Kältere Schichten der Luft - Antje Rávik Strubel - E-Book

Kältere Schichten der Luft E-Book

Antje Rávik Strubel

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Beschreibung

Ein Kanu-Camp in Schweden. Hier arbeiten Aussteiger, Abenteuersuchende, Arbeitslose und Naturfreaks. Für einige Sommerwochen retten sie sich in eine kulturferne Landschaft. Auch Anja hat sich aus ihrem deutschen Kleinstadtalltag geflüchtet. Sie sucht Ruhe, doch sie wird überrascht von einer Leidenschaft: Eines Tages steht eine fremde junge Frau am See und legt Anja die Arme um den Hals und entführt sie in ein unbewohntes Haus. Sie gibt ihr den Namen ihres verlorenen Geliebten, des Schiffsjungen Schmoll. Doch der Zauber, die nachgeholte Unschuld dieser ersten Liebe, wird bald vergiftet durch den Argwohn und die Übergriffe der Campbewohner. Angst und Verstörung bedrohen nicht nur die Phantasien, sondern auch die Realität der beiden Frauen. Aus Aggression wird schließlich tödliche Gewalt. »Sie saß nur eine Bootslänge weit weg von mir, wir waren allein auf dem See, zwei Nachtgestalten, deren Schatten auf dem Wasser einander ähnlich waren, während sich zwei andere, ungleichere, entferntere irgendwo berührten.«

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Antje Rávik Strubel

Kältere Schichten der Luft

Roman

Roman

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Inhalt

[Motto]Vom Licht wußten sie [...]Nur die Taubheit war [...]Eine der Gruppen kehrte [...]Nur ihre Stimme kann [...][Dank]

I have always looked to thirty as the barrier to any real or fierce delight in the passions.

Byron

 

Civilized society is insane. The individual asserts himself in his disconnected insanity in these two modes: money and love.

D. H. Lawrence

Vom Licht wußten sie alles.

Sie kannten es in jeder Schattierung. Sie hatten gesehen, wie es den Himmel brüchig und zerrissen erscheinen ließ oder blauschwarz gewachst. Sie wußten, wie das Licht unter anschäumenden Wolken aussah, wie es schräg einfiel am Fjäll, wie es die Felsen, hoch oben den Wald und am Seeufer das dichte Unterholz traf. Sie wußten, wie flüchtig, wie trügerisch es war. Erstrahlte der See eben noch türkis bis zum Grund, lag er im nächsten Moment schon stumpf und geschlossen da wie Asphalt. Sie hatten gesehen, wie das Licht bei Regen Kiefern und Brombeerbüsche matt erscheinen ließ, sie hatten gesehen, wie es morgens um vier auf vom Steinschlag verwüsteten Straßen und mittags auf dem kurzgeschnittenen Rasen schwedischer Vorgärten war. Sie kannten es in von Hitze flirrendem Gelb, im grünlichen Schimmer des Abends, sie konnten sagen, wie es über dem Dach des Geräteschuppens an verhangenen Tagen aussah.

Sie wußten, wie sich Gesichter verändern, wenn grell das Licht auf sie fällt. Wer morgens aus den Zelten kam und zur Waschstelle ging, mußte den Grasplatz überqueren, den sie aus dem Wald geschlagen hatten. Dort wurden die Gesichter stabil.

Sie wechselten vom milchigen Grau, der Farbe der Nacht, in eine herbe, geschliffene Bräune. Das wußten sie. Sie sahen es jeden Morgen.

Und später, wenn nur noch wenige Wolken am Himmel waren, bekam diese Bräune eine Schärfe, wie sie Gesichter nur hier, auf dieser Landspitze hatten. Es war brutal, wie die Sonne schien.

Keiner von ihnen hat über das Licht gesprochen.

Es gab andere Dinge zu bereden. Sie mußten sich um die Zeltwände kümmern, die im Sturm gerissen waren, die jetzt wie abgezogene Häute auf dem Rasen lagen und ausgebessert werden sollten. Sie hatten für Nachschub zu sorgen, für die Verpflegung, die jeden Sonnabend aus Berlin kam, sie telefonierten oft. Sie bestellten Kartoffeln und Kaffee nach, Grillkohle und Würstchen und Reis, und niemals vergaßen sie Obst, denn das Obst war in diesem Sommer in Schweden besonders teuer. Sie schickten die eintreffenden Jugendgruppen in festgelegter Reihenfolge auf die Seen, zuerst in den kleinen Stora Le und dann auf den windgepeitschten Foxen, sie gaben kopierte Outdoor-Kochbücher an die Teamer aus, damit die wußten, wie viele Bohnenbüchsen abends in die Chili-Pfanne kamen. Im Küchenzelt wurden Verpflegungstonnen für eine Woche gepackt.

Sie erklärten, wie man über offenem Feuer kocht, und gaben unten am Steg die Boote aus. Es waren schmale Kanus für zwei Personen aus hellgrauem Leichtmetall. Der Ghettoblaster lief den ganzen Tag.

Sie lebten wurzellos. Zeitenthoben. Sie waren in eine unbekannte Gegend gekommen, in ein anderes Land, in eine fremde Region, in der sie nur das waren, was sie den Sommer über hier jeden Tag machten; sie waren Kanu-Scouts, sie bauten Tipis, sammelten Beeren, sie brieten Lachse und schwammen im See. Für sie war es, als schlösse sich das jetzige Leben ihrem früheren nicht mehr an, ein paar Blessuren und abstrakte Betrachtungen ausgenommen. Retrokacke, wie jemand am Lagerfeuer sagte.

Es gab wenig Abwechslung. Jedes Gerücht bauschten sie auf. Und wenn die Gerüchte zu versiegen schienen, dachten sie sich neue aus, oder sie reicherten die alten mit neuen Fakten an, und es war unmöglich herauszufinden, was an diesem Gerede stimmte. Sie hatten sich daran gewöhnt. Niemand störte es, wenn Svenja, die Campchefin, über Ralf lästerte. Als er sich einen Jagdschein ausstellen ließ, sagte sie, sie sei sicher, er hätte in seinem Leben auch schon Menschen vor der Knarre gehabt. Man fragte sich allerdings hinter vorgehaltener Hand, wie Ralf da mit einer wie Svenja überhaupt klarkommt.

Sie lebten wurzellos, sie versuchten, das Beste daraus zu machen.

 

Eines Morgens lief ein Mädchen allein über den Strand.

Das Mädchen stieg zwischen den Booten durch, ihr Kleid wehte. Es war ein helles Kleid, niemand trug hier Kleider. Im Camp trugen sie Gore-tex-Sandalen und graue oder beige Funktionshosen mit Reißverschlüssen auf Höhe der Oberschenkel. Wenn es warm wurde, nahmen sie mit einem Griff die Hosenbeine ab.

Das Mädchen lief über den Steg, sie bewegte sich trunken. Sie lief, ohne innezuhalten oder das Kleid abzulegen, sie lief über die Kante des Stegs hinaus und stürzte ins Wasser.

Bei den Booten waren sie vom Klatschen des Körpers aufgeschreckt. Sie sahen hinüber. Der See war glatt. Dann tauchte das Mädchen neben einer Boje auf, ihr Haar klebte am Kopf. Sie schwamm langsam zurück. Die anderen verloren das Interesse. Sie kehrten zu ihren Plänen auf Klemmblöcken zurück und schrieben die Nummern der Boote auf, die heute rausgehen würden. Vor Monaten hatten sie festgelegt, daß das Baden an der Bootsanlegestelle verboten war. Jetzt taten sie, als ginge sie der Vorfall nichts an.

Das Mädchen stieg langsam an Land. Sie kam das Ufer hinauf. Das Wasser, das ihr übers Gesicht rann, schien sie nicht zu spüren.

In der Nähe der Kiefern blieb sie stehen.

»Schmoll«, sagte sie und wandte sich zu mir um. »Sie sind ein kluger Junge. Sie haben die ganze Zeit gut aufgepaßt.« Sie schaute nach rechts, wo die Badestelle lag, von Himbeerbüschen und Sanddorn nahezu verdeckt, und ich sah, daß sie kein Mädchen mehr war. »Sie können mir doch bestimmt sagen, wo hier Handtücher sind.«

Ich war zufällig in der Nähe, als sie ans Ufer kam. Ich war nicht bei den Booten, ich stand etwas abseits vom Steg, jetzt bewegte ich mich, als hätte ich stundenlang in derselben Haltung verharrt.

»Ich heiße nicht Schmoll«, sagte ich. »Und ich bin kein Junge.«

Sie legte den Kopf zur Seite, um mich zu betrachten. Ihre Brauen waren dunkel vom Wasser in einem sehr blassen Gesicht.

»Handtücher sind bei der Ausrüstung nicht vorgesehen«, sagte ich.

Der See war ruhig an diesem Morgen, weiter draußen trieben Seevögel. Graureiher. Schwäne. Die anderen mußten inzwischen mit den Booten fertig sein. Als ich gehen wollte, versperrte sie mir den Weg.

»Ich will nur was nachgucken«, sagte sie und kam näher. Ihre Haut war weiß. Ein Weiß, das an leuchtendes, glattgeschliffenes Holz erinnerte, wie man es manchmal an Wildstränden fand. Ihre Zehen streiften kurz über den Sand. Sie wollte meinen nackten Fuß berühren, verfehlte ihn aber und strauchelte.

Sie wäre gefallen, hätte ich sie nicht gehalten.

Sie legte mir die Arme um den Hals. Ich roch ihre nassen Haare.

Es war früher Morgen, der Sand war noch kühl, die Schatten fielen lang. Gegen Mittag würde es heiß werden, bis dahin mußten alle Boote umgekippt und verzeichnet sein, niemand wollte unten am baumlosen Strand bleiben in der Hitze, die von den glitzernden Aluminiumbäuchen der Boote doppelt zurückgeworfen wurde.

Wir standen wie auf einer Werbetafel am Bahnhof Zoo. Auf einem dieser Hochglanzbilder. Anschmiegsame Mädchen, klein, in kräftige Schultern gekuschelt, und selbstsichere Jungs. Jungs, die auf ihr Mädchen und den Ku’damm hinuntersahen. Wir waren in dieses Bild eingepaßt.

»Alles in Ordnung?« sagte ich.

Sie preßte sich an mich. Für die anderen bei den Booten mußte es aussehen, als wolle ich ihr das Kleid abstreifen, den Stoff langsam über die Oberschenkel hochschieben, die Vorstellung mußte entstehen, wie nackt sie dann wäre, ihre Hüfte, ihr Hintern, wie ich sie halten würde im Sand, am Ufer, dort, wo die Badestelle war, hinter den Büschen verborgen.

Ihr Körper pulsierte, die Haut unter der Nässe war glühend.

»Sehen Sie«, sagte sie mir ins Ohr. »Ich habe Sie endlich gefunden. Ich wußte es.«

Gleich darauf ließ sie mich los. Sie holte ihr Handtuch, das bei den Kiefern lag, und lief über den Sand in Richtung Straße. Sie lief schnell, sie drehte sich nicht um. Ihre Beine waren schlaksig unter dem Kleid, das ein Kinderkleid war, eines für sehr junge Mädchen. Ich war nicht sicher. Ich sah ihr nach, und als niemand bei den Booten auf sie achtete, rief ich: »Hey! Wollen Sie sich nicht erst mal umziehen und dann mit uns frühstücken? Es gibt Brötchen!«

Sie reagierte nicht, sie erreichte die Straße. Trotz ihres nassen Kleides wandte sie sich unbekümmert nach links, wo die Straße eine Biegung machte.

Ich ging hinüber zu den anderen. Sie zogen ein paar Boote aus dem Wasser und kippten sie bauchoben auf den Strand. Langsam wurde es wärmer.

Später, im Waschraum, sah ich in den Spiegel. Ich trug Jeans und eine helle Bluse, unisex, wie es bei Outdoor-Kleidung üblich war. Ich war kräftig und schlank, ich war braun wie alle, meine Haare hatten diesen strohigen, verwaschenen Schliff vom Schwimmen im See, ich lebte seit vier Wochen draußen. Die Narbe an der Augenbraue war das einzige, was mich von den anderen unterschied.

Ich ging wieder hinaus in die Sonne, wo sie mit Hobeln beschäftigt waren. Sie hatten vor, ein Tipi zu bauen aus schlanken, geraden Stämmen, und kamen gut voran. Die Rinde gab in weichen, langen Spänen nach, sie wußten, wie man mit leichtem Druck die oberen Schichten entfernt, ohne das Holz zu verletzen. Sie hatten das schon oft gemacht. Zwei meterhohe Tipis standen fertig mit Zelthaut umschlungen am Waldrand im Gras.

Ich machte ein bißchen mit. Ich fing oben bei den Spitzen an. Heimlich beobachtete ich die Männer und fand, daß nichts an ihnen mir glich.

 

Gegen Mittag kam der Verpflegungsnachschub an, ein Kleinlastwagen drehte hupend eine Runde durchs Camp. Der übermüdete Fahrer parkte auf den ausgefahrenen Spuren, die von der Straße zum Grasplatz führten. Er war in der Nacht in Berlin aufgebrochen, jetzt verlangte er mit fiebrigen Augen ein Bett.

Hey, Marco, wo sind die Listen? Und die Grillkohle? Haben die Idioten in Berlin das wieder vergessen? Grillen steht bei den Kids im Programm, warum kapiert das keiner?

Das kapiert keiner, weil das keinen interessiert. Das sind Kids, verstehste, die machen nicht gleich ’n Lageraufstand, wenn se nicht haargenau das kriegen, wofür ihre Alten bezahlt haben.

Arschlöcher.

Guckt mal hinterm Beifahrersitz nach, selber Arschlöcher.

Marco zwängte sich unter den Wäscheleinen durch und verschwand im Haus. Das Haus war nur ein Schuppen aus dünnen Holzbrettern, der mit drei Fenstern versehen worden war, man hörte jedes Geräusch.

Jetzt macht nicht so ’n Streß, Leute, rief Marco aus dem unteren Fenster. Wir müssen doch zusammenhalten, wo wir schon hier gelandet sind.

Keiner nickte. Hätten sie genickt, hätten sie zugegeben, daß sie hier gestrandet waren, und das wäre einer Kapitulation gleichgekommen, dem Eingeständnis, daß dieser Zustand dauerhaft sein würde.

Draußen begannen sie, Kisten auszuladen, sie schleppten sie hinüber ins Küchenzelt, in dem Svenja mit dem Vorbereiten der blauen Tonnen beschäftigt war. Riesige Käseballen wurden halbiert, die Hälften kamen in je eine Tonne zusammen mit Salamis und Büchsenbohnen und Brot. In den Tonnen würden die Lebensmittel vor Feuchtigkeit geschützt sein, wenn die Jugendgruppen sie später mit auf ihre Kanu-Touren nahmen.

Freitagmittag trafen sich alle im Küchenzelt. Vielleicht war es die Sehnsucht nach frischem Obst, die sie hertrieb. Das Essen wurde gegen Ende der Woche eintönig. Oder es lag am Geruch, der in den gepackten Tonnen entstand, es roch nach Gemüse, Butter und Speck und ein bißchen nach Plastik. Der Geruch war die einzige Erinnerung daran, wie es draußen, unterwegs auf den Seen, war, wo sie lieber gewesen wären. Aber das Camp war unterbesetzt, und sie waren zu wenige, um dem Ansturm der wöchentlichen Busladungen gewachsen zu sein, oft brannten die Lichter die ganze Nacht.

Als ich aufstand, um hinauszugehen und mir mit dem Wasserschlauch Schweiß und Schmutz vom Gesicht zu spülen, sah ich die Frau auf der anderen Seite des Zufahrtsweges. Sie saß mit dem Rücken an eine Kiefer gelehnt. Die Beine hatte sie angewinkelt, den Kopf zur Seite geneigt, ihr Gesicht lag im Schatten. Sie hatte sich umgezogen. Sie trug jetzt ein blaues Kleid. Reglos saß sie am Baum. Ihre Arme hingen herab. Die rechte Hand war leicht in meine Richtung geöffnet, als wollte sie etwas präsentieren, als böte sie mir das Gras und die Erde und die Kiefernwurzeln an. Die Augen schien sie geschlossen zu haben. Jedenfalls reagierte sie nicht, obwohl ich lange zu ihr hinsah.

Ich dachte an die Heftigkeit, mit der sie mich am Ufer an sich gedrückt hatte. An ihren glühenden Körper. An das Weiß ihrer Haut, das zu dieser Glut in seltsamem Widerspruch stand. Ich dachte an meine idiotische Antwort und daß sie wahrscheinlich zurückweichen würde, wenn ich jetzt hinüberginge und sie unvermittelt berührte. Sie würde hochschrecken, sobald sie mich spürte, und die Augen öffnen, die mir am Ufer ruhelos vorgekommen waren und tragisch. Vielleicht war dieser Eindruck auch nur durch das Licht entstanden. Grüne Punkte lagerten in einer Iris von ansonsten klarem Braun.

Ralf war mir nachgelaufen. Er nahm mir den Gartenschlauch ab und tauchte sein Gesicht in den Strahl. »Ganz schön hektisch heute die Chose, was?« Das Wasser rann ihm ins Hemd. »Paß mal auf. Ich helf dir beim Verteilen der Schwimmwesten. Da kannste zwischendurch auch mal ’ne Pause machen.«

»Ist schon in Ordnung, ich komm klar. Wirklich.«

»Jeder die Hälfte«, sagte Ralf. »Wir sind doch ein Team, oder nicht.« Er legte seinen Arm um mich, packte meine Schulter und zog mich fest zu sich heran. Dann sah er zum Wald. »Wer ist das?«

»Wer?«

»Glotzt die, oder was. Ich werd ihr mal sagen, das ist privat, hier gibt’s nichts zu glotzen.«

»Jetzt geht’s los!« rief Wilfried. »Die ersten sehen schon Gespenster, das kommt davon, wenn man wochenlang nur dieses beschissene Armeebrot zu fressen kriegt.«

»Mensch, Ralle!« Svenja stand in ihren Halbstiefeln aus Gummi am Eingang vom Küchenzelt. »Hier laufen öfter kaputte Gestalten rum. Als ich mit einer Gruppe draußen auf der Vierzig war –«

»Vierzig? Können wir die Rastplätze nicht mit ihren richtigen Namen nennen? Da hat sich doch jemand Mühe gemacht«, sagte Sabine, die Halbindianerin, jedenfalls wurde sie so genannt, nachdem herausgekommen war, daß sie ein paar Monate mit einer Schamanin auf dem Land in der Nähe von Detroit verbracht hatte. Sie trug Kordhosen, deren Farbe wegen der vielen Moos- und Grasflecken nicht mehr zu erkennen war. »Die Vierzig ist auf Trollön, Sabine, du bist die einzige, die sich das nicht merken kann, und zwar oben auf dem Monsterfelsen, wo die Kids ganz scharf drauf sind, Köpper zu machen. Neulich taucht so ein Typ am gegenüberliegenden Ufer auf, direkt aus dem Wald. Der steht da, nur in Badehose und Schwimmweste, und fängt wie blöd an zu winken. Vielleicht braucht er Hilfe. Also lass’ ich die Gruppe warten und fahr rüber, und was macht der? Fragt mich, welcher Wochentag heute ist. Hatte wahrscheinlich Wasser in seine Festplatte gekriegt.« Svenja drehte sich um. »Seinen Namen hat er wahrscheinlich auch schon nicht mehr gewußt, Sabine.«

»Dann numerier ihn doch.« Sabine warf eine Salami quer durch das Zelt, zielgenau, die Salami krachte in eine Tonne. Als ich zum Waldrand sah, war die Frau verschwunden.

 

An den Nachmittagen war das Licht lange sehr weiß, es hing in den Kiefern, bis es am höchsten Punkt der Wipfel in das herbe Rot des Abends einging, unten bei den Zelten war es schon dunkel.

Nirgends wurde es so dunkel wie auf dem Grasplatz im Camp. Nirgends war es abends so kalt. Ich rollte zwei Matten neben der Feuerstelle im Tipi aus, ich legte sie übereinander, die Steine knirschten. Nachts war es zu dunkel, um ohne Taschenlampe schlafen zu gehen. Ich machte den Schlafsack bis oben zu. Ich konnte nicht einschlafen in dieser Nacht. Ich hörte Tiere schreien, vielleicht Elche. Sie sagten, man würde nachts manchmal sogar hier auf dem Platz Elche sehen. Sie kannten das aus vergangenen Jahren. Sie hatten sich auf eine Anzeige beworben, die Uwe, der Chef dieses Unternehmens, jedes Jahr im Mai inserierte.

 

Weg mit alten Hüten! Raus aus der eigenen Haut!

Lust auf was Neues?

Dann auf in die Wildnis! Die Natur stellt keine Fragen. Engagierte Leute für Jugendcamp in Värmland, einem der schönsten Seengebiete Schwedens, gesucht!

 

Bevor ich darauf geantwortet hatte, hatte ich gezögert. Etwas an diesem Text gefiel mir nicht. Etwas darin klang wie eine Unterstellung, er schien vorauszusetzen, daß die, die sich bewarben, Dinge zu verbergen oder zu vergessen hätten. Ich fing wieder an, darüber nachzudenken, die Natur stellt keine Fragen, aber da ich so nie würde einschlafen können, beschloß ich, darin weiterhin nur die Begeisterung für die schwedischen Wälder zu sehen.

Ich drehte mich auf den Bauch. Ich benutzte meine Hand, um leichter zu werden und dann vielleicht doch einzuschlafen.

Ich sah feste Schultern unter einem Muskelshirt, das Abstreifen einer Hose, spärlich bekleidete Körper, manchmal hörte ich Sätze. Ich stellte mir nie Frauen vor, mit denen ich zusammengewesen war. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr hatten sie einander abgelöst. Jede war die logische Folge aus dem, was vorangegangen war, ihr Widerstand war das einzige, worin sie sich ähnelten.

Ich war mit zwei jüngeren Brüdern groß geworden. Ich hatte sie im Kinderwagen um die Ecken geschoben und auf die windigen Wäscheplätze hinter dem Haus. Ich hatte mit ihnen gebadet, auf Bäumen gesessen, unter Balkons Buden gebaut, und später hatte ich ihre Spiele unter der Decke gesehen, wir teilten uns ein Kinderzimmer zu dritt, ein Doppelstockbett und eine schmale Matratze. Ich konnte mir alles erlauben, sie erlaubten sich alles mit mir. Sie waren mir so vertraut wie ich selbst, so vorhersehbar. Durch ihre Nähe kam mir gar nichts anderes in den Sinn, als Frauen zu lieben.

Es waren Frauen, die zögerlich waren, die nichts von mir wollten. Sie sagten mir anfangs, ich wäre zu jung. Sie sagten, sie könnten mir nicht vertrauen, sie lebten unter dem inneren Zwang, sich nicht festzulegen, oder sie hielten grundsätzlich nichts von Liebe. Ich lernte, hartnäckig zu sein, ohne mich zu erniedrigen. Nicht betteln, sondern provozieren, das war die Vorgehensweise. Und immer hielt ich Distanz, in der Distanz kam mir alles aufregend und gefährlich vor. Irgendwann willigten sie dann auf eine Weise ein, die ich kannte, eine Heftigkeit, der ich mich ziemlich schnell wieder entzog. Ich blieb allein. Und ich hörte es gern, wenn jemand sagte, daß das in meinem Alter in der heutigen Zeit ein normaler Zustand wäre.

 

Die anderen waren schon das dritte oder vierte Jahr im Camp. Einige hatten studiert und dann keinen Job gefunden, anderen war gekündigt worden, und alle waren froh über den Einsatz in Schweden, der ihnen über den Sommer half, auch wenn sie lächerlich wenig verdienten. Meistens kamen sie schon im Mai, um Schuppen und Boote zu reparieren oder neue Klohäuschen zu bauen. Jedes Jahr wurde irgend etwas besser. Anfangs waren sie noch in den See gegangen, um sich zu waschen, später gab es Duschanlagen, das Wasser wurde in langen Schläuchen aus dem See gepumpt. In diesem Jahr hatten sie ein Duschhaus für das Team mit Warmwasseranschluß gebaut. Es war ein ehemaliger Rummelwagen, der nicht mehr auf Rädern, sondern auf Holzpflöcken stand und mit Spinden, Spiegelschrank und Plastikduschwanne ausgestattet war. Vor dem winzigen Fenster hing eine hellblau geblümte Gardine.

An diesem Vormittag kam Svenja herein, als ich unter der Dusche stand. Ich erkannte sie an ihrem festen, eiligen Schritt, an dem Quietschen der Gummisohlen. Mit den Fingernägeln schlug sie gegen den Duschvorhang. »Und wie sieht’s aus? Sind ausreichend Paddel für alle Kids da?« Sie schob den Vorhang zurück, der Dampf hüllte sie ein. »Du machst ja hier vielleicht ’n Klima!«

»Die Hälfte kannst du wegschmeißen. Die sehen aus, als hätte jemand sie ordentlich gegen die Felsen gehauen.«

»Wegschmeißen, bist du irre? Uwe tobt. Der denkt sowieso, wir würden ihm sein Material klauen, das ist kein Volkseigentum mehr, ihr Penner, da kann nicht auf einmal die Hälfte der Paddel fehlen!«

»Die Holme sind gerissen, da ziehst du dir Splitter ein.«

»Bist du wieder vornehm! Du kannst sie doch mit Paketband umwickeln.« Das Gerüst der Duschkabine wankte, ein Sonderangebot von ›Metro‹; ich steckte den Plastikschlauch zurück in die Halterung.

»Übrigens bin ich nicht mit Paketband umwickelt.«

»Ach.« Svenja war blaß, überarbeitet. Sie sah mich von oben bis unten an und grinste, und mir fiel auf, wie versifft die Duschkabine war. Niemand hatte Lust, hier zu wischen. »Ich muß doch wissen, wie meine Angestellten gebaut sind.«

»Ich erinnere mich da an einen wortgewaltigen Typen in fleckigen Jeans, der mir in einem Berliner Büro die Rechte und Pflichten innerhalb der Gruppe anschaulich erörtert hat, damit ich die Voraussetzungen für ein beglückendes Gemeinschaftsleben fröhlich erfüllen kann«, sagte ich. »Er hat mich die Freuden eines harmonischen Verhältnisses mit der Natur gelehrt, und wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist mit Natur vor allem die Gegend gemeint, nicht mein nackter Arsch. Aber mach dir nichts draus, ich habe es auch nicht sofort verstanden.«

Sie riß den Mund auf, schluckte, kam dann dicht an mich heran. »Paß bloß auf, Baby, sonst kannst du gleich Kartoffeln schälen, und zwar für hundert Leute! Gleich kommen die Busse, also mach ein bißchen hin.« Sie klatschte mit der Hand an die Kabinenwand. »Hast du den Ball schon gesehen? Hat Marco wahrscheinlich aus Berlin mitgebracht. ’n schicker runder Fußball. Das ist doch was für dich, oder? ’n bißchen rumkicken.« Sie lächelte mich unschuldig an. »Da seid ihr doch scharf drauf. Ihr Mädels. Ist das nicht genetisch?«

»Paß bloß auf«, sagte ich, »daß niemand mit dir rumkickt!«

Wegen der Jugendlichen mußte das Duschhaus auch am Wochenende abgeschlossen sein, das Prinzip dieses Ferienlagers war Wildniserfahrung mit null Komfort. Ein Motto, das Uwe jedes Jahr Umsatzzuwachs verschaffte.

Die Busse kamen, während ich noch unter der Dusche stand. Es wurde still draußen, die anderen waren auf dem krummen, huckligen Weg, den sie durch das Wäldchen geschlagen hatten, zum Busparkplatz gelaufen, der abseits hinter den Zelten der Dauercamper lag. Ralf würde eine kurze Begrüßungsrede halten. Nach dem Mittagessen würden die Jugendlichen in kleinen Gruppen auf Abenteuertour hinaus auf die Seen fahren, und nur das Team bliebe im Camp zurück.

Ich trocknete mich ab. Ich hörte Wind und Vogelgeräusche und das Summen des Durchlauferhitzers an der Wand. Sonnabendmittag, wenn die Busse kamen, war der einzige Moment, in dem der Ghettoblaster nicht lief.

Meistens rückten drei Doppeldecker an. Sie schwankten hintereinander durch hochstehendes Gras, der Weg war brüchig, Himbeerbüsche streiften die Radkappen. Sie kreuzten das Feld, sie fuhren im Schrittempo mit Aufblendlicht. In dieser geregelten Landschaft, in dieser für Camper, Paddler, Fahrradtouristen und Wanderer auf natürlich getrimmten Gegend wirkten sie roh, wie Urtiere aus einer anderen Zeit, klotzig standen sie vor dem Wald und stanken.

Als ich aus der Dusche kam, war das Camp leer. Über dem Grasplatz hing ein dünnes, grünliches Licht.

Der Ball lag neben dem Grill im Schatten unter einem Ginster. Ich ging hinüber, er war prall gepumpt, nicht billig, das Leder war in festen Nähten zu Vierecken verschnürt, ich kickte ihn hoch; ich fand mein Leben, seit ich hier jobbte, ruhiger, vielleicht sogar interessant.

Ich war raus aus Halberstadt, raus aus dem niederdrückenden Kneipen-Horizont, der aufgehellten Gotik und den paar grell übermalten Neubaublocks, raus aus den Doppelhaushälften und einer Antragsbürokratie, in der immer jemand fragte, was ich machte und wer ich war, raus aus dem ganzen Abriß. Und wer war ich denn schon: weggezogen von zu Hause, ein Fernstudium nicht abgeschlossen, als Beleuchterin an einer heruntergekommenen Bühne andere ins Licht gesetzt. Ich hatte ein paar Artikel geschrieben, ein paarmal im Lokalblatt den Mund aufgemacht, was wirkungslos geblieben war, jedenfalls waren die Glatzmänner, wie meine Brüder das nannten, danach nicht von den Straßen verschwunden.

Meine Brüder waren an mir vorbeigezogen. Sie machten Vertreterjobs, der eine fuhr zusätzlich nachts Zeitungen aus. Ich beneidete sie nicht und wußte doch, daß meine Flucht in ihren Augen ein Versagen war.

Ich mochte es hier. Ich mochte die Konzentration. Die Ruhe, die über dem Grasplatz lag, in der ich keine Anstrengung spürte, obwohl ich arbeiten mußte und der Ton ruppig war.

Ich mochte diesen Sommer in Schweden. Diese mit Holz- und Erdgerüchen aufgeladene Luft. Ich mochte den flach gestreckten Himmel, der entlang einer gezackten Linie auf den Baumspitzen am Wald auflag. Ich mochte die harschen, abrupten Schatten, in die man tauchte, wenn man eine der tannengesäumten Straßen nahm. Von fern wirkte der Asphalt wie rötlicher Samt. Ich mochte die Stille über den Orten und die Gelassenheit. Die Menschen schienen ausgeruht, als trieben sie selbstvergessen mit den Tagen dahin, und sie besaßen doch jene Aufmerksamkeit, die entstehen kann, wenn man großzügig etwas Kostbares verbraucht. Ende August war hier der Sommer vorbei. Bis zur Monatsmitte würde es abends noch länger hell sein als in Halberstadt. Es dunkelte dezent an den Rändern. Aber das täuschte niemanden über die bevorstehende, rapide Veränderung in den nächsten Wochen hinweg, über diesen Sturz der Nachmittage in die Nacht.

Nur manchmal, wenn es so still wurde, daß das Licht sich an der Stille zu entzünden schien, war es, als ob ein Schwelbrand alles versengte. Es gab Bewußtlose in greller Sonne. Rote überhitzte Gesichter nach zuviel Bier. Schlaffe Körper auf Kinderspielplätzen. Zusammengesunkene vor Kiosks, im Park.

Man pöbelte nicht. Es gab keine Gewalt. Die Menschen knickten lautlos weg. Sie strauchelten auf dem Heimweg, sie torkelten, sie schlugen hin, sie prallten gegen Lastwagen, sie fielen vom Rad. Seltsame Unglücksfälle traten im Sommer häufig auf; man hing im Elektrozaun, man fuhr sich ein Rasenmähermesser ins Bein, die Kette schnellte von einer Motorsäge und zerschlug ein Gesicht, immer wieder kippte jemand betrunken in den See und ertrank.

Hier fing ich an, Halberstadt zu vergessen, die Glatzen, die frischverglasten Fassaden, die Arbeitsagentur. Die Stimmung, in der ich mich befand, hatte mit Gleichmut zu tun. Mit einer inneren Ruhe, die von außen vielleicht wie Langeweile aussah. Aber das war es nicht. Ich träumte nicht mehr von der Angst, nicht gut genug zu sein. Ich träumte jetzt wieder vom Fliegen, und ich wünschte, meine Brüder würden mich sehen.

Hier vergaß ich das ›Vienna‹ und seine weißen Plastiktürgriffe und modern gezackten Lampen und das auf alt gemachte Ölbild an der Wand. Mit dem Ölbild verblaßte auch die Erinnerung an den exakten Pony, den V-Ausschnitt und das rosenbedruckte Shirt jener Frau, die mich nur traf, wenn sie gerade wieder von einem ihrer ständig wechselnden Männer verlassen worden war. Dann ließ sie mich allein in ihrer Küche sitzen und schlief nebenan, von Weinkrämpfen erschöpft, auf einem schmalen Ausklappbett. Später flüchtete ich mich in One-Night-Stands. Ich fuhr nach Berlin. Aber jedesmal wurden die Frauen, die mir beim Tanzen so aufregend erschienen waren, schon auf dem Weg in die Wohnung zu Schemen, zu Platzhaltern in einem Programm, an dem ich jedes Interesse verlor. Sie waren schön, solange sie tanzten, solange es zwischen ihnen und mir einen Widerstand gab. Mittlerweile war ich dreißig und beendete das Ganze jedesmal noch an der Bar.

Hier fielen die Schatten lang. Hier vergaß ich auch die Panik, die entstanden war, als ich niemanden mehr hatte sagen hören, dieser Zustand wäre in meinem Alter normal.

 

Die Busse brachten zweihundertfünfzig neue Jugendliche, fünfzig mehr als im Durchgang davor. Das Büro in Berlin, diese Arschlöcher, hatte eine Tour zweimal verkauft, wie am Nachmittag im Camp zu hören war. Das Essen würde knapp, es gab nicht genug Zelte, und aus Berlin wurde gemeldet, sie hätten die Nase voll von der Meckerei, sie beantworteten jetzt keine E-Mails mehr, diese Arschlöcher, wie Ralf, als er ins Materiallager kam, mehrmals nachdrücklich sagte.

»Die verarschen uns doch, die Kollegen in ihrem Hauptstadtbüro! Wenn die Dinger nicht reichen, paddeln die Kids mit den Händen, oder wie?«