANTJE RÁVIKSTRUBEL

FREMD GEHEN

Ein Nachtstück

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoDie Geschichte hat mit [...]Wir dachten uns, das [...]So weit waren wir [...]Zu Hause setzte sich [...]Die Idee mit dem [...]Daniel beobachtete, ans Fenster [...]An unserem letzten Abend, [...]Als der Alte hörte, [...]Aber dann, einen Monat [...]Als Daniel von der [...]Abends rückte er den [...]Marlies hat die beste [...]»Tut mir leid.« Daniel [...]Auch bei der Polizei [...]Am Morgen machte der [...]Marlies hat immer darauf [...]Das Polizeigebäude war die [...]Die Hirondelle gibt es [...]In der U-Bahn war [...]Das sind Sätze von [...]Der Radiowecker in der [...]Heute war die Polizei [...]Daniel saß auf der [...]Nichts läßt sich umgehen. [...]Da hatte es begonnen.Dank

Wherever I am not

is the place where I am myself.

 

Paul Auster: The New York Trilogy

Die Geschichte hat mit einem Blick begonnen; der alte Mann unten auf der Brücke, der sich umdrehte, direkt zu Daniel am Fenster hochsah und ihn als jemand erkannte, der er nicht war.

 

Das Wasser trieb gegen die Böschung, überschlug sich und wurde zurück in die schnelle Strömung in Kanalmitte gerissen. Es kreiste vor dem Widerstand der Brückenpfeiler, bevor es unter der Brücke durchschoß und sich zu schaumigen Bränden aus Schmutz und Abgasablagerungen zusammenschob, dann wieder auseinandergerissen wurde und schließlich, geglättet, in gleichmäßiger Oberflutung der unteren Uferabschnitte weiterfloß, während es herabgefallene Blätter ununterbrochen wieder an die Oberfläche spülte.

Aber das konnte Daniel nicht sehen. Es war ein gespeichertes Bild, abrufbar jetzt, wo der Blick aus dem Fenster ins Dunkel ging. Er mußte es vorhin flüchtig gesehen haben, als er gegen den peitschenden Wind am Ufer entlanggerannt war, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, bevor er endlich den schützenden Hausflur erreichte. Der Regen war ihm in den Kragen gelaufen, während das Wasser gegen die Brückenbefestigung schlug.

Vom Fenster aus sah man nur so weit, wie der Radius der Lichtkreise reichte, die die falschen Gaslaternen in die Dunkelheit schnitten. Daniel lehnte die Stirn an das kühle Fensterglas. Sein Kopf war trotz der nassen Haare heiß.

Er lauschte auf das Summen und Schlagen der Äste, auch das nur in seiner Erinnerung, hinter geschlossenem Fenster blieb der Ton weg. Darunter tobte das Wasser, von dem Daniel jetzt nur eine schmale, schattige, kaum von den Laternen getroffene Spur erkannte.

Da löste sich an der Brücke gegenüber eine Gestalt aus dem Dunkel. Sie geriet in einen der Lichtkreise, die Laternen flackerten im Sturm, der sie in ihren Halterungen schwingen ließ, und Daniel konnte ihre Umrisse nur undeutlich sehen. Die Gestalt arbeitete sich langsam durch das Licht voran. Es sah aus, als wäre das Licht Material, das von ihrem Körper zusammengedrückt wurde. Dann erkannte Daniel einen Mann und beobachtete, wie er den beleuchteten Kreis unter der Laterne durchschritt und dabei den Mantelschoß zurückschlug, der sich in das Lichtmaterial einzugraben schien, von ihm aufgenommen wurde, als könnte er sich einer unsichtbaren, dem Licht zugrundeliegenden Struktur einschreiben, bis er sich schließlich wieder davon abhob und erneut ein Mantelschoß aus festem, grobem Stoff war. Er sah aus wie ein Militärmantel, der Mantel einer Marineuniform, die einmal blau gewesen war und dann zu oft im Regen gehangen hatte, auf einem der Flohmärkte im Tiergarten oder am Brandenburger Tor, wo die Russen noch immer alte Ostuniformen verkauften.

Daniel sah dem Mann hinterher, der sich plötzlich vorbeugte, direkt an der Uferböschung. Er zögerte, der Mantelschoß sperrte über seinen Beinen, dann schien der Mann seine Taschen umzustülpen und etwas in den Kanal zu werfen. Er stand da, als wäre hellichter Tag und der Sturm kein Wetter, das die Bewegung verlangsamt.

Daniel blieb, wo er war, dicht an der Fensterscheibe. Aber von hier oben war nicht zu erkennen, was der Mann in den Kanal geworfen hatte, ob er überhaupt etwas in den Kanal warf oder dort nur so vorgebeugt stand, um sich zu übergeben oder weil ihm schwindlig geworden war. Die Manteltaschen waren nach außen gestülpt. Aber es gab weder Enten noch Schwäne, und es war auch nicht die Zeit zum Entenfüttern.

Plötzlich drehte sich der Mann um. Er richtete sich auf, klopfte auf die Taschen und hob den Kopf. Und dann traf Daniel dieser Blick, erschreckend präzise, ein Blick, in dem er sich entlarvt vorkam. Daniel zuckte zurück und unterdrückte ein Kreischen, das er dennoch deutlich zu hören glaubte. Es war ein weibisches Kreischen, hoch und überraschend, und als er noch damit beschäftigt war, es einzusortieren in seine vom Tag her gewohnten Stimmlagen, war er schon wieder dicht ans Fenster getreten und sah, wie der Mann langsam auf das Haus zukam. Sein Blick blieb weiterhin an der Stelle hängen, an der Daniel stand. Aber dann zögerte er. Ohne die Blickrichtung zu verändern, kehrte er ins Zentrum des Laternenlichts zurück. Daniel hörte sich ausatmen. Den Mantel hatte der Mann immer noch geöffnet. Das Futter hing heraus. Vom Licht getroffen, sah es aus wie eine Innerei, die auf obszöne Weise präsentiert wurde.

Daniel fiel ein, daß sein Hosenstall offenstand. Er zog den Reißverschluß zu, hörte auf das vertraute Surren, und sein Körper paßte ihm wieder. Er stand am rechten Fenster seines Zimmers im vierten Stock. Auf der niedrigen Fensterbank spürte er ein paar Staubflocken, als er mit dem Finger darüberfuhr. Es war elf Uhr abends, und er hatte noch nichts gegessen. Er hatte pinkeln müssen, als er nach Hause kam, im Zimmer hatte das Fenster gegen die Wand geschlagen, und er hatte schnell gemacht und war mit offener Hose hinübergehastet. Jetzt ging er vom Fenster weg, ohne noch einmal nach unten zu sehen.

In der Küche setzte er Wasser auf und sah später in dem in dampfender Flüssigkeit schwebenden Teebeutel das Gesicht des Mannes, wie es von der Brücke aus zu ihm nach oben starrte. Im Teebeutel war es ein altes Gesicht, es stieg auf mit dem Dampf und verflüchtigte sich. Aber er war nicht mehr sicher, ob es tatsächlich das Gesicht eines Alten gewesen war. Er wußte nur, er hätte den Blick gern rückgängig gemacht. Aber das war ausgeschlossen, und Daniel mochte es nicht, an Dinge zu denken, die unmöglich waren. Er ignorierte sie wie Fragen, auf die es genau zwei einander widersprechende Antworten gab.

Dann löschte er das Licht und ging ins Bett. Das Haarband, das seine Freundin wie immer um sein Handgelenk gewickelt, ihm aber diesmal nicht wieder abgenommen hatte, legte er sich unter die Wange. Es roch nach ihr. Er konnte lange nicht einschlafen.

Am nächsten Tag war der Kanal fast unbewegt. Blätter trieben bauchoben im Kreis, der Wind war herbstlich, aber warm, als Daniel mit dem Rad zur Uni fuhr. Die Gaslaternen brannten noch. Sie gaben mit ihren Lichthüllen, die sie matt dem Tageslicht entgegensetzten, wie immer Auskunft über das Versagen städtischer Regulierungssysteme.

Als er an der Uferstelle vorbeifuhr, an der der Alte gestern nacht gestanden hatte, sah er kurz hin. Das Gras war braun, dörr und niedergetreten. Aber weil nichts Besonderes zu sehen war, hörte er Kathleen lachen und wurde rot, als hätte sie tatsächlich gelacht und gesagt: »Dani, aus Mücken werden keine Elefanten.«

Hab ich doch nicht behauptet, protestierte er, während er in die Pedale trat, brauchst gar nicht so zu lachen, aber hat doch jeder mal, so Ängste, hast du doch auch, wie? nee, spielt überhaupt keine Rolle, ob jetzt Tag ist oder Nacht, du hast doch auch zuerst, meine Augen, hast du gesagt, die hätten dich sofort … ich? – nichts! was soll man da auch sehen, hab ja auch nicht erwartet, daß ich da was sehe, aber ich kann doch hingucken, wo ich will, oder?

Er kam am Zeitungsladen vorbei, der im Erdgeschoß eines fünfstöckigen Altbaus lag. In der letzten Woche hatten Bauarbeiter angefangen, hier ein Gerüst aufzustellen, und jetzt werkelten sie immer noch an derselben Stelle wie am Sonnabend. Da zum Beispiel sollte man besser nicht hingucken, dachte er, nicht mal aus den Augenwinkeln.

Vor der Uni schloß er das Rad an eine Laterne. Er schlitterte unter den Gesprächen auf den Fluren hindurch, ohne aufzusehen. Nur einmal hatte ihn jemand auf dem Gang aufgehalten, ihn am Ärmel gezogen und angelacht, und das war Kathleen gewesen. Aber Kathleen hatte inzwischen ihr Studium geschmissen, und seither gingen ihn diese Gespräche nichts mehr an.

Das Referat hielt er in einem Zustand nüchterner Träumerei. Es war eins der Referate, bei denen er schließlich nicht mehr wußte, ob er sich wegen des Themas für sie entschieden hatte oder ob das Interesse nur den Vorlieben seiner Lieblingsprofessorin geschuldet war. Er hörte, während er sprach, die S-Bahn. Es roch nach ungeputzten Klobrillen und Damenparfüm. Aber ihn irritierte vor allem die unterdrückte Hysterie seiner Mitreferentin, der dauernd ein Zopf auf den Overhead-Projektor fiel und einen gedrechselten Schatten auf die Formeln an der Wand warf.

Danach erschien ihm der Tag überflüssig, eine Ansammlung von Stunden, mit denen er nichts anzufangen wußte. Er war müde und rief Kathleen an. Ihm graute vor dem einsamen Bett am Nachmittag. Aber auf dem Festnetz ging niemand ran, und auf ihrem Handy meldete sich unter Vogelgezwitscher nur die Mailbox. Schließlich legte er sich auf die Couch, paßte seinen Körper in die Form ein, die das Bettzeug beibehalten hatte, seit er heute morgen aufgestanden war, und knetete Kathleens Haarband, bis es wenigstens nach ihr roch. Den Moment des Einschlafens verpaßte er, was ihm hinterher jedesmal ungeheuerlich vorkam.

Auch am Dienstag vergeudeten die Gaslaternen Energie ans Tageslicht. Die Hälfte des Steueraufkommens geht für die Stromkosten eines einzigen Stadtbezirkes drauf, dachte Daniel, verzichtete jedoch darauf, es nachzurechnen, schob das Portemonnaie in seine Gesäßtasche und nahm zwei Treppenstufen auf einmal.

Noch bevor er die Haustür geöffnet hatte, spürte er eine Aufregung, von der oben unter dem Dach nichts zu bemerken war. Ein Surren ging durch das Haus, wie auf Stromleitungen gezogene Angst. In der Wohnung im Erdgeschoß stand die Tür offen. »Aber ich sage Ihnen doch, ich habe geschlafen!« hörte er eine Frau sagen, dreimal, bevor er draußen war.

Das Viertel steckte voller verlassener Ehefrauen. Eines Tages kehrten die Ehemänner zurück, prügelten weiter oder brachten sich um, und die Frauen konnten es einfach nicht fassen. Als Daniel auf die Straße kam, war die Brücke abgesperrt, eine Polizistin lief mit ausgestreckten Armen über den Gehweg in Richtung einer anderen Erdgeschoßwohnung. Die Aufregung kam von hier. Auf der rechten Straßenseite standen zwei Einsatzwagen der Polizei, und in der Uferböschung hockte die Spurensicherung. Als einer von ihnen mit einer Plastikhülle nach oben kam, starrte Daniel auf die vom Ufergras nassen Hosenbeine und konnte sich von diesem Anblick erst lösen, als die Polizistin knapp vor ihm die Straße überquerte. Er überlegte, ob er sie ansprechen sollte, zog es dann aber vor, ohne stehenzubleiben in der Bäckerei gegenüber zu verschwinden.

»Was’n da los?«

»Na, juten Morjen!« Die Bäckersfrau schob ihm die Zeitung über die hohe Glastheke. »Spät dran heute, wa?«

»Wieso?« sagte Daniel. »Schon wieder kein Krustenbrot mehr da? Und ich nehm noch eins von der Quarksahne.« Die Theke reichte ihm bis auf Schulterhöhe, und Daniel mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, wenn er in der Zeitung etwas erkennen wollte.

Er mochte es nicht, der Bäckersfrau auf Zehenspitzen gegenüberzustehen; er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der der Welt noch nicht gewachsen war.

»’n Stück Schenkel hamse gefunden. Das war alles«, sagte die Bäckersfrau. »’n rausgefetztes Stück Unterschenkel. Und dann könnse noch nich mal sagen, ob er von ’nem Mann oder von ’ner Frau is. Keene Leiche. Nix. War ja logisch.« Sie nickte nach draußen. »Das einzige, was die heutzutage noch lernen, is Wasserwerfer lenken!« Sie schaufelte das Stück Quarksahne auf einen Pappteller.

Die taz hatte sie mit der Rückseite nach oben gedreht, und Daniel versuchte, auf der Theke die Überschrift zu lesen.

»Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen«, äffte die Bäckersfrau einen Fernsehbeamten nach. »Aber wer geht’n da heut noch hin, wenn man nich gleich fett Belohnung abkassieren kann?« Sie sah ihn an wie die Serienpolizisten, denen er beim Hemdenbügeln zusah.

»Und was genau ist eigentlich passiert?« fragte er.

»Das mußte schon die Bullen fragen«, sagte die Bäckersfrau. »Als ob das noch ’ne Rolle spielt. Und die taz ist ja ooch keen Katastrophenjournal!«

Bäckersfrauen beherrschten die Welt, aber sie waren nicht in der Lage, auch sich selbst zu begreifen, ihre gedanklichen Ausschlüsse und Einschübe, die nicht immer einer Logik folgten.

Er war Mathematikstudent im siebten Semester, hieß Daniel Stillmann und hielt sich für nicht mehr oder weniger besonders als andere Menschen, vielleicht für etwas weniger aufregend als diejenigen, in die er sich verliebte. Aber das war Zufall. Er glaubte ein bißchen an Zufälle, so wie er ein bißchen an Gott glaubte und an die Unvorhersehbarkeit des eigenen Todes. Nur der Blick des alten Mannes vorgestern nacht hatte zum Aussetzen jeglichen Zufalls geführt, und er war sich nicht sicher, ob der Blick auch schon kein Zufall mehr gewesen war und der Alte eine perverse Freude daran gehabt hatte, ihn in diese Angelegenheit hineinzuziehen. Daniel Stillmann war sicher, daß die Spurensicherung und dieser Alte vorgestern nacht auf der Brücke zwei Antworten auf ein und dasselbe Ereignis waren.

Er sah den Mantel des Alten im Laternenlicht verschwinden und wiederauftauchen, und es kam ihm vor, als hätte er sich in diesem kurzen Moment, in dieser Spanne aus Licht, verändert.

»Schreiben sie auch …«, er zögerte, »wann es passiert ist?« Er sah der Bäckersfrau in die Augen. Vielleicht war der Mann, bevor er ins Licht getreten war, jung gewesen.

»Mensch, ick hab zu tun, Junge, oder gloobste, ick mach hier ’ne Presseschau!«

Noch bevor Daniel den Artikel bis zu Ende gelesen hatte, war er sicher, daß die vermutete Tatzeit mit der Anwesenheit des Alten unten auf der Brücke übereinstimmte. Und als er es dann las, war er weder erstaunt, noch sah er ein einziges Mal auf, um der Bäckersfrau von dieser merkwürdigen Übereinstimmung zu erzählen. Mit Genugtuung stellte er fest, daß er mehr wußte als sie. Aber jeder Versuch, sie mit seinem Wissensvorsprung auszuspielen, wäre kindisch gewesen. Dann hätte sie ihm, wie er da so auf Zehenspitzen vor ihr stand, die Welt erklärt, die eine Welt aus Wasserwerfern, Abzockern, Sexualtätern und Graffitisprüchen an den Wänden besetzter Häuser war. Seine Waden begannen zu zittern.

Die einfache Mathematik sagte, daß innerhalb der wenigen Sekunden, die der Mann sich überhaupt an der Uferböschung aufgehalten hatte, kein Mord möglich war. Und die höhere Mathematik bestand darin, Zufälle einzukalkulieren und hinter den Zufälligkeiten Prinzipien zu vermuten, die in Formeln faßbar waren und so schließlich die Welt nach Gesichtspunkten erklären konnten, in denen die Übereinstimmung zwischen dem Zeitpunkt eines Mordes und der Anwesenheit eines Mannes am selben Ort noch keinen Mörder ergeben mußte. Es gab also keinen Grund, sich für bloß irrwitzige Vermutungen von einer Bäckersfrau abkanzeln zu lassen, und er ging von den Zehenspitzen wieder herunter.

Während die Quarksahne-Schnitte in einer Papiertüte verschwand, versuchte Daniel sich an den Alten zu erinnern. Er sah das obszön leuchtende Futter eines geöffneten Mantels. Er las noch einmal die Schlagzeile.

»Was wirst’n jetzt gleich so blaß?« sagte die Bäckersfrau. »Weißte doch, an ’nem Ort, wo gerade was passiert ist, passiert so schnell nix mehr. Für ’n paar Tage, würd ich sagen, sind wir hier der sicherste Platz on earth!«

»Na, wenn die Zeitung hier auch angekettet ist! Da muß man ja die ganze Zeit auf Zehenspitzen stehen. Bis einem schlecht wird.«

»Auf Zehenspitzen?«

»Ja! – Wie soll man das sonst lesen?«

»Vielleicht ißte mal was. Und die Zeitung kannste ruhig haben. Wird man sowieso ganz foxy von. Wenn de das jeden Tag liest, fängste noch an zu glauben, wir wär’n im Orient!«

Er las die Zeitung, ans Brückengeländer gelehnt, von vorn bis hinten durch, und als er fertig war, las er den Artikel über den Mord an der Uferböschung noch einmal sehr genau. Es waren schnelle Vermutungen über ein grausames Verbrechen, die hauptsächlich der Schlagzeile zuliebe formuliert worden waren. »Arm dran: Ohr ab!« stand über einem Foto von grell ausgeleuchtetem Fleisch. Das Foto zeigte ein Ohrläppchen, das unterhalb der Admiralsbrücke gefunden worden war. Es mußte, in einem Kampf, abgerissen worden sein. Ein Ohrstecker war halb herausgerutscht.

»Der Besitzer des Ohrläppchens mit der stromlinienförmigen Muschel möchte sich melden«, las Daniel. Der Artikel war blanker Spott. Ein Ohrläppchen, hieß es, könne in Kombination mit einem Stück Schenkel heutzutage offenbar schon eine perfekte Leiche ergeben. Diese war dann auch noch mit der Strömung getrieben und von einer Schiffsschraube zerschreddert worden. Am Ende machte die taz aus dem Ohrläppchenbesitzer einen Junkie mit Van- Gogh-Syndrom. Das Stück Schenkel stammte in ihrer Version von einer Prothese aus Cyber-Skin.

Zum ersten Mal fand Daniel seine Lieblingszeitung erschreckend fahrlässig. Offenbar gab es bisher nur wenige Fakten. Aber das wenige, was die taz aus einer Pressekonferenz anführte, war schwerwiegend genug, um ernst genommen zu werden. Auf dem Schiff waren Geräusche gehört worden, als die Leiche von der Schraube zerfetzt worden war. Die Gäste hatten gerade eine Weihnachtsfeier begangen und gedacht, das Geräusch gehöre zur Performance. Aber bei der Befragung durch die Polizei konnten sich die Passagiere deutlich daran erinnern. Der Unterschenkel, von dem auch die Bäckersfrau gesprochen hatte, war fünfhundert Meter flußabwärts in ein Entenhaus getrieben, wo ihn in den frühen Morgenstunden ein Arzt entdeckt hatte, der am Ufer entlang auf dem Nachhauseweg war.

Trau niemals einem alten Mann, sonst bist du morgen selber dran, der ätzende Spruch aus der Kindheit mit der passenden mütterlichen Betonung. Daniel sah zu den Einsatzwagen hinüber. Er sah die Polizistin aus einem Hauseingang treten und hastig die Straße überqueren und dachte, wenn Frauen einen Adamsapfel hätten, würde der ihnen vor Aufregung rausrutschen. Aber im Grunde war er froh, daß die Polizei den Fall doch ernst nahm.

Dann konzentrierte er sich wieder auf den Artikel. Da-vor schwebte das Teebeutelgesicht, das er inzwischen nicht mehr von dem, das er zuvor im Gaslaternenlicht gesehen hatte, unterscheiden konnte. Ein geronnenes Lächeln, das, vom Wasserdampf aufgeblasen, überdimensionale Züge annahm und ihm nur deshalb verändert, vielleicht jünger vorkam. Der Mann war alt. Das war schon an seiner Haltung im Lichtkreis der Laterne erkennbar gewesen. Nicht weit von hier gab es das Urban-Krankenhaus. Der Alte konnte ein Patient sein, der seinen abendlichen Spaziergang ungewöhnlich lange ausgedehnt oder sich verlaufen hatte. Ahnungslos, vielleicht senil, hatte er eine Brücke überquert, an der kurz zuvor oder kurz danach ein Mord passiert war. So lautete die einfachste Formel.

Dennoch kehrte Daniel nicht sofort in seine Wohnung zurück. Zwischen den Stämmen der Kastanien hindurch sah er die Polizistin an einem der Einsatzwagen lehnen, und er überlegte, ob er hinübergehen, seine Beobachtungen melden und ihr erklären sollte, wie es sich mit den Wahrscheinlichkeitsrechnungen verhielt. Aber als sie den Kopf drehte und in seine Richtung sah, kühle Herablassung im Blick, entschied er sich dagegen. Ihr Blick schien jedes Wort auf Hohlräume abzutasten und ließ seine unsicheren Beobachtungen einer schattenhaften Erscheinung in sich zusammenfallen. Nicht einmal das Gesicht des Alten konnte er überzeugend beschreiben. Er hätte vorgestern ein Fernglas haben müssen, einen Fotoapparat mit monströsem Objektiv, das er auf den Alten hätte ansetzen, mit dem er jede Einzelheit hätte heranzoomen können, eine Hitchcock-Szene, wahrscheinlich hatte er das alles schon viel zu oft gesehen.

Dennoch machte er mit dem Krustenbrot, das er gerade gekauft hatte, ein Spiel. Er brach Brocken ab und warf sie ins Wasser. Wenn das Brot bei schuldig zu Ende ging, mußte er den Alten anzeigen.

Nach einem Viertel Laib fiel ihm ein, daß er noch nicht gefrühstückt hatte, und er verschob die Urteilsfindung auf später.

In seinem Zimmer stellte er das Radio an. Sehr laut. Es war gut, eine Weile vor dem sehr lauten Radio zu sitzen und vom Hurricane Mitch zu hören, der soeben Hunderte ins Jenseits gespült hatte. Die Wahrscheinlichkeit, daß er die gesamte Ostküste Amerikas entvölkern würde, war groß. Daniel teilte die Quarksahne in vier gleiche Stücke und schlang sie, systematisch von rechts unten nach links oben vorgehend, hinunter.

Dann stellte er das Radio wieder aus. Die Sprecherstimme hatte ihn auf einen Gedanken gebracht, und zum ersten Mal waren ihm Hurricanes mit ihren irren Geschwindigkeiten egal.

Die Fenster im Zimmer waren geschlossen. Aber gegen sie drückte plötzlich wieder der Sturm, der viel unberechenbarer war, wie er da in vollkommener Stille aus stellenweise blauem Himmel fiel und die Fensterscheiben klappern ließ. Daniel kontrollierte die Fenstergriffe und zog sie erneut fest, obwohl sie bereits bis zum Anschlag geschlossen waren. Er ging in die Küche, trank im Stehen Milch aus der Tüte und ging wieder zurück in sein Zimmer und schaltete die Schreibtischlampe ein. Er setzte sich in den Sessel neben den grünen Lampenschirm. Er stand wieder auf. Die Fensterscheiben vibrierten, sie schienen dem Druck von außen kaum standzuhalten. Dabei waren die Äste der Kastanie unbewegt, und auf den wenigen restlichen Blättern flatterte Herbstsonne.

Daniel las noch einmal den Zeitungsartikel. Auch das half nichts, denn eine Wahrscheinlichkeitsrechnung war die falsche Aufgabenstellung. Und als ihm das aufgegangen war, merkte er, daß sie ihn die ganze Zeit nur vom eigentlichen Problem abgelenkt hatte.

Mit dem Multiplikationssatz der bedingten Wahrscheinlichkeit wäre die Unschuld des Alten nachweisbar. Der Satz würde aussagen, wie wahrscheinlich es war, daß der Alte auf der Brücke und der Mord gemeinsam auftreten konnten, ohne daß das eine das Auftreten des anderen beeinflußte. Setzte man den Mord und das gleichzeitige Erscheinen des Alten als zwei Ereignisse voraus, die unvereinbar waren, wäre die Schuld nachweisbar, denn hier würde der Zufall außer Kraft gesetzt. Aber bei alldem hatte Daniel die entscheidende Größe verdrängt. Der Alte hatte ihn gesehen. Er hatte direkt zu ihm am Fenster hochgeschaut. Der Alte wußte, daß er beobachtet worden war. Und er wußte auch, von wem. This man knows he is being watched! – James Stewart in Rear Window, atemlos am Telefon. Daniel hörte vor allem sich selbst.

Ohne jede Berechnung war es höchst wahrscheinlich, daß der Mörder den einzigen Zeugen seiner Tat gesehen hatte.

Die Stellen, an denen Daniel die Zeitung gehalten hatte, waren feucht. Er stopfte sie zu den anderen in den Plastiksack und wünschte sich, seine Freundin mit ihrer unverkennbar hohen Mädchenstimme würde anrufen. Diese Stimme, die ihm sonst manchmal auf die Nerven ging, würde ihn jetzt beruhigen. Er sah nach, ob der Telefonhörer korrekt auflag und der Stecker in der Buchse war. Aber sie rief nicht an.

Wir dachten uns, das wäre ein guter Anfang.

Die Brücke, auf der Daniel den Alten oder der Alte Daniel gesehen hatte, lag direkt vor Marlies’ Haus. Vom Fenster aus konnten wir das steinerne Geländer und die zwei Fahrbahnen sehen, die über die Brücke führten und für Autos gesperrt waren. Wir würden alles mitbekommen, was sich auf der Brücke abspielte, und auch das Schiff, von dessen Schraube die Leiche noch in der Nacht zerfetzt worden war, sah man von hier aus am Steg liegen. Es war ein Ausflugsdampfer mit blauer Bemalung, die inzwischen grau geworden war, und diente im Winter als Café. Wir würden das Schiff trotzdem im Winter fahren lassen, gemietet von der Belegschaft einer neugegründeten Internet- Firma, die ihre Weihnachtsfeier in den November vorverlegt hatte und auf dem Wasser durchführen wollte.

Bis auf diese Ausnahme waren wir mit unserer Geschichte aber nah an der Realität, und ich hatte ein wenig Mitleid mit Daniel. Er würde, so hatten wir es geplant, in eine Spirale aus Angst hineingetrieben werden, ohne daß das Ende der Spirale absehbar war. Marlies war strikt dafür, sich ab einem gewissen Punkt vom Lauf der Geschichte tragen zu lassen.

»Sonst«, sagte sie, »langweilt es mich zu Tode.« Schreiben, so dozierte sie, sei die einzig noch mögliche Bewährungsprobe, echtes Heldentum, wo sonst nur noch Fleiß und Anpassungsgabe verlangt würden. Und ein Großteil des Heldentums bestehe gerade darin, daß man nicht wisse, wie das Abenteuer ausgehe. Ich hatte wenig Lust auf Abenteuer. Sie schienen mir eine Ablenkung vom Charakter der Figuren. Außerdem war ich jeden Sommer mit dem Kanu unterwegs, und die Wildheit der schwedischen Seen war Bewährungsprobe genug. Mir ging es mehr um die psychologische Fallstudie.

Aber Marlies winkte ab und stand auf. Wenn sie dozierte, lief sie mit ihrer Kaffeetasse durch die Wohnung, und ich saß, an meinem Stift kauend, in einem ihrer abgewetzten Sessel, die sie von einem Exfreund geerbt hatte. Manchmal klangen die Sprungfedern, als spielte jemand auf einer in den Polstern versteckten Gitarre. Ich hörte ihr zu, setzte ab und zu meinen Stift auf, aber ohne je eine einzige Notiz zu machen, und hatte dennoch Mitleid mit Daniel. Aber das Mitleid mit Romanfiguren ist irgendwie nutzlos. Als versuchte man, jemanden durch eine Glasscheibe zu küssen.

Marlies war nicht zu bremsen. Sie stattete ihre Figuren so glaubhaft mit Realität aus, schlüpfte, wenn sie Dialoge entwarf, so gekonnt in die passende Mimik, daß ich am Ende lachen mußte. Sie warf sich erschöpft in den Sessel und rief »Siehst du. Da hätten wir ja wieder einen großen Brocken Geschichte hinter uns gebracht. Und je mehr hinter uns liegt, desto weniger Unbekanntes liegt noch vor uns. Und?«

»Um so sicherer ist das Leben«, schloß ich mit ihr im Duett.

»Richtig.«

Daniel war ihre Figur. Wir hatten uns darauf geeinigt, um die Perspektiven nicht zu vermischen. Außerdem interessierte mich sowieso mehr der Alte mit seinem gepflegten Gesicht, in dem nur die Augen auffielen. Sie waren tief auf die Wangenknochen gesunken. Ein merkwürdiger Effekt ging von diesem Gesicht aus. Als hätte sich das Alter in den Augen gesammelt und dafür Haut und Mundpartie verschont. Er schien nie nur einen Ausdruck zu haben. Wenn der Alte lächelte, dann war es gleichzeitig, als fände er sein Lächeln ermüdend. Und hörte er aufmerksam zu, wurde sein Mund ganz starr.