Nicht willkommen in der Stadt - Ute Dombrowski - E-Book

Nicht willkommen in der Stadt E-Book

Ute Dombrowski

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Beschreibung

Johannes Krieberg kehrt nach fünfzehn Jahren in seine Heimatstadt zurück. Die Barnsberger hassen ihn immer noch und als ein Mord geschieht, steht er sofort als Verdächtiger im Mittelpunkt. Es sterben weitere Menschen und alle fragen sich, ob die Morde mit einem Fall vor fünfzehn Jahren zusammenhängen. Wird die Polizei Johannes als Mörder entlarven? Marie, die damalige Freundin des Opfers, ist hin und her gerissen. Soll sie Johannes glauben? Oder ist sie vielleicht das nächste Opfer?

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Ute Dombrowski

Nicht willkommen in der Stadt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Nicht

willkommen

in der Stadt

Ute Dombrowski

1. Auflage 2022

Copyright © 2022 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski mit www.canva.com

Lektorat/Korrektorat: Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Als sich ihre Blicke trafen, sah sie für einen Moment ein Zögern aufblitzen, doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war, um einem winzigen Lächeln Platz zu machen. Dann drehte er sich wieder um und lief mit gemächlichen Schritten die Regalreihe entlang. Er nahm ein Päckchen Kaffee heraus und legte es in den Einkaufswagen.

Sie ging nicht hinterher, sondern bog in den nächsten Gang ab, denn ein undefinierbares Kribbeln hatte von ihr Besitz ergriffen. Konnte es wirklich sein, dass er zurückgekommen war? Der Mann, der vor fünfzehn Jahren ihre beste Freundin getötet hatte, der Mann, der seitdem auf freiem Fuß war, weil er mit seinem Charme alle von seiner Unschuld überzeugt hatte. Der Fall war zu den Akten gelegt worden, doch sie hatte es immer gewusst: Johannes Krieberg war der Teufel.

Marie Jourante wusste das so genau, weil sie Johannes und Juliana beobachtet hatte, als sie sich zu einem heimlichen Stelldichein trafen. Sie war ihnen gefolgt, enttäuscht über das mangelnde Vertrauen ihrer besten Freundin. Juliana Taubering und sie hatten sich immer alles anvertraut, aber dieses Mal stand ein gefährliches Geheimnis zwischen ihnen. Hätte ihr Juliana von dem Mann erzählt, mit dem sie sich heimlich traf, könnte sie vielleicht heute noch leben.

An dem Abend war sie den beiden zu einer kleinen Hütte am See gefolgt. Sie hatte Julianas silberhelles Lachen gehört und wusste in diesem Moment, dass sie den Mann damit verzaubert hatte. Marie tat das Herz weh, weil Juliana sie nicht eingeweiht hatte.

Johannes war um einige Jahre älter, aber er sah gut aus und besaß etwas Magisches, das alle Frauen des Ortes dazu brachte, ihm hinterherzuschauen. Selbst Marie hatte eine Zeit lang an seiner Schuld gezweifelt, sodass sie Julianas und sein Geheimnis für sich behalten hatte. Es kämpften zwei Gefühle in ihrer Brust: Zum einen war Juliana ihre Freundin und sie wollte sie nicht verraten, zum anderen hatte sie Angst, in die Sache mit hineingezogen zu werden, denn ihre Eltern waren streng und unnachgiebig und wussten sehr wenig über ihre Tochter.

Marie, klein, blass, kurzhaarig und voller Hass auf ihren plumpen Körper, wegen dem sie immer im Schatten der hübschen Freundin stand, hatte viel Spaß mit Juliana gehabt: Angefangen hatte es bei endlosen Nächten mit Mädchengesprächen, über wilde Partys mit Älteren, nachdem sie aus dem Fenster geklettert war, bis hin zu Sex, Alkohol und auch mal ein paar Pillen. Ihre Eltern wussten von alldem nichts, sie liebten die freundliche, fleißige und kluge Tochter, die in ihren Augen so anders war als die üblichen Jugendlichen. Sie tolerierten Juliana, weil sie hofften, der gute Einfluss von Marie würde dem etwas zu freizügigen Mädchen helfen, den rechten Weg einzuschlagen.

Als Juliana tot war, ermordet, nahmen ihre Eltern Marie in den Arm, nicht, um sie zu trösten, sondern davon zu überzeugen, dass Juliana nicht gut für sie gewesen war. Sie hatten aufgeatmet, dass sie, Marie, an diesem Abend brav zuhause gesessen hatte. Darum hatte Marie bei der Polizei geweint und geschwiegen. Sie konnte nicht erzählen, dass sie sich wieder einmal aus dem Elternhaus geschlichen hatte, um Juliana hinterher zu spionieren.

Marie hatte schon länger eine Ahnung, dass sich Juliana mit jemandem traf. Die Freundin hatte kaum noch Zeit gehabt und war ein paar Mal zum Telefonieren aus dem Raum gegangen. Marie war enttäuscht, aber auch neugierig. Und dann hatte sie die beiden gesehen: Johannes hatte Juliana leidenschaftlich geküsst und die Hand der Freundin lachend in seine Jeans geschoben.

Marie hatte vor Aufregung gezittert und war dem verliebten Pärchen nachgeschlichen bis an den See, wo es in der Hütte verschwunden war. Irgendwann hatte sie nichts mehr gehört und war nach Hause gerannt, wo sie sich auf das Bett geworfen und geweint hatte. Sie hatte sich damals einsam und verraten gefühlt.

Am nächsten Morgen war Juliana tot.

Und nun, nach all den Jahren, hatte sie Johannes im Supermarkt wiedergesehen. Er war an den Ort des Verbrechens zurückgekehrt. Johannes sah noch immer fantastisch aus und seine Aura zog die Menschen in ihren Bann. Ehefrauen schielten heimlich zu ihm hinüber, junge Mädchen steckten die Köpfe zusammen und kicherten, wenn er ihnen ein Lächeln schenkte. Er hatte Marie nicht erkannt, weil sie sich in eine hübsche zweiunddreißigjährige Frau verwandelt hatte, aus einem hässlichen Entlein war ein schöner Schwan geworden. Johannes besaß immer noch eine besondere Wirkung und hätte jedes Mädchen, jede Frau haben können, aber er hatte sich damals ausgerechnet für Juliana entschieden, die wildeste von allen. Und dann hatte er sie getötet!

Marie wusste nicht, was passiert war, warum Johannes Juliana ermordet hatte. Der Besitzer der Hütte hatte sie gefunden, als er im Morgengrauen zum Angeln gehen wollte. Der Mörder hatte die Siebzehnjährige erwürgt und dann an dem freien Balken in der Mitte der Hütte aufgehängt, um einen Selbstmord vorzutäuschen. Er hatte alle Spuren beseitigt und somit gab es nichts, was der Polizei half, den Schuldigen dingfest zu machen. Johannes wurde wie alle anderen Männer des Ortes verhört, doch niemand konnte eine Verbindung zwischen ihm und Juliana herstellen, auch wenn ein Großteil der Bevölkerung ihn gerne hinter Gittern gesehen hätte. Weil die Polizei drei Monate im Dunkeln tappte, wurde der Fall als Selbstmord zu den Akten gelegt. Julianas Mutter zog weg und die Leute vergaßen das Mädchen. Andere Dinge wurden interessanter, nur Marie fühlte sich elend. Johannes verließ nach einem Jahr ebenfalls den Ort. Marie machte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Bibliothekarin und wollte auch weggehen, aber ihre Eltern überredeten sie zu bleiben. So arbeitete sie nun in der städtischen Bücherei und samstags manchmal im Supermarkt, weil sie sich sonst die Wohnung nicht leisten könnte. Sie war gerade von ihrem Freund verlassen worden und saß abends vor ihrem Fernseher und blies Trübsal.

2

Es regnete, als er aus dem Supermarkt trat, und er streckte sein Gesicht den Tropfen entgegen. Ein Gewitter türmte am Horizont Berge von düsteren Wolken auf, als wären sie Zuckerwatte aus der Hölle. Wie hatte er diesen Sommerregen vermisst! Dort, wo er gewesen war, um die unschönen Ereignisse zu vergessen, hatte es nur selten geregnet, und wenn, dann war es eher ein unangenehmer Nieselregen gewesen, mit grauem, nichtssagendem Himmel, der einen depressiv machte.

Vor vier Wochen hatte er beschlossen, in seine Heimat zurückzukehren. Dort hatte er sich immer wohlgefühlt. Er hatte sich in den Blicken der Frauen gesonnt, den Hass der Männer ausgehalten. Dann war ihm ausgerechnet in der Bibliothek, wo er einige Regale repariert hatte, Juliana begegnet. Sie war noch keine Frau, aber auch kein Mädchen mehr. Er hatte den Blick nicht abwenden können, denn sie war reizend und zauberhaft und anziehend und … er hätte noch viele andere Eigenschaften nennen können, die ihn fasziniert hatten.

Wenn er heute die Augen schloss, sah er sie vor sich, wie sie den Stapel Bücher auf den Tresen, wo er eben seinen Kaffeebecher abgestellt hatte, krachen ließ und schnaufte, während sie nach der Bibliothekarin Ausschau hielt.

„Was guckst du so?“, hatte sie gefragt. „Die brauche ich für die Schule.“

Er hatte genickt, ihr sein schönstes Lächeln geschenkt und sie war ihm direkt verfallen. Sie hatte das Shirt ein wenig nach unten gezogen, damit er den Ansatz ihrer Brüste sehen konnte und ihn herausfordernd angeschaut.

„Willst du meinen Ausweis sehen?“

Er hatte genickt, woraufhin sie aus der Gesäßtasche der hautengen Jeans ihren Bibliotheks-Ausweis herausgeholt und auf den Tresen geklatscht hatte. Es war ihr egal, dass die Bibliothekarin, die alte Bernarda, noch immer nicht zu sehen war.

„Juliana – ein schöner Name. Du bist hübsch.“

Sie strich die kastanienbraunen Haare zurück und errötete, denn dieser Mann sendete Signale, die ihr Gänsehaut bereiteten. Sie war noch dreimal in der Bibliothek gewesen, bis er sie zu einem Kaffee eingeladen hatte.

Er packte die Lebensmittel in den Kofferraum, brachte den Einkaufswagen zurück und sah eine ältere Frau auf sich zusteuern. Es blieb keine Möglichkeit zum Ausweichen, also ging er weiter, gleichzeitig grübelte er, wie die Frau hieß. Sie kam ihm bekannt vor, aber nach so vielen Jahren sahen die Menschen hier anders aus.

„Dass du dich hier wieder her traust, Johannes!“

Jetzt fiel es ihm ein: Die Frau mit dem weißen Haar, dem harten Gesicht und in dem dunkelblauen Hosenanzug war Geli Martek, die Mutter seines alten Freundes Gustav, der ihm ein blaues Auge geschlagen hatte, als er ihm verkündet hatte, von hier fortzugehen.

„Warum das denn? Du lässt mich hängen?“, waren Gustavs Worte gewesen, dann war es dunkel geworden.

Als er wieder zu sich gekommen war, lag er einsam und verlassen auf dem Fußboden seines Wohnzimmers. Seitdem war ihm Gustav aus dem Weg gegangen.

„Dass du dich wieder her traust“, wiederholte Geli und knuffte ihn gegen die Brust.

Er streckte sich, aber sie war trotzdem fast so groß wie er. Er hatte die Frau nie gemocht, denn ihr fehlte etwas Entscheidendes, was seiner Meinung nach jede Mutter haben sollte: Wärme.

„Guten Tag, Geli. Wie geht es dir? Was macht Gustav?“

„Es geht mir gut und Gustav auch. Du hast ihn jämmerlich hängen lassen, aber er hat es auch ohne dich geschafft. Was willst du hier?“

„Ich hatte Sehnsucht nach meiner Heimat und werde eine Galerie und eine Werkstatt eröffnen.“

„Eine Galerie? In diesem Kaff? Wer soll da kommen?“

Ihr geringschätzig heruntergezogener Mundwinkel irritierte ihn, obwohl er wusste, wie sie war. Er hatte schon immer großes Talent gehabt im Umgang mit Holz, mehr Talent als Gustav, aber als Jugendliche hatten sie den Traum von einem gemeinsamen Unternehmen gehabt, das aus Holz Möbel und andere Schmuckstücke schuf - aus besonderem Holz besondere Stücke. Manchmal waren sie tagelang durch den Wald gestromert und hatten Holz gesammelt. Sie interessierten sich nicht für die glatten Bretter aus dem Sägewerk, nein, sie wollten aus dem gefundenen Holz schöne Dinge herstellen.

„Er hat also unseren Plan allein umgesetzt?“

„Nein, das hat er nicht. Als du weg warst, hat er eine ganze Weile gebraucht, um wieder klarzukommen, aber jetzt leitet er das größte Möbelgeschäft am Platz. Er hat nie wieder etwas selbst gebaut. Du schon, oder?“

Johannes nickte.

„Naja, lass dich mal bei Gustav blicken. Hier ist seine Adresse.“

Sie legte ihm eine Visitenkarte in die Hand und ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei.

Er stieg in sein Auto und sah auf die Karte. Alles an ihr war spießig und billig. Sicher war dieses Möbelgeschäft eine Art Ramschladen. Und ebenso sicher würde er Gustav in einem grauen Polyesteranzug antreffen, mit Halbglatze und Schnauzbart. So hatte er ihn sich in den letzten Jahren immer vorgestellt.

Johannes startete den Motor und fuhr in die Pension, in die er sich für einen Monat eingemietet hatte. Von dort aus wollte er nach einer Wohnung suchen und wieder sesshaft werden. Er hatte die Werkstatt vom alten Willi gekauft, die etwas außerhalb lag, und die Maklerin wollte sich nach einem kleinen Laden umsehen, in dem er seine besonderen Holzarbeiten ausstellen konnte. Das waren hauptsächlich Kleinteile wie Schmuck, Füllfederhalter und Dekoartikel. Er hatte seinen Traum nämlich konsequent weiterverfolgt und war ein Meister geworden. Er wusste, der Neustart würde nicht leicht werden, aber er wollte es schaffen. Dann würde er sich auch wieder nach einer Frau umsehen, die er lieben konnte. In all den Jahren, in denen er fort war und gearbeitet hatte, war ihm keine gut genug gewesen. So war er allein geblieben und hatte versucht, die schmerzlichen Gedanken an Juliana aus dem Kopf zu verbannen.

3

Mascha Berndeck klingelte Sturm und drückte sofort die Wohnungstür auf, als Marie öffnete. Es war wieder einmal Samstagabend und Mascha würde versuchen, die Freundin vom Sofa zu locken.

Die blauäugige Schönheit mit den wirren blonden Locken umarmte Marie und stürmte voran ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch fallen ließ.

„Du hast dich ja noch gar nicht umgezogen!“

„Ach Mascha, ich komme nicht mit. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet und meine Füße tun weh. Ich will nur noch ein Glas Wein und ein bisschen fernsehen. Geht doch ohne mich.“

„Wir gehen immer ohne dich. Das macht keinen Spaß. Du musst den Kerl hinter dir lassen und neu starten. Es gibt noch eine Menge netter junger Männer, da wird auch einer für dich dabei sein. Einer, der zu dir passt.“

„Ich weiß, du meinst es gut.“

Sie sank neben Mascha auf die Couch und sah die Freundin ernst an.

„Aber ich bin noch nicht so weit.“

Mascha nahm Maries Hand und streichelte sie sanft. Dann nickte sie.

„Ich komme trotzdem jeden Samstag her und tue mein Bestes. Ich soll dich lieb von Katharina grüßen. Sie kommt heute auch nicht, weil ihr Kleiner krank ist. Gibt es sonst Neuigkeiten?“

Es klang beiläufig, aber das war genau der richtige Moment für Marie, um mit der Sensation herauszuplatzen. Mascha hatte sich nach Julianas Tod sehr liebevoll um sie gekümmert. Sie waren in eine Klasse gegangen und der sogenannte harte Kern, der nicht weggezogen war, traf sich immer noch regelmäßig.

Mascha war Krankenschwester und hatte sich vor fünf Jahren in einen Patienten verliebt. Kai Wukart hatte hier in Barnsberg ein Auto ausgeliefert und war danach verunglückt. Sein Leben hatte am seidenen Faden gehangen, doch Mascha hatte ihn hingebungsvoll gepflegt. Kurze Zeit später war er hierher gezogen und hatte ein Autohaus in der Stadt mit den fünftausend Einwohnern eröffnet. Marie mochte ihn gern, denn er war ein guter Mensch.

Katharina Plützker gehörte ebenfalls zu ihrem engen Freundeskreis. Die schwarzhaarige Frau mit den dunkelgrauen Augen hatte immer große Träume gehabt und wollte Sängerin werden, doch irgendwie war sie nie hier weggekommen. So arbeitete sie als Verkäuferin in der Bäckerei. Sie war als Sängerin auf Familienfeiern aufgetreten, aber das war für sie alles andere als befriedigend gewesen. Nach der Scheidung hatte sie sich gegen die Musik entschieden, denn ihre tägliche Nörgelei, dass sie hier versauern musste, hatte ihren Mann vertrieben. Sie hatte einen Sohn, den sie seitdem sehr verwöhnte. Die Freunde wollten damals verhindern, dass sie die Musik aufgab, aber als Katharina sogar ihr Klavier verkaufte, wussten sie, dass sie die Freundin nie wieder singen hören würden.

Auch Katharina war nach Julianas Tod eine treue Verbündete gewesen.

„Johannes Krieberg ist wieder da.“

Maschas Augen weiteten sich. Sie glaubte sich verhört zu haben und fragte noch einmal nach.

„Johannes Krieberg ist wieder da.“

Nein, Mascha hatte sich nicht verhört.

„Das kann doch nicht wahr sein! Stand der damals nicht unter Mordverdacht? Wie kann er es wagen, hierher zurückzukommen?“

Marie hatte niemals irgendjemandem ihr Geheimnis offenbart, aber es brannte heute umso mehr auf ihrer Seele. Trotzdem nickte sie nur.

„Ich finde es auch merkwürdig.“

„Merkwürdig?“

Mascha sprang auf.

„Das ist eine Frechheit und nicht merkwürdig. Jetzt gibt es nur wieder Unruhe und Stress.“

„Wieso das denn?“

Mascha setzte sich mit sorgenvollem Gesicht. Sie knabberte auf der Unterlippe herum und schien nachdenklich.

„Ich habe das noch niemandem gesagt. Meine große Schwester war damals zwanzig und hatte sich gerade mit Martin verlobt. Und dann … dann hat sie ihn mit Johannes betrogen. Ich habe sie erwischt. Bei uns zuhause im Weinkeller. Der Typ hat sich ja immer an junge Mädchen rangemacht.“

Marie lauschte und hatte ein flaues Gefühl im Bauch. Mascha sprang erneut auf und boxte in die Luft.

„Mit Sicherheit hat der Juliana umgebracht, weil sie ihn nicht rangelassen hat! Aber dem werden wir die Hölle heißmachen! Der wird dafür büßen! Und er ist schuld daran, dass ich mich mit meiner Schwester zerstritten habe. Ich habe geschwiegen, aber es hat mich all die Jahre sehr belastet. Wie gut, dass sie weggezogen sind.“

„Weiß Martin noch immer nichts davon?“

„Nein, natürlich nicht. Er hätte meine Schwester niemals geheiratet. Ich trage dieses verdammte Geheimnis seit Jahren mit mir herum!“

„Wir sollten ihn einfach nicht beachten.“

Sie schwiegen eine Weile.

„Sieht er immer noch so gut aus?“

Marie nickte.

„Hat er dich erkannt?“

Marie schüttelte den Kopf. Nein, Johannes würde sich niemals an sie erinnern, denn damals war sie un­sichtbar, ein Anhängsel von Juliana. Die Freundin hatte eine aufregende Ausstrahlung, sah perfekt aus und neben ihr verblasste jeder Teenager. Ihre Lebendigkeit und manchmal auch Unberechenbarkeit wurde durch Maries Ruhe und ihre Strukturiertheit ausgeglichen. Wenn einige Freunde sie auch als Julianas Schoßhündchen belächelt hatten, die beiden hatten gewusst, dass sie zueinander gehörten wie Schraube und Mutter.

„Du musst mitkommen! Ich kann das doch nicht alles selbst erzählen!“

Die Freunde trafen sich in einem kleinen Restaurant am Rande der Kleinstadt. Hier gab es eine Kegelbahn im Keller und dort saßen sie samstags und hatten Spaß: Mascha und ihr Freund Kai, Katharina, Lennard und seine Frau Rike, Heidi und ihr Freund Paul und dann Hanna mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Vincent, der nach einem Schlaganfall im Rollstuhl saß. Er war, wie Hanna immer sagte, ein wenig zurückgeblieben, und man konnte ihn nicht aus den Augen lassen.

Marie mochte den netten Mann, der immer lächelte und nur wenig sprach.

„Na gut, aber nur eine Stunde. Ich bin wirklich erledigt.“

Marie stand auf, lief ins Schlafzimmer und kam in Jeans und Sweatshirt wieder heraus. Sie schlüpfte in die weißen Sportschuhe und folgte der immer noch aufgeregt schimpfenden Mascha zu ihren Freunden.

Hier wurde sie freundlich empfangen. Alle waren froh, dass Marie anscheinend ihre Trauer über die Trennung von ihrem Freund überwunden hatte. Mascha stellte ihr eine Flasche Bier hin und trat sie unter dem Tisch gegen das Schienbein.

„Marie hat eine sensationelle Neuigkeit!“

4

Johannes hatte seine Einkäufe verstaut und es sich dann gemütlich gemacht. Am Samstagnachmittag war er voller Tatendrang hinaus zur Werkstatt gefahren. Es war ein riesiges Anwesen und hier konnte er arbeiten und endlos viel Holz lagern. Der schwere Schlüssel in der Hand fühlte sich gut an, nach Kindheit und Abenteuer. Er schob das Tor so weit auf, dass er hindurchfahren konnte, dann schloss er die beiden breiten Flügel wieder. Niemand sollte ihn bei der Erkundung des Grundstückes überraschen, stören oder ablenken.

Johannes steckte den Schlüssel ins Schloss und hörte das Knirschen und Knarren der Haustür, als ihn wieder eine dieser Erinnerungen ereilte, die er all die Jahre erfolgreich verdrängt hatte.

Damals war er mit Juliana in der kleinen Hütte am See gewesen. Die Tür stand immer offen, so hoffte der Besitzer, dass nichts zerstört werden würde, wenn jemanden die Neugier packte oder ein einsamer Wanderer vor einem Gewitter Unterschlupf suchte.

Er hatte gierig nach ihr gegriffen, ihre Küsse aufgesaugt und dann mit ihr geschlafen. Es gab ein altes, schweres Eichenbett mit ein paar Decken, mehr hatten sie nicht gebraucht. Als er sie danach in seinen Armen hielt, waren ihnen die Augen zugefallen, doch Johannes war hochgeschreckt, als er draußen Geräusche wahrnahm.

Er schlich sich hinaus, während Juliana ruhig atmete und hörte ein Knacken und Rascheln, als würde sich jemand den Weg durch die Büsche bahnen. Dann war es still gewesen.

Und in jenem Moment machte Johannes den schlimmsten Fehler seines Lebens. Er lief weg. Diese Entscheidung, die er aus Feigheit getroffen hatte, schien ihm in diesem Augenblick das Richtige, doch es hatte Juliana das Leben gekostet, denn er hatte sie zurückgelassen.

Natürlich konnte er der Polizei, die ihn wegen seiner Frauengeschichten eine Weile verdächtigt hatte, nichts sagen, denn sonst wäre ihre heimliche Affäre aufgeflogen, das war damals für ihn undenkbar gewesen. Außerdem hätte es ihn umso mehr zu einem Verdächtigen gemacht.

Im Laufe der Jahre war in ihm das Verständnis gereift, dass er einen Großteil der Schuld an Julianas Tod hatte. So wuchs sein schlechtes Gewissen mit jedem Tag zu einem riesigen Teufel heran, der nachts auf seiner Brust saß und ihm den Atem nahm.

Die Polizei hatte viele Männer befragt, aber irgendwann hatten sie die Ermittlungen eingestellt. Johannes hatte sich nie gefragt warum, denn er konnte nicht mehr klar denken. So hatte er entschieden, die Stadt und sogar das Land zu verlassen.

Nach ein paar Jahren konnte er wieder schlafen, er verdrängte das, was geschehen war, aber vor einiger Zeit war er unerwartet aus einem Alptraum hochgeschreckt, in welchem er über die Leiche von Juliana gebeugt war und Käfer über ihren Körper liefen.

Und dann war ihm der Gedanke gekommen, dass er vor der Erinnerung nicht weglaufen konnte, sondern sich den Dingen stellen musste. Vielleicht gab es am Ort des Geschehens eine Möglichkeit herauszufinden, wer Juliana getötet hatte. Er konnte sich noch gut an das Getratsche der Leute erinnern, die mit Fingern auf ihn gezeigt hatten, um ihn als Mörder dastehen zu lassen.

Jetzt trat er in den dunklen Flur, von dem eine Tür in die geräumige Werkstatt und eine weitere in eine große Lagerhalle führte. Es roch muffig, aber wenn er mit der Arbeit begann, würde der Duft des Holzes den Mief der Vergangenheit verdrängen. Johannes freute sich immer noch, weil er vom alten Willi mit offenen Armen empfangen worden war. Mit einem milden Lächeln hatte der alte Mann seinen Plänen gelauscht und am Ende genickt. Sie hatten sich auf einen guten Preis geeinigt und vorgestern war alles besiegelt worden.

Johannes ging in die Werkstatt und öffnete zuerst alle Fenster, dann lief er hinüber in die Lagerhalle und schob die beiden großen Schiebetore auf. Frische Luft strömte hinein, woraufhin Staub vergangener Jahre aufflog und im Licht tanzte. Sonne durchflutete die fast leere Halle. Im Hintergrund lagen noch zwei Stapel Bretter, von Spinnweben und Staub überzogen.

Zurück in der Werkstatt zog Johannes die vergilbten Leinentücher von den alten Maschinen, die in einem unfassbar guten Zustand waren. Willi hatte gesagt, er habe sie zweimal im Jahr laufen lassen, damit er kleinere Fehler sofort beheben konnte.

„Siehst du, Junge“, hatte er gestern gesagt, „diese Werkstatt hat auf einen wie dich gewartet. Mach das Beste draus!“

Ja, das wollte Johannes, und so hatte er die Hand des alten Mannes mit einem Gefühl der Zuversicht geschüttelt. Dieses gute Gefühl pochte immer noch in seiner Brust. Er strich über das kühle Metall des blitzblanken Sägeblattes, ging dann hinüber zur Werkbank, über der Werkzeuge wohl geordnet hingen. Auch darüber hatte Willi ein Tuch gehängt, damit nichts staubig wurde. Am Montag würde jemand von den Stadtwerken kommen, Strom und Gas wieder in Gang bringen und dann konnte es losgehen.

„Mein neues Leben“, murmelte Johannes.

Er verließ das Haus und stand nun breitbeinig auf dem großen Hof. Dann sah er am Zaun einen großen Quader, abgedeckt mit einer Plane. Er nahm die Hände aus den Taschen und lief hinüber. Ein freudiger Blitz durchzuckte ihn, als er unter der grün angelaufenen Plane einen Wohnwagen entdeckte.

Er nahm sein Handy und rief Willi an.

„Sagen Sie mal, ich habe den Wohnwagen gesehen. Soll ich Ihnen den irgendwo hinbringen?“

„Nein, nein, Junge, Sie haben das Grundstück gekauft mit allem, was sich darauf befindet. Der Wohnwagen hat mir und meiner Frau Freude bereitet, aber leider hatte sie nicht mehr viel davon. Sie ist tot und mein Sohn hasst Camping. Verkaufen Sie ihn doch, dann haben Sie noch ein bisschen Startkapital. Der Schlüssel ist an dem großen Schlüsselbund, der bei den Papieren war.“

Johannes wusste nicht, was er sagen sollte und stotterte ein paar Worte der Dankbarkeit. Dann legte Willi einfach auf.

„Was für ein guter Mann.“

Er legte die Plane zusammen und lief ins Haus, um den Schlüssel zu holen. In ihm war eine Idee aufgetaucht. Vielleicht konnte er in dem geräumigen Wohnwagen leben? Somit wäre er unabhängig und musste nicht ständig in die Stadt. Er hatte bemerkt, dass ihn mehrere Leute erkannt hatten. Sofort hatten sie die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten.

Er fand den Schlüssel, öffnete den Wohnwagen und trat ein. Wie auch die Werkstatt war alles sauber und ordentlich. In den Schränken fand er Geschirr, Besteck und Töpfe. In der kleinen Küchenecke gab es einen Gasherd, darunter zwei leere Gasflaschen, die nicht angeschlossen waren. Den Kühlschrank hatte Willi abgetaut und einen Spalt offengelassen. Alles roch unauffällig und wirkte noch relativ neu. Es gab eine kleine Kabine mit Toilette und Dusche, doch er wusste, dass sich ein Bad hinter der Werkstatt befand. Willi hatte ihm erzählt, dass seine Frau sich immer gefreut hatte, wenn er frisch geduscht von der Arbeit nach Hause kam.

Johannes setzte sich an den Tisch in der kleinen Sitzecke und schaute aus dem Fenster. Es war still draußen, nur ein paar Vögel zwitscherten und eine Biene summte an der Tür des Wohnwagens. Ja, er würde am Montag hier einziehen. So konnte er das Geld für die Pension sparen, er war dann direkt dort, wo er arbeiten wollte, hier konnte er den Kontakt mit der Vergangenheit so dosieren, wie er ihn aushielt.

Auf seinem Handy sah er, dass es kaum Empfang gab, da musste dringend etwas geschehen. Er brauchte eine solide Telefonverbindung und einen guten Internetzugang. Wenn der Mann von den Stadt­werken weg war, würde er sich sofort darum kümmern. Vielleicht konnte ihm Gustav einen Tipp geben. Johannes ahnte, dass seine Rückkehr nach dem Zusammentreffen mit Geli bereits in aller Munde war, also musste er seinen alten Freund zügig aufsuchen. Außerdem brauchte er jemanden, dem er von seinen Plänen erzählen konnte. Und dazu musste er offenbaren, was damals geschehen war.

Falls Gustav in Ordnung war, würde er ihn einweihen und um Hilfe bitten. Aber auch ohne dessen Hilfe würde er den damaligen Mordfall aufklären.

5

Es war ein interessanter Abend gewesen und am Ende hatte sich Marie gut gefühlt, die Aufregung mit ihren Freunden zu teilen. Alle hatten Mascha zugestimmt, dass das Auftauchen von Johannes Krieberg in der kleinen Stadt Barnsberg eine Frechheit war.

„Wenn das mal gut geht“, hatte Lennard Pockmann gesagt.

Er erinnerte sich nicht gerne an die Ereignisse von damals, denn er war lange Zeit unglücklich in Juliana verliebt gewesen. Er war ein schmaler Junge, trug eine uncoole Brille und wurde ständig von den Jungs geärgert wegen seiner unerfüllten Liebe, die er leider offen gezeigt hatte. Juliana hatte ihm vor versammelter Mannschaft auf die Nase geboxt, um ihm ihre Ablehnung begreiflich zu machen. Nach ihrem Tod war er zusammengebrochen.

Als er von der Polizei vorgeladen wurde, weil er verdächtig war, sie aus Eifersucht ermordet zu haben, rastete er aus. Nach einem Jahr in der Psychiatrie tauchte er wieder auf, völlig verändert und plötzlich selbstbewusst und sportlich. Seit acht Jahren war er mit Rike verheiratet und lebte seit vier Jahren mit seiner Frau und den drei Kindern in einem riesigen Architektenhaus.

Er hatte Rike bei einer Hausbesichtigung kennengelernt und sie war sofort Feuer und Flamme für den smarten Immobilienmakler gewesen. Sein Sohn Sören, auf den er unendlich stolz war, war sieben, die Zwillinge Hauke und Stine fünf.

Für Johannes hatte er nur Verachtung übrig, hatte der doch seine große Schwester und ihren Freund auseinandergebracht, wollte danach aber keine Beziehung mit Vanessa, was großen Unfrieden in der Familie ausgelöst hatte. Vanessa war nach Amerika ausgewandert und meldete sich nur sporadisch, was Lennard sehr leidtat.

„Der Typ muss schön aufpassen, dass er die Füße stillhält, sonst mache ich ihm die Hölle heiß.“

Seine Frau Rike hatte ihn von der Seite angesehen und den Kopf geschüttelt, denn so kannte sie den sanftmütigen Ehemann und Vater gar nicht. Er hatte gestern Abend versprochen, ihr die ganze Geschichte in Ruhe zu erzählen.

Marie lag wach im Bett und hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt. In der Nacht war sie ein paarmal hochgeschreckt, weil sie Bilder von damals im Kopf gehabt hatte. Jetzt bei Licht sah die Welt schon wieder besser aus. Vielleicht war Johannes Krieberg nur auf der Durchreise, dann würde sich die Aufregung bald legen.

Er musste jetzt Mitte vierzig sein, womöglich wollte er nur das Grab seiner Mutter besuchen. Die Frau hatte immer nur Ärger mit ihrem halbwüchsigen Sohn gehabt und nach der Pubertät war es nicht besser geworden, im Gegenteil. Fast jedes Wochenende hatte Johannes die Herzen der jungen Damen gebrochen, wobei es ihm egal war, ob sie verheiratet oder ledig waren. Es konnte ihm einfach keine widerstehen. Aber er wollte niemals eine feste Beziehung eingehen.

Alle hatten aufgeatmet, als er aus Barnsberg weggezogen war.

Jetzt klingelte Maries Handy und sie musste aufstehen, denn es lag auf dem Schränkchen im Flur. Es war ihre Mutter, die wie jeden Sonntagmorgen anrief, um sie zum Essen einzuladen.

„Guten Morgen Mama, wie geht es dir?“

Diese Standardfrage erwartete ihre Mutter, denn sie war der Auftakt zur umfassenden Beschreibung aller Zipperlein, die einen im Alter erwarteten. Die Worte rauschten an Marie vorbei, denn es war dasselbe wie jeden Sonntag. Dann aber zuckte Marie zusammen.

„Weißt du, wer wieder in der Stadt ist?“

„Nein“, sagte Marie und dachte, es wäre besser, sich dumm zu stellen.

„Johannes Krieberg!“

Die Stimme der Mutter war schrill und voller Abscheu.

„Ach ja. Was will der denn hier?“

„Keine Ahnung, sicher Ärger machen.“

„Das ist alles so lange her …“

„Glaube mir, Kind, niemand hat vergessen, was er getan hat. Er ist hier nicht willkommen und das wird er schon bald genug merken. Ich habe mit Geli telefoniert, die mich ganz aufgeregt angerufen hat.“

Geli, Gustavs Mutter, war seit ein paar Jahren die Yoga-Freundin von Maries Mutter. Die beiden wussten immer alles ganz genau. Da hatten sich zwei gefunden, die neugieriger waren als alle Detektive der Welt.

„Heute gibt es nur einen Eintopf, aber ich möchte dich trotzdem zum Essen einladen. Sei doch um zwölf bei uns. Du weißt, Papa möchte pünktlich essen.“

„Ja, Mama, ich werde wie immer pünktlich sein. Soll ich etwas mitbringen? Ich könnte ein Dessert machen.“

„Ach Kind, du verdienst doch nicht so viel, gib dein Geld nicht für unnützes Zeug aus. Ich habe noch ein Glas Apfelmus.“

Marie schluckte. Es ging ihr gut, natürlich hatte sie nicht so viel Geld, aber sie war bescheiden und zufrieden. Der Zusatzjob samstags im Supermarkt brachte genug ein, dass sie sich auch mal etwas gö­nnen konnte. Ihre Mutter tat immer so, als würde sie am Hungertuch nagen.

Sie sprang unter die Dusche, räumte dann ein bisschen auf und setzte sich ans Fenster, um noch ein wenig zu lesen. Hier saß sie gern und sah ab und zu aus dem Fenster, denn es ging zur belebten Hauptstraße hinaus. Manchmal war es ganz interessant.

Heute war Sonntag und nicht viel los. Sie kuschelte sich in den Sessel, um zu lesen und blätterte zum Lesezeichen. Nach einer Weile merkte sie, dass sie nur die Buchstaben anstarrte, aber nicht begriff, um was es ging. Stets wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit.

Was, wenn Johannes sich doch wieder hier niederlassen wollte? Mama hatte nichts gesagt, aber Marie war überzeugt, dass sie beim Mittagessen alles Wichtige zu dem Thema erfahren würde. Sie legte das Buch weg und schaute aus dem offenen Fenster. Die Sonne war schon warm und ein leichter Wind strich ihr wunderbar um die Nase. Es war zehn Uhr, als sie beschloss, zu Julianas Grab zu fahren. Immer wenn sie unruhig oder traurig war, fuhr sie mit dem Fahrrad in Richtung See, wo am Ortsausgang der Friedhof unter einem Blätterdach alter Buchen lag.

Marie zog sich um, band die Haare zu einem Zopf zusammen und lief hinter das Haus, um ihr Fahrrad zu holen. Im Vorgarten pflückte sie ein paar Ringelblumen und machte sich auf den Weg.

Um diese Zeit war der Friedhof fast leer, nur eine alte Frau schleppte eine riesige Gießkanne zu einem Grab in der hinteren Reihe. Marie nickte ihr von weitem zu und lief nach links zu Julianas Grab. Sie tauschte die Blumen, die schon welk waren, gegen die frischen Ringelblumen.

Julianas Mutter kam selten her, es brach ihr immer wieder aufs Neue das Herz.

„Eine Tochter sollte niemals vor ihrer Mutter sterben“, sagte sie immer, wenn sie Marie begegnete.

Sie war froh, dass Marie sich gut um das Grab kümmerte und hatte ihr sogar Geld angeboten.

„Nein, auf keinen Fall nehme ich das an!“, hatte Marie entsetzt gerufen. „Juliana war meine beste Freundin, da kümmere ich mich sehr gerne.“

Julianas Mutter hatte sich bedankt und das Mädchen gedrückt.

Kurz nach Julianas Tod war sie weggezogen, seitdem gingen die Freunde abwechselnd auf den Friedhof. Nur Marie kam öfter, um sich mit Juliana zu unterhalten.

Sie entfernte trockenes Laub, goss die Pflanzen, wischte über Julianas Bild und seufzte.

„Ich muss dir etwas sagen.“

Hier an diesem Ort hatte Marie über ihr Geheimnis gesprochen, sie hoffte, dass Juliana ihr nicht böse war, dass sie geschwiegen hatte.

„Stell dir vor, Johannes ist in der Stadt. Ach, hätten wir doch damals darüber reden können, vielleicht wäre das alles nicht passiert. Hättest du dich mir anvertraut, würdest du vielleicht noch leben.“

Sie zupfte ein bisschen Unkraut aus und hielt dann inne. Ein Sonnenstrahl brach durch das dichte Laub.

„Ich weiß, Juli, das ist zu viel vielleicht, aber denkst du nicht auch jeden Tag, dass alles hätte anders kommen müssen?“

„Das denke ich auch“, hörte sie eine tiefe Männerstimme hinter sich.

Marie fuhr herum und starrte in die blauen Augen von Johannes Krieberg.

„Was … wie … was tun Sie hier?“

Er zuckte mit den Schultern und sah traurig aus. Johannes stand dort ganz ruhig, die Hände in den Hosentaschen. Er trug einen Dreitagebart, sah gleichzeitig wild und gepflegt aus.

„Wie lange belauschen Sie mich schon?“