Freundlicher Tod - Ute Dombrowski - E-Book
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Freundlicher Tod E-Book

Ute Dombrowski

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Beschreibung

Alexander erlöst seine Schwester Sarah, die nach einem Unfall im Koma liegt, von ihrem Leid. Auch Fred ist unheilbar krank und bittet den jungen Mann, ihm beim Sterben zu helfen. Bis dahin glaubt Alexander, das Richtige zu tun, obwohl es wehtut. Als er erfährt, dass Sarah wieder vollkommen gesund geworden wäre, legt sich in seinem Kopf ein Schalter um und er versucht immer am Anfang eines Monats, einen Menschen von seinen Problemen zu befreien, um seine Schuldgefühle loszuwerden. Bianca Bonnét, Michael Verskoff und ihr neuer Kollege Benedikt Mayfardt machen sich auf zu einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen und es wird ein Wettlauf mit der Zeit. Wird es ihnen gelingen, den Täter zu stoppen?

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Ute Dombrowski

Freundlicher Tod

Fall 4

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Freundlicher Tod

Ute Dombrowski

1. Auflage 2017

Copyright © 2017 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski

Lektorat/Korrektorat Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Die Hölle ist leer, sagt er, und alle Teufel sind hier.“

William Shakespeare

Der Sturm, 1. Aufzug, 3. Szene, Ariel zu Prospero

Der Tod ist einzigartig und unbestechlich, er nimmt alles mit, was einen Menschen einmal ausgemacht hat und lässt eine leere Hülle zurück. Wenn er sich auf den Weg macht, muss man ihn erwarten, annehmen und mit ihm gehen. Es ist dann Zeit, in einer anderen Dimension neu zu beginnen. Für Alexander war der Tod immer etwas gewesen, was weit weg war, doch heute hatte er ihn eingeladen.

Sarah lag regungslos in ihrem Bett neben dem Fenster. Alexander hatte ihre Bettdecke neu bezogen und schaute sie liebevoll an. Er hob ihren Oberkörper hoch und schüttelte das Kissen auf. Eine Weile später sank ihr Kopf zurück in die weichen Daunen und es sah aus, als ob sie sich nach einem anstrengenden Tag ausruhte. Er strich ihr zärtlich über das Haar und sah eine halbe Stunde hinaus in den herrlichen Wintermorgen.

Die Mutter war zu ihrer Schwägerin gefahren, um am Wochenende vor Weihnachten neue Kraft zu schöpfen. Die Pflege ihrer im Koma liegenden Tochter raubte ihr oft die gesamte Energie und Alexander hatte ihr die Auszeit von Herzen gegönnt.

Als er jetzt ein zweites, kleineres Kissen nahm und auf Mund und Nase seiner jüngeren Schwester drückte, musste er nur noch warten, bis die junge Frau nicht mehr atmete. Er fühlte ihren Puls und lächelte. Der Tod war gekommen und hatte Sarah mitgenommen. Nun musste sie nicht mehr leiden.

„Wir sehen uns bald wieder, meine Schöne. Ich liebe dich.“

Mit einem entspannten Gesicht verließ Alexander das Zimmer.

Am kommenden Morgen rief er den Arzt und setzte sich weinend an Sarahs Bett. Er hielt ihre Hand, bis Dr. Worges den Totenschein ausgefüllt und ihm sein Beileid ausgesprochen hatte. Der Facharzt, der Sarah seit dem Unfall betreut hatte, war im Urlaub und hatte für dieses Wochenende die Verantwortung an den Hausarzt der Familie übergeben.

Der Unfall vor eineinhalb Jahren hatte die Familie aus der Bahn geworfen. Ein Lkw war von rechts aus einer Seitenstraße gekommen und hatte das kleine Auto des Vaters übersehen. Der Aufprall war unausweichlich gewesen und Sarah, die auf dem Beifahrersitz gesessen und ihrer Prüfung entgegengefiebert hatte, musste später schwer verletzt aus dem Wrack herausgeschnitten werden. Dem Vater war kaum etwas passiert, er hatte sich den Arm gebrochen und die Kniescheibe war herausgerutscht. Sarah aber lag nach einer schweren Schädelverletzung immer noch im Koma.

Dörte Retzanski hatte ihr Kind vor sechs Monaten nach Hause geholt und pflegte es liebevoll. Allerdings stieß sie mehr und mehr an ihre körperlichen Grenzen und nachdem sie im Oktober einmal einfach vor Erschöpfung umgefallen war, gab es regelmäßig freie Wochenenden für sie, an denen sich Alexander um Sarah kümmerte. Bisher war alles gut gegangen, aber der junge Mann war so erschüttert über den Zustand seiner kleinen Schwester, die er über alles liebte, dass er eines Tages beschlossen hatte, sie von ihrem Leiden zu erlösen.

Er kannte sie als ausgelassen und fröhlich, sie war aktiv und hatte sich an dem Tag, als er passiert war, auf dem Weg zur Examenslehrprobe befunden, die letzte große Prüfung, bevor sie Lehrerin sein würde. Sarah mochte Kinder genauso gern wie Alexander.

Am Abend zuvor hatte sie dem Vater erklärt: „Papa, ich bin viel zu aufgeregt, kannst du mich morgen früh zur Schule bringen?“

„Aber natürlich, mein Kind, nicht, dass du noch einen Unfall baust, weil du nur an die Prüfung denkst.“

Klaas Retzanski fühlte sich seitdem schuldig und litt wie ein Hund, wenn er hinter seiner Frau ins Krankenhaus schlich, wo sein kleines Mädchen in den weißen Kissen wie tot aussah. Die Geräte waren da und überwachten alle lebensnotwendigen Funktionen. Klaas schlief wenig, stürzte sich in die Arbeit und machte sich Vorwürfe. Seit dem Tag, an dem seine Frau Sarah nach Hause geholt hatte, verkroch er sich in der Apotheke und kam nur noch selten heim. Er schlief im Hinterzimmer und war bald blass und ausgemergelt.

Dörte aber blühte auf und sprach jeden Tag mit Sarah, denn der Arzt hatte gesagt, dass es möglich war, dass die junge Frau eines Tages wieder aus dem Koma aufwachen würde.

„Wie wird es ihr dann gehen? Wird sie noch die Alte sein?“, hatte sie hoffnungsvoll gefragt.

„Ich kann es nicht sagen, das ist ein Thema, das noch weit weg ist. Frau Retzanski, wir müssen hoffen und ich verspreche Ihnen, dass ich alles dafür tun werde, dass Sarah wieder aufwacht. Das ist wenig, aber sie lebt und dafür müssen wir dankbar sein.“

„Was wird denn, wenn sie nicht mehr klar denken kann? Wenn sie ein Pflegefall bleibt?“

„Das überlegen wir, wenn sie aufgewacht ist, einverstanden?“

Dörte hatte genickt, die Hand ihres Sohnes genommen und ihn angesehen.

„Sie schafft das, sie ist stark.“

„Ja, Mama, Sarah haut so schnell nichts um.“

Alexander wollte seiner Mutter nicht wehtun, aber er hatte die Hoffnung aufgegeben und viel im Internet recherchiert. Es konnte sein, dass Sarah ein sabberndes, grinsendes Mädchen sein würde, die nicht mehr selbständig atmete oder es konnte sein, dass sie jahrelang mit offenen Augen zur Decke starrte. Nein, so wollte er seine Sarah auf keinen Fall zurückhaben.

Später hatte Mama von den schwindenden Muskeln geredet und wie schwer der jungen Frau das Atmen fiel. Mitleid war es, Mitleid mit seiner Mutter, die in ihm den Gedanken an Erlösung weckte. Sarah würde dieses elende Leben friedlich verlassen und alle Last wäre fort. Alexander fühlte sich wichtig und wie der Retter der Welt. Sarah zu verlieren war sicher schwer, aber sie leiden zu sehen, würde viel schwerer sein.

2

Bianca und Michael lebten wieder zusammen, aber der schreckliche Fall hatte die Kommissarin damals nicht ruhig schlafen lassen. Die Psychologin hatte sowohl Bianca als auch Michael noch ein halbes Jahr lang betreut, damit sie mit dem Psychopathen, der sie eiskalt in seine perfiden Pläne einbezogen hatte, abschließen konnten. Benedikt hatte seine Bekanntschaft mit Natascha vertieft, aber die Tatsache, dass die Frau als Journalistin mehr unterwegs als daheim war, hatte die Beziehung schnell abkühlen lassen. Fabienne war weggezogen, denn sie hatte die Umgebung, die sie an die schrecklichen Erlebnisse erinnerte, nicht mehr ertragen können.

Ebenfalls seit einem halben Jahr war Bianca nun ganz offiziell die Leiterin der Dienststelle, aber ihren Kaffee trank sie immer gerne im Büro von Michael und Benedikt. So konnten sie auch über anfallende Arbeiten sprechen.

Vor einem Monat war Bianca siebenunddreißig geworden und kurz vor Weihnachten würden sie zwei Tage wegfahren, um Michaels runden Geburtstag in gemütlicher Zweisamkeit zu feiern.

„Vierzig, du Armer. Oha. Dann gehörst du zu den alten Männern“, stichelte Benedikt. „Aber keine Sorge, ich helfe dir gerne über die Straße.“

„Arsch“, erwiderte Michael lachend.

Sie waren ein gutes Team geworden und es hatte sich auch bewahrheitet, dass Bianca ab und zu mit hinausfuhr. Es war ihre große Sorge gewesen, dass sie im Büro versauern würde.

In den letzten Monaten war es sehr ruhig gewesen, außer ein paar Kleinigkeiten gab es keine spektakulären Fälle. Bianca und Michael liebten sich, redeten viel, unternahmen am Wochenende auch ab und zu etwas mit Benedikt oder machten endlose Spaziergänge am Rhein oder in den Weinbergen. Heute war Sonntag und sie kamen eben von einem schönen Essen am Anleger im Städtchen Eltville, das nicht nur ihr Arbeitsort, sondern ihr Zuhause geworden war. So wunderten sie sich auch nicht, dass sie von einigen Spaziergängern gegrüßt wurden.

„Es ist zurzeit angenehm ruhig, ich bin froh, dass wir diesen Psychopathen los sind“, sagte Bianca, die sich auf der Bank am Rhein an Michael gelehnt hatte.

„Ach Süße. Du hast doch gehört, was Cordelia gesagt hat: Er trug eine perfekte Maske und niemand kann in die Seele eines Menschen schauen.“

„Ich dachte aber immer, dass ich das kann. Meine Instinkte hatten mich bis dahin noch nie verlassen und wenn ich überlege, dass ich ja am Anfang unserer Bekanntschaft kein gutes Gefühl hatte, so muss ich zugeben, dass ich nicht weiß, wann und warum mir der Instinkt verloren ging. Ach könnte man doch den Menschen in den Kopf schauen, dann würde sich so manches Verbrechen verhindern lassen.“

Michael lachte und schaute dem jungen blonden Mann hinterher, der mit hängenden Schultern an ihnen vorüberschlich. Seine Augen waren in die Ferne gerichtet und er schien sie nicht zu bemerken.

„Sieh dir den armen Kerl an, was denkst du, was hinter seiner Stirn vor sich geht?“

„Vielleicht hat er Liebeskummer? Er sah so traurig aus. Wollen wir ihn fragen?“

„Spinnst du?!“, rief Michael und riss die Augen auf. „Das ist doch voll peinlich.“

„Dann sag mir doch mal, was ich gerade denke!“

Michael küsste Bianca und grinste.

„Du denkst dasselbe wie ich. Komm schnell nach Hause, ich will das auch! Außerdem ist es kalt.“

Sie standen auf und folgten dem Mann mit einigem Abstand. Als sie ihre Wohnung erreicht hatten, fielen sie übereinander her und hatten den Spaziergänger schon wieder vergessen.

Michaels Geburtstag ging vorüber, Weihnachten verbrachten sie zuhause und zum Jahreswechsel wollten sie mit Benedikt essen gehen, der anschließend zu einer Party eingeladen war.

Einen Tag vor Silvester läutete um zehn Uhr das Telefon und Michael nahm ab. Er horchte in den Hörer, dann sah Benedikt, wie sich das Gesicht seines Kollegen schlagartig verdüsterte.

„Ja, wir kommen sofort.“

„Was ist passiert?“

„Wir müssen los, da hat jemand seinen Onkel tot im Bett gefunden“, erklärte Michael, „und er kann sich nicht vorstellen, dass er einfach so gestorben ist. Der Mann war zwar schwer krank, aber er war lebensfroh und noch fit im Kopf. Das sagt der Arzt, den der Neffe eben gerufen hat.“

„Hm, vielleicht war es Selbstmord. Los, ich fahre, aber wir müssen beim Bäcker anhalten, ich hatte noch kein Frühstück.“

„Du brauchst eine Frau, mein Lieber.“

Benedikt lachte und winkte ab. Sie setzten sich ins Auto und machten sich auf den Weg. Es war kalt, aber nicht nass, die Sonne schien sogar und tauchte den Rheingau in ein zauberhaftes Licht. In der Nacht hatte es Frost gegeben und ein Rest von Raureif lag dort, wo die Sonne noch nicht hingekommen war, um ihn von den Blättern und Gräsern zu lecken.

Der alte Mann lag im Bett seiner Villa, in der er seit dem Tod seiner Frau ganz alleine gelebt hatte. Vom Fenster aus, das Michael jetzt ein Stück öffnete, um Luft zu holen, sah er den Rhein behäbig dahinfließen und die winzigen Wellenspitzen glitzerten in der Sonne. Es roch in diesem Zimmer nach Krankheit und Tod und das konnte der Kommissar schlecht aushalten.

Die Möbel waren alt und sahen aus wie teure Antiquitäten. Der Mann, der zugedeckt war, hatte ein weißes und hageres Gesicht und die Wangen ähnelten einem zerdrückten Pergamentpapier. Seine Augen waren geschlossen, was fehlte, waren Wimpern und Augenbrauen, auch auf dem Kopf hatte er keine Haare. Michael trat zu dem Arzt und Benedikt ging hinter dem Neffen her nach draußen.

„Herr Doktor, was spricht denn Ihrer Meinung nach dafür, dass der Mann hier nicht auf einem natürlichen Weg gestorben ist?“

„Herr Drekelt war zwar unheilbar krank, aber durch die Medikamente war er schmerzfrei und es ging ihm gut. Mittags kommt eine Pflegerin, die sich um ihn kümmert. Er hat diese Frau selbst eingestellt. Sie kocht und wäscht auch gleich noch, außerdem kauft sie für ihn ein. Er hat sie sehr gut bezahlt. Also, es sieht alles so aus, als wenn ihm jemand eine Überdosis Narkotikum gespritzt hat. Ich denke, dass es Mord war. Der Rest ist Ihr Job. Ich habe auf den Totenschein ungeklärte Todesursache geschrieben.“

„Danke für die Informationen. Kannten Sie den Herrn näher? Es kommt mir vor, als wüssten Sie mehr über ihre Patienten als andere Ärzte.“

„Nein, wir waren nicht befreundet, wenn sie das denken, aber er ist schon sehr lange mein Patient und ich höre nun mal gut zu. Ich weiß, dass das Vorurteil umgeht, dass der Arzt immer nur im Stress ist und ans Geldverdienen denkt, aber leider gibt es solche Ärzte wirklich.“

„Sie haben recht. Wenn ich mal krank bin, möchte ich auch lieber von einem Arzt behandelt werden, wie Sie einer sind. Durch die Eile entgehen uns ja auch manchmal Morde, die dann für immer unentdeckt bleiben. Es gibt keine Zweifel?“

„Absolut nicht. Auf Wiedersehen.“

Der Arzt verschwand und nun traten Michaels Kollegen Jürgen und Olaf ins Zimmer und begrüßten den Kommissar. Olaf, der Gerichtsmediziner, hatte sich kurz mit dem Arzt unterhalten und nun begann er schweigend seine Arbeit. Michael suchte nach Benedikt und fand ihn in der Küche, wo neben ihm am Tisch ein weinender junger Mann saß. Seine roten Haare leuchteten wie der Pelz eines Fuchses und seine Haut war weiß wie Schnee.

Benedikt hatte sich gerade die Adresse der Pflegerin aufgeschrieben. Jetzt setzte sich Michael zu dem Mann, der sich als Gernot Drekelt vorstellte.

„Wer könnte einen Grund haben, Ihren Onkel umzubringen?“

„Niemand! Mein Onkel war liebenswürdig und großzügig.“

„Vielleicht nicht großzügig genug und nun wollte jemand schnell erben?“

Gernot starrte Michael entgeistert an. Dann begann er den Kopf zu schütteln und es schien, als wolle er gar nicht mehr damit aufhören.

„Nein, nein! Nein! Ich bin immer zweimal die Woche hergekommen und habe ihm vorgelesen oder wir haben etwas gespielt. Ich wollte ihn nicht beerben. Sie können sich natürlich nicht vorstellen, dass man so einen alten Kauz mag. Nein, ich habe ihm nichts getan und ich habe auch nicht auf seinen Tod gelauert.“

Er sah erschöpft aus und Michael hatte das Gefühl, dass er die Wahrheit sagte. Irgendwie tat ihm der Mann leid. Vielleicht war es die Pflegerin oder jemand war eingedrungen. Das würde er schon von Jürgen erfahren.

„Wie heißt die Pflegerin?“, fragte Michael Benedikt.

„Jutta Kücklitz, vierzig, wohnt in Erbach und kam immer von zwölf bis sechs Uhr abends. Heute hat sie einen Arzttermin und kommt um zwei.“

Michael schaute auf die Uhr und sah, dass es erst zwölf war, also schlug er vor, schnell etwas essen zu gehen und dann hier auf die Frau zu warten. Benedikt nickte eifrig, denn er hatte immer noch nichts gegessen. Auch ein Kaffee würde ihm guttun. Sie ließen das Auto in der Einfahrt der Villa stehen und liefen in die Altstadt. In einem Restaurant bestellten sie Mittagessen und Benedikt berichtete, was Gernot gesagt hatte.

„Er ist wie immer mit seinem Schlüssel reingekommen und war ganz leise, weil sein Onkel meist noch schlief. Als er im Schlafzimmer stand, sah er gleich, dass etwas nicht stimmte. Also hat er den Puls seines Onkels gefühlt und den Arzt gerufen. Der hatte nach einer kurzen Untersuchung sofort entdeckt, woran der Mann gestorben war und die Polizei dazu geholt.“

„Selbstmord wird es ja nicht gewesen sein, denn wer spritzt sich schon selbst. Motiv?“

„Hm, da geht vieles: Geldgier, keine Lust mehr auf Pflege, Sterbehilfe. Was denkst du?“

3

Michael hatte nicht geantwortet, denn er dachte noch gar nichts, der letzte Fall hatte ihn gelehrt, alle Seiten im Blick zu behalten. Er würde sich zuerst ein Urteil über die Pflegerin und die anderen Menschen im Umfeld des Opfers bilden. Nach dem Essen sah er erneut auf die Uhr und dann machten sie sich auf den Rückweg zur Villa, wo Jürgen noch arbeitete. Der Leichenwagen hatte den Toten in die Gerichtsmedizin gebracht. Gernot war nach Hause gegangen.

„Hast du etwas gefunden?“, fragte Benedikt und hielt Jürgen den Becher mit Kaffee hin, den er unterwegs gekauft hatte.

„Oh, womit habe ich denn das verdient? Danke. Ich muss euch sagen, wenn das Opfer den Mörder nicht selbst ins Haus gelassen hat, dann hatte der einen Schlüssel.“

„Da kommen ja nicht allzu viele Leute infrage: Gernot, der Neffe, und die Pflegerin wird auch einen haben. Dieser Fall ist sicher schnell zu den Akten gelegt.“

„Ach ja, na dann viel Erfolg“, sagte Michael, der Benedikt mit einem Grinsen zugehört hatte. „Brauchst du mich noch oder hast du den Fall schon gelöst?“

Es klopfte zaghaft an die Tür und eine kleine, dürre Frau mit dünnen grauen Haaren stand plötzlich im Zimmer.

„Wo ist Fred? Was machen Sie hier?“

„Sind Sie Jutta Kücklitz?“, fragte Michael und hielt der Frau seine Hand hin. „Ich bin Kommissar Verskoff und das ist mein Kollege Kommissar May­fardt.“

„Ja, ich bin Jutta Kücklitz, was ist denn passiert?“

„Herr Drekelt ist tot.“

Er beobachtete aufmerksam die Reaktion der Frau, die nun die Mundwinkel hängenließ und auf den Stuhl neben dem Bett sank. Sie seufzte.

„Der Arme, nun ist sein Leiden zu Ende. Aber dass es so schnell ging … ich verstehe nicht … was macht denn die Polizei hier?“

„Herr Drekelt ist nicht eines natürlichen Todes gestorben. Jemand hat ihm eine Überdosis Narkosemittel injiziert. Können Sie sich vorstellen, wer das getan hat?“

Sie schüttelte vehement den Kopf und stand wieder auf. Unruhig lief sie im Zimmer auf und ab.

„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll: Fred hat in der letzten Zeit starke Schmerzen gehabt, aber er wollte es nicht zugeben. Immer öfter hat er über seinen Tod geredet und mir erklärt, wie er sich das alles vorstellte.“

Michael sah sie fragend an.

„Wie meinen Sie das?“

„Er wollte gerne sterben, aber nicht in einem Krankenhaus und nicht ohne Plan, nicht einfach so, verstehen Sie? Er wollte die Kontrolle behalten bis zu seinem Tod.“

„Ah!“, rief Benedikt nun aus dem Hintergrund. „Sie denken an Sterbehilfe? Das ist aber illegal. Hat er Sie gebeten, ihm beim Sterben zu helfen?“

„Nein, das hat er nicht“, erwiderte die Frau nun pikiert. „Sie meinen, ich habe ihm geholfen und dafür kassiert? Glauben Sie mir, er hat mich richtig gut bezahlt, einfach nur dafür, dass ich immer da war und ihn versorgt habe. Ohne Hintergedanken. Es war schon fast eine Freundschaft.“

„Aber er war doch schon uralt? Wie geht das denn?“

„Er war noch nicht mal sechzig, Herr Kommissar, nur hat ihn der Krebs gezeichnet. Ich kannte seine Frau, die bei einem Unfall ums Leben gekommen ist und dann habe ich hier gearbeitet. Ich verstehe mich auch gut mit Gernot, aber alles war rein freundschaftlich.“

„Was haben Sie denn verdient?“, wollte Michael wissen.

„Jeden Monat hat er mir zweitausend Euro gegeben und dann ab und zu mal eine kleine Prämie, wenn es ihm besonders gut ging. Und darum wäre ich doch schön blöd, wenn ich seinen Tod herbeigeführt hätte, oder?“

Michael nickte, denn was die Frau sagte, hörte sich durchaus plausibel an. Er sah zu Benedikt, der mit den Schultern zuckte, anschließend fuhr er mit der Befragung fort.

„Wer hatte einen Schlüssel? Der Täter hat nichts aufgebrochen und die Fenster und Terrassentüren waren geschlossen.“

Jutta Kücklitz überlegte und entgegnete langsam: „Der Gernot und ich. Sonst weiß ich niemanden. Sind Sie mal auf die Idee gekommen, dass er jemanden hereingelassen hat?“

„Ich dachte, er war bettlägerig und konnte nicht aufstehen?“

„Nein! Er ist immer um elf Uhr aufgestanden und hat in seinem Sessel gesessen. Zur Tür konnte er auf alle Fälle gehen, auch auf die Toilette. Er trug ein Korsett, sogar beim Schlafen. Es hat immer ein bisschen gedauert, aber er ist meistens schon im Sessel gewesen, wenn ich kam. Dann haben wir zusammen gefrühstückt und den Tag geplant. Manchmal waren wir auch spazieren, natürlich in der kalten Jahreszeit nicht mehr. Er hat immer betont, dass er in Bewegung bleiben wollte.“

„Wenn das so ist, verstehe ich aber seinen Wunsch zu sterben nicht“, unterbrach sie Benedikt. „Einmal sagen Sie, er wollte sterben, jetzt sagen Sie, er wollte aktiv bleiben. Das ist ja wohl ein Widerspruch.“

„Ist es nicht! Aber anscheinend kann ich hier sagen, was ich will, es ist falsch. Dann sage ich jetzt gar nichts mehr.“

Na prima, dachte Michael, nun ist sie eingeschnappt. Er winkte Benedikt und bat Jutta Kücklitz, am kommenden Morgen für das Protokoll auf die Dienststelle zu kommen.

„Da ist Silvester!“

„Aber noch nicht am Vormittag.“

Im Büro angekommen telefonierte Michael mit Bianca und bat sie nach unten. Sie brachte eine Kanne frischen Kaffee mit und setzte sich. Nun fasste Michael das zusammen, was sie zusammengetragen hatten.

„War sie es?“, fragte Bianca. „Dann bin ich gespannt, was sie für ein Motiv hat.“

„Mein Instinkt sagt nein, aber irgendwie kann ich auch nicht glauben, dass es der Neffe war. Benedikt, du guckst dir am besten mal die Vermögensverhältnisse der beiden an und ich knöpfe mir Gernot nochmal vor. Der alte Mann war wohl immer noch Herr seiner Sinne, obwohl er unter starken Schmerzmitteln stand. Der Doktor hat gesagt, er hätte sehr lange so weiterleben können.“

Bianca sah nachdenklich aus dem Fenster. Das Thema Sterben machte ihr immer eine Gänsehaut und obwohl sie in ihrem Job sehr oft tote Menschen sah, war es jedes Mal ein Schlag in die Magengegend. Und der Gedanke, dass jemand freiwillig sterben wollte, machte ihr Angst. Wie groß muss bei so einem Menschen der Leidensdruck sein, dass er aufhörte zu kämpfen?

„Denkst du, er wollte sterben?“

„Ich weiß nicht, er lag so friedlich da, es war, als wäre er aufgebahrt.“

Nun weiteten sich Michaels Augen und in seinem Kopf glühte ein Gedanke auf.

„Wenn er seinen Tod geplant hatte, musste er schon vorher alles geregelt haben, also müssen wir seinen Notar finden und nach einem Brief suchen. Einer, der seinen Tod so akribisch plant, wird doch wohl ein paar Zeilen als Erklärung hinterlassen.“

„Es ist aber nun einmal in Deutschland verboten und der Helfer geht dafür auf jeden Fall hinter Gitter. Würdest du mir helfen zu sterben, wenn ich unheilbar krank wäre?“

Biancas Frage schwang unheilvoll durch den Raum. Benedikt nahm seine Jacke und verließ das Büro, Michael stellte sich zu Bianca ans Fenster und legte einen Arm um sie.

„Erstens bist und wirst du niemals unheilbar krank werden. Zweitens finde ich den Gedanken daran unendlich verwirrend und drittens ist das eine Frage, die mir Angst macht. Also hör auf, an so etwas zu denken. Vielleicht magst du mitkommen zu dem Neffen? Er wohnt in einer kleinen Wohnung in Erbach.“

„Entschuldige, aber es kam mir einfach in den Sinn. Natürlich lebe ich ewig, mein Schatz, erst recht mit dir an meiner Seite.“

„Das ist aber sehr kitschig.“

„Ich hole meine Jacke und komme mit. Geh schon mal vor.“

Michael nickte und lief auf den Parkplatz, wo er sich schnell ins Auto setzte, denn es hatte zu regnen begonnen. Er dachte: Ich muss diese Frau von so düsteren Gedanken ablenken, sie hat mir das Leben gerettet. Also nahm er sich vor, sie an Silvester zu überraschen.

Sie fuhren nach Erbach und befragten Gernot, aber irgendwie war auch dieses Gespräch sehr unbefriedigend. Also machten sie sich auf den Rückweg nach Eltville, wo Benedikt schon wartete.

„Die beiden haben keinen Grund, die Frau hat die Wahrheit gesagt und fast nichts von dem vielen Geld ausgegeben. Und Gernot bekam jeden Monat eine großzügige Unterstützung. Ich war gleich noch im Altenheim, wo er neben dem Studium arbeitet. Der ist da beliebt und eine Omi nannte ihn sogar Engel. Vielleicht hatte Fred Drekelt Besuch.“

„Heute kommen wir eh nicht weiter, also lass uns heimgehen“, schlug Bianca vor.

„Ja, Schatz, fahr schon mal voraus, ich plane schnell mit Benedikt, was wir im neuen Jahr machen und komme dann nach.“

Bianca erklärte, dass sie noch zum Einkaufen fahren würde und küsste Michael.

„Bis morgen, Benedikt. Ich freue mich.“

„Ich mich auch. Und danach die Party wird geil.“

Als sie aus der Tür war, erläuterte Michael seinen Plan für den nächsten Abend und fragte seinen Kollegen und Freund, was er davon hielt. Der grinste über das ganze Gesicht.

„Alter Mann, das ist eine geile Idee. Bis morgen Abend. Aber mach es erst, wenn ich weg bin.“

„Was dachtest du denn?“

4

Zwei Tage vor Silvester war Alexander zu Fred gegangen. Später hatte er sich von dem alten Mann verabschiedet und ihn getötet. Er hatte den Abend über an seinem Bett gesessen und die Hand des Mannes gehalten, bis alles vorbei war. Danach fühlte Alexander sich gut. Er hatte etwas getan, was sich nicht viele trauten und er bewunderte Fred, dass der so mutig war, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen.

Tagelang hatte er überlegt, ob er dem Wunsch des freundlichen Mannes nachkommen sollte. Er war verwirrt - seit er seine kleine Schwester getötet hatte, war nichts mehr, wie es einmal war. Die Schuld drückte zwar auf seine Schultern, aber trotzdem war die Überzeugung, das Richtige getan zu haben, immer noch stärker.

Wenn Alexander in den Tagen nach Sarahs Tod bei Dörte und Klaas gewesen war, bohrte seine Mutter nach und wollte ihn trösten. Aber der junge Mann schwieg, er fand es schon abartig genug, dass sein Vater wieder aufgetaucht war. Bald war er nicht mehr zu seinen Eltern hinuntergegangen und streunte stundenlang durch die Stadt oder die Weinberge. Die Arbeit in der Apotheke vernachlässigte er auch, aber die Eltern trauten sich nicht, ihn zu etwas zu drängen. Auch jetzt wagte die Mutter nicht, irgendwelche Frage zu stellen.

Als wenn es nicht schon schlimm genug war, dass Alexander Sarah getötet hatte, noch viel schlimmer war die spätere Erkenntnis, dass es eine Fehlentscheidung gewesen war. Aber er hatte auf Fred gehört, Fred, den weisen alten Mann, dem er vollkommen vertraut hatte.

„Du hast das Richtige getan! Und mich beim Sterben zu unterstützen, ist auch richtig. Dann geht es dir besser, glaube mir!“, hatte Fred enthusiastisch gerufen. „Du hilfst mir und ich helfe dir.“

„Versprichst du mir, dass ich damit meinen Seelenfrieden zurückbekomme?“

„Ich verspreche es dir. Meine Seele für die deiner Schwester. Mein Leben für ihres.“

Sie hatten sich oft im Krankenhaus getroffen, wenn Alexander Sarah besuchte. Später hatten sie darüber geredet, wie es wäre, für immer von den Schmerzen erlöst zu werden. Als der alte Mann für seine letzte Lebenszeit nach Hause gegangen war, besuchte ihn Alexander öfter am späten Abend oder in der Nacht. Die beiden sprachen dann meistens über den Tod und das Sterben. Fred hatte ihm erklärt, dass er immer die Kontrolle über sein Leben haben wollte, also hatte er auch nicht vor, sie beim Sterben abzugeben.

„Ich bin noch total klar im Kopf und will nicht als ein sabberndes Wrack enden, das sich vor Schmerzen krümmt oder nur noch unter Drogen leben kann. Dann lieber taktvoll abtreten.“

Den Gedanken daran hatte Alexander nicht mehr aus dem Kopf kriegen können und nachdem er seine Schwester erlöst hatte, war er zu Fred gelaufen und hatte ihm davon berichtet. Sie saßen stundenlang zusammen und Fred lobte ihn für seine Umsicht.

Auch wenn Alexander wusste, dass Sarah jetzt nicht mehr leiden musste, war er traurig und verzweifelt zugleich.

Er war zu Füßen des großen Sessels im Wohnzimmer vor Fred zusammengebrochen und der hatte ihm den Kopf gestreichelt, bis Alexander sich wieder beruhigt hatte. Danach offenbarte er ihm seinen Plan, mit dem beide zufrieden sein konnten. Noch einen Tag vor dem geplanten Tod des alten Mannes lief Alexander durch die Gegend und sah nicht, was um ihn herum vor sich ging. In seinem Kopf und im Herzen trug er die Sehnsucht, erlöst zu werden von der Last seiner Schuld. Hatte Fred recht? Konnte er so seinen Frieden zurückerlangen?

Fred hatte extrem starke Schmerzen, dass er oft schreien musste, aber das konnte und wollte er seinen beiden lieben Menschen nicht sagen. Sie sollten das Gefühl haben, dass es ihm gut ging und dass sie bestens für ihn sorgten und sich nützlich vorkamen. Er litt wie ein Hund und als der Arzt ihm sagte, dass er mit den Medikamenten noch ewig leben könne, war er nicht erfreut, sondern verzweifelt.

„Ewig leben? Ewig diese Schmerzen? Zugedröhnt mit Medikamenten? Das ist für mich kein Leben. Ich habe alles geregelt. Wenn du mir hilfst, wirst du von deiner Schuld erlöst. Niemand wird wissen, was du getan hast, es wird keine Spuren geben, also wird dich keiner verdächtigen. Kein Mensch weiß, dass wir uns kennen. Sterbehilfe ist in Deutschland verboten, aber ich schaffe es nicht mehr, irgendwohin zu reisen. Ich werde einen Brief schreiben, dass ich freiwillig aus dem Leben geschieden bin.“

Es klang vernünftig und Alexander spürte so viel Verständnis für den alten Mann, dass er zustimmte. Sie verabredeten sich für zwei Tage vor Silvester. Alexander würde abends kommen, Fred töten und dann wieder verschwinden, sodass Gernot ihn später finden konnte. Zu lange im Bett herumliegen und verwesen wollte Fred nun auch nicht. Sie hätten es genauso gut machen können, wenn Jutta an Neujahr für eine Woche zu ihrer Familie fahren würde, aber der Gedanke daran, dass Fliegen auf ihm herumkrabbelten und in Ohren, Nase und Mund hineinkriechen würden, war Fred unangenehm. Dann lieber schnell gefunden und begraben werden.

Da der alte Mann viel Zeit hatte, konnte er vorher im Internet recherchieren, wie der Tod ihn schnell mitnehmen könnte und auch im Krankenhaus hatte er oft scherzhaft mit den Schwestern darüber geredet. Am Tag seiner Entlassung hatte er das Narkosemittel gestohlen, von dem er gelesen hatte, dass es in Überdosierung rasch zum Tod führen würde.

Alexander hatte Handschuhe getragen, als er die erste Spritze aufzog. Für Sarah hatten er und seine Mutter gelernt zu spritzen, falls einmal ein Notfall auftreten würde. Sie hatten noch geredet, bis Alexander dem Mann die erste Dosis gab. Drei Spritzen später lächelte Fred und war bald eingeschlafen. Nach einer Weile hatte sein Herz aufgehört zu schlagen. Auch Alexander hatte gelächelt, denn nun würde bald ein Gefühl der Befreiung kommen. Aber solange er auch wartete, nichts passierte. Er fühlte sich plötzlich schuldig am Tod seiner Schwester und nun auch noch am Tod von Fred.

Am Nachmittag nach Freds Tod nahm die Mutter Alexander mit ins Krankenhaus, um sich für die Unterstützung zu bedanken und der Einladung des Arztes zu folgen, der noch einmal mit ihnen sprechen wollte. Dörte hatte Alexander am Mittag in den Arm genommen. Sie sah, dass es ihrem Sohn schlecht ging, da würde ihm das Gespräch mit dem Mediziner guttun.

„Mein Beileid, Frau Retzanski“, hatte der Arzt gesagt. „Und Alexander, ich hoffe, Sie machen sich keine Vorwürfe, dass nur Sie im Haus waren. In den Akten Ihres Hausarztes steht, dass Sarah sanft eingeschlafen ist. Doch ich verstehe natürlich, dass es ein schweres Los ist.“

„Ja, Herr Doktor, es tut weh“, erklärte Alexander, „aber sie muss nun nicht mehr leiden. Sie wäre sicher nie wieder gesund geworden. Vielleicht ist es gut so und ihr sind viele Schmerzen erspart geblieben.“

„Dazu muss ich Ihnen noch etwas sagen, bisher war nie die Gelegenheit. Wir haben ja, bevor ich in den Urlaub gefahren bin, noch einige wichtige Tests gemacht. Ich will Ihnen das Ergebnis nicht verschweigen, auch wenn Sarahs Tod dadurch noch bitterer wird. Die Untersuchungen haben eine gute Gehirnaktivität gezeigt. Alle wichtigen Areale hatten sich erholt und ich denke, Sarah wäre in der nächsten Zeit aufgewacht. Und sie wäre wieder ein lebenslustiger Mensch ohne bleibende Schäden geworden. Leider hat die Lungenembolie das verhindert. Es tut mir alles sehr leid.“

Dörte begann zu weinen, aber Alexander war kopfschüttelnd aus dem Krankenhaus gerannt. Seine Mutter hatte ihn dann zitternd und vollkommen abwesend auf einer Bank gefunden. Er konnte nur noch einen Satz denken: Ich habe meine Schwester umgebracht.

Etwas in seinem Kopf zerbrach und er rannte los, hinaus in die Weinberge, wo er im Morgengrauen laut und verzweifelt all seinen Schmerz hinausschrie.

„Du hast gelogen!!! Fred, du hast gelogen, ich bin nicht frei von meiner Schuld! Es geht mir nicht besser.“

Irgendwann war er heimgelaufen, nass und durchgefroren in die Wanne gestiegen und dort wusste er, was zu tun war: Er musste jemanden finden, der ihm Erlösung bringen würde. Jetzt musste er nur noch die düsteren Gedanken aus dem Kopf verbannen. Mit neuem Mut stieg er aus der Wanne und überlegte, wie er den Jahreswechsel hinter sich bringen könnte. Er beschloss, in die Altstadt zu gehen und sich dort mit den Menschen zu unterhalten. Außerdem würde er sich im neuen Jahr eine kleine Wohnung suchen. Alexander wollte nicht mehr bei seinen Eltern wohnen. Sicher würde er auch eine neue Arbeit finden, denn er hatte einen guten Abschluss.

Mutig betrat er das Wohnzimmer seiner Eltern und verkündete beim Silvesterabendessen seinen Entschluss. Klaas wollte aufbrausen, aber Dörte legte eine Hand auf seinen Arm und sah ihn sanft an.

„Lass ihn gehen“, sagte sie, nachdem Alexander das Zimmer verlassen hatte, „er muss auf eigenen Füßen stehen, der Tod von Sarah hat ihn aus der Bahn geworfen. Ein Neuanfang ist sicher richtig. Bitte telefoniere herum und frage, wer Alexander einstellt! Bitte, Schatz, tu es mir zuliebe!“

Klaas hatte genickt und sich dem Wunsch seiner Frau gebeugt. Er dachte, er wäre ihr das schuldig, nachdem sie ihn wortlos wieder in sein altes Leben zurückgelassen hatte.

Alexander war durch die einbrechende Nacht gelaufen und traf viele fröhliche Menschen, die auf dem Weg zum Feiern waren. Er durchstreifte die Altstadt und setzte sich im Restaurant zu einer jungen Frau, die auf seine Frage, ob der Platz frei wäre, nur genickt hatte. Vor ihr waren zahlreiche leere Gläser aufgereiht und sie sah aus, als ob sie geweint hatte.

„Wenn dir das nicht recht ist, suche ich mir einen anderen Platz.“

Nun schaute sie hoch und ihre Blicke trafen sich. Der junge Mann mit den blonden Locken sah freundlich und nett aus, also schüttelte sie den Kopf. Ihre Haltung straffte sich ein wenig und sie strich die langen schwarzen Haare zurück. Ihr Gesicht war hübsch, sie schien Mitte zwanzig zu sein.

Alexander bestellte ein Glas Wein für sich und für die Frau noch einmal dasselbe Getränk, was sie schon den ganzen Abend getrunken hatte. Anscheinend hatte sie Probleme und er nahm sich vor, ihr zu helfen.

„Ich bin Alexander, ich dachte, ich sage dir das, denn wir werden zusammen ins Neue Jahr rutschen.“

Ein winziges Lächeln huschte über das Gesicht der jungen Frau und verschwand gleich wieder.

„Ich bin Birte. Und das nächste Jahr wird genauso beschissen anfangen, wie das hier zu Ende geht.“

„Oh, das klingt ja nicht, als wenn es dir gut geht. Kann ich dir helfen?“

„Nein, mir kann keiner helfen, ich bin eine Mörderin und werde das immer bleiben.“

Die Getränke kamen und Alexander hielt Birte das Glas zum Anstoßen hin. Sie hob ihres an, stieß kurz gegen seines und trank es dann in einem Zug leer.

„Wie kann das denn sein?“, fragte Alexander. „Wenn du eine Mörderin wärst, würdest du im Gefängnis sitzen.“

Birte lachte böse auf und entgegnete: „Der Mord, den ich begangen habe, war vollkommen legal. Ich habe mein ungeborenes Kind getötet.“

Sie winkte nach dem Kellner und orderte ein neues Glas.

„Und jetzt betrinkst du dich, weil du es bereust?“

„Ja, ich bereue es. Jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde muss ich daran denken. Und nur, weil der Wichser mich dazu gebracht hat.“

„Jetzt hast du mir schon fast alles erzählt. Also los, raus mit der ganzen Geschichte.“

„Nein, vergiss es, ich betrinke mich, um nicht daran denken zu müssen. Entschuldige, es geht dich auch einfach nichts an.“

„Alles in Ordnung, ich wollte dich nicht bedrängen. Ich gehe jetzt lieber. Einen guten Rutsch trotzdem.“

Birte winkte ab. Alexander stand auf, bezahlte im Vorbeigehen am Tresen und verließ das Restaurant in Richtung Rheinpromenade, wo sich schon eine Menge Leute zum Feuerwerk versammelt hatten. Er fand einen Platz auf einer Bank und wartete auf Mitternacht.

Als das Feuerwerk begann, schloss er die Augen und lauschte dem dumpfen Grollen der Raketen, die in den Himmel geschossen wurden. Die Lichter dort vermischten sich mit den Sternen, aber Alexander interessierte sich nicht dafür. Er war immer nur fasziniert von den Geräuschen und dem Geruch, der die Luft erfüllte. Ein Betrunkener stieß ihn an und schimpfte, dass er hinsehen sollte, aber Alexander lächelte nur.

„Alles Gute, Alter!“, rief der betrunkene Mann und bot ihm einen Schluck aus der Schnapsflasche an.

Alexander schüttelte den Kopf und machte sich auf den Heimweg. Hinter den Fenstern seines Elternhauses sah er noch Licht, aber er lief nach oben in seine kleine Wohnung und begann zu packen. Er hatte auf dem Dachboden Kartons gefunden. Gegen Morgen war sein halbes Leben gut verstaut und er ging ins Bett.

Am Neujahrsmorgen schlief er lange und stahl sich leise aus dem Haus, um seinen Eltern nicht zu begegnen. Er trödelte durch die Straßen und schaute, ob irgendwo eine Wohnung frei war. Wenn keine Gardinen dran sind, ist es meistens leer, dachte er. Vor einem Mehrfamilienhaus am anderen Ende der Stadt blieb er stehen und schaute an der Fassade des Hauses hoch. Die Wohnung mit der Gaube schien bewohnt, denn da war das Fenster angekippt, aber darunter waren die Fenster geschlossen und weil weder Gardinen noch Grünpflanzen zu sehen waren, könnte er Glück haben.

Als sich die Tür öffnete und ein junger Mann eine volle Mülltüte hinaustrug, ging er auf ihn zu.

„Entschuldigung, ich wünsche Ihnen ein gesundes Neues Jahr. Darf ich Sie etwas fragen?“

Der Mann, dem das Licht wehzutun schien, hob den Kopf und sah sein gegenüber mit einem Auge an. Seine blonden Haare standen in alle Richtungen und unter dem T-Shirt zeichneten sich straffe Muskeln ab.

„Was? Sorry, ich bin noch nicht wach.“

Alexander lachte und nickte verständnisvoll. Nun wünschte ihm der Mann auch ein gesundes Neues Jahr und fragte, was er wolle.

„Ich werde dieses Jahr ganz neu anfangen. Dafür suche ich eine Wohnung. Ich habe gesehen, dass da oben keine Gardinen sind und da dachte ich mir …“

„Ja, neu anfangen ist gut. Die Wohnung unter meiner ist frei, aber die ist winzig.“

„Das macht nichts, ich bin alleine.“

„Komm doch einfach mit hoch, ich brauche dringend einen Kaffee und dann können wir reden. Ich gebe dir die Adresse des Vermieters.“

Alexander folgte dem Mann ins Haus und betrat die kleine Wohnung unter dem Dach, in der es nach kaltem Rauch und Alkohol roch. Der Mann entschuldigte sich für die Unordnung und warf den wilden Stapel T-Shirts, der auf dem Sessel gelegen hatte, auf den Boden. Er forderte seinen Besucher auf sich zu setzen und schaltete die neue moderne Kaffeemaschine an.

„Ich bin Benedikt, wer bist du?“

„Alexander. Danke für den Kaffee.“

„Warum willst du neu anfangen? Liebe? Geldsorgen?“