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Dieses Buch beschreibt den außergewöhnlichen geistlichen Weg Frère Rogers und das einzigartige Abenteuer der Communauté von Taizé. 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, ließ sich der junge Schweizer Theologe Roger Schutz in einem kleinen Dorf im südlichen Burgund nieder. Zunächst versteckte er dort Flüchtlinge – unter ihnen auch Juden.Aus diesen ersten Schritten entstand eine ökumenische Gemeinschaft von Brüdern, deren Leben und Gebet heute weithin ausstrahlt. Jahr für Jahr kommen Zehntausende junge Menschen aus aller Welt an diesen Ort oder nehmen an den Europäischen Jugendtreffen teil, die die Brüder in verschiedenen Städten vorbereiten. Kathryn Spink hat mit Frère Roger viele Gespräche geführt. In diesem Buch lässt sie ihn selbst zu Wort kommen – und macht auf diese Weise den Geist spürbar, der Taizé geprägt hat.
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kathryn Spink
Frère Roger –
Gründer der Communauté von Taizé
Originaltitel:A Universal Heart – The Life and Vision of Brother Roger of TaizéSPCK, London 1986 (aktualisierte Neuausgabe 2005)Übersetzung: Ferdinand Dinkel und Communauté von Taizé© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025Hermann-Herder-Straße 4, D-79104 Freiburg i. Br.Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deproduktsicherheit@herder.deUmschlaggestaltung: Verlag HerderUmschlagmotiv: © picture-alliance/dpa|epaSatz: SatzWeise, Bad WünnenbergISBN Print 978-3-451-02529-7ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-84059-3
Nach dem Tod von Frère Roger
Vorwort
Das Wunder des gemeinsamen Lebens
Lieber verstehen als verstanden werden
Eine menschliche Wüste
Das Gleichnis der Gemeinschaft
„Taizé, der kleine Frühling!“
Neue Wege
Bis an die Enden der Erde
Ein Widerschein des Erbarmens Christi
Nachwort
Als ich am 16. August 2005 vom gewaltsamen Tod Frère Rogers, des Gründers der Communauté von Taizé, erfuhr, überfluteten mich Erinnerungen: Ich sah ihn vor mir, wie er mir bei meinem ersten Besuch mit ausgebreiteten Armen entgegenging und ausrief: „Nun sind Sie also da – und wie jung Sie sind!“ Ich dachte an die Gebete und handschriftlichen Grüße, mit denen er meinem Mann dankte, dass er meine Abwesenheit von zu Hause hinnahm; daran, wie er in der Versöhnungskirche lange die Hand meiner betagten Mutter hielt; wie er einen Gedanken entfaltete, ihn in der Schwebe hielt, die Augen auf das Unsichtbare gerichtet – und zugleich versuchte, in meinem Gesicht zu lesen, ob ich ihn verstand. Seine geistliche Sicht der Dinge vermittelte er durch seine Gegenwart ebenso eindrücklich wie durch seine Worte.
Aus nah und fern trafen in Taizé Zeichen der Anteilnahme und Solidarität ein. Mehr denn je wurde der Ruf der Communauté nach Vergebung, Frieden, Versöhnung und Vertrauen auf die Probe gestellt. Frère Roger vertraute dem Geheimnis der Verklärung: dass Gott selbst das durchdringt, was verhärtet, ungläubig oder voller Angst ist. Das Leben des Geistes verwandelt uns, es geht in uns ein und offenbart uns sein Gesicht.
In den Tagen nach Frère Rogers Tod erlebten die Brüder der Communauté, wie dieser gewaltsame Tod – der Tod eines Menschen, der sein Leben dem Frieden und der Versöhnung gewidmet hatte – durch Gebete und Zeichen der Verbundenheit von Menschen auf der ganzen Welt verwandelt, ja verklärt wurde.
Die Neuauflage dieses Buches möchte helfen, Frère Roger und die Communauté von Taizé besser kennenzulernen. Das Wesentliche bleibt: die ökumenische Berufung der Communauté, ein Geist des kontemplativen Wartens, des Vertrauens und der Hoffnung. Dieser Geist lebt aus der Gewissheit, dass Gott uns schon liebt, noch bevor wir ihn lieben.
Daraus erwachsen ungeahnte Möglichkeiten – gerade auch in schweren Zeiten. „In deiner Dunkelheit“, sagt Frère Roger immer wieder, „wurde ein Feuer entzündet, das nie erlischt. Du möchtest ein Feuer bis in die Nächte der Menschheit tragen – lässt du zu, dass ein inneres Leben in dir wächst, das weder Anfang noch Ende hat?“ Dieses innere Leben war für Frère Roger das größte menschliche Abenteuer.
Es war in der Woche nach Ostern. In dem kleinen burgundischen Dorf Taizé, auf einem Hügel wenige Kilometer nördlich von Cluny, wimmelte es noch von Jugendlichen. Im Zimmer des Gründers der Communauté, Frère Roger, war es jedoch ganz still. Nur das Knistern der Holzscheite im Kamin war zu hören. Kerzengerade und voller Energie saß Frère Roger auf einem Holzhocker.
Er begann damit, dass es ihm schwerfalle – ja, dass er sich „unfähig“ fühle –, in der ersten Person über sich selbst zu sprechen. Warum? Die Frage stellte er selbst: „Warum ich – und nicht die anderen Brüder? Sie alle tragen einen Widerschein der Heiligkeit Christi und der Kirche in sich.“
Dann fügte er hinzu: „Gott geht uns immer voraus. Gott öffnet den Weg. Seit jeher suchen Menschen nach Gründern, nicht nur in der Kirche. Doch Gott legt das Fundament. Das Strahlen geht von Gott aus, nicht von Menschen. Es macht mich verlegen, wenn man uns mit großen Worten auf einen Sockel stellt. Ich vergesse solche Worte sofort wieder. Sie müssen an einem abperlen wie Wasser vom Rücken einer Ente – sie dürfen nicht in uns eindringen.“
Er fuhr fort: „Wir können nur mit dem arbeiten, was in uns ist – mit unserer eigenen Begrenztheit und Zerbrechlichkeit. Gott legt einen Schatz des Evangeliums in uns wie in ein Tongefäß.“ Seine Worte verrieten einen persönlichen Kampf, der sich hinter seinem strahlenden Lächeln verbarg.
Ich nutzte einen Moment der Stille und ließ den Blick durch das geräumige Zimmer schweifen. Der Fußboden aus breiten, honigfarbenen Tannendielen, die Möbel schlicht. Auf dem Kaminsims standen Fotografien seiner Mutter und Großmutter, an der Wand hing eine Weltkarte. In einer Ecke des Raums, am Kopfende des niedrigen Betts, stand eine Ikone, davor lag eine Decke, um sich hinzuknien. Neben der Ikone ein Strauß Wiesenblumen; eine Kerze flackerte etwas verloren im Sonnenlicht, das an jenem Nachmittag durch die hohen Fenster strahlte.
„Alles in meinem Leben erscheint in Farbe und Licht“, sagt Frère Roger. „Ich erinnere mich an viele Ereignisse, vielleicht nicht immer an die genauen Worte eines Gesprächs, aber an das Wesentliche einer Begegnung. Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich das Licht von damals vor mir – ich weiß, zu welcher Tageszeit etwas geschah, ob am Morgen, Mittag oder Abend. Als ich klein war, schickte mich meine Mutter oft in den Garten. Sie meinte, die frische Luft täte mir gut. Seitdem liebe ich Blumen und Bäume. Während des Konzils in Rom habe ich den italienischen Himmel durch die Bäume hindurch betrachtet. Dieses Bild habe ich noch immer vor Augen.“
Frère Roger lud mich ein, vom Fenster aus einen Blick auf die Häuser des Dorfes und die Hügel der burgundischen Landschaft zu werfen. Er beschrieb, wie Taizé 1940 ausgesehen hatte, als er zum ersten Mal allein hierher kam. Er erzählte, was damals in den Häusern geschah. Wie vertraut ihm dieser Ort geworden war! Und wie ihn die Schönheit der Landschaft immer wieder neu inspiriert. „Ein Ort voller Poesie“, sagt er plötzlich. „Die Kirche könnte ein Ort der Poesie sein!“
In diesem Moment wurde mir klar, wie schwer es ist, die Bedeutung seiner Gedanken mit Worten wiederzugeben. Wie kann man die Poesie beschreiben, die sich in einem Blick oder einer Geste ausdrückt?
Dann sprachen wir über die Gabe der Intuition. Für Frère Roger ist sie ein Geschenk Gottes: „Durch sie können wir in einem anderen Menschen Gott erkennen.“ Und weiter: „Mein Leben besteht darin, herauszufinden, was Menschen quält und was sie freut – um ihre Leiden und ihre Freude zu teilen. Die Intuition lässt uns das Wesentliche des anderen erfassen, sein Wesen auch ohne viele Worte verstehen, und ergründen, was ihn belastet. Mit unserer Intelligenz begreifen wir einander nur oberflächlich. Doch in einem Leben nach dem Evangelium macht die Intuition uns fähig, Mitleid zu empfinden. Sie vermeidet unnötige Gespräche. So können wir im anderen einen Widerschein Gottes entdecken. Und das ist bereits alles, was wir tun können. Dem unergründlichen Geheimnis Gottes nähern wir uns nur ansatzweise. Zeit unseres Lebens werden wir es nie ganz erfassen – aber wir können uns ihm nähern. Und das genügt zum Leben.“
Vielleicht liegt hierin ein weiterer Grund, warum Frère Roger so ungern über sein Leben sprach: Taizé ist sich seiner Grenzen bewusst und gibt nicht vor, Antworten auf die Probleme der Welt zu haben. Die Communauté möchte all jene begleiten, die sich auf die Suche nach der einzigen Wirklichkeit gemacht haben – gemeinsam mit anderen, im Vertrauen auf die Quellen des Glaubens. In all dem stimmen Frère Roger und die Communauté überein.
Am Abend dachte Frère Roger noch einmal lange darüber nach, warum er so selten über sich spricht: „Wir bewahren in unserem gemeinsamen Leben eine gewisse Zurückhaltung – aus Furcht, die anderen mit dem Eigenen zu belasten.“ Und er ergänzte: „Ein Wesenszug meines Vaters hat mich geprägt. Er war sehr zurückhaltend und sagte nur das Nötigste. Doch wenn er sprach, dann hörte man ihm zu. Gegen Ende seines Lebens sagte er: ‚Man weiß im Allgemeinen nicht, was man im Leben wirklich zustande gebracht hat. Was einem von Wert erschien, war für Gott vielleicht unbedeutend. Und was uns wie ein Fehlschlag vorkam, hat Früchte getragen.‘“
Frère Roger hat dennoch gesprochen. Tat er es nur denen zuliebe, die ihn darum baten? Oder weil sich beim Sprechen neue Räume öffnen, auch wenn einem der Gegenstand vertraut ist? Oder weil er vergangene Ereignisse mit eigenen Worten schildern wollte – inmitten anderer, abweichender Versionen?
Vermutlich spielte all das eine Rolle. Und vielleicht auch, weil das Sprechen ein Wagnis ist – und schutzlos macht. Für Frère Roger blieb es bis zuletzt wichtig, sich dem Wagnis auszusetzen. Seine Worte kamen aus dem Herzen – oft in unvollständigen Sätzen, die er neu begann, noch bevor er sie beendet hatte. Er wollte keine endgültigen Urteile fällen, sich aber auch nicht hinter Floskeln verstecken. Auch andere Brüder sollten zu Wort kommen – und das Gesagte sollte nie verletzen, nie ein tieferes Verstehen verhindern.
Frère Roger verband ein im Alter nuanciert gewordenes Denken mit der Spontaneität und dem Staunen, wie man es eher bei jungen Menschen findet. Er suchte stets nach dem richtigen Wort – und wenn er es gefunden hatte, war er selbst „am meisten überrascht“.
Die Brüder der Communauté staunen bis heute, dass seit dem Ende der fünfziger Jahre Zehntausende Jugendliche auf den Hügel von Taizé kommen.
„Wenn wir die vielen Gesichter junger Menschen aus Nordeuropa, dem slawischen Raum, vom Mittelmeer, aus Afrika, Südamerika oder Asien sehen, wird uns bewusst: Sie bringen wichtige Fragen mit. Noch spät am Abend sitzen sie im Halbdunkel der Kirche und beten. Sie bleiben lange. Im Sommer wie im Winter nehmen sie das Angebot wahr, dass man ihnen zuhört. Aber warum kommen sie? – Sie suchen Gott, den Geist des lebendigen Gottes. Sie suchen das Wesentliche, das unseren Augen oft verborgen bleibt. Sie kommen, um sich ihren Fragen zu stellen – manchmal auch, um eine Last loszuwerden. Sie suchen in Gott einen Sinn für ihr Leben. Und viele sind bereit, zu Hause Verantwortung zu übernehmen.“
Jeden Abend bleiben Brüder in der Versöhnungskirche und hören denen zu, die etwas von sich erzählen möchten – oft etwas Belastendes. Dieses Zuhören war für Frère Roger von großer Bedeutung: „Ohne Gemeinschaft mit anderen, ohne sie zu begleiten, könnte ich nicht leben. Das Evangelium sagt, dass Gott uns zuerst liebt – noch bevor wir ihn lieben. Die tiefsten Verletzungen unserer Zeit entstehen durch zerbrochene menschliche Beziehungen. Deshalb ist es so wichtig, den anderen entdecken zu lassen, dass ihn nichts von der Liebe Gottes trennen kann. Doch wie kann er das begreifen, dass das Wesentliche in ihm bereits vollbracht ist?“
Zuhören bedeutet nicht, psychologische Gespräche zu führen oder jemanden zu analysieren. Es ist vielmehr der Versuch, gemeinsam zu erkennen, dass „Gott nur seine Liebe schenken kann“. Dieses Wort stammt von Isaak von Ninive, einem christlichen Denker des 7. Jahrhunderts – Frère Roger zitierte es oft.
Beim Zuhören geht es nicht um schnelle Antworten oder gute Ratschläge. Es geht darum, Gott zu verstehen, der in einem Hauch von Stille zu uns spricht. „Anderen zuhören heißt, sie zu begleiten, ohne sie zu etwas zu drängen.“ Selbstverständlich wird aus diesen Gesprächen nichts schriftlich festgehalten. „Warum? – Jeder soll wissen: Was uns anvertraut wird, wurde in der Gegenwart Gottes gesagt und bleibt in unseren Herzen verborgen.“
In manchen Jahreszeiten stellt die Zahl der Gäste die Brüder vor große Herausforderungen – manchmal so sehr, dass sich Frère Roger Sorgen um ihre Gesundheit machte. „Woher neue Kraft nehmen, wenn der Körper an seine Grenzen kommt?“, fragte er sich.
„Vielleicht aus dem immer neuen Vertrauen, mit dem die Jugendlichen hierherkommen. Wenn ich mit ihnen zusammen bin, ertappe ich mich oft bei dem Gedanken: So viele Gesichter voller Vertrauen!“ Und dieses Vertrauen ist gegenseitig: „Unser Vertrauen in sie wird selten enttäuscht. Es kommt kaum zu ernsthaften Problemen. Tag und Nacht wachen einige Jugendliche über das Leben auf dem Hügel – sie sehen nach, ob alles friedlich verläuft. Doch sie müssen nur selten eingreifen.“
In erster Linie schöpfen die Brüder ihre Kraft aus dem gemeinsamen Gebet – morgens, mittags und abends. Aus einem kontemplativen Warten. Und aus der Gemeinschaft, die sie verbindet. „Oft sagen uns Jugendliche, wie wenig Selbstvertrauen sie haben. Es ist schwierig, darauf zu antworten. Wissen sie, dass Vertrauen von anderswoher kommt? Es kommt vom Geist des lebendigen Gottes, der uns begleitet. So können wir die Worte des Psalms zu uns selbst sprechen: Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe, in ihm kann mich nichts erschüttern.“
Und Frère Roger fügte hinzu: „Die innere Stille nicht verlieren, wenn die Arbeit uns an den Rand unserer Kräfte führt. Das Wichtigste ist, den Frieden des Herzens nicht zu verlieren.“
„Vertrauen ist in Taizé ein Schlüsselwort“, schreibt der französische orthodoxe Theologe Olivier Clément in seinem Buch über die Communauté Taizé – Einen Sinn fürs Leben finden: „Es ist vielleicht ein sehr demütiges, alltägliches und einfaches Wort – aber zugleich eines der wesentlichsten. Im Vertrauen liegt das Geheimnis der Liebe, das Geheimnis der Gemeinschaft, und schließlich das Geheimnis des dreieinigen Gottes.“
Fragt man Jugendliche, warum sie nach Taizé kommen, sprechen die meisten von der Tiefe des gemeinsamen Gebets. Weil die Communauté für alle offen sein will, gestaltet sie ihr Gebet so, dass es allen zugänglich ist.
Doch die immer größere Zahl junger Menschen stellte die Brüder auch hier vor neue Herausforderungen: Wie kann eine ständig wechselnde Gruppe am Gebet einer Gemeinschaft teilhaben, deren Mitglieder ihr ganzes Leben lang – Tag für Tag – miteinander beten? Wie können Jugendliche in ein meditatives Gebet finden, wenn sie kaum Erfahrung mit dem Gebet haben? Und wie ist es möglich, mit Menschen aus verschiedenen Ländern gemeinsam zu beten, die keine gemeinsame Sprache sprechen?
Die biblischen Lesungen sind bewusst kurz gehalten – und sie werden jeweils in mehreren Sprachen vorgelesen. Vielleicht ist ja gerade jemand unter den Anwesenden, der auf der Suche nach Gott ist, aber die Bibel kaum kennt. Soll ein schwer verständlicher Text ihn davon abhalten, sich Gott zu nähern?
Schon in den frühen Jahren, als nur wenige Gäste kamen, fragten sich die Brüder: Könnten manche Texte eher verwirren als helfen? Deshalb werden Schriftstellen ausgewählt, die staunen lassen – über die Liebe, die von Gott kommt.
Täglich erklingen auch Fürbitten, jede in einer anderen Sprache. Sie enden jeweils mit einem gemeinsamen „Kyrie eleison“ oder „Gospodi pomiluj“. Dieser Teil des Gebets ist wie eine „Feuersäule“ in der Mitte – ein Moment, in dem das Gebet weit wird und die gesamte Menschheitsfamilie umfasst. Freude und Hoffnung, Trauer und Angst – besonders die der Armen und Bedrängten – werden Gott anvertraut.
Die „Gesänge aus Taizé“ haben sich auf erstaunliche Weise über die ganze Welt verbreitet. Sie wurden in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt und in vielen Ländern aller Kontinente veröffentlicht. Schon vor der politischen Öffnung wurden sie in Osteuropa gesungen – auf Polnisch, Tschechisch, Ungarisch, Slowenisch, Russisch, Ukrainisch und in den baltischen Sprachen. Sie erklingen auf Tagalog in den Slums von Manila, auf Suaheli in Nairobi, auf Koreanisch in Seoul, auf Chinesisch in Hongkong und anderen Teilen Chinas – und ebenso auf Spanisch in Südamerika.
Die Gesänge bestehen meist aus einem kurzen Satz, der wiederholt wird – er prägt sich schnell ein, genau wie die Melodie. Durch ihre Einfachheit führen sie in ein kontemplatives Gebet, das helfen kann, allmählich vor Gott zur inneren Einheit zu finden. Manchmal klingt ein Lied im Inneren noch lange nach. Es wird zu einem Gebet, das den Alltag begleitet – die Gespräche und die Arbeit.
Schon immer haben Menschen auf ähnliche Weise gebetet – als ununterbrochenes Namen- Jesu-Gebet oder mit dem Rosenkranz. Die „Gesänge aus Taizé“ stehen in dieser Tradition.
Während des täglichen Gebets in Taizé hat die Stille einen besonderen Platz. Wer die Gemeinschaft mit Gott in Worte fassen will, stößt schnell an Grenzen.
„Die Zeit der Stille gibt dem Herzen Raum für das Gebet“, sagt Frère Roger. „Das Evangelium und die Erfahrung vieler Glaubender erinnern uns seit Jahrhunderten daran: Gottes Liebe und den Trost Christi zu empfangen heißt, sich ihm in Stille und Frieden zu überlassen und ihm alles anzuvertrauen, was uns bedrängt. In der Stille des Herzens sagt Christus leise: Hab keine Angst, ich bin da.“
Fast jeden Tag sitzen während des Gebets Kinder neben Frère Roger – Kinder aus dem Dorf oder solche, die mit ihren Eltern einige Tage in Taizé verbringen. Vor dem Gebet spricht er oft leise ein paar Worte mit ihnen. Manche erzählen ihm, was sie belastet. Manchmal schreibt er für Kinder ein paar Worte, damit sie sie aufbewahren und vielleicht eines Tages lesen können, wenn sie sie verstehen.
Die Brüder haben viel darüber nachgedacht, was „gemeinsame Schöpfung“ bedeutet. Schon früh spürte Frère Roger, dass dies nicht auf einem bequemen Weg möglich ist. Er fühlte sich gerufen, eine Gemeinschaft zu gründen, „in der die Güte des Herzens konkret gelebt wird und die Liebe im Mittelpunkt von allem steht“.
Das gemeinsame Leben verlangt, dass jeder dem anderen mit großer Achtung begegnet – mit unendlichem Feingefühl. Es bedeutet auch: niemanden durch seine eigenen Begabungen zu überstrahlen. Wo es nur um Selbstverwirklichung geht, entsteht keine gemeinsame Schöpfung, sondern parallele Wege, die sich nie begegnen. Eine „gemeinsame Schöpfung“ ist nur auf dem schmalen Weg der Hingabe und der Liebe möglich. So kann das Beste eines jeden Einzelnen sichtbar werden.
Die Gemeinschaft in Taizé ist heute internationaler denn je: Etwa achzig Brüder gehören dazu, aus über 25 Ländern. Manche kommen von weit her. Und längst sind alle Generationen vertreten. Einige Brüder sind Ärzte oder Ingenieure, andere Musiker, Künstler oder Theologen. Manche haben sich mit Soziologie oder Wirtschaft befasst, andere mit Töpferei, Buchdruck oder Informatik. Der jährlich verfasste „Brief aus Taizé“, ursprünglich von Frère Roger, heute von Frère Matthew geschrieben, wird in mehr als sechzig Sprachen übersetzt. Er bietet Jugendlichen eine Hilfe zum Nachdenken – in Taizé selbst oder bei Treffen an anderen Orten. Heute ist Taizé auch über die sozialen Medien erreichbar, und über die eigene Internetseite www. taize.fr/de.
Dank der Arbeit der Brüder ist die Communauté finanziell unabhängig. Sie nimmt keine Spenden an, keine Geschenke, hat keine Rücklagen. Was hereinkommt, wird weitergegeben. Die Brüder unterstützen Menschen in Not und tragen jährlich einen Teil der Kosten für die Jugendtreffen – genauso wie für die Instandhaltung der Gebäude und Anlagen. Auch Erbschaften von Brüdern werden nicht für die Communauté verwendet. Sie fließen direkt in Hilfsprojekte – als Zeichen gelebter Solidarität mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen.
Die „gemeinsame Schöpfung“, von der Frère Roger oft sprach, braucht eine gemeinsame Ausrichtung. Manche Grundlinien dieses Lebens sind im kleinen Buch Die Quellen von Taizé zusammengefasst. Schon früh schrieb Frère Roger die sogenannten Ermahnungen, die bei der Profess, dem Lebensengagement eines Bruders verlesen werden. Der Text besteht fast hauptsächlich aus biblischen Worten und endet mit dem Satz:
„Bruder, bewahre in dir die Einfachheit und die Freude, die Freude der Barmherzigen, die Freude brüderlicher Liebe. … Christus, der Herr, hat dich aus Erbarmen und Liebe dazu berufen, in der Kirche ein Zeichen brüderlicher Liebe zu sein. Er ruft dich, mit deinen Brüdern ein Gleichnis gemeinsamen Lebens zu verwirklichen. Schau von nun an nicht mehr zurück, und fürchte dich nicht, in der Freude unendlicher Dankbarkeit, schon vor der Morgenröte, Christus, deinen Herrn, zu loben, zu preisen, zu rühmen.“
1952/53 schrieb Frère Roger Die Regel von Taizé. Die Brüder hatten ihn gebeten, den Text alleine zu schreiben, was er während einer längeren Einkehrzeit tat. Später wurde der Titel in Die Quellen von Taizé geändert. Es ist kein Regelwerk im engen Sinn. Vielmehr beschreibt der Text „das Wesentliche, das ein gemeinsames Leben überhaupt erst ermöglicht.“
Die Aufnahme eines neuen Bruders in die Communauté erfolgt sehr schlicht im Rahmen eines Abendgebets. Der Prior legt ihm das weiße Gewand an, das die Brüder bei den gemeinsamen Gebeten tragen. Man spricht nicht von Novizen, sondern von „neuen Brüdern“.
Es gibt auch keine festgelegte Ausbildung. Stattdessen beginnt eine Zeit der Vorbereitung. Der neue Bruder erhält keine Anweisungen. Er soll nach und nach begreifen, was das gemeinsame Leben ausmacht. Sein Alltag unterscheidet sich kaum vom Leben der anderen. Nur eines ist anders: Er nimmt sich mehr Zeit für das Studium der Quellen des Glaubens, der Bibel und der Kirchenväter.
Jeder Mensch reift in seinem eigenen Tempo. Manche spüren schon bald, dass sie sich endgültig binden wollen. Für andere braucht es mehr Zeit. Wenn ein Bruder schließlich bereit ist, findet sein Lebensengagement an einem Sonntagmorgen statt, in der Kirche von Taizé, im Beisein der ganzen Communauté und vieler Jugendlicher. Dabei stellt ihm der Prior folgende Fragen, auf die der neue Bruder jeweils mit den Worten „Ich will es“ antwortet:
„Willst du dich aus Liebe zu Christus ihm weihen mit deinem ganzen Sein?“
– „Ich will es.“
„Willst du – in Gemeinschaft mit deinen Brüdern – von nun an den Ruf Gottes in unserer Communauté erfüllen?“
– „Ich will es.“
„Willst du mit deinen Brüdern in materieller und geistlicher Gütergemeinschaft leben, in völliger Offenheit deines Herzens?“
– „Ich will es.“
„Willst du ehelos bleiben, um für den Dienst mit deinen Brüdern verfügbarer zu sein und um dich ungeteilt der Liebe Christi zu schenken?“
– „Ich will es.“
„Willst du, damit wir ein Herz und eine Seele, eine ungetrübte Einheit sind, die Entscheidungen der Communauté annehmen, die durch den Diener der Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht werden, ohne dabei zu vergessen, dass er vor Gott nur ein armer Mensch ist?“
– „Ich will es.“
„Willst du in deinen Brüdern stets Christus sehen und sie mit deiner Aufmerksamkeit begleiten, in guten wie in schlechten Tagen, im Leid wie in der Freude?“
– „Ich will es.“
Schränken solche Versprechen einen Menschen nicht stark ein? – Die Brüder sehen in ihnen eine Quelle der Fülle. Der Zölibat verlangt Selbstbeherrschung und Bereitschaft zum Verzicht, aber er wird nicht in erster Linie als Entbehrung, sondern als Ausdruck einer größeren Liebe betrachtet: Er wird im Licht der Verklärung verstanden, im Vertrauen darauf, dass die Liebe Gottes das tiefste Verlangen des Menschen erfüllen kann.
Das einfache Leben, zu dem sich die Brüder bekennen, ist nicht abgehoben oder streng. Es ist ein Leben, das mit Freude und Barmherzigkeit verbunden ist – drei Worte, die für sie den Geist der Seligpreisungen zusammenfassen. Ohne Freude würde Einfachheit leicht bitter; ohne Barmherzigkeit könnte sie in Härte umschlagen. Für die Brüder gehören Einfachheit des Herzens und Einfachheit des Lebens eng zusammen.