Freunde und Feinde - Die komplette erste Staffel - Oliver Stöwing - E-Book

Freunde und Feinde - Die komplette erste Staffel E-Book

Oliver Stöwing

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Eine Geschichte über Hoffnung, Liebe und Verrat - die komplette erste Staffel »Freunde und Feinde« von Oliver Stöwing in einem Band! Die Journalistin Sylvia kehrt vorübergehend in ihr Heimatdorf Albstein zurück. Dort wird sie an das Verschwinden ihrer Jugendliebe erinnert und Sylvia möchte den Fall wegen besonderer Vorkommnisse neu aufrollen. Dabei trifft sie auf alte Freunde und Bekannte, aber auch auf Leute, vor denen sie sich besser in Acht nehmen sollte...

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Seitenzahl: 321

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Oliver Stöwing

Freund und Feinde – die komplette erste Staffel

Eine Geschichte von Heimkehr, Liebe und Verrat

Knaur e-books

Über dieses Buch

Eine Geschichte über Hoffnung, Liebe und Verrat - die komplette erste Staffel in einem Band

Inhaltsübersicht

Motto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel
[home]

»Gott schütze mich vor meinen Freunden. Vor meinen Feinden schütze ich mich selbst.«

Claude-Louis-Hector de Villars

[home]

1. Kapitel

Heimat

Wenn du stirbst, zieht dein Leben an dir vorbei wie ein Film, heißt es. Also sieh zu, dass es ein Film wird, den du dir gerne anschaust. Ich hoffe, dass mein Vater den Film seines Lebens im Moment seines Todes gerne sah. Und was hätte dagegen sprechen sollen? Sein Leben war über jeden Vorwurf erhaben: engagierter Lokalpolitiker, dann viele Jahre Bürgermeister, mit der Aufgabe, das lebenswerte Leben im beschaulichen Albstein noch lebenswerter zu machen. Ihm verdankte die Stadt ein Naturschutzgebiet und die Restaurierung des Stadtschlosses. Er baute Albstein zu einer Tourismusmarke aus, und gelegentlich kamen sogar die Amerikaner, die Japaner und zuletzt die Chinesen, auch wenn unser Ort natürlich nie mit Städten wie Tübingen konkurrieren konnte. Vereinzelten Protesten zum Trotz setzte er sich für ein Denkmal ein, das an Albsteins düsterstes Kapitel während der Nazizeit erinnerte. Kurz vor seinem Amtsende ließ er noch eine Fußgängerbrücke errichten, die das Seniorenheim über die befahrene Ringstraße hinweg mit dem Moorheidesee und dem Schloss verband. Die Brücke trägt den Namen eines in Albstein geborenen Romantik-Dichters, der die Stadt aber früh verlassen hatte und in einem englischen Irrenhaus gestorben war.

Außerdem war mein Vater Ehemann einer der angesehensten Frauen der Stadt, Vater von zwei Töchtern und einem Pflegekind. Und doch fragte ich mich, ob er manchmal Träume hatte, die außerhalb von Albstein lagen. Manchmal meinte ich, bei einem Essen oder Hausmusikabend oder nachdem er per Fassanstich den Handwerkermarkt eröffnet hatte, meinen Schmerz in seinen Augen zu entdecken, wenn unsere Blicke sich trafen. Manchmal empfand ich diese Blicke durch die Menge hindurch sogar als verschwörerisch. Wir waren beide darauf bedacht, dass Mutter sie nicht bemerkte. Um sie nicht auf etwas aufmerksam zu machen, das sie nicht verstehen würde. Damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlte.

Als ich Albstein verließ, damals mit 19, dachte ich, ich würde es auch stellvertretend für meinen Vater tun. Ich hatte immer vorgehabt, eines Tages wegzugehen. Wenn auch nicht so überstürzt. Ich dachte stets, mein Aufbruch würde mich hin zu etwas Größerem, Strahlenderem führen. Am Ende aber gestaltete er sich dann als eine hastige Flucht. Denn ich hatte die ebenso überraschende wie schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass das Böse auch vor possierlichen Städtchen im Schwabenländle nicht Halt macht. Als ich Albstein verließ, dachte ich, ich bin fertig mit dieser Stadt. Ich hatte damals keine Ahnung, dass die Stadt noch nicht fertig war mit mir.

***

»Sylvia, mein Kind. Dein Vater … er ist gestorben, heute früh in der Klinik. Ein Herzinfarkt«, hatte Mutter mir am Telefon mitgeteilt, die Stimme ruhig und sachlich. »Er ist die Nacht vorher mit Beschwerden eingeliefert worden, ich war bei ihm, bis er eingeschlafen war. Ich habe Fridolin informiert, sein Institut kümmert sich um alles. Ich denke, die Beerdigung wird in vier oder fünf Tagen sein. Es ist angenehm, Werner in so guten Händen zu wissen.«

»Ich komme sofort, Mutter«, sagte ich.

»Geht das denn? Musst du das nicht erst mit deiner Arbeit klären?«

»Da gibt es nicht viel zu klären«, sagte ich, weil es so war.

Wir schwiegen kurz. Ich würde also nach Albstein fahren. In den letzten fünfzehn Jahren hatte ich meine Besuche in der alten Heimat so kurz und selten wie möglich gehalten.

»Geht es dir denn einigermaßen?«, fragte ich dann.

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken«, sagte sie. »Es gibt so viel zu tun …«

 

Wenig später passierte ich in meinem Wagen das Ortsausgangsschild von Berlin. Die Beerdigung ist in sechs Tagen, dachte ich. Ich werde in kaum mehr als einer Woche wieder hier sein.

Anders als meine Eltern oder meine Schwester Irina bin ich aus Albstein fortgegangen. Zuvor hatte ich die Welt unterteilt in Albstein und alles, was außerhalb lag. Nachdem ich meine Heimatstadt verlassen hatte, purzelte ich wie ein Fremdkörper durch das Außerhalb und stieß dort auf jede Menge Neues. Auf mein Glück nicht unbedingt.

Zunächst war ich in die USA gegangen, hatte mich dort aber von Anfang an fremd und provinziell gefühlt. Die kumpelhafte Fröhlichkeit der Menschen erschreckte mich, die großen Dimensionen schüchterten mich ein. Alles erschien mir riesig, und wenn es nur die Milchpackung war, die ich in einem 7/11-Supermarkt kaufte.

Nach nur einem Jahr kehrte ich zurück nach Deutschland, zog nach Berlin in eine Wohnung, Hermannplatz, Hinterhaus, und dachte, vielleicht beginnt jetzt das richtige Leben. Ich ging halbherzig auf Partys, die Zeichen standen auf Techno und Elektro, ein Freund war Barkeeper, der nächste DJ. Ich hatte ihre Namen schon vergessen, als wir noch zusammen waren. Ich schrieb mich in der Uni ein, machte hier und da ein Praktikum in einer Redaktion, wobei ich nie weiter auffiel, aber wenigstens auch nicht unangenehm. Schließlich ergatterte ich ein Volontariat bei einem Stadtmagazin, arbeitete bei Online-Portalen, einer Frauenzeitschrift und einer drittrangigen Tageszeitung, die eifersüchtig die größeren, wichtigeren Zeitungen beäugte. Große Reportagen und aufrüttelnde Enthüllungen – sie kamen von den anderen Journalisten, niemals von mir. Meine wenigen, unentschlossenen Affären zerbröselten im Nichts, und irgendwann überraschte mich mein vierunddreißigster Geburtstag. Ich begann, über mich nachzudenken, und begriff, dass sämtliche Barrieren, die mein Leben einschränkten, nur in meinem Kopf existierten. Irgendwann begriff ich auch, was die Bösen und die Guten dieser Welt eint: Beide sind von inneren Überzeugungen angetrieben. Ich war von nichts überzeugt. Und so wusste ich nicht, wie ich meine neuen Erkenntnisse nutzen sollte, und blieb unentschlossen.

***

Joscha. Das Bild, wie er vor uns Mädels auf dem Sportplatz des Hölderlin-Gymnasiums mit dem Fußball dribbelte, schob sich plötzlich vor mein inneres Auge. Die Kippe im Mund. Es waren die 90er und Rauchen noch ziemlich cool. Joscha bewegte sich wie ein Panther, sich der natürlichen Rechte seiner Schönheit und Herkunft bewusst. Ein Gesicht wie ein Engel, Augen wie der Teufel.

»Joscha ist wirklich hübsch und süß und ein richtiger James Dean«, sagte meine beste Freundin Doro.

»Wir werden sehen, ob er hält, was er verspricht«, sagte Kerstin, die ständig irgendetwas Rätselhaftes sagte.

»Ich find ihn ziemlich ätzend«, log ich schlecht. »Ich meine, für wen hält der sich?«

Etwa ein Jahr später dann das Trance-Festival, irgendwo auf einer matschigen, stinkenden Wiese hinter den Wäldern von Albstein. Joscha und ich tanzten, und ich dachte, so, wie ich mich jetzt fühle, so sollte ich mich immer fühlen, so sollte sich jeder Mensch auf der ganzen Welt fühlen, dann gäbe es keine Probleme mehr. Ich trug etwas Lächerliches, ein buntes Bustier, das den Blick auf mein Bauchnabelpiercing freigab. Wie konnte er mich so ansehen, als sei ich eine Offenbarung, wo ich doch dieses lächerliche Bustier anhatte, fragte ich mich im Nachhinein.

Wir warfen uns Worte zu, die wir nicht verstanden, weil die Musik alles übertönte, und doch verstanden wir uns genau. Ich nahm Kerstin kaum wahr, die neben mir stand. Sie schaffte es als Einzige von uns schon damals, immer geschmackvoll auszusehen, sogar auf einem Trance-Rave.

»Sylvia, wir wollen gehen«, schrie sie mir ins Ohr. »Wir fahren noch zum Moorheidesee, ein bisschen chillen!«

Ich hörte gar nicht hin, sah nur Joscha, und wir tanzten weiter.

»Was ist denn nun, kommst du mit?«, machte Kerstin noch einen Versuch, schüttelte dann genervt den Kopf und verschwand.

Joscha und ich küssten uns daraufhin zum ersten Mal. Ich erinnere mich an zwei Empfindungen. Die erste: Ich war verliebt. Die zweite: Ich stand bis zur Hüfte in Kuhdung.

***

Ich bretterte über die Autobahn, an Ausfahrten vorbei, die mich nichts angingen. Ausfahrten mit Namen wie Lutherstadt Wittenberg und Erlangen, sie führten in Orte mit ihrer ganz eigenen Politik, ihren eigenen Familiengeschichten, ihren alteingesessenen Einwohnern und ihren misstrauisch beäugten Zugezogenen, in ein Leben aus Stadtfesten und Fußballspielen, geprägt von mittelständischen Betrieben und von den städtischen Schulen. Schulen mit gütigen und grausamen Lehrern, mit coolen Cliquen und gedemütigten Außenseitern. Diese Schulen bildeten die nächste Generation aus, die sich vielleicht wenig dankbar zeigen und abwandern, vielleicht aber auch bleiben und zumindest den unmittelbaren Fortbestand sichern würde. All diese Orte verbargen ihre Geschichten von Liebe und Verrat, Gemeinsinn und Isolation, Hoffnung und Erlösung. Sie alle hüteten ihre Geheimnisse. Ich würde diese Geschichten nie erfahren, denn zufällig war keine dieser Ortschaften meine.

Niemand in kleinen Städten glaubt, er führe ein Leben am Rand. Im Gegenteil, kleine Städte wissen genau, dass in ihnen das wahre Leben spielt, dass sich in ihren engen Grenzen das ganze Universum wiederfindet und dessen natürliche Ordnung. Alles andere ist Ausnahmezustand: Berlin und Moskau, Paris und Rio, Malaysia und Afrika. Vielleicht reist der Mensch aus der kleinen Stadt hinaus in diese Orte, überzeugt sich, dass die Bilder aus dem Fernsehen oder dem Magazin der Wirklichkeit entspringen. Er ist dann mal fasziniert, mal schaudert er. Er knipst Fotos und kehrt zurück in seine kleine Stadt und ihre Geborgenheit. Eine manchmal trügerische Geborgenheit, aber eine verlässliche. Denn auch wenn immer wieder Vorfälle die Ordnung herausfordern, bewährt sich das System letztlich als stabil. Die Verbrecher der Einbruchserie werden früher oder später geschnappt, oder zumindest wehren sich die Bürger mit Alarmanlagen und verbesserten Türschlössern, vielleicht organisieren sie sogar einen Nachbarschafts-Wachschutz. Das mit Graffiti übersprühte Denkmal im Stadtpark erstrahlt wenige Tage später im neuen Glanz. Und wenn an einem unbehaglichen Morgen Mitarbeiter des Jugendamts in das 70er-Jahre-Mehrfamilienhaus in Albstein-Lohberg einrücken und die Kinder mitnehmen, sieht die gezeichnete Mutter ihnen müde durchs Fenster nach, und der Hausmeister achtet darauf, dass die Mülltonnen auf die Straße gestellt werden. Was immer die Ordnung stört, wird sie letzten Endes nur bestätigen und festigen.

Je weiter ich nach Süden kam, desto sanfter wurde die Landschaft, erste Hügel schufen Konturen. Die Orte, die an mir vorbeirauschten, lagen stolz und verschwiegen da. Die Umgebung wurde mir vertrauter. Noch immer hatte ich mehr Zeit meines Lebens hier im Ländle verbracht als in Berlin. Berlin war auch für mich, selbst nach vierzehn Jahren, immer noch Ausnahmezustand. Ein Fluchtpunkt für verlorene und getriebene Seelen, die sich dadurch erklärten, ihre kleinen Städte verlassen zu haben, und hofften, allein das mache sie schon besonders.

Autobahnschilder wiesen auf erste Orte, mit denen ich Geschichten aus der Jugend verband. In Heidenheim hatte ich einmal mit meiner Familie das Schloss Hellenstein besucht und mich auf der Rückfahrt im Auto müde, selig und geborgen gefühlt. In Göppingen waren Doro und ich auf einer wilden Party bei älteren Jungs gelandet, während wir unsere Eltern angelogen hatten, wir würden jeweils bei der anderen übernachten. In Böblingen hatte ich kurzzeitig einen Freund, den ich mit dem Zug besuchte und der mir Nirvana-Songs auf der Gitarre vorspielte oder mir aus Generation X vorlas, während seine Mutter uns Butterbrote und Kakao ins Zimmer brachte.

Dann das erste Albstein-Schild. Ein Schriftzug, vertraut wie der eigene Name. Also gab es das Städtchen noch immer. Es hatte all die Jahre, in denen ich versuchte, einen Platz in der Welt zu finden, parallel existiert. Es hatte einige Veränderungen mitgemacht, andere Entwicklungen wiederum hatten es nur am Rande gestreift. Die Bewohner hatten vor ihren Fernsehern verfolgt, wie anderswo auf der Welt Wolkenkratzer zusammengestürzt waren, und dann die gebügelte Wäsche eingeräumt. Eine Website war für Albstein eingerichtet worden und pries »Festungsanlagen aus dem 14. Jahrhundert mit ihrem ›Bürgertürmle‹, ein barockes Schloss und ein über die Grenzen hinaus bekanntes Kasino«. Die Einwohner hatten Flatscreen-Fernseher in ihre sauberen Wohnungen getragen und Filme in HD-Auflösung angeschaut, sich über Facebook vernetzt, und sie skypten mit Freunden und Verwandten in anderen Ländern. In seinem Fundament aber hatte Albstein sich durch nichts erschüttern lassen.

Ich nahm die Autobahnabfahrt. Mein Herz klopfte, warum nur? Meine Heimatstadt schien sich für mich herausgeputzt zu haben, erweckte den Eindruck, dies sei ihr gottgegebener Zustand: Es war ein Maitag, wie er sein sollte, die Sonne schien versöhnlich. Hinter blühenden Apfelbäumen eröffnete sich mir die malerische Kulisse, der gotische Turm der St.-Peter-und-Paul-Kirche, das Schloss auf dem Hang, der Mönchshügel in frischem Waldgrün, ein Blick auf den Neckar, der im Sonnenlicht funkelte wie ein Diadem. Das Fachwerk der Altstadt, rot geziegelte Dächer.

Wie hübsch du dich für mich gemacht hast, kleines Städtchen, dachte ich. Mich wirst du so schnell nicht täuschen können.

Und plötzlich war ich wieder Teil der Welt, aus der ich gekommen war. Hier hatten sich Bilder mit Worten verknüpft. Als ich gelernt hatte, was eine Kirche ist, hatte ich dieses Wort mit dem Bild der St.-Peter-und-Paul-Kirche verinnerlicht. Das Wort Brunnen wird für mich auf ewig verbunden sein mit dem Wasserspiel vor unserem Rathaus (die Brunnenskulptur »Dampfnudelsammlerin« zeigt eine Bürgerin, die der Sage nach ihrem Mann Dampfnudeln zur Arbeit bringen wollte und stolperte. Das Essen fiel in den Dreck, doch die Frau sammelte jede einzelne Dampfnudel auf, wusch sie im Brunnen, und ihr Mann verzehrte sie mit großem Appetit). Ein Rathaus wird für mich immer so aussehen müssen wie unseres in Albstein mit seinem Glockenturm, den Sprossenfenstern mit ihren grünen Fensterläden und den Geranien auf der Fensterbank. Alles nach dem Krieg, Anfang der 50er, originalgetreu aufgebaut, Symbol für den Erneuerungswillen der Albsteiner. Der Ursee ist für mich der Moorheidesee, an dem ich träge, verheißungsvolle Augustnachmittage verbracht habe, die nach Entengrütze und Sonnencreme rochen. Tage, die so taten, als gäbe es nichts als Sommer, in denen Veränderung und Endlichkeit aber schon in der Luft lagen. Wenn ich das Wort »Stadt« höre, werde ich es ewig nicht mit New York, Berlin oder Tokio verbinden, sondern zuallererst mit Albstein. In Albstein erlernte ich die Welt. In Albstein war ich Mensch geworden, aus dem Nichts ins Bewusstsein geschlittert. Nun empfing die Stadt mich, die Abtrünnige, die Verräterin, ohne viel Aufheben, aber auch ohne Groll. Gütig nahm sie mich wieder auf in ihren Schoß. Als hätte sie gewusst, dass ich zurückkehren würde.

***

Plötzlich stand ich vor meinem Elternhaus, der Kies in der Einfahrt knirschte unter meinen Reifen. Ein weißes Backsteinhaus aus den 30er-Jahren mit drei Etagen. Einerseits war der Baustil bereits sachlich, andererseits gönnte sich das Haus mit seinen zwei Anbauten, den vielen Winkeln und den weißen Fensterläden noch Verspieltheit. Der efeuumrankte Kirschbaum im Vorgarten schien es zu beschützen, aus dem hinteren Garten wurde es überragt von den hölzern duftenden Kiefern meiner Kindheit. Rhododendron, Pfingstrosen und ein üppiger Weißdornstrauch blühten zu Seiten der leicht bröckelnden Treppe aus Werkstein, die zur aufwendig gestalteten, blitzblank weißen Haustür führte. Der Blütengeruch war vertraut, verführerisch, zerrte mich für Sekunden in einen Strudel aus unklaren Assoziationen und Erinnerungen, die sich meinen Worten entziehen. Es hatte immer noch etwas Feierliches, das Portal hinaufzugehen, auch wenn die schlichten Säulen links und rechts würdevoll ergraut waren. Hummeln summten, als sie ihren anstrengenden Hummel-Job erledigten. Es war der Garten von Leuten, die ihn liebten, aber damit ein wenig überfordert waren.

 

Die Tür öffnete sich, und meine jüngere Schwester Irina stand da, in einem hüftlangen Pulli trotz des warmen Wetters, eine Haarsträhne im Gesicht. Sie löffelte in einem Glas Biojoghurt, musterte mich und machte keine Anstalten, mir mit meinem Gepäck zu helfen.

 

»Irina, wie geht es dir?« Ich saß an unserem großen, runden Küchentisch, es roch nach Elternhaus und Ingwer. Irina bereitete sich einen Tee zu.

»Mein Vater ist gerade gestorben, wie soll es mir gehen?« Sie zerhackte den Ingwer.

»Hey, da haben wir was gemeinsam. Meiner ist nämlich auch gerade gestorben«, sagte ich.

»Erwarte jetzt nicht, dass wir uns heulend um den Hals fallen.« Sie goss das heiße Wasser auf.

»Nein, das wäre komisch. So sind wir nicht.«

»Das wäre echt schräg«, sagt sie.

»Wie hast du ihn zuletzt erlebt?«, fragte ich.

»Er war guter Dinge. Er genoss seine Rente. Nach acht Jahren als Bürgermeister. Er ging Golf spielen und hat sich jeden Abend Opern auf DVD angesehen.«

»Was machst du so?«, fragte ich.

»Ich gebe Nachhilfe in Lohberg. Im Brennpunkt. Und ich probe ein Theaterstück. Tschechow.«

»Das ist großartig«, sagte ich.

»Nein, das ist nicht großartig.« Irina drehte sich zu mir um. »Es ist nicht großartig, sich in einer Schulaula den Arsch aufzureißen vor zwanzig Leuten, und die Hälfte spielt mit ihren Handys. Wir können nicht konkurrieren mit einem 3D-Kinofilm, in dem Aliens die Erde wegballern. Ach, wenn die Leute wenigstens ins Kino gehen würden. Die meisten bleiben gleich ganz vor der Glotze. Übrigens, was macht dein Job bei der Fernsehzeitschrift?«

»Uns sterben die Leser weg. Fernsehen ist out. Alle gucken Youtube. Ein Clip einer besoffenen Brautjungfer, die beim Stangentanz das Festzelt einreißt, hatte am Wochenende mehr Zuschauer als Wetten, dass …?«, antwortete ich.

»Wie lange bleibst du?«, wechselte Irina das Thema.

»Ich werde sehen.«

»Wie lange schaffst du es ohne Sushi und Starbucks?« Sie blinzelte mich angriffslustig an.

»Oh, das ist es. Ich kratze mich schon die ganze Zeit, weil ich denke, Insekten krabbeln auf meiner Haut. Es sind also Entzugserscheinungen«, sagte ich.

»In Berlin war doch jetzt die Occupy-Demo. Warst du da?«, wollte meine Schwester wissen.

»Nein. Warst du da?«

»Diesmal nicht. Aber bei der nächsten Demo bin ich wieder dabei. Zu tun gibt es genug, in jeder Hinsicht. Du denkst, wir Frauen hätten uns befreit? Irrtum. Sechzig Prozent aller Ehen weltweit sind arrangiert. In hundertsiebenundzwanzig Ländern ist Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar. Und auch in Deutschland verdienen Frauen immer noch zweiundzwanzig Prozent weniger als Männer. Für die gleiche Arbeit.«

»Aber du arbeitest doch gar nicht«, sagte ich.

»Sylvia, du blickst einfach nicht den Punkt.«

»Sorry, ich hatte eine lange Fahrt. Mein Vater ist gerade gestorben. Ich rette die Welt später.«

»He, was ein Zufall, meiner ist auch gerade gestorben.« Irina goss das Teesieb ab. Ich sah sie an und spürte, welche Kämpfe sie auszutragen hatte. Sie kämpfte im Stillen, und sie war damit allein.

»Irina, es ist schön, wieder hier zu sein«, sagte ich. »Es ist schön, dich zu sehen.«

»Ja, ja. Bla bla.« Sie siebte den Tee ab und goss ihn sich in ihre Tasse. Ich sah ihr schweigend dabei zu. Sie nahm einen Schluck, sah mich an, nahm eine weitere Tasse aus dem Schrank, goss Tee hinein und reichte sie mir.

»Ich weiß, es fällt dir nicht leicht, nach Albstein zu kommen«, sagte sie.

»Gemischte Gefühle.« Ich nahm den Tee an. »Und doch denke ich, werde ich dieses Mal einige Leute besuchen, denen ich schon länger einen Besuch schulde.«

»Wirst du …« Irina zögerte. »Wirst du ihn besuchen? Joscha?«

»Ich weiß es nicht.« Ich nahm einen Schluck vom Tee, um Zeit zu gewinnen. »Ich war noch nie bei ihm, seit ich hier weg bin.«

»Warum eigentlich nicht?«

»Wir sollten doch alle in die Richtung blicken, in die wir uns fortbewegen. Und niemand bewegt sich rückwärts.«

»Und wie gelingt dir das?«, wollte Irina wissen.

»Nicht so gut. Gar nicht gut«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

***

Mutter war das Hotel. Das Hotel war Mutter. Da gab es für mich kaum einen Unterschied. Als ich vor dem Schwarzen Ferkel parkte, jenem Gründerzeitbau mit dezenten Jugendstil-Elementen, der auf bescheidene Weise Belle-Epoque-Herbergen imitierte, stiegen dieselben Gefühle in mir auf, die ich empfinde, sobald ich an meine Mutter denke: Liebe, Vertrautheit, Geborgenheit, aber auch Schmerz und Schuld. Schmerz wegen der Vergänglichkeit, die sowohl Mutter als auch dem Hotel innewohnt. Schuld, weil ich fortgegangen bin und das Hotel nicht weiterführen werde. Die harte Arbeit meiner Mutter – wo geht sie hin? Was wird davon bleiben? Nicht einmal zu einer Hotelfachlehre hatte ich mich bewegen lassen. Nicht, dass sie es mir jemals vorgeworfen hätte. Vielleicht hätte ich mich weniger schuldig gefühlt, wenn ich mich hätte freikämpfen müssen. Aber als ich Mutter einst eröffnete, dass ich Journalistin werden wollte – und da war schon klar, dass Irina niemals ein Hotel führen würde –, flötete sie nur: »Was immer dich glücklich macht. Du wirst eine hervorragende Journalistin. Es ist ein Beruf, der dich bestimmt erfüllen wird.« Nun, mit Prognosen ist meine Mutter nicht so gut. Sie ist einfach zu optimistisch.

Es war seit jeher unmöglich, anständig gegen sie zu rebellieren. Einmal saß ich als Rotzgöre am Küchentisch, in einem XXL-Flanellhemd, meine Alanis-Morissette-Mähne im Gesicht, und sagte: »Mutter, ich habe im Jägerhof einen Rockmusiker aus den USA kennengelernt. Krille hat ihn angeschleppt. Seine Band ist die Vorgruppe von Pearl Jam. Ich werde mir seinen Namen um den Bauchnabel tätowieren lassen und mit ihm nach Seattle ziehen.«

»Das freut mich für dich, mein Kind«, sagte Mutter dazu. »Es ist immer gut, Schmerzen auszuhalten. Und es ist gut zu reisen. Beides erweitert den Horizont. Und bevor wir deine Tasche packen, essen wir erst einmal zu Abend. Hilfst du mir, den Tisch zu decken?«

Ein paar Wochen später, während ich ihr widerwillig half, Gebetsbücher in der Kirche zu verteilen, fragte sie: »Und, was macht dein Rockmusiker?«

»Er hat mich angelogen. Er spielt nicht in der Vorgruppe von Pearl Jam. Er spielt in der Vorgruppe der Four Non Blondes. Bääääääääh.«

Meine Mutter wusste, dass sich viele Probleme von alleine lösen.

 

Ich betrat das Foyer und las einen Aufsteller: »18. Albsteiner Ärzte-Symposium. Heute: Colon irritable. Experten und Betroffene berichten.« Es war von Vorteil, dass meine Mutter so eng mit den Albstein-Kliniken zusammenarbeitete. Im Schwarzen Ferkel fanden Seminare und Lehrgänge statt, und viele gutsituierte Patienten, die sich in den Kliniken behandeln ließen, etwa für eine Schönheits-OP oder eine psychologische Therapie, checkten im Hotel ein. Albstein war kein offizieller Kurort, und so konnte meine Mutter ihr Hotel auch nicht Kurhotel nennen. Der topmoderne Wellness-Tempel, der am Moorheidesee eröffnet hatte, machte dem Schwarzen Ferkel zu schaffen. Viele Geschäftsleute und Handlungsreisende schauten inzwischen aufs Budget und stiegen im Gasthof Ludwig am Marktplatz ab oder gleich in dem Billighotel in der Neustadt, am in den 80er-Jahren angelegten Platz der Städtepartnerschaft, den wir als Teenies höhnisch »Platz der Lebensfreude« getauft hatten. Es war gut, dass die Kliniken so viele Leute von auswärts anzogen.

 

»Frau Böhm, Ihre Mutter erwartet Sie schon!« Wilhelm, die rechte Hand meiner Mutter, begrüßte mich mit der staubigen Nonchalance eines Butlers aus längst vergangenen Zeiten. Jahrelang im Dienstleistungssektor tätig, strahlte er eine Distanz und eine Würde aus, die wohl notwendiger Schutz sind, wenn man täglich die Wünsche anderer Menschen erfüllen muss. Er führte mich ins Restaurant, und da war sie, meine Mutter. Sie gab der Oberkellnerin Anweisungen, und ich war ergriffen. Seit Weihnachten hatte ich sie nicht gesehen. Wie schön sie immer noch war. Wie elegant in ihrem schwarzen Kostüm. Wie zierlich und unbesiegbar zugleich. Mutter war die schönste Frau der Stadt gewesen, alle hatten sie gewollt. Ich hatte als Mädchen immer gehofft, sie möge nicht allzu enttäuscht sein, dass Irina und ich nie schön sein würden.

»Sylvia!« Sie nahm mich in den Arm. Ich wette, niemand auf der ganzen Welt riecht so gut wie meine Mutter. »Jetzt sind wir Frauen allein.«

»Die ganze Welt singt und lacht, und er ist gestorben.« Ich bekam die sprudelnde Schönheit dieses Maitages noch nicht zusammen mit dem Tod, der sich in meiner engsten Familie mitleidlos seiner Rechte bedient hatte.

»Man sollte meinen, die Welt hört wenigstens einen Moment auf zu schlagen, wenn jemand wie dein Vater geht. Doch das tut sie nie.«

»Entschuldigung, Franziska, die Dame ließ sich nicht aufhalten!« Es war Wilhelm, hinter ihm eine Mittvierzigerin im grauen Business-Kostüm.

»Sie sind die Geschäftsführerin?«, fragte die Dame, die ein wenig hastig atmete.

»Ich bin die Inhaberin, Böhm mein Name!«, sagte meine Mutter sanft und reichte ihr die Hand. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich bin von der Häberle GmbH, wir haben den Seminarraum für unsere Tagung gebucht. Wir haben lange getagt und dabei viel Kaffee getrunken. Wir müssen einfach mal aufs Klo!«

»Wilhelm wird Sie zu den Waschräumen führen!«

»Ihre Toiletten sind nicht zu übersehen. Das Problem: Sie sind besetzt! Den ganzen Tag schon! Diese Leute hier … sie gehen immerzu aufs Klo!«

»Es handelt sich um Reizdarmpatienten«, klärte Wilhelm auf. »Colon irritable.«

»Sie!«, mischte sich eine weitere Frau ein und wandte sich an die Beschwerdestellerin. »Sie haben ja keine Ahnung, was es bedeutet, mit so einem Syndrom zu leben.«

»Ich hoffe, es gibt Linderung für Sie«, sagte meine Mutter zu der zweiten Frau mit dem ihr eigenen Mitgefühl.

»Wissen Sie, wir lernen, dass wir mehr sind als unser Darm. Wir lernen, Konflikte nicht über unseren Darm auszutragen.«

Die Geschäftsfrau wandte schnippisch ein: »Sie tragen Ihre Konflikte seit Stunden in sämtlichen öffentlichen WCs hier aus!«

Mutter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und wandte sich an ihren Assistenten. »Wilhelm, seien Sie so gut und schließen Sie die beiden leeren Zimmer im Erdgeschoss für die Herrschaften der Häberle GmbH auf. Sie können dort die Badezimmer aufsuchen. Und gehen Sie sicher, dass der Reinigungsdienst heute Abend noch einmal aktiv wird.«

Dann führte sie mich aus dem Restaurant ins Foyer. »Herrschaftszeiten«, raunte sie mir ins Ohr. »Ich hatte ja keine Ahnung, um welche Krankheit es heute hier geht.«

»Mutter, du bist immer so im Stress. Gestern erst …«

»Mein Kind, ich habe dir etwas zu essen vorbereiten lassen, du musst ausgehungert sein! Es gibt deine Lieblingsspeise: Linsen und Spätzle mit Speck und Saitenwürsten. Wilhelm bringt es dir gleich ins Restaurant.«

»Mutter, das ist lieb von dir. Aber ich bin doch seit fünfzehn Jahren Vegetarierin.«

»Ich weiß, mein Kind, und deswegen ist das Fleisch auch absolut bio. Frisch vom Scholtenhof.«

Ich esse niemals Saitenwürste mit Speck, dachte ich. Niemals wieder esse ich ein totes Tier.

 

Wenig später saß ich an einem Tisch im noch leeren Restaurant, aß mein drittes Würstchen, und eines war klar: Ich hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr etwas so Köstliches gegessen. Meine Mutter kam später hinzu und setzte sich zu mir. »Es ist so schön, dass du hier bist. Hat Irina dich nett empfangen?«

»Sie hat ihr Bestes gegeben«, sagte ich mit vollem Mund. »Sag mal, Mutter, hat Wilhelm sich immer noch nicht geoutet? Ich meine, dass er schwul ist, sieht man vom Spaceshuttle.«

»Aber Liebling, er hat einfach noch nicht die Richtige gefunden«, sagte meine Mutter und musste dann etwas lachen. Wir lachten beide.

»Es tut so gut zu lachen«, sagte sie. »Dein Vater hat so gerne mit uns gelacht.«

»Ich bin sicher, er lacht gerade«, sagte ich. »Jetzt, hier mit uns.« Und es erschien mir gar nicht mal so abwegig.

Das Telefon meiner Mutter klingelte. »Oh … oh, Swetlana, das ist ja entsetzlich … Oh mein Gott, beruhigen Sie sich. Ich schicke Wilhelm, er soll das klären. Er wird den Pool für heute schließen müssen.«

Sie beendete das Gespräch und runzelte die Stirn.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Das war Swetlana, die Kinderbetreuerin. Ein Eichhörnchen ist im Pool ertrunken. Die Kinder haben mit dem toten Tier gespielt, Swetlana versuchte, es ihnen wegzunehmen. Die Eltern haben sie als gewalttätige Russin beschimpft. Dabei ist sie doch Slowakin.«

Da klingelte ihr Telefon erneut. »Pfarrer Gräfhold? Ja, morgen, 16 Uhr auf dem Waldfriedhof, das müsste gehen. Ja, Herr Pfarrer, ich bin im Hotel, ich konnte mir leider nicht freinehmen, aber vielleicht tut es ja ganz gut …« Sie steckte ihr Telefon weg und seufzte. »Ich habe morgen einen Termin mit Fridolin vom Beerdigungsinstitut und mit Pfarrer Gräfhold. Auf dem Friedhof. Sie wollen mit mir den Ablauf durchgehen und ein paar Fragen klären. Aber morgen geht doch der Ärztekongress weiter, und Sanja, die solche Sachen betreut, ist krank geworden … Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll …« Wie müde meine Mutter unter ihrem sorgfältigen Make-up aussah. Und wie gefasst.

»Kann ich nicht für dich gehen?«, bot ich an. »Ich würde mich freuen, Pfarrer Gräfhold zu treffen, und ich sage dir dann alles, was du wissen musst.«

»Das würdest du tun?« Meine Mutter schien erleichtert.

Was hatte ich gesagt? Zum Friedhof. Ich. Ausgerechnet. Zum ersten Mal seit damals.

***

»Dieses Sideboard ist das Letzte, was dein Vater und ich uns zusammen angeschafft haben«, sagte meine Mutter. Ich war nicht an irgendeinem Ort. Ich war im Wohnzimmer meines Elternhauses. Hier war ich herangeführt worden an das, was unsere Kultur ausmacht, an Bücher, ans Zeichnen, an Musik, wohl dosiert auch ans Fernsehen. Hier wurde mir beigebracht, was schön ist. Hier hatte ich Trost empfangen und Geborgenheit erlebt, hierhin hatte ich mich zurückziehen können und Kraft getankt für die verwirrende Welt da draußen. Hier wurde mir zugehört, hier hatte ich gelernt zuzuhören, hier hatte ich friedliche Abende verbracht, aber auch so manche Schlacht geschlagen. Es war immer noch da, das Wohnzimmer. An ihm ließ sich am besten erkennen, dass dieses Haus Freundlichkeit und Bildung geatmet hatte. Deckenhohe Regale, vollgestopft mit Büchern, Empire- und Biedermeiermöbel, allesamt Erbstücke meiner Eltern, ein wenig zu viel von allem, aber auch moderne Möbel. Wie eben jenes Sideboard.

»Es sieht sehr gut aus. Hast du es von Klaus und Maria?«, fragte ich. Klaus und Maria waren Freunde meiner Eltern, sie führten das Möbelgeschäft im Albsteiner Gewerbegebiet.

»Sie haben mir einen sehr guten Preis gemacht«, sagte meine Mutter zufrieden. »Dafür lasse ich Klaus’ etwas anstrengende Mutter zu guten Konditionen bei mir im Hotel wohnen, wenn sie nach Albstein kommt.«

Leyla, die Haushaltshilfe meiner Mutter, brachte uns Wein. Leyla war seit jeher bei uns, allerdings beobachtete ich selten, dass sie tatsächlich im Haushalt half. Sie stammte aus dem Volk der Mescheten, einer Minderheit in Russland, und hatte unsere Familie stets mit Anekdoten und Bräuchen aus ihrer Kultur bereichert. Ihre Geschichten starteten etwa so: »Wir waren in einem Winter so hungrig, dass wir den Russen Vieh klauten und es mit bloßen Händen schlachteten.«

Auch Irina kam hinzu, sie trank Tee; Alkohol lehnte sie als kapitalistische Einlullungsdroge ab. Mir kam etwas Einlullung gerade recht, und wenn der Kapitalismus mir dieses Angebot machte, hatte ich keine Einwände. Wir spielten Schuberts Klaviertrio Nr. 2, Irina am Cello, meine Mutter an der Violine und ich am Klavier. Ich hatte in Berlin kaum noch Klavier gespielt. Ich fühlte mich zunächst schüchtern wie damals als Mädchen, wenn ich meine hart erkämpften Fortschritte hatte präsentieren müssen. Bald jedoch war ich erstaunt, dass es mir keine Mühe machte. Es war, als würden meine Finger von einer unsichtbaren inneren Kraft geführt. Ich war vertieft in mein Spiel, als ich einen Schulterblick wagte und meinen Vater in seinem Lieblingssessel sitzen sah. Wohlwollend blickte er auf seine vereinte Familie, würdevoll und gütig sah er aus, ein Mann, der nach den Mühen des Lebens seinen Frieden gefunden hatte.

Anschließend sang Leyla auf Georgisch ein kummervolles Lied aus ihrer Heimat, ehe sie sich einen Hochprozentigen genehmigte, und Irina trug ihre Version von Émile Zolas Anklageschrift J’accuse vor: »Ich klage an: meine Schule, weggesehen zu haben, als sie zu einem Ort wurde, an dem Unterdrückung, Feigheit und Hass die Wahrheit verdrängten und nicht gehört wurden jene, die aufbegehrten …« Nun, sie war auf einer Waldorfschule gewesen, und ich fragte mich, welch schlimme Erfahrungen sie dort wohl gemacht haben konnte. Mit flammendem Gestus ging sie bald zu Goethe über: »Wisst ihr denn, auf wen die Teufel lauern/In der Wüste, zwischen Fels und Mauern?/Und wie sie den Augenblick erpassen/Nach der Hölle sie entführend fassen/Lügner sind es und der Bösewicht/Der Poete, warum scheut er nicht/Sich mit solchen Leuten einzulassen …« Dann sank sie erschöpft, mit Tränen in den glühenden Augen, auf dem Sofa zusammen.

»Bravo!« Meine Mutter stand auf, applaudierte mit Nachdruck, sah prüfend zu uns, ob auch wir Irinas Beitrag mit genug Beifall würdigten. »Bravo, mein Schatz, das war ganz wunderschön!«

Später waren meine Mutter und ich allein, ich schenkte uns noch einmal Wein nach. »Es tut mir so gut, euch alle hier zu haben«, sagte meine Mutter mit müder Stimme. »Der Termin morgen auf dem Friedhof – bist du sicher, dass du hin willst?«

»Ganz sicher, Mutter«, sagte ich.

»Es geht im Moment drunter und drüber im Hotel. Sanja ist ausgefallen, das Ärzte-Symposium …«

»Läuft es denn gut gerade?«, fragte ich.

»Ich bin mit den Reservierungen für den kommenden Sommer zufrieden. Klar, wir merken die Konkurrenz durchs Arosa. Bei uns gibt es eben keine Steinmassagen, Biosaunen mit Farbtherapie, Sprudelbäder und Pilates-Kurse. Aber es gibt offenbar doch Leute, die ein traditionsreiches Ambiente schätzen.«

»Wie geht es eigentlich Effi?«, fragte ich, denn schließlich war sie so etwas wie meine Stiefschwester.

»Es geht ihr gut«, sagte meine Mutter. »Ich sehe sie gelegentlich bei Aktivitäten der Kirche. Sie weiß, dass unser Haus ihr immer offen steht. Sie arbeitet noch in der Bibliothek.«

Wir schwiegen, dann griff meine Mutter nach meiner Hand. »Sylvia... Ich fühle mich so schlecht, deinem Vater gegenüber. Ich … Ich war in einer Sache nie ganz aufrichtig zu ihm.«

»In welcher Sache, Mutter?« Ich war unsicher, ob ich überhaupt in der Verfassung für ein Geständnis war.

»Werner war so engagiert, schon als Jugendlicher. Er machte früh Karriere bei der Jungen Union, er war Zeit seines Lebens mit Herz und Seele in der CDU aktiv. Und er hat großartige Sachen bewirkt …« Sie lächelte mild. »Aber ich … Ich habe nie die CDU gewählt. Ich habe, seit es sie gibt, immer die Grünen gewählt … Er hat nie danach gefragt. Ich glaube, er hat einfach vorausgesetzt, dass ich seine Partei wählte. Doch ich … wählte immer … die Grünen …«

Kurz darauf nickte sie auf dem Sofa ein. Ich legte ihr eine Decke über die Schultern und räumte den Wein ab. Wieder sah ich meinen Vater in seinem Sessel sitzen.

»Sylvia«, sagte er. »Sylvia, du musst etwas für mich tun.«

»Was kann ich tun, Vater?«

»Sorg dafür, dass die Familie nicht auseinanderfällt. Ich habe so oft erlebt, wie in einer Familie aus Freunden Feinde wurden. Bitte bleibt eine Familie, in der alle Freunde sind.«

***

In meiner ersten Nacht in meinem ehemaligen Kinderzimmer schlief ich zunächst überraschend ruhig und gut. Gegen Morgen hatte ich einen meiner Träume von Joscha, ich hatte ihn schon erwartet. Wie so manche meiner Träume spielte auch dieser im tropischen Ambiente, ich hatte keine Ahnung, wieso der Schauplatz so oft die Tropen waren. Wir waren während unserer kurzen gemeinsamen Zeit zwar im Schwarzwald, aber niemals in den Tropen gewesen. Im Traum roch es nach Leben und Tod gleichzeitig, nach Blüten und nach Moder, beide Gerüche schienen mir auf logische Weise verwandt. Joscha trug einen schwarzen Anzug, ich ein elegantes Abendkleid, und wir tanzten und schwiegen, meine Haare wehten theatralisch, ob vom Tropenwind oder irgendwelchen Ventilatoren. Ich sollte aufhören, diesen Mist zu träumen. Ich wachte auf und mein erster Gedanke war: Heute, 16 Uhr. Der Termin auf dem Friedhof.

Als ich gerade mit Irina frühstückte, rief meine alte Schulfreundin Doro an, kondolierte mir überschwänglich und beteuerte, mein Vater sei ein ganz Großer gewesen (»Allein die Brücke, die er noch bauen ließ und die so viele unserer Senioren glücklich macht! Sie werden eine Straße nach ihm benennen!«), und sie verpflichtete mich, morgen, am Samstag, zu ihr und ihrem Mann Damiano zum Brunch zu kommen.

Später setzte ich mich unter die Kiefern in unserem Garten und saugte ihren Duft ein. Sie waren alt und beständig. Die Wolkenformationen über ihren Wipfeln dagegen bewegten sich fortlaufend, wenn auch ohne Hast. Und ich dachte: Endlich Stille! Der Nachmittag brach an.

***

Friedhöfe sind eine sinnvolle Einrichtung. Sie verleihen dem Tod etwas Erhabenes, einen nachträglichen Sinn. Die Leiche wäre sonst nur Aas, geschröpft von Raben und Schnecken. Friedhöfe lassen die Leiche Mensch bleiben. Sie setzen einen Anker zwischen der Ewigkeit und den Zurückgebliebenen, die sich vielleicht fragen, warum sie noch am Leben sind, ein anderer aber nicht mehr. Auch der Albsteiner Friedhof strahlte Bedeutung, Trost und Versöhnung aus, wie nur Friedhöfe und vielleicht noch Kirchen es vermögen. Es war gut, hierherzukommen. Es war gut, diese ergrauten Herren zu treffen, die den Tod versiert verwalteten: Fridolin vom Beerdigungsinstitut und Pfarrer Gräfhold, der mich als junger Mann getauft hatte, mir die Kommunion abgenommen hatte und dem ich damals, als »es« geschehen war, jeden Zugang verweigert hatte. Wussten diese Herren, die sich so viele Jahre professionell mit dem Tod beschäftigt hatten, zwischen ihm und den Lebenden vermittelten, mehr über ihn als ich? Sie wussten so viel wie ich. Nämlich nichts. Und doch war es beruhigend, sie zu treffen, denn sie waren Botschafter einer Kultur der Sinnstiftung, die wir Menschen um das Nichtwissen herum gestrickt haben.

Wir gingen in die kleine Waldkirche, in welcher der Sarg meines Vaters stehen und wo die Blumengestecke aufgebaut werden würden. Ich wählte nach bestem Wissen ein paar Details aus, die stumme Zustimmung meines Vaters war mir gewiss. Wir schritten den Weg ab, den der Trauerzug nehmen würde. Sie zeigten mir die Grabstelle, die mein Vater für sich vorgesehen hatte, neben seinen Eltern, meinen Großeltern. Fridolin empfahl sich förmlich, Pfarrer Gräfhold blickte mir ernst und gütig in die Augen.

»Ich weiß, dass es nicht leicht für Sie war, hierherzukommen, Sylvia.«

»Ich bin froh, dass ich es getan habe. Es ist eines dieser Dinge, bei denen man sich sagt: Ich hätte es längst tun sollen.«

»Sie sind zum ersten Mal hier seit damals, nicht wahr?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich. »Ich war nicht einmal bei der Beerdigung, wie Sie wissen. Ich konnte nicht. Ich war in den USA, habe versucht, alles zu vergessen.«

»Joscha war ein besonderer junger Mann. Schon in der Kommunionsgruppe stellte er viele Fragen. Er gab sich mit keiner Antwort zufrieden. Er hatte Feuer in sich. Ich war mir sicher, er würde es zum Guten nutzen, früher oder später.«

»Hat dieses Feuer ihn vielleicht vorschnell verbrannt?«, fragte ich.

»Sie müssen leben mit all dieser Ungewissheit, Sylvia, seit fünfzehn Jahren. Doch vielleicht finden Sie eines Tages eine Antwort, tief in Ihrem Herzen. Entschuldigen Sie, ich will nicht kryptisch sprechen.«

»Nun, der ganze Fall ist kryptisch. Aber ich glaube zu verstehen, was Sie meinen«, sagte ich.

»Kann ich Sie hier alleine lassen?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich. »Ja, das können Sie.«

 

Der Kies unter meinen Sohlen knirschte, die Vögel gaben ihr Abendkonzert, die Luft war freundlich-warm. Ich erreichte Joschas Grab. Es war in allerbestem Zustand. Der Granitstein wie frisch poliert. »Sebastian Joscha Häberle, 1979 – 1998«, las ich die Inschrift. Sein Vater hatte also seinen Spitznamen Joscha mit aufgenommen. Ohne Anführungsstriche. Das war gut so. Ganz in Joschas Sinn. Da es kein genaues Todesdatum gab, war sein genaues Geburtsdatum ebenfalls weggelassen worden.

»Hier bin ich nun«, sagte ich.

»Seltener Besuch!« Joscha schlenderte lässig den Weg entlang, zog an einer Zigarette. Er trug ein Tweetjackett und eine Schiebermütze. Er legte sich entspannt auf den benachbarten, monumentalen Marmor-Grabstein, den seines Großvaters.

»Das Rauchen wird dich noch umbringen«, sagte ich.

»Tut mir leid, das mit deinem Vater«, sagte er. »Er war ein guter Typ.«

»Tut mir leid, dass ich nie hier war«, sagte ich.

»Das macht nichts«, sagte Joscha. »Ich war nämlich auch nie hier.«

»Spielst du noch so viel Golf?«

»Ich bin einer der Besten geworden.«